Читать книгу Mein Herz, meine Prostata, die Ärzte und Ich - Willi M. Dingens - Страница 4
Leseprobe:
ОглавлениеDie Reha und Ich
Das zivile Dasein zu Hause war nicht das, was ich mir ersehnt hatte, jedenfalls nicht genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Natürlich war es schön, wieder in der vertrauten Umgebung zu sein. Aber es wurden schnell auch Erschwernisse spürbar. Mit diesen hatte ich so gar nicht gerechnet.
Im Krankenhaus fühlt man sich, jedenfalls ging es mir in den letzten Wochen so, gut aufgehoben, geborgen, in Sicherheit. Man weiß ja diverse Ärzte und Schwestern in unmittelbarer Nähe, in aller Regel sozusagen griffbereit, verschiedene überlebenswichtige Gerätschaften und Wiederbelebungsmaschinen inklusive, da kann einem nichts passieren und wenn, ist ja in Sekundenschnelle wenigstens eine sachkundige und geschulte, vor allem hilfreiche Hand zur Stelle. Krankenhaus, das ist für einen Patienten Geborgenheit pur, sollte es jedenfalls sein. Wenn es nicht so ist – folgen Sie meinem nicht ganz freiwilligen Beispiel und machen Sie sich aus dem Staub.
Mit einem sich noch immer, zwar nicht stetig, aber immer noch oft wild gebärdenden Herzmuskel zu Hause zu sein, ist etwas ganz anderes. Plötzlich ist da eine ziemliche Unsicherheit, man lauert auf jedes Zucken, vermutet hinter jeder Herz-Holpererserie das letzte Gefecht. Besonders schlimm, wenn nicht mal die Frau da ist, die ja nicht ständig um einen herum sein kann. Ich entwickelte eine Ängstlichkeit, die ich mir sonst nie gestattet hätte, die ich auch abstreifen wollte, aber in den ersten Wochen nicht konnte. Das ist nervig.
Man hört ständig in sich hinein, beobachtet misstrauisch das Geschehen im Körper, zuckt bei jeder unvermuteten Regung zusammen, vermutet bei jedem winzigen Stich oberhalb der Gürtellinie den Beginn eines erneuten Zusammenbruchs des ganzen Systems, hinter jeder eingebildeten Unregelmäßigkeit einen Katastrophenalarm. Ich erlag dieser Ängstlichkeit immer wieder, bis ich streng mit mir zu Gericht ging und mich beschimpfte, dadurch würde es ja nun auch nicht besser werden, eher im Gegenteil. Ich gab mir kleinlaut Recht.
Mit der Zeit und unter großen emotionalen Anstrengungen und einigem Gutzu(mir)reden überwand ich die Periode der Ängstlichkeit und wurde wieder gelassener. Später gestand mir meine Frau, diese ersten Wochen seien auch für sie recht belastend gewesen. Sie beobachtete mich, krampfhaft um Unauffälligkeit bemüht, ständig und versuchte herauszufinden, ob es mir auch einigermaßen gut geht oder irgendeine Verschlechterung zu bemerken wäre. Sie sei des Nachts häufig aufgeschreckt und habe angestrengt gelauscht, ob sie mich noch atmen höre. Erst wenn sie meine ruhigen Atemzüge zweifelsfrei vernehmen konnte, sei sie wieder beruhigt eingeschlafen. Dabei gaben mir die Nächte am wenigsten Grund zur Unruhe. Sobald ich mich abends niedergelegt hatte, gab das Herz auch schnell Ruhe und ich konnte beschwerdefrei ein- und durchschlafen.
Allerdings stellte sich, sobald ich wieder zu Hause war, noch ein Problem ein, mit dem ich auch nicht gerechnet hatte. Meine unmittelbare Lebensumgebung, also vor allem meine Frau und meine Kinder und Enkel, zeigten sich sehr besorgt, für meinen Geschmack viel zu besorgt. Es kann nämlich ziemlich belastend sein, nicht einmal mehr für fähig gehalten zu werden, nach dem Essen den Tisch abzuräumen oder die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.
