Читать книгу Wyatt Earp Staffel 12 – Western - William Mark D. - Страница 6
ОглавлениеEs war Abend, als er in die Stadt einritt. Er saß auf einem hochbeinigen grauen Wallach. Er hing links ein wenig zurück im Sattel und hatte die Rechte mit dem Zügel etwas angehoben.
Jake Lead hatte ein kantiges hageres Gesicht, das von einem schiefergrauen Augenpaar beherrscht wurde. Der Stetson saß ihm tief in der Stirn, fast bis über der Nasenwurzel. Vielleicht wäre nichts Auffälliges an ihm gewesen, wenn ihm nicht die obere Hälfte des linken Ohres gefehlt hätte.
Er trug ein verwaschen blaues Hemd, ein mißfarbenes Halstuch und derbes graues Tuchzeug. An der linken Seite des patronengespickten abgeschabten Waffengurts hing ein schwerer 45er Smith & Wesson Revolver.
Er hatte genau vor drei Jahren, an seinem einundzwanzigsten Geburtstag, seine Heimatstadt Fairbanks verlassen, besser gesagt, er hatte sie verlassen müssen. Mit schweren eisernen Handfesseln war er von Sheriff Douglas und seinem Deputy Joe Calhoun aus der Stadt hinausgeführt und in das berüchtigte texanische Straflager Fort Worth gebracht worden.
Vor drei Jahren, im Spätherbst 1881, war eine bemerkenswerte Zeit. Am 25. Oktober waren drüben im acht Meilen entfernten Tombstone die Schüsse im O.K. Corral gefallen. Lead hatte damals mit brennendem Herzen und weitoffenen Ohren die Nachricht vernommen. Der Hilfssheriff Joe Calhoun, der große braungebrannte Bursche, der mehr noch als der Sheriff für Ordnung in Fairbanks sorgte, hatte in Websters Saloon von dem Fight berichtet.
In der Morgenfrühe des nächsten Tages war Jake Lead nach Tombstone geritten. Er hatte sein Pferd vorm Oriental Saloon stehen lassen und war die dritte Straße hinauf in die Fremontstreet gegangen.
Zu seiner namenlosen Verwunderung sah er keinen Menschen vor dem Eingang des O.K. Corrals stehen. Die Leute schienen offenbar kein so großes Interesse an dem Kampf zu haben wie er. Auch der Corral war menschenleer.
Lead war auf die hölzernen Torpfosten zugegangen und sah mehrere große Risse im Holz und die Kugeleinschläge in der Adobewand von Fleys Photogallery. Hier also hatten Wyatt Earp und Doc Holliday mit zwei Brüdern des Marshals gegen die berüchtigte Clanton Gang gekämpft!
Der große Fight war zugunsten der Earps ausgegangen. Drei Männer waren auf der Walstatt geblieben.
Eine Stunde lang hatte der junge Mann aus Fairbanks im Eingang des Corrals gestanden und hatte an die Dinge gedacht, die am vergangenen Tag hier geschehen waren.
Nur anderthalb Monate später hatte ihn drüben in Fairbanks das Geschick ereilt.
Es trug den Namen Edward Billinger.
Der texanische Cowboy Billinger war am 17. Dezember 1881 mit zwei anderen Burschen nach Fairbanks gekommen. Niemand hat je erfahren, wie die beiden anderen Männer hießen.
Es war am frühen Morgen gewesen. Billinger kaufte in Hannibal Johnsons Clothing Store ein frisches Hemd, blau und gelb kariert, ein paar neue Strümpfe und ein neues schwarzes Halstuch. Die beiden Kameraden waren da noch bei ihm.
Wie später aus dem Protokoll des Sheriffs hervorging, sollen sie ihm auch noch zum Barbier begleitet haben. Henry Patterson, der Barbier, hingegen erklärte, daß Billinger allein zu ihm gekommen sei.
Der blonde Texaner, ein riesiger Bursche mit breiten Wangenknochen, kurzer gerader Nase und gewaltigem Kinn, weit ausladenden Schultern und prankenartigen Händen, hatte sich im Rasierstuhl niedergelassen, als auch Jake Lead den Barber-Shop betrat.
Lead warf seinen Hut auf den Ständer und setzte sich in den Sessel neben Billinger.
Patterson machte sich daran, den Texaner einzuseifen, und wandte sich dann nach Lead um.
»Na, Jake, was wollen Sie denn?«
Vielleicht hatte er es nicht sehr freundlich gesagt. Lead jedenfalls stand sofort auf und stieß den Barbier so derb zurück, daß Patterson mit seinem Rasiermesser gegen Billingers Hand kam.
Der Schnitt war nur klein, und es kam etwas Blut. Der Texaner starrte verblüfft auf die Wunde, riß sich dann mit der anderen Hand das weiße Tuch vom Hals und sprang ebenfalls auf.
»He!« brüllte er. »Ich bin hierhergekommen, um rasiert zu werden, und nicht, um mich massakrieren zu lassen!«
Der Barbier wich zurück bis zum Eingang und stolperte auf den Vorbau. »Das war ein Versehen, Mister«, stotterte er mit kreidebleichem Gesicht.
Da wandte der texanische Cowboy den Kopf nach Lead um.
»He, oder haben Sie etwas mit der Sache zu tun?«
»Ja«, entgegnete Lead, »ich habe ihm den Stoß gegeben.«
Jake Lead war ein eigenartiger Bursche; schon von frühester Kindheit an liebte er es, in ständiger Opposition zu leben. Er hatte das Gefühl, daß er jedem widersprechen mußte. Nur er allein hatte immer recht. Daß er dabei überall auf Widerstand traf, schien ihm gar nichts auszumachen. Immer war er anderer Ansicht. Auch, als er noch ein halbwüchsiger Bursche gewesen war, hatte er sich nicht gescheut, mit Erwachsenen zu streiten. So hatte er denn sehr bald einen nicht gerade guten Ruf in der Stadt. Aber das schien dem unseligen Burschen nichts auszumachen.
Dieses Widerstreiten wuchs sich mit der Zeit in eine zähe, verbissene Art von Quälsucht aus, die dahinführte, daß die Mitmenschen den Burschen mehr und mehr mieden. Daß das ganze ein schlechtverdecktes Minderwertigkeitsgefühl war, bedachte niemand. Aber er hätte sich eben nicht so gehenlassen dürfen.
Der Texaner, der viel primitiver als Lead veranlagt war, knurrte: »He, ich sagte schon, daß ich nicht hergekommen bin, um mich massakrieren zu lassen. Mensch, Sie sind wohl verrückt.«
Lead wich einen Schritt zur Seite und winkelte den linken Arm an.
Da stemmte Billinger seine gewaltigen Fäuste in die Hüften.
»Wo sind wir denn hier? Ich habe das Gefühl, daß ich in ein Räubernest geraten bin. – Barbier! Sie werden nicht erwarten, daß ich für diese Behandlung etwas zahle!«
Mit großen Schritten stampfte er hinaus auf den Vorbau.
Lead starrte ihm mit weiten Augen nach.
Etwas Unerhörtes war geschehen! Ein Mann war ihm ausgewichen!
Bisher hatte er nur Verachtung gefunden, der streitsüchtige Jake Lead. Niemand hatte sich mit ihm angelegt, aber direkt ausgewichen war ihm auch niemand. Die Leute in der Stadt kannten ihn – und fürchteten ihn nicht. Man war unter sich, man hatte Stützen an den Nachbarn und wußte überall Hilfe. Wie sollte jemand auf den Gedanken kommen, Angst vor diesem Jake Lead zu haben, den man alle Tage auf der Straße sah?
Aber nun war ein Mann vor ihm geflüchtet! Einer hatte Angst gezeigt!
Jedenfalls hatte Jake Lead es so ausgelegt. Ein sonderbares Gefühl ergriff Besitz von ihm. Er stand noch sekundenlang wie paralysiert da und starrte hinaus auf den Vorbau, wo der lange Cowboy längst verschwunden war. Neben der Tür stand der kleine gelbgesichtige dickbauchige Barbier. Er hatte die Klinke noch in der Hand.
Da kam plötzlich Leben in die Gestalt Jake Leads. Er stieß einen Rasierstuhl zur Seite, so daß er polternd in eine Konsole stürzte und einen Seitenspiegel in Scherben schlug. Schon stand Jake in der Tür. Er sah gerade noch den Cowboy in Websters Saloon treten.
Jake wußte sicher nicht, was er tat, als er mit großen Schritten dem fremden Cowboy folgte.
Als er die Tür der Schenke aufstieß, stand Billinger schon drüben an der Theke und hatte seine Bestellung aufgegeben. Hatte er gespürt, daß ihm Lead gefolgt war, oder hatte er ihn oben in dem großen Thekenspiegel gesehen? Auch das ist niemals ermittelt worden.
Jedenfalls drehte sich der Cowboy plötzlich um. Die beiden Männer standen nur etwa neun Yards auseinander und maßen sich mit abschätzenden Blicken.
Und was in den nächsten Minuten geschah, ist in mehreren Versionen berichtet worden.
Der achtundfünfzigjährige Salooner Jimmy Winters hat dem Sheriff und später auch dem Richter erklärt, daß Billinger die Hand zwar ebenfalls angewinkelt, aber gar keine Anstalten zu einem Revolverduell getroffen hatte. Er behauptete, daß Lead den Kampf ohne jedes Wort und jeden Anruf ohne jede Warnung eröffnet hätte.
Der damals siebenundachtzigjährige Jeffrey Lonegan, der in der Stadt eine Schmiede betrieb, hatte gesagt, daß er von seinem Platz am Fenster aus nur Billinger hatte beobachten können. Lead habe noch zu nahe an der Tür gestanden, als daß er ihn hätte sehen können. Billinger hätte die Hände beide herunterhängen gehabt und überhaupt nichts getan, was darauf hindeutete, daß er einen Revolverkampf plante.
Die siebzehnjährige Esther Winters, die Nichte des Salooners, hatte erklärt, daß beide Männer die Arme angewinkelt hatten und dann gleichzeitig aufeinander geschossen hätten.
Diese Version klang am glaubhaftesten – aber niemand schenkte ihr Glauben.
Die vierte Erklärung hatte der siebenunddreißigjährige Joseph Cyril Flambush gegeben, der in dem großen Mietstall von Big Joe arbeitete. Mit großer Bestimmtheit hatte der Peon erklärt: »Lead hat ohne Anruf geschossen.«
Dann gab es noch drei weitere Zeugenaussagen, die aber nicht sonderlich ins Gewicht fielen, da die drei Männer zum Zeitpunkt des Geschehens stark angetrunken waren. Sie hatten an einem der Tische gesessen und gepokert. Es waren Joe Falbers, Hard Perkins und der kleine Hosenschneider Jimmy McDonald.
Ja, und da war noch der geistesschwache Ernie Closters gewesen. Er hatte am Stirnende der Theke gestanden, über sein leeres Bierglas gebeugt, wie so oft. Auch er hatte eine Aussage gemacht. Aber darauf hatte überhaupt niemand gehört. Und ausgerechnet er hatte die Wahrheit gesagt!
»Der Fremde hat sofort geschossen. Und zuerst! Dann erst hat Lead gezogen…«
Aber was gilt schon das Wort eines Armen im Geiste?
Die Schüsse fielen, und Edward Billinger war von zwei Kugeln tödlich niedergestreckt worden. Langausgestreckt lag er vor der Theke und war tot.
Als Calhoun, der Deputy, die Schenke betrat, stand der Pulverrauch noch beizend in der Luft. Der Hilfssheriff sah Jake Lead mit dem Revolver neben der Tür stehen.
»Lead«, erklärte er, »Sie sind wegen Mordes festgenommen.«
Er hatte es ganz ruhig gesagt, ohne jede Leidenschaftlichkeit.
Lead hatte wie vom Blitz getroffen dagestanden. Dann war plötzlich Leben in seine Gestalt gekommen. Er hatte sich herumgeworfen und riß einen schweren Faustschlag zum Schädel des knorrigen Deputy hoch, der Calhoun zurücktaumeln ließ.
Da griff der Deputy zum Revolver.
Lead hob seine Waffe an.
»Lassen Sie die Kanone stecken, Calhoun, sonst lege ich Sie neben ihn!«
Ja, diese Worte hatte er gesagt. Alle vier Zeugen hatten es so gehört. Jeder wiederholte aber das, was er glaubte, gehört zu haben. Nur der schwachsinnige Closters wiederholte die Worte genau.
Dann war plötzlich der Sheriff in der Schankhaustür erschienen. Er warf einen Blick durch den Raum, und ohne festgestellt zu haben, was sich abgespielt hatte, erklärte er:
»Lead, Sie sind festgenommen!«
Die folgenden Minuten spiegelten sich in den Zeugenaussagen sehr verschieden wider. Der Salooner erklärte, daß Jake Lead sofort auf den Sheriff angeschlagen hatte.
Der steinalte Schmied war anderer Ansicht. Lonegan meinte, daß Lead einen Stuhl genommen und damit um sich geschlagen habe. Der Peon Flambush hingegen behauptete steif und fest, daß Lead sich niedergeworfen und geschossen habe. Die Tochter des Wirtes glaubte sich daran erinnern zu können, daß Lead sich zuerst mit dem Deputy herumgeschlagen habe.
Weitere Zeugen wurden dazu nicht gehört.
Es war die Tragik des einundzwanzigjährigen Jake Lead, daß gerade er, der niemals fair gewesen war, im entscheidenden Augenblick seines Lebens jedenfalls nicht unfair gehandelt hatte und gerade dafür dann bitter bestraft wurde.
Jake Lead hatte keine Chance in der Verhandlung. Dieser wenig sympathische Mann, der dazu noch absolut unumgänglich war, wurde von Richter Salomon Gipps zum Tode durch den Strang verurteilt.
Salomon Gipps war ein altmodischer Mann. Die ganzen drei Jahre über hatte Jake Lead die Worte seines Urteils im Ohr gehabt und würde sie bis zu seiner letzten Stunde nicht daraus fortbannen können:
»Hiermit verurteile ich den Mörder Jason Lead zum Tode durch den Strang aus irischem Hanf!«
»Aus irischem Hanf!« murmelte Lead nun, drei Jahre später, wieder vor sich hin und starrte in die Straße, die nur wenig von Lichtstreifen durchkreuzt wurde. Es wurde sehr früh dunkel in diesen späten Dezembertagen.
Es ging auf Weihnachten zu; aber dafür hatte der Heimkehrer keine Gedanken. Er war vor neun Tagen aus Fort Worth entsprungen.
Siebzehnmal hatte er die Flucht versucht. Sechzehnmal war es ihm mißglückt, diesmal gelang es. Zwei Wachsoldaten und einen Schließer hatte er auf der Strecke gelassen.
Es hatte selten einen Sträfling in Fort Worth gegeben, der mit solch verbitterter Energie an seiner Flucht gearbeitet hatte. Jake Lead wollte weniger die Freiheit als Rache.
Schnurstracks hatte er den Weg nach Westen eingeschlagen. Von Texas aus durch ganz New Mexico hinüber ins ferne Arizona. Anfangs war er nur nachts geritten. Dann aber, als er die texanische Grenze hinter sich hatte, war er zeitweilig auch am Tag geritten. Aber das war gefährlich, da anzunehmen war, daß sein Steckbrief schon über die Telegraphenstationen durchgegeben worden war.
Und jetzt war er nun hier in Fairbanks.
Es war noch früh am Abend, aber die Dunkelheit hatte schon ihre schwarzen Tücher über die Stadt gebreitet. Nebeldunst stand in der Mainstreet von Fairbanks.
Der entsprungene Sträfling stieg bei Hanemachers Drugstore vom Pferd und bog in eine Quergasse ein.
Am Ende der Straße war Jordans Mietstall. Und dahinter lag But Griffith’s Zimmerei.
Lead führte sein Pferd an die Halfterstange vor dem Mietstall. Da fiel das Tier am wenigsten auf. Dann schlenderte er weiter auf die Zimmereiwerkstatt zu.
Unten links in der Wohnstube sah er Licht. Vom Vorbau aus konnte er durch das Fenster den Zimmermann mit seiner Frau und vier Kindern am Abendbrottisch sitzen sehen. In der Werkstatt war alles still.
Jake Lead kannte sich hier gut aus, denn er hatte eine Weile bei Griffith gearbeitet.
Er gab sich nicht einmal große Mühe, die Tür zur Werkstatt geräuschlos zu öffnen.
Er sah sich im Raum um und fand, was er suchte. Einen großen, nicht allzu schweren Balken, einen kleineren Querbalken und eine Stützstrebe.
Jemand, der ihn jetzt beobachtet hätte, würde schwerlich begriffen haben, was der entsprungene Sträfling hier zusammensuchte.
Es waren die Bestandteile eines Galgens!
Lead packte die drei Hölzer unter den Arm und schleppte sie hinaus in den Hof.
Aus einem Kaninchenkasten zog er ein paar Stricke und verließ dann das Anwesen des Zimmermanns.
Er hatte es nicht nötig, die Stadt zu verlassen, um seinen Galgen zurechtzubauen. Mitten in Fairbanks lag der Hof des alten Wucherers Gabriel Hunting. Der steinalte Mann lebte allein in seinem Haus, und da Lead von der Gasse aus das Licht in seinem Küchenfenster sah und auch den Alten bald erspähte, wußte er, daß er ungestört ›arbeiten‹ konnte.
Hunting war stocktaub und sah obendrein noch schlecht. Er würde den Mann auf seinem Hof gar nicht bemerken.
Der ›Heimkehrer‹ machte sich an die Arbeit; er baute mit Hilfe der Stricke einen Galgen zusammen.
Da es kalt und regnerisch war, legte man sich in Fairbanks bald zur Nachtruhe nieder. Zwar war in den beiden Saloons noch Betrieb bis fast gegen elf Uhr, aber das störte den entsprungenen Sträfling nicht.
Er hatte sein Pferd in Huntings Hof zurückgelassen – und den fertigen Galgen auch.
Er machte sich nicht die Mühe eines Umweges, sondern ging durch die kleine Watergasse hinauf zur Mainstreet, überquerte sie und verschwand zwischen zwei Häusern in dem Garten der Bäckerei, die dem dicken Kehden gehörte.
Dort lehnte er sich auf den Zaun und starrte hinüber in den Hof.
Es war der Hof des Sheriffs.
Fred Douglas war seit neun Jahren der Gesetzesmann von Fairbanks. Er war dreiundvierzig Jahre alt, mittelgroß, untersetzt, nicht allzu klug, hatte ein pockennarbiges Gesicht und eine zu große Nase. Im Grunde war er kein übler Kerl, aber auch kein sonderlich guter Gesetzesmann.
Ganz sicher ahnte Fred Douglas nicht, als er sich jetzt unten in seiner Schlafstube niederlegte, daß er den Morgen nicht mehr erleben würde. Der Häscher stand bereit.
Unverwandt starrte Jake in den düsteren Hof des Sheriffs.
Fast eine Stunde war vergangen, als er seinen Posten verließ, sich wie ein Schatten vom Zaun löste und sich über die niedrige Fenz in den Hof des Sheriffs schwang.
Auch hier schlich er nicht etwa wie ein Raubtier vorwärts, sondern ging aufrecht auf die Hoftür zu.
Sie war unverschlossen, wie immer.
Jake Lead trat in den dunklen Flur.
Er kannte sich genau hier aus, denn die beiden Türen auf der rechten Seite des kleinen Ganges hatte er vor Jahren zusammen mit Mr. Griffith selbst eingesetzt.
Die letzte Tür auf der linken Seite führte ins Sheriffs Office, die Tür dahinter zum Zellengang des Gefängnisses, die zweite Tür auf der rechten Seite in die Schlafkammer des Sheriffs.
Jake Lead stand jetzt davor. Seine Hände waren eiskalt.
Er umspannte den Drehgriff, drehte ihn nach rechts und lauschte dann dem ganz leisen Knarren der Angeln nach.
Vorn rechts neben der Fensterbank stand das Lager, auf dem der Sheriff schlief.
Gegen das schwache Licht, das durch das Fenster in den engen Raum drang, konnte der Eindringling den Schläfer auf dem Bett ziemlich gut erkennen.
Lead ging vorwärts und stand dann vor dem Bett des Sheriffs.
Douglas hatte einen Schlaf wie ein Bär. Nicht einmal die harten Geräusche, die die Stiefel des Sträflings auf den Fußbodendielen verursacht hatten, hätten ihn wecken können.
Mitleidlos stand der Rächer vor seinem Opfer. Er ließ sich Zeit…
Als Jake den Hof des Sheriffs verließ, war er von der gleichen eisigen Gelassenheit beherrscht, mit der er das Anwesen betreten hatte.
Den ersten Teil seiner blutigen Rache hatte er vollzogen.
Nebenan in dem gedrungenen Bau wohnte Joe Calhoun, der lange Deputy, dem er seinen Untergang verdanken zu müssen glaubte.
Aber Calhoun lebte nicht allein wie der Sheriff. Er war zwar nicht verheiratet, hatte aber eine Schwester und einen Onkel, und der Hilfssheriff und seine Schwester hatten je ein Zimmer bei ihm.
Jake Lead kannte das Zimmer Joe Calhouns genau; er hatte dort einmal eine neue Fensterbank eingesetzt.
Jake stand vor der Fenz des Sheriffhofes und blickte in die kleine Gasse.
Es war alles still. Die Stadt hatte nichts von dem grausigen Mord bemerkt, der sich in diesen Minuten abgespielt hatte!
Lead ging bis zum Nachbarhof, zog sich an der etwas höheren Fenz hinauf, rutschte jedoch ab, da seine Finger auf dem feuchten Holz abglitten.
Er mußte den Sprung dreimal wiederholen, ehe es ihm gelang, hinaufzukommen.
Das war das erste Hindernis, das sich ihm in den Weg gestellt hatte. Obgleich niemand bemerkte, daß hier jemand versuchte, in den Hof fremder Menschen zu kommen, hatte dieser Widerstand durch die Fenz des Deputy Calhoun Jake doch etwas durcheinandergebracht.
Er ging nicht mehr mit der gleichen Gelassenheit vor, mit der er noch eben gehandelt hatte.
Hastig lief er von der Fenz auf das Haus zu und versuchte die Tür zu öffnen.
Sie war verschlossen.
Links war das Küchenfenster.
Es war nicht ganz verschlossen. Lead schob sein Bowiemesser zwischen das Fenster, konnte die Öffnung vergrößern und es schließlich so weit hochschieben, daß er durchzuklettern vermochte. Sekundenlang stand er im Dunkel des Küchenraumes und lauschte ins Haus. Hier unten roch es nach frischem Sonntagsbrot und Holz.
Der Eindringling ging auf die Tür zum Flur zu, öffnete sie und horchte in den Gang.
Irgendwo im Haus schlug eine Uhr. Lead zuckte zusammen.
Er mußte die Treppe hinauf.
Das war nicht leicht, denn die hölzernen Stufen sangen, ächzten und knarrten eine scheußliche Melodie, die ihm in der Stille der Nacht wie der Lärm eines ganzen Orchesters vorkam.
Er hatte das Obergeschoß erreicht und sah am Ende des kleinen Flures das Fenster zur Straße hinaus, von der ein diffuser Lichtschein in den Flur kam.
Vorn links war Calhouns Zimmer.
Jedenfalls war es da früher gewesen.
Lead hatte jetzt vieles von seiner vorherigen Kälte verloren. Unschlüssig stand er vor der Tür. Dann packte er den Messinggriff, drehte ihn, und unter dem Ächzen der Türangeln zuckte er wieder zusammen.
Lauschend blieb er stehen. Aber im Zimmer waren nur die gleichmäßigen Atemzüge eines Menschen zu hören. Das Bett war drüben an der gegenüberliegenden Wand.
Er blieb wie angewurzelt stehen.
Plötzlich war etwas wie Angst in dem Mörder. Angst, die durch das winzige Hindernis der Fenz unten in ihm aufgestiegen war. Es ging doch nicht alles so, wie er es sich zurechtgelegt hatte.
Er stand jetzt in der Mitte des Raumes und starrte zu dem Schläfer hinüber.
Da lag der Mann, dessentwegen er vor allem den Weg hierher nach Fairbanks gemacht hatte! Dessentwegen er die gefährliche Flucht auf sich genommen hatte. Der ihn – seiner Auffassung nach – nach Fort Worth gebracht hatte.
Während er hier stand und auf den Schlafenden niederblickte, stiegen vor ihm noch einmal die furchtbaren Bilder der letzten Tage auf, die er vor drei Jahren in dieser Stadt verbracht hatte.
Seine Hinrichtung war von Richter Salomon Gipps für den Tag nach der Verhandlung angesetzt worden.
Die Nacht zum Hinrichtungsmorgen hatte er schlaflos in seiner Zelle drüben im Jail verbracht. Es war die fürchterlichste Nacht seines Lebens gewesen und hatte seine ohnehin verkapselte Seele völlig verhärtet.
Es war vier Uhr geworden, fünf, und dann wurde die Zellentür geöffnet. Er hörte den harten dröhnenden Schritt Joe Calhouns im Zellengang.
Der Deputy trat vor die Gittertür.
»He, es geht los.«
Ohne ein Wort der Erwiderung hatte sich der Todeskandidat von seiner Pritsche erhoben.
Calhoun schloß die Gittertür jedoch nicht auf, sondern blieb stehen und riß ein Zündholz an, mit dem er sich seinen Zigarrenstummel anzündete.
»Ja, Lead, so ist das nun mal. Wer sich in unserer Welt nicht einfügen kann, der muß sie verlassen. Jetzt baumelst du eben. Es ist nicht schade um dich. Du warst ein Strolch. Na ja, es gibt viele Strolche. Du aber hast einen Mann erschossen. Du hattest kein Recht, den fremden Cowboy niederzuknallen. Wenn du mir jetzt erzählen willst, daß es ein Gunfight war, dann sage ich dir, daß du lügst. Jedem anderen hätte ich es geglaubt. Dir aber nicht: Du bist ein Mörder!«
Alles, was Joe Calhoun sagte, meinte er ehrlich. Er war mehrmals mit Lead zusammengeraten und dabei bisher immer im Recht gewesen. Daß er jetzt nicht im Recht war, wußte er nicht. Jedenfalls war es völlig überflüssig, dem zum Tode Verurteilten auch noch einen Vortrag zu halten. Dabei hatte es Joe Calhoun nicht übel gemeint. Er sagte es, weil er so dachte.
Wie mit Stahlmeißeln hatte sich jedes seiner Worte im Gehirn des Verurteilten eingegraben.
Endlich holte Joe den Verurteilten aus der Zelle heraus, packte ihn mit seiner Riesenpranke am Arm und schob ihn vorwärts. Vorn im Office fesselte er ihm die Hände auf dem Rücken zusammen.
»So, auf geht’s zum Galgenhügel, Junge. Der Sheriff wird gleich kommen, und der Richter muß auch bald da sein.«
Es war ein kühler, unfreundlicher Morgen gewesen, und die Oktobersonne ließ auf sich warten.
Die Sonne – und der Richter.
Sheriff Douglas hockte bereits hinter seinem Schreibtisch, und Calhoun stand an der Tür und starrte auf die Straße. Der Mann, der zum Galgen geführt werden sollte, stand vor der Tür zum Zellengang, an den Händen gefesselt und am Fuß eine Eisenkugel.
Der Richter kam erst gegen sieben Uhr.
Die drei Männer blickten ihn an.
»Bringen Sie ihn zurück«, sagte Salomon Gipps und deutete mit dem Kopf auf den Gefangenen.
Calhoun warf seinem Boß einen kurzen Blick zu und fragte den Richter: »Weshalb, Mr. Gipps?«
»Fragen Sie nicht«, herrschte ihn der Sheriff an. »Wenn der Richter sagt, Sie sollen ihn zurückbringen, dann bringen Sie ihn zurück.«
Calhoun zog die Schultern hoch, nahm dem Gefangenen die Stricke von der Hand und die Eisenkette vom Fußgelenk und führte ihn zurück in die Zelle.
Wie im Traum schritt Jake Lead den kurzen Weg durch den Zellengang zurück, wurde wieder eingesperrt und behielt das Dröhnen der schweren zugeworfenen Gittertür noch lange in den Ohren.
Es war acht Uhr, ehe die drei vor seiner Zelle erschienen.
Inzwischen war es längst Tag geworden, und eine dünne weiße Sonne warf ein fahles Licht auf die Stadt. Nur wenig davon fiel durch die schmale Fensterluke im Zellengang.
Wie drei Bäume standen die Gestalten vor der Zellentür.
»Aufschließen!« gebot der Richter.
Calhoun schloß auf.
Der Sheriff trat auf den Gefangenen zu. »Jake Lead, ich habe Ihnen etwas mitzuteilen. Ihr Todesurteil ist von Richter Gipps in lebenslängliche Strafhaft im Lager Fort Worth drüben in Texas umgewandelt worden.«
Es war drei Herzschläge lang still in dem düsteren Zellengang. Dann fiel nur ein Wort in die Stille hinein; es kam von den Lippen des Verurteilten:
»Weshalb?«
Richter Gipps krächzte: »Wir sind Ihnen darauf keine Antwort schuldig. Aber ich will es Ihnen dennoch sagen. Es haben drei Menschen bei mir für Ihr Leben gebeten. Ein altes Gesetz von Arizona besagt, daß ein Richter verpflichtet ist, nach dem dritten Bittgesuch Gnade walten zu lassen.«
Es gab drei Menschen in dieser Stadt, deren Mitleid er erregt hatte!
Aber in dieser grauen Morgenstunde fand diese Tatsache keinen Weg zum Herzen des Begnadigten. Er sah nur die drei Männer, den Richter, den Sheriff und den Deputy vor sich stehen und schwor ihnen blutige Rache.
Der Tod durch irischen Hanf war ihm für diesmal erspart geblieben.
Calhoun selbst brachte ihn mit schweren eisernen Handschellen gefesselt nach Fort Worth.
Die Zeit in dem Straflager hätte manchen Menschen zur Besinnung kommen lassen. Nicht aber den haßerfüllten Mann aus Fairbanks. Tag und Nacht schmiedete er seine Rachepläne. Erst als er sie völlig klar vor sich stehen hatte, begann er seine Flucht vorzubereiten.
Und nun stand er hier in Fairbanks im Zimmer von Joe Calhoun.
Die Angst, die ihn seit dem Abrutschen von der Fenz erfaßt hatte, wich jetzt wieder dem Haß. Mit brennenden Augen starrte er auf den Körper unter den dunklen Decken.
Dann stürzte er vorwärts und hieb mit der Stichwaffe in wildem Zorn auf den Schlafenden ein.
Nur ein röchelnder Laut war zu hören. Dann war es still.
Als der zweifache Mörder den Gang erreicht hatte, sah er an dessen Ende die Gestalt eines Mannes stehen, deren Konturen sich deutlich vor dem Fenster abzeichneten.
Eisige Angst würgte dem Verbrecher in der Kehle.
Er riß seinen Revolver aus dem Halfter und stieß ihn nach vorn.
Da sah er, daß der Mann das Fenster öffnete. Er hatte ihm also den Rücken zugekehrt.
Lead huschte sofort in das Zimmer zurück und wartete, bis der Mann verschwunden war. Er mußte der Onkel des Deputy gewesen sein.
Die Schritte auf dem Gang waren verklungen, und die Tür war wieder geschlossen worden.
Da verließ der Mörder das Haus.
Er kehrte in den Hof Huntings zurück, packte den Galgen und nahm einen Spaten mit, den er hier aus dem Gerätehaus weggenommen hatte.
In der Mainstreet war es völlig still geworden. Zwar fiel aus den Fenstern von Websters Saloon noch ein schwacher Lichtstreif auf die Vorbauten hinaus, aber das kümmerte den Mörder nicht.
Dicht vor dem Vorbau des Sheriffs Office hob er eine yardtiefe Grube aus. Da hinein stellte er den Galgen und band ihn an dem Geländer des Vorbaus fest.
Von der anderen Straßenseite aus betrachtete er sein Werk mit Befriedigung. Es war ein scheußlicher Anblick. Der Galgen ragte über das niedrige Vorbaudach hinaus und warf seine scharfe Silhouette in den hellen Nachthimmel. Der Mörder hatte nicht versäumt, an den Galgen einen kurzen Strick mit einer Schlinge zu hängen.
Dann stahl er sich davon.
Sein nächster Weg galt einem etwas abseits liegenden Haus am Westende der Stadt. Es war ein zweigeschossiger Bau, der von einem kleinen Garten umgeben wurde: das Haus des Richters Salomon Gipps.
Der entsprungene Sträfling ging um das Haus herum und blickte in den Hof.
Der Hund, der früher hier gewacht hatte, schien nicht mehr da zu sein; er hätte sonst längst angeschlagen. Man konnte früher nicht einmal am hellichten Tag näher als zwanzig Schritt an das Anwesen herankommen, ohne daß das Tier laut gebellt hätte. Und jetzt, in der Nacht, blieb alles still.
Lead stieg über die niedrige Mauer in den Hof und ging auf die hintere Tür des Hauses zu.
Sie war verschlossen.
Auch die beiden Fenster waren verschlossen.
Der Mörder zerquetschte einen Fluch zwischen den Lippen und ging um das Haus herum auf die Vorderfront zu.
Der Eingang war verriegelt, und die Fenster an der Vorderfront waren alle dicht geschlossen.
»Aha, der Skunk hat sich gesichert! Dieser feige Kojote!« preßte der Entsprungene durch seine Zähne. »Aber das soll ihm nichts nützen! Ich werde ihn finden.«
Er ging wieder um das Haus und starrte voller Ingrimm auf eine der Fensterscheiben zu ebener Erde.
Er hatte an alles gedacht. In dem kleinen Bündel, das er bei sich trug, hatte er einen Klumpen Schmierseife. Jetzt verteilte er sie auf das untere Fenster, drückte dann einen Lappen darauf und schob die Schulter gegen die Scheibe. Mit einem leisen Bersten zersprang das Glas, aber es blieb an der Schmierseife kleben. Nur zwei oder drei Splitter fielen in den Küchenraum. Das Geräusch, das sie verursachten, war so gering, daß nur ein Mensch, der sich in diesem Raum aufgehalten hätte, es gehört haben würde.
Der Bandit schwang sich über die Fensterbrüstung und stand im Küchenraum.
Rasch durchmaß er ihn und wollte die Tür öffnen.
Verschlossen!
Damned. Was jetzt! Er hatte nur Seife für ein einziges Fenster bei sich gehabt. Es blieb ihm keine Wahl, er mußte die Tür mit dem Messer sprengen. Das war eine zeitraubende und gefährliche Aufgabe.
Aber nach sieben oder acht Minuten hatte er das Schloß mit dem Messer aufgerissen.
Jetzt stand er im Hausgang auf einem dicken Läufer und lauschte. Irgendwo ächzte eine nicht geschlossene Fensterlade im Nachtwind.
Lead kannte das Haus des Richters nicht so genau wie die beiden Häuser des Sheriffs und Calhouns. Aber auch hier hatte er schon ein Fenster und eine Zimmertür eingesetzt.
Er wußte, daß das Schlafzimmer des Richters im Obergeschoß zur Straße hinaus lag. Richter Gipps wohnte mit seiner Frau und seiner dreißigjährigen Tochter hier.
Da der Eindringling durch das verschlossene Haus und das Aufsprengen der Küchentür sehr viel Zeit verloren hatte, beeilte er sich jetzt, die Treppe hinaufzukommen.
Als er im Obergeschoß angekommen war, ließ ihn das Ächzen der Fensterlade wieder zusammenzucken.
Er lauschte ins Haus und kroch dann auf allen vieren weiter.
Hier oben gab es drei Türen. Die vorderste zur Straße hin mußte zum Schlafzimmer des Richters führen.
Lead richtete sich neben ihr auf und faßte nach dem Drehgriff.
Damned! Die Tür war verschlossen.
Der Verbrecher unterdrückte einen Fluch und wandte sich zur gegenüberliegenden Tür.
Auch sie war verschlossen.
Mit zusammengepreßten Zähnen und geballten Fäusten stand der zweifache Mörder da und starrte vor sich hin.
Hier hatte sich ein Hindernis vor ihm aufgetürmt, das offenbar unüberwindbar war.
»Well, ich komme wieder!« Nach diesem Versprechen verließ er das Haus auf dem Wege, auf dem er es betreten hatte.
Es war nicht das Mißtrauen eines Mannes, der sich einriegelt, was dem Richter das Leben gerettet hatte – er war überhaupt nicht da. Vor vier Tagen war er mit seiner Familie hinüber nach Tombstone gefahren, wo eine seiner Verwandten Hochzeit feierte.
Der Mörder ging in die Stadt zurück und holte sein Pferd.
Dann machte er einen Fehler: Anstatt Fairbanks zu verlassen, ritt er um das Sheriffs Office herum, blieb in der engen Parallelgasse hinter den Höfen des Sheriffs und des Deputy Calhoun stehen und blickte auf die düsteren Rückfronten der Häuser.
Es fing an zu regnen.
Eine Seltenheit in diesem Lande. Aber die sanft niederfallenden Tropfen, die auf den Hutrand und die Schultern des Banditen fielen, hatten eine beruhigende Wirkung auf die aufgepeitschten Nerven des Verbrechers.
Der Mann merkte gar nicht, daß es immer stärker und stärker regnete. Rasch war der sandige Boden aufgeweicht, und nebliger Dunst stieg in der engen Gasse auf.
Der Regen war endlich so stark geworden, daß Lead beschloß, davonzureiten.
Mit hochgeschlagenem Jackenkragen und eingezogenem Kopf vornübergebeugt im Sattel hängend, so verließ er die Stadt, in der er blutige Rache genommen hatte.
*
Der Morgen graute bereits, als von Nordwesten zwei Reiter in die breite Mainstreet von Fairbanks kamen.
Der eine war ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und schmalen Hüften, mit schwarzem Hut und schwarzem Lederzeug. Er saß auf einem hochbeinigen Falbhengst.
Der Mann neben ihm war ähnlich gekleidet wie er, nur daß er schwarzes Tuchzeug trug. Er saß auf einem perlschwarzen Hengst.
Die Gesichter der beiden Männer waren im grauen Licht des Morgens nicht zu erkennen.