Besonders meine Frau tat sich damit hervor, jeden meiner Schritte sorgfältig zu prüfen, ob ich mich damit auch ja nicht übernehme, mir zu viel zumute oder allzu leichtfertig meine Genesung auf Spiel setzen könnte. Ständig ermahnte sie mich wegen irgendetwas oder – was noch schlimmer war – versuchte, mich aus diesem oder jenem rauszuhalten, es mir auch mal zu untersagen oder es heimlich an mir vorbei zu manövrieren. Ich war, konstatierte ich mit Entsetzen, aus der Diktatur der Ärzte und Krankenschwestern in die kleinste Zelle des Patienten-Überwachungsstaates, die Familie, geraten.
Ich bin kein Macho und muss nicht den starken Mann raushängen lassen. Ich lasse mich auch gern mal bemuttern. Aber die Degradierung zu einer ständig hilfsbedürftigen Person kann sehr nervend sein. Den Angehörigen von nach schwerer Erkrankung Heimgekehrten muss gesagt werden, man kann mit allzu übertriebener Besorgnis dem Betroffenen auch schnell das Gefühl geben, völlig unbrauchbar und damit eigentlich überflüssig zu sein. Ich weiß schon, in meinem Fall und wohl in den meisten anderen Fällen steckt die gute und ehrliche Absicht dahinter, dem Erkrankten zu schneller Genesung zu verhelfen. Übertreibungen können aber gegenteilige Wirkungen haben.
Und so kam es auch, wie es kommen musste, nämlich zu Spannungen zwischen meiner Frau und mir. Die waren überflüssig, aber nicht so recht vermeidbar. Ich begann, mich gegen diese Über-Bemutterung zur Wehr zu setzen, muckte auf, nahm übel, vermutete finstere Machenschaften, nahm noch mehr übel. Meine Frau hatte mich in absoluter Hilflosigkeit gesehen, abhängig von Geräten, Ärzten und Schwestern. Aha, dachte ich, bis dahin waren wir gleichberechtigte Partner gewesen, agierten in aller Regel auf Augenhöhe, jetzt meint sie wohl, mir haushoch überlegen zu sein? Das lasse ich mir nicht bieten. Soweit kommt es noch, dass sie mir abends vor dem Einschlafen Frau Holle oder König Drosselbart vorzulesen versucht, ergänzt mit einem abschließenden Schlafliedgesang.
Ich will gern eingestehen, in dieser Hinsicht auch meinen eigenen Übertreibungen aufgesessen zu sein und übertrieben empfindlich reagiert zu haben. Dazu neigt man wohl in solcher Situation recht schnell; was erklärbar ist, aber wenig berechtigt. Zu meiner Entschuldigung möchte ich aber vorbringen, als Kranker das Recht zu haben, mich nicht noch kranker fühlen zu müssen als unbedingt nötig. Ich begann daher, um meine Wiederanerkennung als vollwertige Persönlichkeit zu kämpfen, nicht immer fair und sachlich, aber entschlossen, mich nicht untermuttern zu lassen.
Auf diese Weise angestachelt, fühlte ich mich nun auch in der Lage und der richtigen Stimmung, mich ausgiebig dem Ärztepfusch zu widmen. Also las ich erst einmal aufmerksam das Info-Material. Die Sache mit den Behandlungsfehlern – umgangssprachlich auch Kunstfehler oder halt rustikal Ärztepfusch genannt – ist in der Bundesrepublik klar geregelt. Der Patient muss sich nicht alles gefallen lassen und keineswegs alle Konsequenzen ärztlicher Tätigkeit widerspruchslos hinnehmen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, einem Arzt Pfusch anzuhängen und Schadenersatz, Schmerzensgeld oder sonstige Genugtuungen abzuverlangen. Das geht einerseits über eine Zivilklage. Diverse Anwaltsvereine sind gern behilflich, einen Rechtsanwalt zu finden, der die Klage für den Patienten vorbereitet und durchzieht, gegen ein angemessenes Entgelt, versteht sich. Es existieren auch zahlreiche Patienteninitiativen und Selbsthilfegruppen, bei denen man als unerfahrener Neuling und unbeholfener Patient Rat einholen kann. Eine zweite Möglichkeit bietet die Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Ärztekammern. Über diese kann man eine außergerichtliche Einigung über einen Schadensersatz oder Schmerzensgeld erwirken.
Den Weg über einen Rechtsanwalt schloss ich von vornherein aus. Mir war klar, wenn ich mit dem Schadensersatz nicht durchkäme, würde ich dann wohl auf den Rechtsanwaltskosten sitzen bleiben. Ich vermutete, mein ADAC-Rechtsschutz würde da auch nicht greifen. Also befasste ich mich mit dem Schlichtungsstellenpfad. Da hatte ich ja auch schon einen ausführlichen Fragebogen. Als ich mir den jetzt genauer ansah, war er zu meinem Erstaunen inzwischen auf ganze 18 Fragen geschrumpft. Das sah gut aus.
Dann beschlichen mich aber schnell Bedenken. Da war nämlich zunächst eine harmlos aussehende Schweigepflichtsentbindungserklärung abzugeben. Und da stand, ich solle der Schlichtungsstelle Hannover gestatten, die mich betreffenden Krankenblätter, Krankengeschichten, ärztliche Aufzeichnungen, Untersuchungsbefunde, Röntgenaufnahmen, Gutachten, Akten von Behörden und Versicherungsträgern aller Art, Behandlungs- und Befundberichte von Ärzten und Krankenhäusern, in denen sich Befunde oder Beurteilungen über mich befinden könnten, einzusehen.
Auch sollte ich alle behandelnden und untersuchenden Ärzte, Krankenhäuser, Gutachter, Versicherungsträger aller Art und Behörden von der Pflicht der Verschwiegenheit entbinden. Im Fragebogen war zudem gefordert, alle Ärzte mit Name, Adresse und Fachrichtung aufzuführen, die sich in den fünf Jahren vor der Schädigung und dann danach mit mir und meinem Körper beschäftigt hatten.
Ich sollte also nicht nur zu einem gläsernen Patienten werden, sondern in einer gewissen Öffentlichkeit mein Innerstes nach außen kehren lassen. Noch dazu in Hannover, was mir am meisten widerstrebte. Was geht die im Westen das alles an? Und wer bin ich denn, dass ich gar Versicherungsträger und Behörden aller Art von der Pflicht zur Verschwiegenheit entbinden könnte? Gut, so verschwiegen sind die sowieso nicht. Geheime Akten wurden schon auf Müllhalden und Straßen gefunden, cleveren Journalisten wird so manches erzählt, was nur für die Panzerschränke gedacht war und sogar die Geheimdienste sind nicht so geheim, wie ihr Name vermuten lässt. Mancher Geheimnisträger hat sich schon als lockere Plaudertasche entpuppt und die Staatsmacht will uns ja sogar online ausspähen lassen. Aber warum sollte ich die Offenlegung aller persönlichen Geheimnisse per persönlich erteiltem Dekret offiziell legitimieren?
Dann sollte ich auch noch meine Vorstellungen über die Höhe meiner finanziellen Ansprüche darlegen und begründen. Wie viel war ein vollständig durchblutetes Herz denn in Geld wert? Was sollten die Schmerzen und die anderen Unbilden kosten? Gibt es einen Tarif, nach dem Herzstolpern anhand der Anzahl der Nebenschläge abgegolten wird? 1,50 € pro Schlag oder irgendwie pauschalisiert mit Intensitäts- und Nachtzuschlag und Mengenrabatt? Ich wusste es nicht.