Die beiden waren bis in die Mitte der Stadt gekommen, als der Falbreiter plötzlich sein Pferd anhielt und den Gefährten anstieß.
»Doc«, sagte er leise, »sehen Sie da hinüber.«
Es waren Wyatt Earp und Doc Holliday, die von Port Latur kamen und die Jagd nach dem Mexico Man Jallinco hinter sich hatten. Die beiden Dodger waren auf dem Weg nach Tombstone.
Wyatt Earp hatte drüben vor dem Haus des Sheriffs den Galgen entdeckt. Ebenso verblüfft wie er blickte nun auch der Gambler auf das makabre Gerüst, das drohend in den schwarzgrauen Morgenhimmel ragte.
Der Georgier stieß ein leises unheimliches Lachen aus. »Ich wußte es ja, daß wir es nicht einmal bis Tombstone schaffen würden«, meinte er, nahm eine feuchtgewordene Zigarette aus seiner Revolvertasche und riß ein Zündholz an.
Die Zigarette schmeckte schlecht, fade und feucht.
Der Gambler schnipste sie wieder von sich. Die Glut zerstob in einer Regenlache.
Wyatt Earp führte seinen Hengst an den Vorbau des Sheriffs Office und glitt aus dem Sattel.
Seine Glieder waren von dem langen Ritt durch den Regen steif und müde geworden.
Auch Doc Holliday stieg ab.
Sie warfen ihre Zügelleinen um den Querholm und betraten den Vorbau.
Die Tür des Offices war verschlossen.
Ohne sich erst verständigen zu müssen, gingen sie durch eine Häuserlücke in die Parallelgasse und blickten in den Hof des Sheriffs Office.
Da schien alles still zu sein.
Der Missourier kniff die Augen zusammen und meinte dann flüsternd: »Die Hoftür steht offen.«
Holliday wollte weitergehen auf das Tor zu, als der Marshal ihn festhielt.
»He, warten Sie«, flüsterte er und deutete auf den aufgeweichten Boden, der jetzt im silbergrauen Frühlicht die scharfen Spuren eines Pferdes zeigte.
»He, da hat es einer eilig gehabt! Fußabdrücke an der Mauer…«
Die beiden Männer folgten den Spuren und stellten fest, daß sie durch eine Querstraße aus der Stadt führten.
Wyatt Earp blickte der Fährte nach.
»Er ist nach Südosten geritten.«
Der Spieler nickte. »Ja, nach Tombstone.«
Sie waren zurückgegangen und kletterten über den Zaun des Sheriffs Office.
Die Tür stand offen.
Wyatt Earp riß ein Zündholz an und suchte eine Wandlampe. Er fand auch eine, doch der Docht war so verrußt, daß er kein Feuer annahm.
Der Marshal tastete sich in dem Dunkel vor, riß wieder ein Zündholz an und fand die Schlafkammer des Sheriffs offen. Als er das dritte Zündholz anriß, bot sich ihm ein furchtbarer Anblick dar.
Ein Toter lag neben dem Bett am Boden.
Trotz seiner tödlichen Verletzung mußte der Mann, als er ein letztes Mal zur Besinnung gekommen war, versucht haben, aus seinem Bett herauszukommen. Aber nur etwa anderthalb Yard weit war er gekommen. Dann mußte er zusammengebrochen sein.
In seinem Rücken war ein dunkler blutiger Fleck.
Wyatt Earp wandte sich ab. Auf einer Stuhllehne hing eine Jacke, an deren linker Seite er einen großen sechszackigen Stern entdeckte.
Das Zündholz verlosch.
Holliday hatte in der Tür gestanden. Er kam jetzt näher und kniete neben dem Mann am Boden nieder.
Das Licht, das durch die Fenster fiel, war noch zu schwach, als daß er genaues hätte erkennen können. Deshalb riß der Marshal für ihn noch ein viertes Zündholz an.
Doc Holliday schüttelte sofort den Kopf.
»Er ist tot.« Er stand auf.
Die beiden verließen das Haus. Noch ahnten sie nicht, daß im Nebenhaus der Tod ein zweites Opfer geholt hatte.
Die Stadt erwachte.
Aus den Kaminen stieg lotrecht der Rauch von Holzfeuern in den unschuldigen Dezemberhimmel.
Wyatt Earp und Doc Holliday brachten ihre Pferde in einen kleinen Mietstall, der schräg gegenüber vom Office lag, und gingen auf ein Boardinghouse zu.
Ein Neger kam ihnen auf dem Vorbau entgegen.
»Sie suchen Quartier?« fragte er.
»Ja«, entgegnete der Marshal.
»Das Boardinghouse ist geschlossen. Sie müssen drüben ins Hotel gehen. Da ist es zwar teuer, aber sonst bekommen Sie nirgends Quartier.«
Das Grand Hotel von Fairbanks hatte unten zwei Fenster und oben zwei Fenster. Die oberen Fenster allerdings waren nur auf das Holz aufgemalt.
Eine alte Frau kam schlurfend an die Tür und öffnete mit mürrischem Gesicht.
»Was wollen Sie?« krächzte sie.
Unwillig knurrte der Georgier: »Wir wollen Ihnen Knöpfe verkaufen, Madam.«
»Was wollen Sie?« wiederholte die Alte.
»Zwei Zimmer«, entgegnete der Marshal.
»Zwei Zimmer? Ja, kommen Sie rein. Wir haben gerade noch zwei Zimmer frei.«
Das ganze Hotel hatte insgesamt drei Zimmer. Und in dem einen war ein Bekannter der Familie Miller, der das Hotel gehörte, untergebracht.
Die beiden Dodger legten sich zur Ruhe.
Als sie erwachten, fiel das trübe Mittagslicht durch die Fenster.
Wyatt Earp stand auf, wusch sich und rasierte sich. Als er auf den Korridor hinaustrat, kam ihm der Georgier schon entgegen.
»Scheußlicher Laden. Der Brandy schmeckt wie Brackwasser. Den Kaffee hier will ich gar nicht erst probieren.«
»Vielleicht können wir irgendwo anders frühstücken.«
Da trat ihnen die Alte aus der Küche entgegen.
»Zweimal Frühstück?« krächzte sie.
Der Georgier schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind Vegetarier.«
Die Alte kniff das linke Auge ein und zog den linken Mundwinkel hoch, so daß man keinen Finger mehr dazwischen gebracht hätte.
»Was sind Sie?«
»Vege… Ach«, der Georgier winkte ab, »wir haben keinen Hunger, Madam.«
»Ach so. Egal, bezahlen müssen Sie es trotzdem.«
Holliday blieb vor ihr stehen. »Wo wohnt der Mayor?«
»Der Mayor? Mein Sohn ist der Mayor.«
»Wo wohnt er?«
»Hier, er schläft noch. Sie können jetzt nicht mit ihm sprechen.«
»Wecken Sie ihn«, sagte der Marshal.
»Das geht nicht«, keifte die Alte. »Was bilden Sie sich ein? Mein Sohn hat keine Zeit, mit Ihnen zu sprechen. Er ruht sich aus. Schließlich ist er der Bürgermeister.«
»Ja, das ist bestimmt ein Grund, sich auszuruhen«, spöttelte der Georgier.
Die Frau warf den Kopf herum und riß ihn hoch, um den Spieler anzugiften: »Ich habe Ihnen gesagt, daß mein Sohn keine Zeit hat. Er schläft.«
»Ja, ja, das haben Sie gesagt. Trotzdem werden Sie ihn jetzt wecken. Dieser Mann da ist Wyatt Earp, Marshal Earp, haben Sie verstanden! Er hat mit Ihrem Sohn zu sprechen. Wecken Sie ihn, sonst wecke ich ihn.«
»Wyatt Earp?« Wieder flog der graue Kopf der Alten herum. Musternd huschten ihre Rattenaugen über die Gestalt des Marshals. »Sie sind Wyatt Earp?«
»Ja, bitte, wecken Sie jetzt den Mayor.«
Die Frau nickte und schlurfte die Treppe hinauf, wobei sie unablässig vor sich hin murmelte.
»Wyatt Earp, um Himmels willen, Wyatt Earp ist in der Stadt!«
Dann hörte man sie oben im Flur laut rufen:
»Greg! Greg, steh auf, Wyatt Earp ist hier, Greg, du mußt aufstehen. Wyatt Earp ist in der Stadt. Ja, ja, Wyatt Earp! Steh auf, gleich mußt du aufstehen. Er ist mit noch einem Mann hier. Sie sind ungeduldig. Steh auf, Wyatt Earp ist da!«
Doc Holliday sog geräuschvoll die Luft ein und nahm eine zweite Zigarette aus seiner Reservetasche, die ebenso feucht und zerdrückt war wie die erste.
Wyatt Earp sah ihn an.
»Ist Ihr Etui leer?«
»Ja, leider habe ich die beiden hier oben in der Tasche stecken gehabt. Sie sind hinüber.«
»Vielleicht könnte man sie drinnen am Ofen trocknen.«
Holliday warf einen Blick durch die halboffenstehende Küchentür. »Nein, wenn ich an den Brandy denke, dann verzichte ich darauf, die Küche zu betreten.«
Die Alte kam die Treppe heruntergestampft und rief ihnen schon vom letzten Podest entgegen: »Mein Sohn kommt sofort! Der Mayor kommt!«
»Ja, ja, schon gut.«
Sie öffnete die Tür zum Speiseraum und ließ die beiden eintreten. Der Raum war kalt, und den beiden schlug ein muffiger Geruch von Essen und Bier entgegen.
Sie blieben neben der Theke stehen.
Schlurfend folgte ihnen die Alte, nahm hinter der Theke Aufstellung und blickte sie auffordernd an.
»Noch einen Brandy?« meinte sie.
Doc Holliday hob den Zeigefinger der rechten Hand und bewegte ihn hin und her. »Ää.«
»Vielleicht einen Whisky? Er ist noch besser.«
»Noch besser?« wiederholte der Spieler. »Nein, dann ist er zu gut für uns.«
Ungerührt kehrte er der Alten den Rücken zu und lehnte sich gegen die Theke.
Wyatt Earp warf einen Blick auf das Zifferblatt der großen Wanduhr.
Da endlich wurden im Treppenhaus schlurfende Schritte laut.
Und als die Tür geöffnet wurde, sahen sie einen kleinen dicklichen Mann in den fünfziger Jahren auftauchen, der seine Jacke gerade anzog und keuchend näher kam. Aus seinem kragenlosen Hemd blickte ein faltiger Hals, der mit silbergrauen Bartstoppeln bedeckt war wie ein Kaktusfeld.
Der Mann hatte ein schwammiges, müdes Gesicht und kleine Augen, unter denen dicke Tränensäcke hingen.
Ein unangenehmer Geruch machte sich bemerkbar, als er vor den beiden Männern stand.
»Ich bin Mayor Howley. Ich hörte, Sie sind Wyatt Earp?«
»Ja.«
»Sie haben mich gesucht?«
»Ja. Wir sind im Morgengrauen in die Stadt gekommen und haben einen Galgen vorm Haus des Sheriffs entdeckt.«
»Einen Galgen«, stammelte der Bürgermeister. »Ich habe noch nichts davon gehört.«
»Kunststück«, entgegnete Holliday bissig. »Sie haben ja auch bis jetzt geschlafen.«
»Einen Galgen«, stöhnte der Bürgermeister und fuhr sich mit dem Zeigefinger durch die Falten, die vom Mundwinkel bis zu seinem rechten Auge hinaufführten. »Das ist doch nicht möglich. Ein Galgen? Um Himmels willen, das bedeutet ja…, daß die Galgenmänner in der Stadt wären.«
»Oder gewesen sind«, entgegnete der Marshal. »Der Sheriff ist tot. Hatte er einen Deputy?«
»Ja, Joe Calhoun, er wohnt gleich nebenan.«
»Kommen Sie.«
Die drei Männer verließen das Haus. Und der Mayor deutete auf das kleine Haus, in dem der Deputy wohnte.
Wyatt trat in den Hausflur und begegnete einem älteren Mann.
Der Mayor schob sich nach vorn. Er erklärte dem Alten:
»Das ist Wyatt Earp, Mr. Asman. Er will mit Joe sprechen.«
»Joe? Damned, er schläft noch. Hätte eigentlich längst unten sein müssen.«
Der Georgier knurrte: »Hier scheint die halbe Stadt bis in den hellen Mittag hinein seelenruhig zu schlafen.«
Ein Mädchen kam die Treppe herunter. Sie hatte die Worte der Männer gehört.
»Ich werde ihn gleich wecken«, sagte sie und ging die Treppe wieder hinauf, und wenige Sekunden später erzitterte das Haus unter einem gellenden Hilfeschrei.
Mit weiten Sätzen war der Marshal sofort auf der Treppe. Gleich darauf stand er in dem Zimmer, in dem der Deputy lag. Calhoun war nicht tot. Aber er war schrecklich zugerichtet. Mehrere Messerstiche hatten ihn im Rücken schwer verletzt.
Wyatt lief sofort zurück und rief ins Treppenhaus:
»Doc, kommen Sie schnell!«
Der Georgier erschien sofort. Düster blickte er auf den Schwerverwundeten.
Nach einer kurzen Untersuchung erklärte er: »Ich habe nicht sehr viel Hoffnung. Er ist lebensgefährlich verletzt…«
Fairbanks war erschüttert von der Nachricht.
Der Sheriff tot, und sein Deputy lebensgefährlich verletzt!
Wyatt Earp und Doc Holliday standen unten im Office bei dem Mayor und drei Mitgliedern des Bürgerrates.
»Was sollen wir jetzt tun?« stotterte der Mayor.
»Wir müssen den Mörder suchen«, meinte ein rußiger Blacksmith.
»Den Mörder suchen«, krächzte der Mayor und sah sich nach allen Seiten um. Er war ebenso wie die anderen Mitglieder des Bürgerrates von einer großen Angst gepackt, die sich weniger auf den Tod des Sheriffs bezog, als auf die Tatsache, daß die Galgenmänner hier zugeschlagen hatten.
Vielfach suchten sich diese Banditen nämlich gleich mehrere Opfer. Hier hatten sie zweimal zugeschlagen, und es stand zu befürchten, daß sie sich noch weitere Opfer holen würden.
Dabei hatte der Mann, der den Galgen vor dem Haus des Sheriffs aufgestellt hatte, gar nichts mit den Graugesichtern zu tun. Erst in den letzten Wochen seines Aufenthaltes in Fort Worth hatte Jake Lead von den Galgenmännern gehört. Die wildesten Geschichten kursierten über diese Bande. Immer wieder wußten sich die Sträflinge neue Geschichten von den Graugesichtern zu erzählen. Selbstverständlich war auch die Nachricht, daß der Marshal Earp den Kampf gegen die Crew aufgenommen hatte, bis ins Straflager gedrungen.
Jake Lead hatte sich dann entschlossen, sich die Galgenmänner zunutze zu machen. Deshalb hatte er den Galgen aufgestellt. Niemand würde auf den Gedanken kommen, daß der entflohene Sträfling Jake Lead der Mörder war. Alle würden die Morde den Graugesichtern zuschreiben.
Und die Überlegung war berechtigt.
Dennoch stand der Marshal Earp ihr argwöhnisch gegenüber.
Als die beiden Dodger am Nachmittag das Sheriffs Office verließen, meinte der Georgier: »Ich habe so das Gefühl, daß Sie nicht an die Galgenmänner glauben?«
Der Marshal zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht recht. Es ist schließlich nicht ausgeschlossen, daß irgendein Halunke den Brauch dieser Bande angenommen hat, um dadurch seine Spuren zu verwischen und den Verfolgern Angst einzujagen. Wer will schon die Galgenmänner verfolgen!«
Holliday lachte leise in sich hinein.
»Ich weiß zwei unverbesserliche Männer, die es sich offensichtlich in den Kopf gesetzt haben, die Galgenmänner zu verfolgen, bis an den Rand der Welt.«
Da blieb der Marshal stehen. Er hatte auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Menschen entdeckt, der an einen Vorbaupfeiler lehnte und ihm mit der linken Hand zuwinkte, wobei er dümmlich grinste.
Der Marshal ging auf ihn zu: »Was gibt’s, Mister?« fragte er barsch.
Der Mann öffnete den Mund und zeigte ein scheußliches Gebiß. Ohne sich von dem Pfeiler zu lösen, krächzte er im höchsten Diskant: »Sein Ohr ist halb… halb weg! Ja, ja…«
»Von wem sprechen Sie?« Wyatt blickte den Mann forschend an.
Der grinste und lachte blöde.
Holliday stieß den Missourier unbemerkt an.
Wyatt nickte. Er hatte schon gemerkt, daß dieser Mann geistesschwach war.
Während sie weitergingen, meinte der Georgier:
»Ich habe ein paarmal erlebt, daß diese Leute nicht unbedingt Unsinn reden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Well, ich will dem, was er gesagt hat, noch keinen Wert beimessen, aber vielleicht ist es doch gut, wenn wir uns seine Worte für alle Fälle merken. Er hat etwas von einem halben Ohr geredet. Wie ist er nur darauf gekommen.«
»Wie andere auf weiße Mäuse verfallen. Oder er hat wirklich so was gesehen…?«
Es war gegen fünf Uhr, als sich die beiden Dodger in die Sättel ihrer Hengste zogen.
Der Mayor stand vor ihnen. »Sie wollen wirklich die Stadt verlassen, Mr. Earp? Doc Holliday, könnten Sie nicht wenigstens bleiben?«
Der Spieler grinste. »Nein, tut mir leid, und wenn ich gewußt hätte, was hier auf uns wartet, wäre ich bestimmt in weitem Bogen um die Stadt herumgeritten.«
»Das sollten… das sollten… Sie nicht sagen«, stotterte der Mayor. »Es ist eine schöne Stadt. Es ist unser Unglück, daß die Galgenmänner sie jetzt in Verruf bringen.«
Einer der Stadträte, ein kleiner hagerer Mann mit verkniffenem Gesicht, knurrte: »Ich finde, es ist Ihre Pflicht, Marshal, daß Sie den Mörder jagen.«
Da stieg Doc Holliday blitzschnell vom Pferd und trat vor den Mann hin. »Was haben Sie eben gesagt, Mann?«
»Ich habe nicht mit Ihnen gesprochen, Doc. Ich sprach mit dem Marshal.«
»Sie sollen mir wiederholen, was Sie gesagt haben.«
»Ich habe gesagt, daß es die Pflicht des Marshals wäre, den Mördern zu folgen.«
»So, das ist die Pflicht des Marshals, finden Sie? Soll ich Ihnen sagen, was Ihre Pflicht ist, Mister?«
Der Mann retirierte mehrere Schritte. »Sie haben doch nicht etwa die Absicht, mich zu bedrohen, Doc Holliday?«
»Doch, das kann leicht passieren, nämlich, wenn Sie eine so blödsinnige Rede noch einmal vom Stapel lassen. Kümmern Sie sich um die Angelegenheiten Ihrer Stadt gefälligst selbst.«
Er packte den Sattelholm und zog sich wieder auf den Rücken seines Hengstes. Die beiden nahmen die Zügelleinen auf und trabten aus der Stadt.