Und dann stand da auch in einem Merkblatt, die Schlichtungsstelle könne nur mit Zustimmung sämtlicher Beteiligter tätig werden. Welche Beteiligte gehören aber zu den Sämtlichen? Stand ich da nicht einer Übermacht an Ärzten und Schwestern, Krankenhäusern und deren Rechtsanwälten gegenüber. Selbst wenn meine Frau auch als ein sämtlich Beteiligter anerkannt werden sollte, wären wir immer noch ein nur kleines Häuflein gegen eine Armada von Medizinmännern und -frauen. Und wer weiß, was die noch so alles an geheimen Dossiers und Verschwörungsriten auf Lager hatten, die sie, wenn es hart auf hart käme, aus dem Ärmel ziehen konnten.
Vielleicht gab es im Medizinwesen ja auch das Gesetz des Schweigens, in Sizilien als Omertá bekannt, oder so etwas wie ein Zeugenschutzprogramm. Möglicherweise lief ich gar Gefahr, dass man mir einen Schadensersatz aufhalste, ich also solchen zahlen müsste, statt ihn kassieren zu können. Was, wenn mein bewegungsarmer Lebenswandel, mein Zigaretten- und Alkoholkonsum plötzlich in den Mittelpunkt der Schadensprüfungen und -gutachten geriet und alle sämtlich Beteiligte mit dem Finger auf mich zeigen würden? Selber schuld! Das war ja auch ganz streng genommen nicht mal von der Hand zu weisen.
Nein, das alles war mir nicht sehr geheuer.
Meine Entscheidung fiel entschlossen und unwiderruflich, als ich noch einmal und ganz genau den Bericht des Friesischen Krankenhauses las und mir dann so meine Gedanken machte. Ich konnte mich ja nun drehen und wenden wie ich wollte, eine Erkrankung meiner Herzkranzgefäße hatte zweifelsfrei vorgelegen, das besagten alle Befunde. Wollte ich allen Ernstes dem Chefarzt vorwerfen, versucht zu haben, die Erkrankung zu lindern? Im Bericht hatte er geschrieben, zunächst sei auf eine Intervention verzichtet worden, aber nach erneuter Ergometrie mit einem deutlichen Nachweis einer Durchblutungsstörung in der Herzwand und laufenden Beschwerden habe man sich dann doch zur Intervention entschlossen. Die zeitliche Abfolge stimmte, auch wenn der sachliche Verlauf ein leicht anderer gewesen war.
Kann man denn, so fragte ich mich, immer gleich Ärztepfusch unterstellen, wenn eine Behandlung nicht zum erwünschten und angekündigten Erfolg führt? Wenn jemand den Hersteller einer Mikrowelle auf Schadenersatz verklagt, weil der darin zum Trocknen eingebrachte Hund die Prozedur zur allgemeinen Überraschung nicht überlebte und der Kläger auch noch recht bekommt, weil der Hersteller nicht ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass die Mikrowelle nicht besonders zum Trocknen frisch gewaschener Hunde geeignet sei, so mag das in dem in so mancher Beziehung wunderlichen Amerika nicht besonders wunderlich sein. Aber in Mitteleuropa? Und gar in Deutschland?
III. Meine Prostata, die Ärzte und Ich
(Als Teil III in diesem E-Book sowie unter angeführtem Titel in einem separatem E-Book) Gerade als Dingens dachte, er hätte das Schlimmste überstanden, schlug das Imperium zurück. Jetzt wurde die geheimnisvolle Prostata zum Hauptdarsteller. Eine vorschnelle Diagnose sorgte für besondere Dramatik. Gewisse Reparaturarbeiten wurden trotzdem notwendig. Dingens beschreibt das Geschehen in vielen Einzelheiten. Der Leser muss sich daher auf recht bluttriefende und unappetitliche Schilderungen einstellen. Aber detaillierter Aufklärung über das wunderliche Organ und seine Unregelmäßigkeiten, mit der die Mehrzahl aller Männer im Laufe ihres Lebens in dieser oder jener Weise konfrontiert werden, kann ja nicht schaden.