Schweigend ritten sie nebeneinander her. Obwohl es noch verhältnismäßig früh am Tage war, stiegen schon wieder die Nebelschwaden hoch. Die Sonne hatte ihren kurzen Tageslauf schon beendet und war hinter den Sanddünen der Savanne verschwunden. Es begann wieder leise zu regnen.
»In zehn Jahren haben sie das Land derartig verseucht, daß es höchstwahrscheinlich nur noch Galgenmänner gibt«, sagte der Georgier leise vor sich hin.
Der Marshal sog die Luft tief in die Lungen ein und stieß sie langsam prustend aus.
»Ja, wenn es so weitergeht, dann ganz bestimmt«, entgegnete er.
»Irgendwie müßte man doch die Armee einschalten können. Das Unwesen nimmt ja wirklich überhand.«
»Die Armee?« Der Marshal lachte. »Nein, Doc, das wird nicht viel Wert haben. Die Armee ist viel zu schwach und überaltet. Da sind die Graugesichter ganz bestimmt in der Überzahl. Sie würden die wenigen Soldaten, die wir noch hier haben, innerhalb weniger Wochen ausgerottet haben.«
»Und wie glauben Sie, daß die Geschichte ausgehen wird?«
»Ich weiß es nicht. Solange der Große Boß noch auf freiem Fuß herumläuft, ist ein Wachsen der Bande gar nicht zu verhindern.«
Der Spieler nickte. »Ja, das ist richtig. Also müssen wir ihn um jeden Preis finden.«
»Um jeden!« wiederholte der Marshal.
Sie hatten den Weg nach Osten eingeschlagen und ritten jetzt auf der Overlandstraße, die nach Tombstone führte. Es war dunkel, als sie von Nordwesten her am Graveyard vorbei in die Fremontstreet und dann hinunter in die Allenstreet einbogen.
Grau, feucht, neblig und von einer dumpfen Luft umgeben, empfing sie das ungastliche Tombstone.
»Ein Höllennest«, meinte der Georgier. »Gäbe es nicht als einzigen Lichtblick den langen Luke Short hier, so könnte der Teufel dieses Nest holen.«
In der Tat wirkte die Stadt ›Grabstein‹ heute noch düsterer und unheimlicher als sonst. Sie hatte dem Marshal Earp und seinem Gefährten schon so viel Unglück gebracht, daß die beiden am liebsten in einem Bogen von tausend Meilen Umweg daran vorbeigeritten wären.
Im Gegensatz zu den anderen Städten, die sie in den letzten Tagen durchritten hatten, herrschte auf Tombstones Mainstreet, der Allenstreet, reges Leben.
In Bob Jennifers Bar wurde gepokert. An einem Fenstertisch saßen vier Männer und starrten auf die Kartenblätter in ihrer Hand.
Da schob einer von ihnen, ein flachsbärtiger, hagerer Bursche sein Spiel zusammen und stand auf. Er hatte durchs Fenster gesehen und etwas entdeckt, das ihn vom Stuhl zog.
»Hölle und Teufel«, flüsterte er. »Wyatt Earp ist in der Stadt!«
Die drei anderen erhoben sich ebenfalls.
»Wyatt Earp?«
Der Blonde nickte. »Es läßt sich nicht leugnen.« Dann ruhte sein Blick wütend auf dem Begleiter des Marshals. »Und der Doc ist auch bei ihm.«
Sofort erhoben sich alle von ihren Plätzen und verließen die Schenke vom Hofeingang zu.
Als sie an der Theke vorbei wollten, steckte der Keeper seinen langen Arm aus und öffnete die Hand.
»Zahlen, Gents. Erst zahlen.«
Der Blonde fauchte ihn an. »He, was fällt dir ein! Dir geht’s wohl zu gut, he? Willst du ehrbare Leute beleidigen? Du siehst doch, daß wir austreten. Wir kommen gleich wieder.«
Der Keeper schüttelte den Kopf. »Nichts da, erst wird die Zeche bezahlt.«
Da holte der Blonde blitzschnell aus und hieb dem Keeper seine Faust unter die Kinnlade. Es machte nur schwupp, und der Keeper sauste hinter seine Theke zurück, wo er still am Boden liegen blieb.
Die vier Männer traten hinaus in den staubigen Hof und standen da hinterm Tor.
»Was jetzt?« fragte der Blonde.
Ein untersetzter, vierschrötiger Kerl mit Armen, die eher zu einem Gorilla zu gehören schienen, zog die Schultern hoch.
»Das mag der Teufel wissen. Wie kommt der Kerl hier in die Stadt? Ausgerechnet jetzt.«
Ein dürrer langer Mensch mit kleinem Kopf, der auf nur oberarmdickem Hals saß, krächzte: »Ich finde, das ist doch gar kein Problem.«
»Kein Problem?« fuhr ihn der Blonde an. »Na hör mal, wo hast du deinen Verstand gelassen? Es ist Wyatt Earp! Der Mann, den wir jetzt am wenigsten in dieser Stadt gebrauchen können.«
»Ach was, mit Harder werden wir so und so fertig.«
Miguel Harder war ein Geldverleiher. Er hatte sein Geschäft in der Straße, in der Rozy Gingers Bar lag. Harder war ein vierzigjähriger Mensch. Groß, kräftig, brutal, reich geworden nur durch Wucherzinsen.
Die vier Männer hatten es auf sein Geld abgesehen.
Der Blonde kratzte sich im Nacken. »Eines steht fest, wenn Wyatt Earp in der Stadt ist, können wir es nicht riskieren.«
Da stampfte der Gorillamann mit dem Fuß auf.
»Blödsinn! Carol hat recht, die Sache ist wirklich kein Problem. Ich übernehme den Marshal und ihr beide den Doc.«
»Und ich?« krächzte der Lange.
»Du deckst uns.«
»All right.«
Carol Lisson, Ernie Flipp, Jonathan Rademacher und Nat Higho traten auf die Straße. Sie stellten sich nebeneinander und versperrten den Fahrdamm.
Links und rechts auf den Vorbauten blieben Leute stehen. Trotz der Dunkelheit konnte ihnen nicht verborgen bleiben, was sich hier anbahnte.
Der Marshal und der Spieler waren vorm Oriental Saloon von den Pferden gestiegen. Bis auf vier Yard kamen die vier Banditen heran.
»He, Earp!« brüllte Rademacher plötzlich.
Wyatt Earp und Doc Holliday fuhren herum.
Da brüllten auch schon die Revolver der Banditen auf.
Obgleich sie die Überraschung für sich gehabt hatten, war ihre Chance doch nicht groß genug gewesen.
Oder besser gesagt: zu schnell war das Reaktionsvermögen der beiden Männer, die sie hatten überrennen wollen. Wyatt Earp und Doc Holliday hatten sich sofort im Fallwurf herumgeworfen und gefeuert.
Rademacher und Lisson torkelten in die Beine getroffen zurück. Rademacher taumelte zur Seite und stürzte gegen den Vorbau. Higho hob seine Arme in Schulterhöhe.
Wyatt Earp stand vom Boden auf, und Doc Holliday blieb sichernd hinter ihm stehen.
Langsam kam der Marshal auf Higho zu, der sich ergeben wollte, nahm ihm die Waffe aus dem Gurt und ließ ihn stehen. Dann ging er zu den anderen und entwaffnete sie.
Als er sich umwandte, stürmte oben vom Vorbau des Crystal Palaces mit Riesenschritten ein Mann näher, der sicherlich acht Fuß groß war. Es war der Texaner Luke Short, der seit einiger Zeit in Tombstone den Stern des Gesetzes trug.
»Hölle und Teufel, wer hat hier geschossen?«
Plötzlich erkannte er den Georgier vor sich. »Doc Holliday?« entfuhr es ihm verblüfft.
»Ja, Luke, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Wo ist der Marshal?«
Dann sah Luke auch schon den Marshal vor sich auftauchen. »Wyatt!«
»Hallo, Luke.«
Die Freunde begrüßten einander mit einem kurzen Händedruck.
»Hölle und Teufel!« rief der Texaner, als er die Gefangenen, die alle nicht schwer verwundet waren, vor sich her schob und auf das Office zuhielt. »Hier passiert Ewigkeiten nichts, und kaum sind Sie in der Stadt, dann ist der Teufel los.«
Holliday steckte den kleinen Finger ins Ohr und ließ ihn auf und ab vibrieren. »Mir ist doch, als habe ich den Satz schon ein paarmal gehört, Luke?«
»Ja, ich war sogar ein paarmal der Grund für solche Reden. Nur war es dann ein anderer Sheriff, der das sagte.«
»Kennen Sie die Kerle?« forschte der Marshal, als die Gefangenen im Jail steckten und von dem alten Doc Sommers behandelt worden waren.
»Nein, nie gesehen. Sie müssen heute in die Stadt gekommen sein.«
»Graugesichter?« forschte Doc Holliday.
Wyatt zog die Schultern hoch. »Keiner von ihnen hatte ein graues Tuch in der Tasche, und einen Ring trägt auch keiner von ihnen.«
»Trotzdem können es natürlich Galgenmänner sein«, gab der Spieler zu bedenken.
»Natürlich.«
Die drei Freunde saßen einander im Office gegenüber.
»Ich hoffe, daß meine Amtszeit hier zu Ende ist, Marshal?« Der Texaner hatte seine langen Beine von sich gestreckt, saß vorm Gewehrständer und blickte den Marshal, der hinterm Schreibtisch saß, forschend an.
»Ja, Luke, Sie brauchen nicht länger hierzubleiben. Ich glaube, daß wir es aufgeben können.«
Doc Holliday zog überrascht die Augenbrauen in die Stirn. Was sagte der Marshal da? Er wollte es aufgeben? Aber dann begriff der Gambler, daß Wyatt den Tex bei seiner Ehre packen wollte, um ihn zu weiterem Ausharren zu bewegen.
»Wir haben zwar den Boß der Bande noch nicht stellen können, aber das läßt sich dann eben nicht ändern. Dann muß eben die Bevölkerung sehen, wie sie selbst mit dieser Bande fertig wird.«
»Die Bevölkerung?« fragte der Riese und schob seine Virginia von einem Mundwinkel in den anderen, während er sich im Stuhl vorbeugte. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Wyatt. Wie sollen sich denn diese Leute gegen solche Halunken wehren können?«
»Na ja, das weiß ich auch nicht. Aber wir haben doch alles getan, was wir tun konnten. Wir ziehen seit Wochen durch die Gegend, vom Tal ins Gebirge und vom Gebirge wieder ins Tal, von einer Stadt in die andere.«
»Aber, ich bitte Sie«, meinte der Texaner und nahm die Zigarre jetzt aus den Zähnen. »Sie haben doch eine ganze Menge erreicht. Wenn ich bedenke, wie viele Leute der Bande Sie gestellt haben.«
»Schon –«, tat der Missourier mit hoffnungsloser Miene, »aber was ist damit schon erreicht? Die Galgenmänner scheinen sich ja zu vermehren wie die Karnickel in der Savanne.«
»Das ist ja eine verteufelte Geschichte«, meinte der Texaner, während er aufstand und seine Zigarre im Aschenbecher ausstieß.
Wyatt Earp erzählte von den letzten Erlebnissen.
Als der Texaner über alles im Bilde war, meinte er: »Herrgott, hat das lange gedauert, bis ich kapiert habe: Sie brauchen natürlich weiterhin hier einen guten Sheriff. Stimmt’s?«
Der Marshal blickte ihn unterm Hutrand hervor an und nickte dann. »Ja, Luke, es stimmt.«
Doc Holliday lachte leise in sich hinein. »Als ich ein kleiner Junge war, brachte mein Vater eines Abends ein Bilderbuch mit nach Hause, in dem eine lustige Geschichte berichtet wurde. Da gab es einen Mann, der einfach auf eine Rakete stieg und mit ihr davonflog, wenn es ihm an einem Ort dieser Erde nicht mehr gefiel. Ich denke schon seit Wochen an diese Geschichte.«
»Schade ist nur, daß es diese Rakete noch nicht gibt«, meinte der Texaner.
»Tja«, entgegnete der Georgier, »wirklich schade.«
In diesem Augenblick stürmte ein Mann mit einer grünen Schürze und einem Marienglasschirm auf der Stirn ins Office.
»Sheriff! Oh, der Marshal ist ja auch da. Gut! Kommen Sie bitte schnell! Bei mir ist eingebrochen worden.«
Es war Jimmy Hastings, Inhaber eines kleinen Boardinghouses am unteren Ende der Allenstreet.
Wyatt Earp und Luke Short rannten sofort hinaus.
Doc Holliday blieb an der Tür stehen und sah die Straße mißtrauisch hinunter. Er kannte Hastings seit Jahren und wußte, daß dem Mann nicht zu trauen war.
Der Gambler hatten kaum die Straße überquert und drüben in einem Hausgang Aufstellung genommen, als er aus dem Dunkel des Nachbarhauses einen Mann auf das Office zukommen sah, der sich nach allen Seiten umsah und dann die Tür zum Bureau öffnete.
Holliday kannte ihn. Es war ein ehemaliger Schlachtergehilfe namens Kid Fleming. Er hatte wegen Betruges und Tätlichkeiten mehrere Jahre im Jail gesessen.
Holliday ging langsam über die Straße zurück und trat in die offenstehende Tür des Bureaus ein.
Fleming hatte gerade den großen Schlüssel vom Jail von der Wand genommen und lief auf die Bohlentür zu, die zum Zellengang führte.
»Hallo, Kid!« ertönte da die klirrende Stimme des Spielers.
Wie angenagelt blieb der Bandit stehen.
Dann warf er sich herum und stieß den Revolver vor.
Aber zu spät. Die Kugel des Georgiers schlug in seinen rechten Armmuskel wie ein Hammerschlag und riß ihm die Waffe aus der Hand.
»Tut mir leid, Kid, hätte dir ein besseres Wochenende gewünscht.« Mit veränderter harter, drohender Stimme setzte Holliday hinzu: »Hände hoch!«
Jetzt erst nahm der Bandit auch den anderen Arm hoch.
»Los, komm her.«
Fleming kam auf den Spieler zu.
Holliday entwaffnete ihn und brachte ihn dann in eine Zelle. Als er die Gittertür ins Schloß warf, meinte er kopfschüttelnd:
»Merkwürdig, wie sich die Leute danach drängen, eingelocht zu werden.«
Fleming kam an das Gitter heran und zerrte mit seiner gesunden rechten Faust an den Trallen.
»Hören Sie, Doc. Ich habe eine Kugel im Arm!«
»Ja, und das ist besser so, als wenn ich eine im Kopf hätte.«
Damit drehte er sich um und ging auf die Bohlentür zum Office zu.
»Doc!« schrie ihm der Schlachter kreischend nach. »Sie werden mich doch nicht hier hocken lassen mit dem Blei im Arm!«
Holliday war stehengeblieben.
»Was wollen Sie denn, Kid?«
»Sie müssen mir die Kugel herausholen.«
»Ich? Sind Sie verrückt?«
»Dann… dann werde ich hier elendiglich eingehen!«
»Warten Sie’s ab.«
Doc Holliday verließ den Zellengang und warf die Bohlentür hinter sich zu.
Drei Minuten später stand er vorm Haus von Doc Sommers.
Die Haushälterin des Arztes blickte ihn verwundert an.
»Doktor Holliday?«
»Ja, sagen Sie bitte dem Doc, daß drüben ein neuer Patient eingetroffen ist.«
»Im Jail?«
»Im Jail.«
Holliday machte kehrt und ging zum Office zurück.
Da traf auch der Marshal schon wieder ein.
»Damned, Doc, was ist passiert?«
»Wie man’s nimmt. Wir haben einen Gefangenen mehr im Jail.«
Doc Sommers kam herein.
»Schon wieder einen?« fragte er.
Holliday nickte. »Ja. In der dritten Zelle von hinten.«
Wyatt nahm den Schlüssel und ging mit dem Arzt.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Texaner zurückkam.
Die drei Freunde standen im Office beieinander. Und Luke Short erklärte: »Ich habe Hastings erst einmal den Standpunkt erklärt. Dieser dreckige Halunke gefällt mir schon lange nicht. Leute, die in seinem Boardinghouse verkehren, gehören wirklich alle ins Jail.«
Wyatt Earp saß wieder hinterm Schreibtisch und hatte den Kopf in die rechte Hand gestützt. »Eines verstehe ich an der Geschichte nicht: Die vier Kerle machen doch wirklich nicht den Eindruck, als ob sie es wert wären, daß man sich ihretwegen die Finger verbrennt.«
»Ganz sicher nicht«, entgegnete Doc Holliday. »Aber vielleicht ist ihr Geld es wert.«
»Geld?« knurrte der Riese. »He, da liegen ihre Klamotten auf dem Bord drüben. Von Geld kann da wohl nicht die Rede sein.«
»Sie brauchen es ja nicht bei sich zu haben, aber vielleicht hatten sie welches in Aussicht.«
Wyatt nickte. »Ja, das ist sehr gut möglich. Offenbar hatten sie irgendeine schiefe Sache vor, bei der wir sie gestört haben. Und Fleming und Hastings wußten was von der Geschichte und wollten davon profitieren.«
So sehr der Texaner sich auch bemühte, er konnte nicht herausbringen, was die Banditen vorgehabt hatten. Sie versperrten das Jail und das Office und gingen hinten zum Russianhouse von Nellie Cashman, um das Abendbrot einzunehmen.
Die Inhaberin des Hotels freute sich königlich, als sie den Marshal erblickte. Insgeheim war sie in den stolzen und gutaussehenden Mann aus Missouri, der einen so großen Namen hatte, verliebt. Doc Holliday wußte längst darum, aber als wahrer Gentleman hütete er das kleine Geheimnis der schönen Frau.
Nachdem die beiden Dodger sich mit einem Bad erfrischt hatten, nahmen sie nach langer Zeit wieder einmal zusammen mit dem Texaner das Abendbrot ein.
»Und wie soll es jetzt weitergehen?« wollte der Texaner wissen.
»Das weiß ich selbst noch nicht«, entgegnete der Marshal. »Höchstwahrscheinlich werde ich einmal nach Martini reiten. Ich habe am Roten See so viel davon gehört. Da gibt es ganz sicher noch Wichtigeres aufzuspüren, als wir bis jetzt aufgespürt haben.«
Die Hotelinhaberin trat an den Tisch und erkundigte sich, ob es geschmeckt habe. Sie hatten ihren Ehrengästen das beste auftragen lassen, was Küche und Keller zu bieten hatten.
Die drei Männer bedankten sich.
»Jetzt sollten Sie sich aber zunächst tüchtig ausschlafen«, meinte Miß Cashman.
Der Marshal nickte. »Das werden wir auch tun. Wir machen nur noch einen kleinen Spaziergang.«
Als sie draußen vor der Tür standen, schlug Doc Holliday vor:
»Wir sollten am besten in die Prärie hinausgehen. Da laufen wir wenigstens nicht Gefahr, wieder irgendwo in die Tinte zu treten.«
Aber sie gingen nicht hinaus in die Prärie, sondern hinauf zur Allenstreet und schlenderten über die Vorbauten an den Saloons vorbei.
Als sie die große Eckschenke, den lichterfüllten Crystal Palace, passierten, blieb der Marshal stehen. Durch eines der Fenster konnte er einen Blick auf die Theke werfen, an der etwa sieben oder acht Männer standen. Einer von ihnen hatte sich weit vornübergebeugt und den Kopf gesenkt. Er schien im Stehen zu schlafen.
Das war an sich nichts Besonderes – wenn dem Marshal an diesem Mann nicht etwas aufgefallen wäre. Seinem rechten Ohr fehlte die obere Hälfte.
Wyatt zog die Brauen zusammen und schloß die Augen für eine Sekunde. Was hatte noch der Geistesschwache in Fairbanks gefaselt…?
Doc Holliday, der bemerkte, daß Earp nicht nachgekommen war, kam zurück und blieb neben ihm stehen.
»Gibt’s was?«
»Sehen Sie sich den Mann da drüben an der Theke mal an.«
»Der schläft.«
»Ja und?«
»Phi!« machte da der Spieler. »Dem fehlt ja die halbe Ohrmuschel.« Und dann warf er den Kopf herum. »He, Sie denken an den Verrückten aus Fairbanks!«
»Ja.«
Holliday lachte. »Wenn wir allen Leuten, denen ein Stück vom Ohr fehlt, nachlaufen wollten, hätten wir eine Menge zu tun.«
»Ja, ja.«
Dennoch blieb der Missourier nachdenklich stehen.
Jetzt kam auch der Texaner zurück.
Wyatt deutete auf den Mann an der Theke. »Haben Sie den in der Stadt schon einmal gesehen?«
Luke bückte sich und sah durch das Fenster. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Sie meinen doch den Burschen, dem das halbe Ohr fehlt?«
»Ja.«
»Ich glaube nicht, daß ich ihn schon gesehen habe. Das heißt, ich müßte sein Gesicht sehen.«
»Das werden wir gleich haben.«
Die beiden Männer traten in die Schenke, während Doc Holliday im Eingang stehenblieb.
Der Lärm, der in dem großen zweiteiligen Schankraum herrschte, ebbte sofort ab, als die Zecher und Spieler die beiden Männer bemerkt hatten, die jetzt eingetreten waren.
Drüben an einem der größten Spieltische saß eine Frau, die sich beim Anblick des Marshals erhob.
Sie mochte etwa Mitte Zwanzig sein, hatte kastanienrotes Haar und schöngeschnittene smaragdgrüne Augen. Ihr Gesicht war trotz der dicken weißen Puderschicht, die sie daraufgelegt hatte, von ebenmäßiger Schönheit.
Gebannt starrte sie auf den Mann aus Missouri. Dann legte sie die Karten, die sie in der Hand gehalten hatte, neben ihre Dollarstapel und kam auf die Theke zu.
Wyatt Earp hatte sie längst bemerkt.
»Hallo, Miß Higgins.«
»Ah«, tat sie erstaunt, so, als sähe sie ihn jetzt erst. »Der große Wyatt Earp ist ja auch wieder da.«
»Ja, und wenn Sie Doc Holliday suchen, der steht da in der Tür.«
Der Kopf der Frau flog zur Seite.
Ihre Augen waren weit aufgerissen, und die grünen Kugeln schienen in dem Weiß zu schwimmen. Ein heimliches Feuer brannte in diesen Augen.
Aber Laura Higgins rührte sich nicht vom Fleck. So sehr es sie auch danach verlangte, den so lange Vermißten anzusprechen, seine Hand zu ergreifen, seiner Stimme zu lauschen – sie rührte sich nicht vom Fleck.
Und der Georgier tat, als hätte er sie gar nicht gesehen. Gleichgültig blickte er über die Köpfe der Männer im weiten Schankraum.
Wyatt Earp hatte den Mann mit dem halben Ohr beobachtet und sah jetzt auf Luke Short, der diesen anstieß.
»He, Mister, ich habe eine Frage.«
Der Mann wandte den Kopf. Er war alt, vielleicht schon an die Siebzig, und blickte den Texaner aus müden, kranken Augen an. Als er den Stern an der Brust des Riesen sah, zuckte er zusammen.
»Hallo, Sheriff, was habe ich verbrochen?«
»Ich weiß es nicht. Sie müssen es besser wissen.«
»Ach, du lieber Gott.« Der Mann schob sich den Hut aus der Stirn. »Sagen Sie bloß, ich habe im Mietstall vergessen, zu bezahlen?«
»Das kann schon sein. Holen Sie es schnell nach.«
»Ja, ja, natürlich. Außerdem ist mein Gaul ja noch hier vor der Tür.«
Luke Short schüttelte den Kopf. Nein, diesen Mann hatte er noch nicht gesehen.
Und der Marshal konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß dieser müde alte Mann eben in Fairbanks den Nerv aufgebracht hatte, nachts in die Häuser fremder Leute einzudringen, um sie meuchlings zu überfallen. Dennoch folgte ihm der Marshal jetzt hinaus.
Als der Alte auf dem Vorbau stand, wandte er sich um. »Ich weiß nicht, Mister, ich habe Sie noch nicht gesehen. Aber ich glaube, ich irre mich nicht, wenn ich annehme, daß Sie Wyatt Earp sind.«
»Stimmt«, entgegnete der Marshal brüsk, »und wer sind Sie?«
Da entgegnete der Alte zur Verblüffung des Marshals:
»Mein Name ist Clanton.«
Wyatts Augenbrauen bildeten einen einzigen Strich.
»Wie heißen Sie?«
»Albert Cherry Daniel Clanton.« Der Alte grinste. »Mir scheint, der Name sagt Ihnen etwas, Marshal.«
Kühl entgegnete der Missourier: »Sind Sie mit den Clantons hier verwandt?«
»Ja, Ike ist mein Neffe. Das heißt also, ich bin ein Bruder des Vaters.«
Ahnungsvoll fragte der Marshal: »Und – sind Sie allein gekommen?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Nein, mein Sohn Jeremias ist mitgekommen.«
»Wie alt ist er?«
»Neunzehn.«
Wyatt preßte die Lippen aufeinander und nickte: »All right, Mr. Clanton. Bestellen Sie Ike einen Gruß von mir.«
»Das werde ich tun. Fragt sich allerdings, ob er sich darüber freut…«
Der Alte ging zu seinem Pferd und schlurfte dann hinüber zum Mietstall.
Der Marshal blickte ihm nach. Wo mochte er den Sohn gelassen haben?
Der Gedanke, daß sich zwei neue Clantons im County eingefunden hatten, war keineswegs erfreulich. Wenn auch der Alte ein harmloser Bursche sein mochte, so betrachtete Wyatt Earp doch jeden jungen Clanton, der mehr als siebzehn Jahre zählte, mit äußerstem Unbehagen.
Seit er oben in Red Rock wieder mit dem aalglatten Kirk McLowery zusammengeraten war, hatte sich sein alter Verdacht gegen die Clantons wieder gemeldet: Vielleicht hingen sie doch mit der Bande der Galgenmänner zusammen. Vielleicht war Ike Clanton doch einer ihrer Führer, wenn nicht gar der Große Boß.
Wyatt war nicht überzeugt davon, daß Kirk McLowery lange im Jail bleiben würde. Es lag nicht genug gegen ihn vor. Ein Mann wie er würde den Weg in die Freiheit schon sehr bald wiederfinden.
Wyatt hatte nur gehofft, in der Zwischenzeit alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Anführer der Bande zu stellen; es kam ihm ja nur darauf an, inzwischen nicht von Kirk McLowery aufgehalten zu werden.
Und jetzt, wo Phin Clanton endlich jedenfalls für eine gewisse Zeit von der Stadt entfernt worden war, wo es nur noch einen Clanton in der Gegend gab – wenn auch den allergefährlichsten überhaupt! – tauchten plötzlich nach Jahr und Tag zwei weitere Männer auf, die zu der Sippe der Clantons gehörten.
Was wollten sie hier?
Wyatt wollte den jungen Jeremias unbedingt sehen. Er hatte irgendwie ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken an den Burschen. Natürlich, es konnte ein ganz harmloser Junge sein, einfältig wie der Alte, still, etwas muffig und ungefährlich.
Als Doc Holliday, der etwas abseits gestanden hatte, erfuhr, was der Marshal überlegt hatte, meinte er:
»Ein Clanton ist nie ungefährlich.«
Luke Short kam heraus, und ihm folgte tatsächlich Laura Higgins.
»Guten Abend, Doktor Holliday«, sagte sie mit spöttischer, harter Stimme.
Der Gambler zog seinen Hut und deutete eine elegante Verbeugung an. »Guten Abend, Miß Higgins.«
»Ob ich wohl einen Augenblick mit Ihnen sprechen kann?« fragte die Frau mit einem leisen Zittern in ihrer Stimme.
Der Marshal und Luke Short verließen den Vorbau und gingen zum Office zurück.
Doc Holliday stand im Licht des Eingangs und blickte die Frau an.
Etwas Seltsames stand zwischen diesen beiden Menschen. Ein tragisches Geschick hatte den Vater der schönen Frau mit dem Spieler Holliday zusammengeführt.
Der Falschspieler Higgins, der Tausende von Menschen mit seinen gezinkten Karten betrogen hatte, bei der Entdeckung seiner Betrügereien aber schnell mit dem Revolver zur Hand war und einige Mitspieler schon niedergeschossen hatte, war bei dem Georgier an den Falschen gekommen.
Nach einem haarsträubenden Spiel, in dem er alle faulen Tricks der Kartenhaie losgelassen hatte, wollte er den protestierenden Georgier schließlich niederschießen, wurde aber von dessen eigener Kugel tödlich getroffen. Von diesem Tage an hatte die bildschöne blutjunge Laura Higgins den Georgier mit haßerfülltem Herzen verfolgt. Dieser Haß war nach wenigen Jahren urplötzlich in eine Liebe umgeschlagen, die nicht weniger gefährlich war, da sie von dem einstigen Bostoner Arzt verschmäht wurde.
Laura Higgins vermochte diese Liebe noch weniger als ihren einstigen Haß zu beherrschen; sie vermochte sie nicht aus ihrem Herzen zu reißen. Immer und immer wieder folgte sie dem Spieler durch die Lande. So war sie vor wenigen Wochen wieder hierher nach Tombstone gekommen, weil sie gehört hatte, daß der Gambler öfter hierher kam.
Es war einen Augenblick still zwischen den beiden Menschen.
Drüben auf der Straße setzte sich ein Planwagen in Bewegung. Links aus der Gasse kam ein Reiter und bog in die Allenstreet ein. Irgendwo schrie ein Kind.
Laura Higgins hatte ihren Blick auf das kühle, aristokratisch geschnittene Gesicht des Georgiers geheftet.
»Doktor Holliday, wir hatten neulich ein ernstes Gespräch miteinander und wurden unterbrochen…«
»Ja, ich weiß«, unterbrach sie der Spieler.
»Ich hätte dieses Gespräch gern fortgeführt.«
»Ich nicht«, entgegnete der Georgier kalt.
Die Frau schluckte vor Verzweiflung. Sie war dem Weinen näher denn je.
Mit belegter Stimme fragte sie: »Können Sie mir denn wenigstens sagen, ob Sie heute noch weiterreiten?«
»Ja, das kann ich Ihnen sagen: Ich werde heute wahrscheinlich nicht weiterreiten.«
»Weshalb quälen Sie mich?« stieß sie heiser hervor.
»Ich will Sie nicht quälen, Laura«, entgegnete er mit rostiger Stimme. »Aber ich muß Ihnen wiederholen, was ich Ihnen vor anderthalb Jahren schon einmal gesagt habe: Ich bin kein Mann für Sie.«
Da ergriff sie spontan seine Rechte und spannte ihre schlanken weißen, feingliedrigen Finger darum. »John, ich flehe Sie an, weshalb sprechen Sie so grausam mit mir?«
Holliday suchte seine Hand zu befreien. Er blickte jetzt an der Frau vorbei auf die Straße. »Miß Higgins, ich bin wirklich kein Mann für Sie.«
Da gab sie seine Hand frei. »Ich werde trotzdem warten«, kam es leise über ihre Lippen.
Aber er schien mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders zu sein. Denn plötzlich waren die Augen des Georgiers schmal wie Schießscharten.
Er hatte einen Mann beobachtet, der drüben aus Halmys Bar gekommen war, die Straße überquert hatte und sich jetzt an einem der Pferde vorm Crystal Palace zu schaffen machte. Es war ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger Bursche, lang, hager, mit kantigem Schädel und hellen Augen. Die obere Hälfte seines rechten Ohres fehlte ihm.
Hollidays Lippen sprangen auseinander.
»Entschuldigen Sie mich bitte, Laura.«
Langsam ging er über den Vorbau, bis er den Mann erreicht hatte, der unter ihm bei dem Pferd stand und an dem Sattelzeug herumzurrte.
Mit brennenden Augen blickte die Frau zu ihm hinüber. Der alte Haß stieg in ihrer Seele wieder auf. Oh, wie sie ihn verachten wollte, wenn sie es nur vermocht hätte! Da hatte er sie einfach stehenlassen wie einen gleichgültigen Gegenstand.
Holliday lehnte sich auf das Geländer und blickte zu dem Fremden hinunter.
Der hatte nun die Beine des Mannes oben auf dem Vorbau gesehen und hob langsam den Kopf, ließ den Blick an der Gestalt des Fremden emporgleiten. Durch das helle Licht, das aus den Fenstern des Crystal Palaces fiel, geblendet, vermochte er nur eine Silhouette zu erkennen.
»Wollen Sie etwas, Mister?« krächzte er.
Holliday blickte ihn unverwandt an.
Da ließ der Mann die Hände vom Sattelzeug fallen. Seine Linke kam in die Nähe seines Revolvers.
Holliday lachte leise in sich hinein.
Der Fremde erschauerte unter diesem kalten, brüchigen Lachen und wich einen Schritt zurück.
»Wer sind Sie?«
»Das hätte ich Sie gern gefragt«, entgegnete der Spieler.
»Mein Name ist Lea…« Jäh brach der Mörder ab. Wie kam er dazu, sich von diesem Mann ausfragen zu lassen? »Lassen Sie mich zufrieden«, krächzte er.
Wieder brach dieses eisige, rostige Lachen von den Lippen des Spielers.
»Nervös?«
Jake Lead wich noch einen Schritt zurück.
»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen mich zufrieden lassen«, schnarrte er.
Und wieder lachte der Georgier.
Da machte der Verbrecher drei hastige Schritte nach vorn, bis er dicht an dem Vorbau stand, warf den Kopf hoch und blickte den Gambler aus verzerrtem Gesicht an. Angst und Trotz mischten sich in seiner Stimme, als er fragte: »Was wollen Sie von mir?«
»Ich suche nur einen Partner zum Spiel«, entgegnete Holliday.
»Zum Spiel?« Lead senkte den Kopf und überlegte.
Damned, er hatte kein Geld. Ein paar Dollar könnten nichts schaden. Wieder sah er auf und musterte den Mann. Aber wieder konnte er außer Umrissen nichts erkennen. Es schien ein Stadtfrack zu sein, ein Mann im Tuchanzug mit weißer Hemdbrust, denn die war immerhin zu sehen.
»All right, vielleicht können wir ein Spiel machen.«
Er zog sich auf den Vorbau hinauf und stellte sich jetzt so, daß er den anderen besser sehen konnte.
»Mein Name ist Leaven.«
»Ein hübscher Name. Ich kannte mal einen Mann, der so hieß. Er war ein netter Bursche, hat mir eine ganze Menge im Poker abgenommen«, log der Georgier.
Jake Lead fiel auf diesen Bluff sofort herein. Was dieser Leaven gekonnt hatte, würde er auch können.
»Kommen Sie«, krächzte er, »gehen wir hinüber zu Halmy.«
»Nein, nein«, winkte der Spieler ab, um dann ironisch fortzufahren: »Da drüben ist es mir zu vornehm.«
Lead musterte ihn argwöhnisch. »Wohin wollen Sie denn?«
»Wir werden in den Crystal Palace gehen.«
»In den Crystal Palace?« Lead musterte die hellerleuchtete Fensterfront des großen Saloons.
Nein, da hinein wollte er nicht.
Der ausgebrochene Sträfling starrte einen Augenblick vor sich hin. Dann nahm er die Zügelleinen wieder vom Querholm und wollte seinen Gaul wegziehen.
»Ich komme gleich wieder, Mister, ich möchte nur unten in meinem Quartier etwas Geld holen.« Er hatte das Pferd schon aus der Reihe gezogen und wollte in den Sattel steigen.
Klick! machte es da hinter ihm.
Es gab sicher keinen Mann im weiten Westen, der dieses Geräusch nicht gekannt hätte.
Jake Lead stand einen Augenblick wie versteinert da und wandte sich dann um.
Aber der Mann oben auf dem Vorbau hatte keine Waffe in der Hand.
Blitzschnell hatte sie der Spieler im Halfter verschwinden lassen.
»Also doch nervös«, meinte er.
Aber etwas in seiner Haltung veranlaßte den Banditen, das Pferd wieder an die Halfterstange zurückzubringen, um mit dem Mann zusammen den Crystal Palace zu betreten.
Er war ziemlich besetzt, aber ein kleiner Spieltisch war noch frei. Doc Holliday nahm sofort Platz, und Lead setzte sich ihm gegenüber nieder.
Da sie keine weiteren Stühle herangezogen hatten, kam auch niemand auf den Gedanken, an ihrem Spiel teilzunehmen.
Es wäre auch sowieso niemand hier auf den Gedanken gekommen. Schließlich kannten die Leute im Crystal Palace alle den Mann im schwarzen eleganten Habit mit dem weißen Rüschenhemd und der weinroten Halsschleife. Wer sich zu dem großen Gambler Holliday an den Spieltisch setzte, der mußte über mehr als nur über Selbstvertrauen verfügen.
Holliday merkte schon nach dem ersten Gang, daß Lead ein schlechter Spieler war. Er gab ihm eine Chance, bluffte nur schwach und ließ ihn zweimal gewinnen.
Aber dann versuchte Lead einen billigen Trick.
Holliday übersah ihn und wußte ihn zu überspielen.
Als der Bandit aber weitere Tricks versuchte, schaltete Holliday ihn aus, indem er ihn rücksichtslos verlieren ließ.
Es war für den brillanten Spieler eine Leichtigkeit, den Mann zu bluffen. Nicht etwa, daß er mogelte. Doc Holliday war alles andere als ein Falschspieler. Im Gegenteil, er haßte Leute, die davon lebten, andere mit Spielkarten zu betrügen. Holliday konnte sich auf seine überlegenen Fähigkeiten und die Beherrschung seines Gesichtes sowie das Studium fremder Gesichter verlassen und so das Spiel für sich entscheiden.
Plötzlich stand Lead auf. »Ich komme gleich zurück. Kleiner Gang in den Hof.«
Holliday nickte.
Lead ging auf die Korridortür zu und verschwand. Als er im Hof war, rannte er auf das Tor zu, lief durch die Gasse auf die Allenstreet und hastete den Pferden entgegen.
Als er die Zügelleinen seines Wallachs vom Querholm lösen wollte, legte sich eine Hand auf seine Linke.
Der Kopf des Mörders flog hoch. Er blickte in die glimmenden Augen Doc Hollidays.
»Was wollen Sie?« keuchte er.