Leseprobe:
Die capsula prostatica
Es gibt ja einige Unterschiede zwischen Mann und Frau, im Ausmaß der Luftverdrängung im Brustbereich zum Beispiel, beim Haarausfall, im Redetrieb, in den Fähigkeiten zum Einparken, im Verständnis der Abseitsregel beim Fußball oder in der Bereitschaft, Eingeborene nach dem Weg zu fragen. Aber diese Verschiedenheiten sind im Speziellen weniger groß, als sie gemeinhin angenommen, propagiert, unterstellt und hervorgehoben, manchmal auch nur von uns Männern als üble Nachrede verbreitet werden. Im Prinzip besitzen Männer und Frauen in Bezug auf Typus, Bestimmung, Funktionsweise und Anzahl die gleichen Organe. Allerdings besitzen Männer auch Organe, die bei Frauen in der Regel überhaupt nicht oder mehr oder weniger modifiziert vorkommen.
Ich will mich im Folgenden einem von diesen ganz und gar männlichen Organen widmen, denn es bescherte mir einige aufregende Erlebnisse mit diversen Weiß- und Grünkitteln.
Es liegt im Unterleib irgendwo in Nähe von Blase, Harnröhre und Darm herum, jeder hat schon von ihm gehört, aber es ist, obwohl es zur Basiskonfiguration des männlichen Organismus gehört, für die meisten Männer, für die Frauen sowieso, eine Terra inkognita, das unbekannteste Organ, das dem Menschen in der langen Geschichte seiner Menschwerdung bekannt wurde. In das Blickfeld der Aufmerksamkeit rückt es meist erst im Alter, nachdem Mann es jahrelang mehr oder weniger häufig benutzt hat, es immer treu seine Pflicht tat und seinen Mann stand.
Aber so ist es ja häufig im Leben. Wer zuverlässig ist, stets zur Verfügung steht wenn er gebraucht wird, problemlos und ohne Ausfälle unauffällig funktioniert, der fällt halt nicht weiter auf, seine Existenz wird als ganz selbstverständlich und auch unbedeutend angesehen und er wird daher kaum beachtet. Erst wenn das nicht mehr so ist, wenn er schwächelt oder ausfällt, wird man auf ihn aufmerksam. Und dann auch noch ohne schlechtes Gewissen, sondern mit Erstaunen und Verärgerung.
Genau so geht es der Prostata, um die es jetzt gehen soll. Genau so erging es im Speziellen auch mir und ihr, also meiner eigenen, privaten und personengebundenen Prostata.
Die Prostata ist von Hause aus eine Drüse. Es gibt sie, dass wissen die meisten Männer vom Hörensagen schon. Aber man braucht sie doch eigentlich nicht, jedenfalls zum Überleben bestimmt nicht. Kreislauf, Verdauung, Atmung, Entgiftung funktionieren auch so, sie wird weder zum Fußballspielen noch beim Skat benötigt, ist nicht hilfreich beim Autofahren und dass sie beim Sex eine Rolle spielen soll, muss wohl ein Gerücht sein. Jedenfalls braucht der Mann bei dieserart Verrichtungen ein ganz anderes Organ, aber doch nicht die Prostata, oder?
Das Einzige, was Mann über sie schon recht früh erfährt, ist die Androhung der Erkrankung des Organs. Da diese aber relativ zuverlässig erst im Alter auftritt, muss man sich bis dahin auch nicht weiter dafür interessieren. Das kommt ja noch früh genug und verhindern kann man es eh nicht. Also was geht mich diese Prostata an. Wenn sie was will, soll sie sich melden, wenn nicht, auch gut.
Da bündelt sich schnell eine Menge Unwissenheit mit hartnäckigem Desinteresse und kann irgendwann zu tragischen Verwicklungen führen. Muss nicht, aber kann. Dem will ich vorbeugen helfen und ein wenig aufklären. Auch, indem ich schildere, was ich an Aufregung mit dem geheimnisvollen Organ erlebt habe.