»Sie haben noch drei Einsätze zu zahlen, Mister.«
»Ja, ja, ich komme. Ich suche nur hier in der Satteltasche – da hatte ich noch Geld.«
»Seit wann hängt die Satteltasche an der Zügelleine?«
Lead ließ die Leine los und kramte in seiner Satteltasche herum.
Verzweifelt überlegte er, wie er sich dieses Mannes entledigen könnte.
Vorsichtig schob er mit der Linken den Revolver weiter nach vorn auf den Oberschenkel. Er maß die Entfernung zum Vorbau, auf dem der Fremde jetzt stand. Sechs Yards. Das müßte ein sicherer Schuß werden.
Er konnte den Mann als Silhouette vor dem Fenster genau ausmachen. Und plötzlich hatte er Mund und Augen vor Verblüffung weit aufgerissen. Der Fremde hatte aus beiden Halftern die Revolver gezogen und ließ sie in die Höhe tanzen, fing sie kreuzweise wieder auf. Dann wirbelten sie um seine Hände, um gleich wie Spukgegenstände wieder in den Lederschuhen zu verschwinden.
Jake Lead schluckte. Damned! Das war ja ein höllischer Bursche, an den er da geraten war. Wie der mit den schweren Colts umging! Als ob sie gewichtslos wären…
Langsam stampfte er auf den Vorbau zu und ging vor Doc Holliday wieder in den Schankraum. Hinten im Spielsaloon waren alle Tische besetzt. An den leeren Tisch der beiden hatten sich zwei andere Männer gesetzt.
»Da, sehen Sie«, sagte Lead, noch ehe sie den Tisch erreichten, »unser Tisch ist besetzt.«
»Keine Sorge«, entgegnete Holliday und schob ihn vorwärts.
Als sie an den Tisch herankamen, blickten die beiden Männer auf. Und als sie Holliday erkannten, verließen sie ihre Plätze fluchtartig, tippten an ihre Hutränder und murmelten etwas wie »Guten Abend«.
Lead nagte mit den Zähnen an der Unterlippe.
Hölle! Dieser Fremde schien hier allerlei Achtung zu genießen. Die Leute kannten ihn offensichtlich und riskierten keinen Streit mit ihm.
Die beiden spielten weiter.
Doc Holliday war durchaus noch nicht davon überzeugt, daß er den Mann vor sich hatte, der drüben in Fairbanks den Sheriff ermordet und den Hilfssheriff lebensgefährlich verwundet hatte. Aber irgend etwas stimmte mit diesem Mann nicht.
Sein fahriges Gehabe, sein unsteter Blick, sein Zusammenzucken bei lauten Geräuschen, dies alles ließ auf ein schlechtes Gewissen oder auf schlechte Nerven schließen.
Doc Holliday hatte einen Blick für solche Leute. Dieser Mann hatte ein verdammt schlechtes Gewissen!
Drüben am großen Spieltisch residierte Laura Higgins. Aber ihre Gedanken waren nicht beim Poker, sie waren bei dem elegant gekleideten, hochgewachsenen Mann, der mit einem schäbig gekleideten Fremden Double-Poker spielte.
Allzu oft flog der Blick der schönen Frau zu dem Georgier hinüber. Und plötzlich hatte Jake Lead es bemerkt. Seine Stirn war schweißbedeckt, da er dem Partner schon den fünften Schuldschein hatte unterzeichnen müssen. Und immer noch ließ der nicht locker.
Es war dem Georgier keineswegs um den Gewinn zu tun. Er wollte den Mann nur bewachen, wollte herauskriegen, was mit ihm los war. Denn sein Instinkt sagte dem Gambler, daß er diesen Mann ganz einfach festhalten mußte.
»He, Mister«, schnarrte Lead plötzlich, während er sich zum zwanzigsten Male mit dem linken Jackenärmel über die Stirn wischte, »wir haben eine Verehrerin gefunden.«
»Was Sie nicht sagen«, entgegnete der Spieler, ohne aufzublicken.
Er hatte die Augenlider stets halb gesenkt und beobachtete durch die langen, dichten schwarzen Wimpern sein Gegenüber unablässig.
»Ja, es ist eine tolle Frau«, krächzte Lead. »Sie sollten sie einmal ansehen. Wenn ich mich nicht irre, hat sie ein halbes Vermögen vor sich auf dem Tisch liegen. Scheint eine ganz raffinierte Spielerin zu sein.«
»Passen Sie lieber auf, daß Sie nicht noch mehr verlieren«, entgegnete der Georgier kühl.
»Ich weiß nicht, die Frau gefällt mir«, fuhr Lead fort.
In dieser sah er seinen Rettungsanker. Er mußte sich an ihr festbeißen. Wie der Georgier fühlte, daß mit Lead etwas nicht stimmte, so hatte Lead das sichere Gefühl, daß sein elegant gekleideter Spielpartner eine große Gefahr für ihn war.
»Ich wette, Mister, daß sie mit uns spielen würde, wenn Sie sie fragen wollten.«
»Ich will sie aber nicht fragen«, entgegnete der Georgier. »Ich spiele ja mit Ihnen.«
»Es ist ja nicht unbedingt notwendig, daß wir uns am Double-Poker festhalten. Ich hätte absolut nichts dagegen, eine so hübsche Partnerin am Tisch zu haben.«
Doc Holliday spielte ruhig weiter. Er überhörte auch alle weiteren Fragen des Banditen.
Laura Higgins hatte ihr Spiel beendet. Sie raffte ihren Gewinn zusammen und schob ihn in ihre mit Perlen bestickte Tasche, an der ein langer grüner Klunker herunterhing. Dann erhob sie sich und kam ganz langsam auf den Tisch der beiden Männer zu.
Lead flüsterte: »He, Mister, sie kommt!«
»Was Sie nicht sagen«, entgegnete Holliday und spielte weiter.
Die Frau war jetzt an ihrem Tisch angelangt. Stumm blickte sie auf den Gambler.
»Möchten Sie sich vielleicht setzen«, krächzte Lead, während er sich erhob und eine ungelenke einladende Handbewegung machte.
»Worauf soll sie sich denn setzen?« fauchte Holliday ihn an, während er mit dem Fuß einen Stuhl heranangelte und ihn der Frau hinschob.
»Sehr freundlich«, entgegnete die Frau spöttisch und nahm Platz.
»Also wirklich, Mister, ich kann Sie nicht verstehen«, krächzte Lead. »Ich fühle mich sehr geehrt, daß die Lady bei uns Platz nimmt.«
»Ich würde mich sehr geehrt fühlen, Mister, wenn Sie Ihre Schuldscheine einlösen würden«, entgegnete Holliday kalt.
Laura Higgins blickte auf das letzte Papier, das auf dem Tisch lag. Dann nahm sie mehrere Geldscheine aus der Tasche und schob sie dem Banditen zu.
Jake Lead hatte den Mund offen und stierte die Frau fassungslos an.
Damned! Sollte ihr Interesse etwa gar nicht diesem eleganten Stadtfrack da gelten – sondern ihm?
Lead, der bis zu diesem Augenblick krumm auf seinem Stuhl gehangen hatte, setzte sich unwillkürlich aufrecht hin und zupfte sein verknotetes Halstuch zurecht.
Aber die Augen der Frau hingen an dem Georgier.
Dieser jedoch beachtete sie überhaupt nicht.
Lead starrte jetzt auf das Geld. Plötzlich legte er die Hand darauf und zog es vor sich hin.
Doc Holliday blickte einen Augenblick auf.
»All right«, sagte der Bandit und warf ein paar Geldscheine in die Tischmitte, »wir spielen weiter. Was meinen Sie, Miß?«
Die Frau fand den Fremden ekelhaft, aber sie zeigte es nicht. »Ja, ja, spielen Sie nur, Mister.«
Immer noch stand der Schweiß dem Banditen in großen Perlen auf der Stirn. Aber nun hatte er ja neuen Rückenwind bekommen, der ihm vorwärtshelfen würde.
Aber er hatte kein Glück. Faule Tricks riskierte er nicht mehr, und mit reellem Spiel kam er gegen den Mann aus Georgia nicht an.
Nach der fünften Runde mußte er aufgeben, da das Geld, das die Frau hingelegt hatte, bereits neben Doc Holliday lag.
Lead hatte sein drittes Glas Whisky getrunken. Er hatte es in den leeren Magen geschüttet, und der Alkohol stieg ihm jetzt zu Kopf. Aus stieren Augen blickte er sein Gegenüber an.
»Ich weiß nicht so recht, Mister…«
»Was wissen Sie nicht?« fragte Holliday, während er sich eine Zigarette anzündete.
»Sie haben da verdammt viel Geld vor sich liegen.«
Hollidays Gesicht war unbeweglich wie eine Maske.
»Sprechen Sie nur weiter.«
»Ich überlegte gerade, wie man es macht, an so viel Geld zu kommen.«
Da lehnte sich der Gambler gegen die Stuhllehne zurück.
Laura Higgins beobachtete seine Augen. Dann wandte sie sich mit einem Ruck nach dem Banditen um.
»Ich habe das Gefühl, Mister, daß Sie nicht wissen, mit wem Sie gespielt haben.«
Leads Kopf schwankte leicht hin und her. »Doch, das weiß ich ganz genau. Mit einem ganz raffinierten Burschen.«
»Sein Name ist Holliday«, sagte die Frau halblaut, »Doc Holliday!«
Jake Lead war mit einem Schlage stocknüchtern. Wie von einer Feder hochgeschnellt sprang er auf und blieb hinter seinem Stuhl stehen.
»Das soll der große Doc Holliday sein?«
Laura Higgins zog die linke Augenbraue hoch in die Stirn, während der Spieler den Mann kalt ansah.
»Ja«, entgegnete Laura, »er ist Doc Holliday.«
Lead machte zwei Schritte zur Seite und wischte seine feuchten Hände an der Jacke ab.
»Doc Holliday!« kam es noch einmal brüchig über seine Lippen. »Der Mann aus dem O.K. Corral! Das ist… Well, ich werde gehen.«
Er wandte sich um und ging mit unsicheren Schritten durch den Schankraum dem Eingang zu.
Doc Holliday blickte ihm mit schmalen Augen nach.
»Wer ist das?« fragte die Frau.
»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete der Spieler.
»Sie werden mir doch wohl nicht sagen wollen, daß Sie nur um die lumpigen Dollars hier mit ihm gespielt haben?«
Holliday nahm das Dollarnotenbündel, das die Frau dem Fremden geschenkt hatte, und schob es ihr wieder zu.
Laura Higgins wurde dunkelrot vor Ärger. »Das werden Sie mir doch nicht antun, Doc?«
»Was heißt antun. Sie wußten genau, daß er es verliert.«
Er erhob sich, deutete eine Verbeugung an und ging auf die Theke zu. »Einen Brandy.«
Der Keeper stellte ihm ein Glas hin.
Holliday kippte ihn hinunter und legte einen Geldschein auf die Theke. »Für die Zeche von meinem Tisch.«
Der Keeper nahm das Geld an sich. »Thanks, Doc.«
Der Gambler hatte sich umgedreht.
Seine Augen flogen noch einmal zu dem Spielsaloon hinüber, und jetzt sah er, daß Laura Higgins aufgestanden war. Sie sah ihn aus großen fragenden Augen an.
Da kam er noch einmal langsam zurück und blieb einen Schritt vor ihr stehen.
Jetzt, als sie seine eisblauen, so seltsam eindringlich wirkenden Augen auf sich gerichtet sah, spürte sie einen Glutstrom zu ihrem Herzen schießen.
»Ich danke Ihnen für Ihre Gesellschaft«, sagte Holliday leise.
Obgleich er gar nichts Spöttisches hatte sagen wollen, trafen diese Worte Laura Higgins doch hart. Sie drehte sich auf dem Absatz um, machte zwei Schritte vorwärts, blieb dann aber doch stehen und wandte sich wieder um.
Haß und Liebe kämpften in ihrem Gesicht miteinander.
Sie tat dem Georgier leid; aber er durfte ihr keine Hoffnung machen. Seine Lebenserwartungen waren gleich Null. Seit Jahren nagte in seiner Brust eine tödliche Krankheit.
Das Gesicht des Spielers war wie zur Maske erstarrt, als er jetzt auf den Eingang zuging.
Jake Lead hatte sein Pferd von der Halfterstange genommen, sich in den Sattel gezogen und ritt hinauf in die Fremontstreet.
Aus den Fenstern von Millers Bar fielen Lichtfinger weit in die Straße hinaus, und Musikfetzen drangen durch die halboffenstehende Tür.
Jake Lead stieg vom Pferd und betrat den Vorbau. So gerne er die Stadt verlassen hätte – es war ausgeschlossen. Er hatte keinen Cent mehr in der Tasche. Alles hatte er an Doc Holliday verloren.
Wie hatte er auch so irrsinnig sein können, sich ausgerechnet mit diesem Mann an den grünen Tisch zu setzen! Jetzt noch sträubten sich ihm die Haare bei dem Gedanken, in welcher Gefahr er sich befunden hatte, als er den Revolver gegen den Georgier hatte ziehen wollen.
Er trat nahe an eines der Fenster heran und blickte in den engen Schankraum.
Der Besitzer der Schenke, Jonny Miller, war vor einigen Wochen festgenommen worden und saß oben in Prescott im Jail. Eigentlich hätte die Schenke geschlossen werden müssen, aber im allerletzten Augenblick war sein Neffe Rodney Miller eingesprungen und führte die Geschäfte des Onkels weiter.
Dieser Rodney war ein schlaksiger Bursche von etwa dreißig Jahren mit müden Augen und schlaffen Gesichtszügen. Er saß den ganzen Tag auf einem hohen Barhocker hinter der Theke und hatte Flaschen und Gläser um sich herum stehen, so daß er nie genötigt war, aufzustehen.
Die Gäste, die glaubten, an den Tischen bedient zu werden, hatten sich geirrt. Miller dachte nicht daran, Getränke anzuschleppen. Wer was haben wollte, mußte zu ihm kommen.
Das alte Orchestrion hämmerte in wildem Gestampfe den unmelodiösen Baumwollpflücker-Song.
Rod Miller und die Männer, die vor der Theke standen, sangen mit, ohne die Zigarren aus den Mundwinkeln zu nehmen oder sich im Trinken behindern zu lassen.
Lead rieb sich übers Kinn und blickte zu den Männern hinüber, die rechts neben der Tür an einem Tisch saßen und pokerten. Sie hatten drei Tische besetzt.
Die anderen, die nicht spielten und auch an Tischen saßen, schleppten immer wieder Getränke von der Theke heran und leere Flaschen zurück.
Der Bandit entschloß sich, einzutreten. Es hatte keinen Sinn, die Stadt ohne jeden Cent zu verlassen. Er mußte um jeden Preis zu Geld kommen.
Er öffnete die Tür rasch und trat ein.
Rod Miller schoß ihm einen kurzen Blick entgegen und verzog dann das Gesicht, als er sah, daß der neue Gast auf einen der Tische zusteuerte.
»Nehmen Sie sich den Whisky mit«, rief er Lead zu.
Der nickte, trat an die Theke und ließ sich ein Glas halbvoll schenken.
»Zahlen!« mahnte der Keeper, als Lead sich mit dem Glas abwenden wollte.
Lead schüttelte den Kopf. »Nein, das ist zu anstrengend, wenn ich hinter jedem Glas zahlen wollte. Das machen wir am Schluß auf einer Rechnung ab.«
Miller hatte nichts dagegen. Dieser Fremde war schließlich nicht der einzige, der das so hielt.
Lead steuerte mit seinem Glas auf einen der Tische zu, an dem gespielt wurde. Es war zwar kein Stuhl mehr frei, aber er zog sich einen heran und setzte sich zwischen zwei Spieler.
Die beiden beachteten ihn zunächst gar nicht. Aber als er plötzlich laut auflachte, weil einer der Männer seiner Ansicht nach eine falsche Karte zog, blickten ihn alle verblüfft an.
Aber es sagte niemand etwas.
Der Mörder von Fairbanks hatte das Kainszeichen auf der Stirn, ohne es zu wissen. Irgend etwas ging von ihm aus, das die anderen abstieß. Das war der Grund, weshalb sie jetzt nichts zu seiner Kiebitzbemerkung sagten.
Das Spiel ging weiter.
Nach einer Weile brach Lead wieder in sein künstliches Gelächter aus.
Da legte der Mann, dem dieses Lachen gegolten hatte, die Karten verkehrt herum auf den Tisch und erhob sich.
»Ich gebe auf.«
Lead griff nach dem Blatt. Er nahm auch den Stuhl des anderen ein.
Als er in die Karten sah, wußte er, daß er einen schlechten Griff getan hatte.
Dennoch gelang es ihm, im allerletzten Augenblick mit einem üblen Trick – der Indischen Volte – das Eisen aus dem Feuer zu reißen.
Er hatte zwar nur wenig gewonnen, aber immerhin genug, um seinen Whisky zu bezahlen.
Bei der nächsten Runde blickten die Männer einander fragend an.
Aber da es niemand riskierte, etwas gegen den Fremden einzuwenden, nahm das Spiel seinen Fortgang.
Zwar wurde nur mit geringem Einsatz gespielt, aber anderthalb Stunden später hatte Jake Lead mehr als sechsundzwanzig Dollar gewonnen. Das war zwar kein Vermögen, aber für einen Mann, der bis vor kurzer Zeit keinen Cent in der Tasche gehabt hatte, war es sehr viel.
In diesem Augenblick betrat ein neuer Gast die Bar.
Er war groß, schlank, hatte eine drahtige Figur und ein dunkelhäutiges Gesicht mit seltsam hellen blaugrauen Augen. Sein Haar war schwarz und kam in Strähnen unter dem breiten Hutrand hervor.
Er trug sich wie ein Cowboy und hatte in den Halftern seines patronengespickten Waffengurts je einen großen Parker Colt.
Eigentlich war nichts Besonderes an diesem Mann. Aber doch schien irgend etwas an ihm zu sein, was die Männer veranlaßte, zu ihm hinüberzublicken.
Obgleich er ihnen allen unbekannt war, erinnerte er sie doch an irgend jemanden. Und niemand wußte genau, an wen.
Der Mann trat mit raschen Schritten an die Theke und schlug mit der flachen Hand auf das Blech.
»Whisky!«
Der Salooner kniff das linke Auge ein. Ihm kam der Mann nicht bekannt vor. Rodney Miller stammte nicht aus Tombstone, sondern kam aus Flaggstaff. Er kannte den Mann nicht, dem dieser Fremde glich.
»Whisky wollen Sie? Natürlich, den haben wir in rauhen Mengen, Mister. Für freundliche, nette Leute schenken wir ihn sogar gerne aus.« Der Salooner schob den erloschenen Zigarrenstummel von einem Mundwinkel in den anderen, machte indes keine Anstalten, ein Glas vor den Fremden hinzustellen.
In dessen Gesicht hatte sich irgend etwas verändert. Und jetzt glich er dem Mann, den alle kannten und auf den sie sich doch nicht besinnen konnten, noch mehr.
»Halten Sie mir keine Vorträge, Mann. Geben Sie mir ein Glas Whisky.«
Der Ton in der Stimme ließ die Männer in der Schenke aufhorchen.
Es war ausgerechnet Jake Lead, der Mörder von Fairbanks, dem als erstem ein Licht aufging.