Zunächst aber etwas trockene Aufklärung. Ja ich kann leider nicht mit Feuchtgebietpoesie dienen. Verbalpornografie liegt mir ohnehin nicht und da über die Prostata so wenig bekannt ist, will ich zunächst einmal nur in medizinisch-volkstümlicher Prosa beschreiben, was es mit dem Organ organisch, historisch und soziokulturell auf sich hat. Auch hier will ich nicht mit Wissen glänzen. Mir ging es nicht anders als anderen Männern. Ich habe mich mit dem wunderlichen Organ auch erst konkret beschäftigt, als ich Probleme bekam. Jetzt, mehrere peinliche Untersuchungen, Diagnosen und eine Operation weiter, kenne ich die Drüse ein wenig besser, freilich ist jetzt von dem mir nun besser bekannten Objekt bei mir nicht mehr viel übrig. Aber davon dann später mehr.
Komisch, mit der historischen Entwicklung des Wissens von der und über die Prostata ist es ganz ähnlich. Von ihrer Existenz hatte die Menschheit schon früh, noch bevor sie von Jesus erfuhr, Kenntnis. Bereits 300 vor der Geburt des Erlösers beschrieb Herophilos von Chalkedon in sehr groben Zügen die Drüse. Höchstwahrscheinlich war das die erste Erwähnung ihrer Existenz. In den Höhlenzeichnungen der Cro Magnon und Neandertaler fand man jedenfalls keine Hinweise. Herophilos hatte ihr den Namen Die Vorstehende verpasst; daher auch ihr deutscher, heute eher ungebräuchlicher Name Vorsteherdrüse. Man(n) wusste also lange von der Existenz der Drüse, aber nichts über ihre Funktion, jedenfalls nichts Genaues.
Noch Leonardo aus Vinci, der neugierige alte Zausel, raffte vergeblich sein ganzes Genie – und davon hatte er einiges – zusammen, um hinter ihre Funktion zu kommen und das Geheimnis zu lüften. Die widerspenstige Drüse jedoch verweigerte sich stur und hartnäckig der Entlarvung.
1538 zeigte Andreas Vesalius die Prostata als Teil des männlichen Urogenitalsystems. Irgendwie sei sie wohl an der Produktion des Urins beteiligt, vermuteten die Mediziner zurückliegender Jahrhunderte. Die Vermutung ergab sich aus ihrer Lage. Die Vorsteherdrüse ist im unteren Bauchraum, unterhalb des Bauchfelles beheimatet; die Harnröhre verläuft direkt durch sie hindurch und die Drüse besitzt Kanäle und Öffnungen zur Harnröhre hin. Da lag es nahe, ihr eine Verbindung zur Urinproduktion anzuhängen. Aber das war nur eine Unterstellung aus Unwissenheit.
Ambroise Paré konnte schließlich schon recht genaue Angaben ihrer Rolle bei der Ejakulation machen; eine erste richtige Beschreibung ihrer Anatomie lieferte schließlich Reinier De Graaf 1668. Und 1761 konnte der italienische Arzt Giovanni Battista Morgagni die Mission der Prostata ziemlich vollständig beschreiben, leider auch schon ihre krankhafte Vergrößerung.
Und das Unheil nahm seinen Lauf: 1889 schnitt Vincens Czerny erstmals eine Prostata vollständig heraus.
Wie es sich für unsere moderne Zeiten gehört, ist die Struktur und Funktionsweise der Prostata heute schon sehr detailliert bekannt und in so vielen Einzelheiten, dass es meine Ambitionen mit diesem Text völlig sprengen würde, wollte ich das alles erläutern. Mal abgesehen davon, dass ich das so detailliert auch nicht könnte. Ich bin nur Prostata-Geschädigter, kein Prostata-Gelehrter.
Trotzdem: Die Prostata ist ein sehr komplexes Gebilde, bestehend aus 30 bis 50 Einzeldrüsen unterschiedlicher Gewebearten und mit verschiedenen Zugängen zur Harnröhre. Dazwischen liegen Muskelfasern, denen eine sehr wichtige Funktion zukommt, und Nervenfasern, die auch nicht unwichtig sind. Nach außen wird der Komplex durch die Capsula prostatica – ein so schöner Name, dass ich mir nicht verkneifen konnte, ihn zu erwähnen – einer Art Schale aus Bindegewebe abgeschlossen.
Stellen sie sich die Prostata als eine Art Apfelsine vor. Eine relativ feste Umhüllung umschließt ein weicheres Gewebe im Innern. Das kann man sich doch gut vorstellen, oder? Die Apfelsine wird in diesem Text gelegentlich noch mal vorbeischauen.
Das Drüsengewebe macht normalerweise das, was dem Drüsengewebe so zukommt: Es produziert ein Drüsensekret. Die Flüssigkeit ist in diesem Fall beim Kindermachen von großer Wichtigkeit, weshalb sie, die Drüse, zu Unrecht so lange von Männern – und Frauen – missachtet wird. Das Sekret ist zunächst nur ein Hilfsmittel; das Medium, in dem sich die kleinen Jungs aus den Hoden, die Spermatozoen, bewegen können. Ohne dieses Sekret säßen die nämlich im Trockenen und da würden sie nicht weit kommen, jedenfalls nicht bis in die angestrebten Feuchtgebiete.
Das Sekret macht die Spermien noch auf andere Weise „Beine“. Es enthält Zitronensäure, die sie erst einmal flott macht. Die kommen nämlich, typisch männlich, als recht träge, um nicht zu sagen faule, verschlafene Typen aus den Hoden bzw. den Samenbläschen getaumelt und müssen erst einmal aus ihrer Bequemlichkeit geholt werden. Sie brauchen eine kräftige Ermunterung, sich auf den Weg zu machen. Das macht die Säure. Die Wegzehrung liefert das Prostatasekret auch noch in Form von Cholesterin, Natrium, Kalium, Zink, Magnesium und – etwas Süßes zum Nachtisch muss sein – auch noch Fruchtzucker.
Die Drüse ist also ein reichlich gedeckter Tisch, an dem sich die Spermien ausgiebig laben und für die lange Reise stärken können. Mich wundert allerdings, warum die Evolution nicht noch Alkohol ins Spiel gebracht hat. Das würde besser zu den Spermien passen und hätte das Angebot erst komplett gemacht. Gut genährt und leicht beschwipst würde das kurze, in aller Regel freudlose und – man glaubt es kaum – auch dazu noch höhepunktarme Leben der Spermien erst wirklich angenehm verlaufen. 99,999999… % von ihnen, meistens sogar 100 % leben ja nicht lange, beenden ihr irdisches Dasein abrupt in der Vagina, im Kondom, in der Schlafanzughose oder wo sie auch immer abgelagert werden.
Mit einem kleinen Schwips würden sie das bestimmt leichter ertragen, vielleicht sogar singend. Die Spermien als grölende Horde Trunkenbolde, kleine Fähnchen in den Vereinsfarben schwenkend, durch die Vagina ziehend – eine lebensnahe Vorstellung, oder? Ho, Ho, Ho, 100 Millionen Mann und 'ne Gallone Eierlikör, Ho, Ho, Ho, Kuckt mal, die Alte war sogar beim Frisör!
Um den Spermien den beschwerlichen Weg durch die Vagina und einem von ihnen die eindringliche Begegnung mit der Eizelle zu erleichtern, steuert die Prostata sogar noch geeignete Enzyme bei. Die weiblichen Empfängnisorgane sind nämlich keineswegs unbedingt empfangswillig. Ihre Gastfreundlichkeit gegenüber den Spermien lässt sehr zu wünschen übrig. Das in ihnen herrschende Klima – feucht, warm und sauer – macht den kleinen Jungs das Leben schwer. Sie müssen sich sehr beeilen und viel Durchsetzungsvermögen zeigen, um nicht vorzeitig auf der Strecke zu bleiben. Da hätte sich das mit der alkoholischen Marscherleichterung doch ganz gut gemacht.
Allerdings: Millionen starten, aber nur einer muss durchkommen. Dass der dann auf jeden Fall nüchtern bleibt, ist vielleicht der entscheidende evolutionäre Schachzug.