»Hölle«, stieß er durch die Zähne, »wenn der Bursche Ike Clanton nicht aus der Weste geschnitten ist, dann will ich auf der Stelle geteert und gefedert werden!«
Obwohl die Worte leise gesprochen waren – sie fielen in eine Orchestrionpause – hatte der ganze Schankraum sie gehört.
Ike Clanton! Ja, das war es. Dieser Fremde hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit Ike Clanton. Und Männer, die sich noch an Ike Clanton erinnern konnten, fanden auch, daß er mit dem jüngsten Clanton eine gewisse Ähnlichkeit hatte.
Daß er mit der immer noch am meisten gefürchteten Familie des Countys Ähnlichkeit hatte, wußten jetzt alle in Millers Bar, bis auf Rodney Miller selbst.
Er verharrte immer noch auf seinem Sitz, kaute auf seinem Zigarrenstummel herum und dachte nicht im Traum daran, dem Wunsch des neuen Gastes nachzukommen.
»Hören Sie, Mister«, glaubte er belehren zu müssen, »wir befinden uns hier in einem anständigen Saloon. Hier wird nicht herumgebrüllt und schon gar nicht kommandiert. Ich bin der Salooner, und wenn Sie als Gast betrachtet werden wollen, dann müssen Sie…«
Jäh brach Rodney Miller ab und stierte mit weit aufgerissenen Augen in die Revolvermündung, die ihm aus der Faust des Fremden entgegengähnte.
Blitzschnell hatte der Mann die Waffe gezogen.
»Ich bin ein Clanton, verstanden?«
Die vier Worte standen wie Donnerschläge im Raum, obgleich sie nicht einmal laut gesprochen waren. Niemand hatten sie ernstlich verwundert.
Clanton! Ja, er war ein Clanton. Daran konnte es gar keinen Zweifel geben. Es stand ihm im Gesicht geschrieben.
Rodney Miller rutschte von seinem Schemel und lehnte sich über die Theke. »Clanton? Soll das ein Witz sein, Mister? Der kann Ihnen übel bekommen.«
Der Fremde hatte den Revolver mit einer blitzschnellen Bewegung ins Halfter zurückgezaubert.
Miller, der noch immer nicht begriffen hatte, meinte: »Es wohnen hier in unserer Gegend Leute, die diesen Namen tragen, Mister. Ich würde damit sehr vorsichtig sein. Schon mal von Ike Clanton gehört?«
»Ja«, entgegnete der andere, während er sich aus dem Thekenbecher eine lange Strohhalmzigarre nahm, zwischen die Zähne schob und vor der Nase des Wirtes auf der Theke ein Zündholz anriß: »Er ist mein Vetter.«
Da prallte Miller zurück bis ans Flaschenbord.
»Ihr Vetter?« stammelte er.
Dann griff er blitzschnell nach einer Flasche, die unter der Theke gestanden hatte, setzte sie oben aufs Blech, holte ein sauberes Glas, spülte es trotzdem noch einmal durch und nahm ein frisches Tuch, faltete es auseinander und polierte das Glas.
»Machen Sie nicht so viele Umstände, Mister, und gießen Sie endlich ein.«
»Sofort, Mr. Clanton.«
Miller goß das Glas bis zur Hälfte voll und schob es zusammen mit der Flasche vor den plötzlich so bedeutsamen Gast hin.
Jerry Clanton kippte den doppelten Drink auf einen Zug durch seine rostige Kehle.
Dann sah er sich in der Schenke um. Es war völlig still geworden. Alle Männer sahen zu ihm hinüber.
»Ich komme aus Texas. Mein Vetter hat beschlossen, daß Vater und ich zu ihm auf die Ranch ziehen. Deshalb bin ich hier. Es ist gut, wenn ihr euch gleich mit dem Gedanken vertraut macht.«
Nach diesen Worten wandte er sich um und füllte sich das Glas noch einmal zu einem Drittel, nippte dann daran und goß dem Keeper den Rest ins Gesicht. »Auch wenn der Fusel unter der Theke stand – ist es Fusel. Ich kenne den Trick, Brother. Beim nächsten Mal gibt’s Senge, klar?«
Er wandte sich um und kam auf den Spieltisch zu, an dem der Mann aus Fairbanks saß. Jerry Clanton zog sich einen Stuhl heran und ließ sich nieder.
»Wie heißt das Spiel?«
»Faro«, entgegnete einer der Männer.
»Das ist nichts. Wir spielen die Rote Quart.«
Niemand war dagegen.
Das Auftauchen dieses Mannes hatte in Jake Lead einen seltsamen Gedanken aufkommen lassen. Wie, wenn es ihm gelänge, sich mit diesem Mann anzufreunden, vielleicht gar sich mit ihm zu verbünden?
Die Begegnung mit Doc Holliday hatte ihm gezeigt, daß er in dem Spieler einen Gegner hatte. Und wenn er mit Doc Holliday verfeindet war, war er es auch mit Wyatt Earp! Das war sehr gefährlich!
Allerdings durfte er jetzt seine faulen Tricks nicht mehr an den Mann zu bringen versuchen. Das konnte gegen diesen scharfgesichtigen Clanton ins Auge gehen.
Sie mochten etwa eine halbe Stunde gespielt haben, als Jake Lead vorsichtig das Gespräch begann.
»Sie wissen, was sich hier in der Stadt ereignet hat?« fragte er, ohne Jerry anzusehen.
»Natürlich weiß ich das, Mister. Nicht zuletzt deswegen bin ich ja hier.«
Wie ein Bleigewicht warf der Mörder jetzt seinen Trumpf in die Waagschale.
»Wyatt Earp ist in der Stadt!«
Jerry Clanton warf den Kopf herum und blickte dem Sprecher forschend in die Augen.
Er war ein ganz anderer Typ als Jake Lead.
Lead war der verbissene, streitsüchtige Mensch, den sein eigener Charakter zum Ruin getrieben und völlig vernichtet hatte. Ein Mensch, der sich selbst zerstört hatte. Und dies stand in seinem Gesicht.
Ganz anders Jeremias Clanton. Er hatte etwas Stolzes, Herrisches, Selbstgefälliges an sich, ohne dies etwa in seiner Kleidung zu betonen.
Lead war durch eine verhältnismäßig geringfügige Schwäche seines Charakters in großes Unglück gestürzt worden. Seit er das Straflager verlassen hatte, war er fest entschlossen, auf dieser schrägen Bahn zu verharren.
Jerry Clanton war nach Westen geritten, weil er von neuem Glanz träumte, den er dem Namen Clanton verleihen würde. Zusammen mit dem großen Vetter, würde er der Familie wieder ein bedeutsames Ansehen geben. Dies gedachte der junge Mann indessen nicht durch ehrliche Arbeit zu erreichen.
Die ehrgeizigen Pläne des jungen Mannes aus Texas waren ebenso verhängnisvoll wie der Charakterfehler des jungen Jake Lead aus Fairbanks.
»Wyatt Earp?« kam es rostig aus der Kehle Jerrys.
»Ja, er ist in der Stadt«, entgegnete Lead, ohne den Spielpartner anzusehen. Er mischte gerade die Karten.
Da legte Clanton seine Linke auf seinen rechten Unterarm.
»Was haben Sie da gesagt, Mister?«
»Ich habe gesagt, daß Wyatt Earp in der Stadt ist.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein, aber ich habe vorhin mit Doc Holliday im Crystal Palace gepokert. Und wenn er in der Stadt ist, dann ist es der Marshal doch bestimmt auch.«
Mit einer hölzernen Bewegung erhob sich Jeremias Clanton, schob seinen Stuhl mit dem Fuß zurück, kassierte seinen Gewinn ein, schob seine beiden Parker Colts nach vorn und prüfte ihren lockeren Sitz.
Da machte der greise Lyonel Croges den Fehler, dem jungen Clanton nachzurufen: »Machen Sie keinen Unsinn, Mister. Wir haben einen scharfen Sheriff in der Stadt.«
Der junge Clanton schien tatsächlich noch über nichts informiert zu sein. Er blieb stehen und wandte sich um.
»Einen scharfen Sheriff? Jonny Behan? Seit wann ist der denn scharf?«
»Nein, nein«, meinte der alte Croges und bewegte seinen gichtigen Zeigefinger hin und her wie ein Schulmeister. »Unser Sheriff heißt Luke Short. Er kommt aus Texas.«
»Luke Short?« Jerry Clanton zog die Brauen zusammen. »Das ist doch nicht wahr!«
Mit raschen Schritten kam er zurück, packte den Alten und riß ihn von seinem Sitz hoch. Dann stieß er ihn zurück gegen die Wand und donnerte ihn an: »Was fällt dir ein, Graukopf, glaubst du, du kannst mich auf den Arm nehmen?«
Zitternd entgegnete der alte Mann: »Aber Mister, ich habe Ihnen doch nur die Wahrheit gesagt. Luke Short ist tatsächlich Sheriff hier.«
Da sauste die Hand des Mannes klatschend in Croges’ Gesicht.
»Ich werde dich lehren, mit einem Clanton zu sprechen, Freund.«
Jerry packte ihn und stieß ihn in den Stuhl zurück.
Der Alte stürzte polternd damit zu Boden.
Im Eingang standen drei Männer: Carl Handrike, Joe Vlimmers und Irvin ›Ohio‹ Jefferson.
Die drei Männer trampten seit Wochen durch Arizona und suchten einen Job als Weidereiter. Sie waren heute erst in die Stadt gekommen, hatten sich in der Allenstreet umgesehen und dabei höchstwahrscheinlich festgestellt, daß die Saloons für sie da unten zu teuer waren. Aus diesem Grund fanden sie sich jetzt hier in der Fremontstreet in der kleinen Schenke Rod Millers ein.
Verblüfft hatten die drei handfesten Figuren mit angesehen, wie der junge Clanton den Alten mißhandelte. Verblüfft deshalb, weil niemand in der Schenke Anstalten machte, dem alten Mann beizustehen.
Handrike blickte seinen Kameraden Vlimmers an und marschierte dann vorwärts.
»He, Brother«, rief er Jerry Clanton zu.
Der wandte sich um und maß ihn mit einem verächtlichen Blick.
»Was gibt’s?«
»Das war ja eine Heldentat, die wir eben beobachtet haben.«
Eine fahle Blässe überzog das Gesicht Jerry Clantons.
»Schätze, daß das meine Sache ist.«
»Ganz und gar nicht, Brother. Wir haben nämlich etwas gegen Leute, die alte Großväter verprügeln wollen.«
Da trat Jerry rasch auf Handrike zu, hob die rechte Hand zum Schlag, was jedoch eine Finte war, setzte mit der Linken blitzschnell nach und hieb Handrike einen krachenden Faustschlag an die Kinnlade, der den Mann umwarf.
Vlimmers wich geschickt zur Seite und stürmte Jerry dann entgegen. Aber er hatte Pech. Ein furchtbarer Schlag erwischte seine Nasenspitze und trieb ihm das Wasser in die Augen. Er torkelte zurück und trat dem Ohio Man auf die Füße.
Aber Irvin Jefferson war nicht der Mann, dem tatenlos zuzusehen. Er riß seinen Revolver aus dem Halfter und stieß ihn nach vorn.
Er hatte nicht mit Jake Lead gerechnet.
Der hatte seine Waffe schon in der Hand und drückte ab.
Die Kugel traf den Ohio Man rechts oben in der Brust und wirbelte ihn mehrmals um seine eigene Achse, ehe sie ihn im Eingang niederriß.
Jerry Clanton, der den Angriff des Ohio Man nicht mehr hätte parieren können, blickte sich nach Lead um.
»Thanks, Mister.«
Lead feixte ihm zu.
Zusammen verließen die beiden die Schenke.
»Ich glaube, wir sollten uns jetzt etwas beeilen«, meinte Lead.
»Weshalb?«
»Weil es nicht sehr lange dauern wird, bis die Wölfe auftauchen.«
»Wyatt Earp? Oder Luke Short?« Jerry Clanton lachte blechern auf. »Ich habe keine Angst vor ihnen. Sollen sie nur kommen! Ich bin nicht umsonst hierher nach Tombstone geritten. Mein erster Weg galt dem Graveyard. Da liegt mein Vetter Billy seit Jahren unter einem eingefallenen Erdhügel. Die Earps haben ihn da hingeschafft.«
Sie gingen am O.K. Corral vorbei auf die Zweite Straße zu und näherten sich der Allenstreet, wo sie in Humpys Bar verschwanden.
Es dauerte nicht ganz zwanzig Minuten, da flog vorne die Tür von Humpys Bar auf. Und ein riesiger Mann von gewiß acht Fuß Länge füllte den Eingang aus.
Er trug einen weißen Stetson, hatte blauschwarzes Haar und ein tiefbraunes kantiges Gesicht, das von einem schimmernden, smaragdfarbenen Augenpaar beherrscht wurde.
Luke Short! Trotz der Kühle, die der Dezembertag mit sich brachte, trug er auch jetzt weder Jacke noch Weste. Auf seinem roten Hemd links blinkte der große sechszackige Sheriffsstern, den einst Morgan Earp getragen hatte. Tief im Kreuzgurt, mit den Knaufenden nach vorn, steckten zwei große rote Revolver.
Der Texaner warf einen kurzen Blick über den Schankraum und ging dann vorwärts. Er hatte Jerry Clanton entdeckt.
Mir raschen Schritten ging er auf ihn zu und blieb vor seinem Tisch stehen. Er hatte auch Lead gesehen, ohne ihn aber eines Blickes zu würdigen.
»Sie sind Jerry Clanton?«
Der Mann warf den Kopf ins Genick und blickte den Sheriff trotzig an. »Ja. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Das ist noch nicht heraus, Clanton. Stehen Sie auf.«
»Was wollen Sie von mir, Sheriff?« knurrte Jerry.
»Das werden Sie schon erfahren.«
Jerry Clantons Gesicht wurde hart wie Felsstein. Und als er jetzt sprach, hörte es sich an wie Metallstücke, die aufeinander fielen.
»Hören Sie, Short, mein Name ist Clanton.«
»Ja, das weiß ich. Und das genügt mir auch. Kommen Sie mit.«
»Wohin?«
»Ins Office.«
»Was wollen Sie da von mir?«
»Ich habe Ihnen gesagt, das werden Sie da erfahren. Entweder kommen Sie jetzt freiwillig mit, oder ich trage Sie hinüber.«
Jake Lead hatte versucht, sich unbemerkt vom Tisch zu erheben.
Da schnellte ihm plötzlich die lange Linke des Texaners nach, packte ihm an Kragen und schob ihn nach vorn neben Clantons Stuhl.
»Und Sie kommen auch mit.«
»Was wollen Sie denn von mir?«
»Sie haben den Schuß abgegeben.«
»Aber das war doch Notwehr.«
»Waren Sie in Not?« fragte der Texaner rasch.
»Aber Mr. Clanton war in Not.«
»Eben, das wird sich auf dem Office herausstellen!«
Luke Short forderte Jerry noch einmal auf, mitzukommen.
Der aber blieb auf seinem Stuhl hocken und dachte nicht daran, sich zu erheben.
Da packte der Texaner ihn am Kragen, zerrte ihn hoch und schob ihm mitsamt Jake Lead vor sich her aus der Kneipe.
Als sie auf der Straße waren, machte Jerry Clanton sich los.
»Hören Sie, Sheriff! Sie haben kein Recht, mich so anzufassen. Und ich lasse es mir nicht gefallen…«
»Halt die Klappe, Boy. Und sieh, daß du weiterkommst, sonst mache ich dir Beine.«
Es war ein harter Sheriff, der herkulisch gebaute Mann aus Texas. Und einen solchen Sheriff brauchte das wilde Tombstone wie die Luft zum Atmen.
Jake Lead wußte, daß er wieder einmal das Schicksalsrad in die falsche Richtung gedreht hatte.
Als sie das Office erreicht hatten, blieb er plötzlich stehen, duckte sich nieder und rannte mit zwei raschen Schritten vorwärts, um die Straßenecke zu gewinnen.
Da aber hatte er sich in dem Texaner verrechnet.
Short hatte ihn mit wenigen Schritten eingeholt, packte ihn, riß ihn herum und schleuderte ihn vor sich her über den Vorbau dem Office entgegen.
Jerry Clanton stand vor der Tür. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
Verblüfft blickte er den Sheriff an.
»Sie haben ziemlich rauhe Manieren, Sheriff!«
»Und Sie reden zuviel!« fuhr ihm der Gesetzesmann über den Mund, packte ihn am Ärmel und schob ihn ins Bureau.
Die beiden Festgenommenen blickten auf den Mann, der hinterm Schreibtisch saß.
Er mußte sehr groß sein, hatte breite Schultern und ein seltsam eindrucksvolles Gesicht, das von Wind und Wetter tief gebräunt war und etwas markant Männliches ausstrahlte.
Das tiefschwarze dichte, wellige Haar war zurückgekämmt, und zwischen seinen weißen Zähnen hielt er eine große schwarze Zigarre. Er trug ein rotes Halstuch und eine glänzende schwarze Lederjacke.
Seine ausdrucksvollen Hände hielten ein Schreiben in der Hand, das er eingehend studierte.
Plötzlich und unerwartet blickte er über den Rand des Schreibens hinweg auf die beiden Männer, die der Sheriff hereingebracht hatte.
Keiner von ihnen hatte auch nur eine Sekunde überlegt, wer dieser Mann sein könnte. Darüber gab es für sie keinen Zweifel.
Dieser Mann war niemand anders als Wyatt Earp!
Als er sie jetzt so ansah, empfanden die beiden jedoch etwas Grundverschiedenes.
Jerry Clanton spürte den Blick des Marshals bis in die Nerven. Er wühlte sein Blut auf und ließ wilden Haß in ihm aufsteigen. Zugleich aber senkte der Blick des Missouriers etwas wie eine Vorahnung kommenden Unglücks in sein Gemüt.
Ganz anders war es bei dem Mörder Jake Lead. Der forschende Blick aus den dunkelblauen Augen des Marshals jagte ihm eine panische Angst ein!
Vor drei Jahren noch hatte er diesen Mann restlos bewundert, obgleich er ihn niemals gesehen hatte. Jede Nachricht, die in den Gazetten über Wyatt Earp erschien, hatte Jake ausgeschnitten und daheim in ein altes Buch geklebt. Immer und immer wieder hatte er sie abends beim Kerzenschein in seiner Dachkammer gelesen.
Wyatt Earp! Der König der Western-Sheriffs.
Jake Lead hatte einmal davon geträumt, auch ein solcher Sheriff zu werden. Ein Mann, vor dem sie alle zitterten. Daß es nur die Banditen waren, die vor dem großen Gesetzesmann zu zittern hatten, war ihm eigentlich niemals klargeworden.
Und nun stand er vor ihm als Festgenommener. Hinter ihm stand der baumlange Luke Short, und rechts der Georgier. Jake hatte ihn bis jetzt noch nicht bemerkt; erst die dünnen Tabakswolken seiner Zigarette, die zu der Lampe auf dem Schreibtisch zogen, machten ihn auf den Spieler aufmerksam.
Wyatt Earp und Doc Holliday – sie waren einmal seine großen Ideale gewesen!
Ideale? Nein, Jake Lead wußte gar nicht, was ein Ideal war. Er hatte eigentlich nur davon geträumt, einmal so berühmt zu werden wie die beiden. Und gefürchtet von jedermann. Aber er hatte niemals begriffen, daß Wyatt Earp nicht so sehr ein gefürchteter, sondern vor allem ein geachteter Mann war.
Obgleich Lead dem Marshal jetzt als Gesetzesübertreter gegenüberstand, war immer noch etwas von der früheren Verehrung für diesen Mann in ihm.
Er vermochte den forschenden Blick des Marshals nicht zu ertragen, senkte den Kopf und blickte auf seine staubigen Stiefelspitzen.
Plötzlich stieg die Erinnerung an die vergangene Nacht in ihm auf. Würgende Angst erfaßte ihn und wollte wie eine Eisenklammer nach seiner Kehle greifen. Wenn der Marshal auch nur den leisesten Wind von dieser Sache bekam, war es zu Ende!
Es war einen Augenblick still in dem Office. Dann sagte Luke Short: »Das sind die beiden Burschen, Marshal.«
Wyatt blickte Jerry Clanton an.
»Wie heißen Sie?«
»Mein Name ist Clanton«, sagte Jerry und blähte sich ordentlich dabei auf.
»Vorname?« fragte der Marshal völlig unbeeindruckt.
»Jerry.«
Wyatt wandte sich sofort an Lead.
Unaufgefordert spie er hervor: »Mein Name ist Leaven, William B. Leaven.«
»Wo kommen Sie her, Mr. Leaven?«
»Aus dem Norden. Ich wohne in einer kleinen Stadt unweit von Flaggstaff.«
»Wie heißt die Stadt?«
»Carlson City.«
»Seit wann sind Sie in Tombstone?«
»Seit heute.«
Blitzschnell kam die nächste Frage, die den Verbrecher wie ein Keulenschlag traf: »Sind Sie über Fairbanks geritten?«
»Nein.«
Damned! Ich habe es zu schnell gesagt, hämmerte es im Hirn des Verbrechers. »Warten Sie, Fairbanks?« fragte er schnell. »Ich weiß nicht, vielleicht verwechsle ich den Namen. Wo liegt das?«
Der Marshal überging die Frage und wandte sich an Jerry Clanton.
»Es liegt eine Anzeige gegen Sie wegen grober und schwerer Körperverletzung vor, Jeremias Clanton.«
»Ich ersuche Sie, Marshal, mich nicht Jeremias, sondern Jerry zu nennen.«
Wyatt überging auch diesen Einwurf und stellte mit spröder Stimme fest: »Was haben Sie zu dieser Anklage zu sagen?«
»Der Mann hat mich doch beleidigt.«
»Inwiefern?« Hageldicht fielen die Fragen des Marshals.
»Ich habe keinen Grund, im einzelnen zu erörtern, was der Kerl mir nachgerufen hat. Jedenfalls hat er mich beleidigt, und dafür habe ich ihn zurechtgewiesen.«
»Zurechtgewiesen«, wiederholte der Marshal und lehnte sich im Stuhl zurück. »Ist das eine Art, einen dreiundsiebzigjährigen Mann zurechtzuweisen?«
»Er hat mir nicht gesagt, daß er dreiundsiebzig ist.«
»Sind Sie der Ansicht, Mr. Clanton, daß Ihnen jeder Mann sein Alter erst sagen muß, um zu erwarten, daß Sie ihn nicht verprügeln?«
Jetzt mußte Jerry Clanton schlucken. Der Marshal hatte ihn in die Enge getrieben.
Aber Wyatt hatte sich schon an Lead gewandt.
»Mr. Leaven, was hat Sie veranlaßt, auf den Cowboy Jefferson zu schießen?«
»Ich habe es dem Sheriff schon gesagt, Mister«, erklärte der Bandit. »Mr. Clanton war in Notwehr.«
»In Notwehr? Wer hat denn sein Leben bedroht?«
»Es waren drei Banditen, die hereinkamen.«
»Die drei Männer sind Cowboys, Mr. Leaven«, belehrte ihn der Marshal. »Und soweit ich informiert bin, hatten sie die Absicht, Jeremias Clanton für das, was er mit dem alten Mann aufgestellt hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Welchem Richter wollen Sie erzählen, daß Clanton sich in Lebensgefahr befunden habe?«
Lead senkte den Kopf und starrte wieder auf seine staubigen Stiefelspitzen. Dann stotterte er: »Ich weiß es nicht, Marshal. Jedenfalls glaubte ich, er befände sich in Lebensgefahr… sonst hätte ich niemals geschossen.«
»Sind Sie immer so schnell mit der Waffe zur Hand, Mr. Leaven?«
Heiße Angst stieg in dem Verbrecher auf. Hatte die Stimme des Marshals bei dieser Frage nicht einen besonders eigenartigen Klang gehabt? Mitten in dieser Angst schoß dem Banditen ein Gedanke durchs Hirn, den er sofort ausspuckte.
»Ich weiß nicht, ob man Ihnen gesagt hat, daß der Mann, auf den ich geschossen habe, auch den Revolver gezogen hatte, Marshal!«
Wyatt Earp hatte den Blick auf sein Gesicht geheftet.
Jake Lead schluckte und sah zur Seite.
»So, er hatte also auch einen Revolver gezogen?«
»Ja, das hatte er. Ich hätte ja sonst nicht geschossen.«
»Well, das wird untersucht werden.« Und ganz unvermittelt fragte der Marshal noch mal: »Und über Fairbanks sind Sie nicht gekommen?«
»Nein…, das heißt, ich kenne die Stadt nicht.«
Wyatt Earp stand auf, nahm seinen schwarzen Hut vom Wandhaken und setzte ihn sich auf.
Als er um den Tisch herumkam, fixierten ihn die beiden Männer scharf.
Jerry Clanton hatte die Zähne fest aufeinander gebissen.
Die Größe des Marshals machte Eindruck auf ihn, vor allem die Sicherheit seines Ganges und seine stolze Haltung.
Das war also der Mann, der den Fight im O.K. Corral siegreich beendet hatte!
Wie oft hatte er seinen Namen drüben in der Heimat gehört. Von den Freunden und den Männern in der Schenke, von den Arbeitern an der Flußmühle und von den Railwaymännern.
Und die Großmutter hatte ihnen nach dem Kampf im O.K. Corral einen langen Brief geschrieben, in dem vieles von dem Marshal Earp gestanden hatte. Obgleich ihr Enkel Billy bei dem Gefecht das Leben hatte lassen müssen, waren ihre Worte nicht vom Haß gezeichnet gewesen. Sie hatte in Wyatt Earp einen Gesetzesvertreter gesehen, der diesen Kampf gar nicht gewollt hatte.
Aber in der Seele des jungen Jerry Clanton hatte sich damals etwas festgesetzt, das mittlerweile groß und mächtig geworden war und all sein Denken ganz allmählich überschattet hatte: Er würde die Ehre des Namens Clanton retten! Zusammen mit Ike!
Er würde diesen Wyatt Earp in den Boden stampfen.
»Tot wird er vor meinen Füßen liegen!« Ohne die Lippen zu bewegen, sprach er diese Worte vor sich hin.
Jake Lead spürte, daß seine Kehle pulvertrocken geworden war.
»Kommen Sie mit«, klang da die Stimme des Marshals an die Ohren der beiden.
Luke Short packte sie an den Armen und schob sie vor sich her.
»Wo wollen Sie mich hinschleppen, Marshal?« schnarrte Jerry Clanton.
»Wir gehen zu Millers Saloon und werden die Männer befragen.«
Dagegen gab es nichts einzuwenden.
Wyatt Earp ging voran, dann kamen die beiden Banditen, und der Sheriff machte den Schluß.
Als sie die Schenke betraten, brach dort der Lärm an den Tischen sofort ab.
Man hatte inzwischen erfahren, daß Jerry Clanton und der Fremde festgenommen worden waren.
Rodney Miller, der sich sonst kaum je von seinem Platz bewegte, schoß wie ein Pfeil hinter der Theke hervor und kam dem Marshal entgegen.
»Mr. Earp! Gut, daß Sie kommen. Ich muß die Sache aufklären. Die drei Strolche, die hier hereinkamen, fielen Mr. Clanton an. Sie waren bewaffnet…«
»Augenblick«, unterbrach ihn Wyatt Earp, »der Reihe nach. Wo haben Sie gesessen, Leaven?«
Jake deutete auf den Tisch, an dem er mit Jerry Clanton und den anderen gesessen hatte.
Der Tisch war leer.
Aber die Nachbartische waren besetzt.
Das Verhör, das er jetzt anstellte, dauerte nicht sehr lange. Alle sagten das gleiche aus: die drei Fremden hätten sich auf Jerry Clanton gestürzt. Einer von ihnen hatte sogar den Revolver gezogen, und zwar der Mann, den ›Leaven‹ mit einer Kugel abgewiesen hätte.
Wyatt warf noch einen kurzen nachdenklichen Blick über die Gesichter der Männer, dann bedankte er sich und verließ mit Luke Short und den beiden das Schankhaus.
Es bestand nicht der mindeste Zweifel daran, daß die Männer in der Schenke Angst hatten. Angst vor dem neuen Clanton!
Der Marshal hatte keine Handhabe, die beiden länger festzuhalten.
Als sie draußen auf der Straße waren, blieb er stehen und wandte sich nach den beiden um.
»Well, die Sache scheint erledigt zu sein. Es wäre gut, Jeremias Clanton, wenn Sie recht bald auf die Ranch zu Ihrem Vetter reiten würden.«
»Weshalb?« fauchte Jerry.
»Damit Sie ihm erzählen können, wie Sie sich hier in der Stadt eingeführt haben.«
Jerry stampfte davon zu seinem Pferd.
Luke Short packte Jake Lead an der linken Schulter und schob ihn vor den Missourier hin.
»Und was wird mit der Pappfigur hier, Marshal?«
Wyatts Augen ruhten forschend auf dem Gesicht, das aber jetzt in der Dunkelheit kaum zu erkennen war.
Dafür konnte der Mörder das Gesicht des Marshals im Sternenschein um so deutlicher sehen. Es war hart und so kantig und verriet nichts von dem, was der Missourier dachte.
Wieder war die ungewisse Angst im Nacken des Verbrechers.
»Sie sind nicht über Fairbanks geritten?« Leise sprangen die Worte des Marshals dem Outlaw entgegen.
»Nein, jetzt weiß ich es ganz genau – ich kann es beschwören!«
Wyatt nickte, wandte sich um und ging davon. Luke Short folgte.
Als der Texaner den Marshal erreicht hatte, meinte er:
»Dieses Galgenvogelgesicht gefällt mir ganz und gar nicht. Ich hätte den Burschen am liebsten ins Loch geworfen.«
»Wir hatten keine Handhabe dazu, Luke«, entgegnete der Marshal und ging nachdenklich weiter.
Als sie ins Office zurückkamen, sahen sie Doc Holliday über den Schreibtisch gebeugt. Er hatte eine Depesche vor sich liegen.
Als er den Marshal und Luke Short eintreten sah, richtete er sich auf und meinte: »Ganz interessantes Fahndungsblatt, das da eingetrudelt ist.«
Wyatt nahm die Depesche sofort auf und las die Beschreibung eines Sträflings, der aus Fort Worth entsprungen war.
Dann reichte er dem Sheriff das Blatt.
Der las es durch und warf es kopfschüttelnd auf den Tisch zurück.
»Eine Beschreibung, die todsicher auf jeden dritten Mann paßt.«
»Bis auf das halbe Ohr«, meinte Earp.
»Das ist unser Freund aus Fairbanks«, sagte der Georgier, der jetzt zwischen Tür und Fenster an der Wand lehnte und den rechten Fuß eingezogen hatte.
Luke Short zündete sich die erloschene Virginia wieder an.
»Es steht nur da, daß er aus Fairbanks stammt. Ich kenne allein fünf Städte, die so heißen.«
»Ja, aber es ist das Fairbanks in Arizona«, sagte Wyatt Earp und wies auf das undeutliche A hinter dem Städtenamen. Dann wandte er den Kopf zur Seite und blickte den Spieler an.
»Weshalb haben Sie mit ihm gepokert, Doc?«
Der Spieler zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.
»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht, weil er mir leid tat wegen seines halben Ohres…«
Dann wies Doc Holliday mit der Linken auf die Depesche und meinte: »Der geflüchtete Lead ist Linkshänder.«
Wyatt Earp nickte: »Ja. Aber sicher gibt es Tausende von Linkshändern in diesem Land.«
Als sich der Marshal seine Zigarre wieder anzünden wollte, hörte er, wie der Spieler zur Tür ging. Er drehte sich um, und als Doc Holliday die Tür erreicht hatte, wandte er noch einmal den Kopf.
»Also, gehen wir?«
Wyatt nickte. »Ja, Doc, wir gehen. Wir müssen mit ihm noch einmal sprechen.«
Luke Short wäre gerne mit ihnen gegangen, aber er mußte wegen der Gefangenen im Office zurückbleiben. Es war zu riskant, das Haus unbewacht zu lassen.
In der fünften Schenke, die der Marshal aufsuchte, entdeckte er am Stirnende der Theke den alten Clanton.
Der stand vornübergebeugt und starrte in sein leeres Glas.
Die Gäste in der Schenke waren zu dieser späten Stunde schon stark angetrunken, wurden aber sichtlich nüchtern, als sie den Marshal erkannten.
Wyatt blieb hinter dem Alten stehen und tippte ihm auf die Schulter.
»Mr. Clanton.«
Der Alte fuhr herum. Seine Augen wurden schmal, als er den Marshal sah.
»Wir sind einander doch schon einmal begegnet?«
»Ich hätte gern Ihren Sohn gesprochen, Mr. Clanton.«
»Jerry? Was wollen Sie von ihm?«
»Das möchte ich ihm gern selbst sagen.«
»Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Vielleicht suchen wir ihn dann zusammen, Mr. Clanton?«
Der Alte nickte müde und zahlte seine Zeche, um dann dem Marshal zu folgen.
Als er bemerkte, daß ein Mann hinter ihnen her kam, blieb er stehen. »Marshal, da folgt uns einer.«
Wyatt Earp ging weiter, ohne sich umzudrehen.
»Kommen Sie nur, das ist Doc Holliday.«
»Doc Holliday!« Der Alte fuhr sich mit dem Mittelfinger seiner Rechten durch den Kragen. Ein Gefühl größten Unbehagens hatte ihn erfaßt. Er mußte an die Stunde denken, in der sie daheim in Silver Lake den Brief von Ikes Mutter bekommen hatten.
Billy tot! Der siebzehnjährige Bursche bei dem Fight im O.K. Corral gefallen. Niemand wußte es genau, aber alle waren davon überzeugt, daß er von einer Kugel Doc Hollidays getötet worden sein mußte.
Wochen- und monatelang hatten die Männer in den Saloons von Silver Lake über den aufsehenerregenden Kampf gesprochen. Drei Dutzend Schüsse sollten bei dem Gefecht abgegeben worden sein. Seit fast einem Jahrzehnt war man im Westen davon überzeugt, daß der Spieler John Henry Holliday, Doktor der Wund- und Zahnheilkunde, der schnellste Schütze war, den das Land jemals gesehen hatte. Nicht umsonst nannte man ihn überall den König der Gunfighter.
Wie viele dieser dreißig Kugeln waren auf sein Anteil gekommen? Wie oft hatte der superschnelle Mann abgedrückt?
Der alte Clanton wußte, daß die McLowerys behaupteten, Holliday habe Frank und Tom getötet. Das war eine Behauptung, die niemand beweisen konnte. Es war ein Gunfight, in dem es für jeden um das nackte Leben ging. Frank und Tom McLowery waren selbst schnelle Schützen, und auch Billy Clanton war ein gefährlicher Schießer. Frank, der ältere McLowery, hatte bis zu diesem Tage sogar als einer der schnellsten Schützen im ganzen County gegolten. Er, sein Bruder Tom und der kleine Billy Clanton hatten ihr Leben in der Enge des Corrals gelassen.
Unwillkürlich drängte sich dem Alten auf den dunklen Vorbauten der Quergasse, durch die sie gerade gingen, plötzlich ein drohendes Bild auf. Er dachte an einen jungen Mann mit wildem, ungebärdigem Gesicht und flammendem Blick. Mit gespreizten Beinen stand er da und hatte in jeder Faust einen schweren Revolver. Es war sein eigener Sohn Jerry Clanton.
Er stand inmitten eines engen Wagenabstellplatzes in einer Pulverwolke! War er getroffen worden?
Ihm gegenüber stand der Mann, der jetzt neben dem alten Clanton ging, der Marshal Earp. Wenigstens einen halben Kopf größer als Jerry, breiter in den Schultern, mit mächtiger Brust und kräftigen Armen. Auch er hatte die Beine gespreizt. Aber er hatte die Hände nicht erhoben. Aus seinen Augen blitzte es kalt.
Und hinter ihm, wie ein Schatten, stand jener Mann, der ihnen jetzt folgte; dem der Alte nicht ein einziges Mal ins Gesicht hatte schauen können. Doc Holliday!
Albert Cherry Daniel Clanton versuchte mit Gewalt, diese makabre Vision aus seinem Gehirn zu verbannen.
Er war stehengeblieben.
Der leichte federnde Schritt des Mannes hinter ihm verstummte ebenfalls.
Sie standen vor dem Fenster einer Schenke.
Der alte Clanton wandte sich um und suchte das Gesicht des Georgiers.
Aber das lag im tiefen Dunkel des Hutschattens.
Der Alte wandte den Kopf und sah den Marshal an.
»Soll ich hineingehen?« fragte er mit belegter Stimme.
Wyatt Earp nickte.
Da öffnete der Alte die Tür und betrat die Schenke.
Er sah ihn sofort. Er saß an einem Tisch im Hintergrund des schlauchengen Raumes. Allein. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und starrte finster vor sich hin.
Als der Alte vor seinem Tisch stehenblieb, hob der Bursche langsam den Kopf.
»Komm, Jerry.«
»Wohin?«
Der Alte schwieg einen Augenblick, dann nahm er seine halbzernagte Maiskolbenpfeife aus der Tasche und stopfte den Zigarrenrest, den der Bursche noch in der Hand hielt, in den Pfeifenkopf. Als er ein Zündholz anriß, stand der Bursche plötzlich auf.
»Was ist los, Vater?« fragte er scharf.
In die Tabakwolke hinein sagte der Alte leise:
»Er ist draußen.«
»Wer?«
»Der Marshal…«
Das Gesicht des Burschen wurde aschfahl. »Was will er denn schon wieder von mir?«
Der Zigarrenstummel in der Pfeife des Alten erlosch.
Entgeistert blickte Albert Cherry Daniel Clanton seinen Sohn an. Die Ähnlichkeit mit seinem Neffen Ike war erschreckend groß. Noch nie war sie ihm so stark aufgefallen.
»Jerry!«
Der Bursche schnarrte: »Ich gehe. Aber nicht auf die Straße.«
Da schnappte der Alte nach dem Unterarm des Jungen.
»Was hast du getan, Jerry?«
»Ich habe gar nichts getan. Ich lasse mir auch nichts gefallen. Weißt du denn nicht, was sich hier tut?«
»Jerry, du mußt mit hinauskommen. Wenn du nichts getan hast, kannst du um so leichter mitkommen.«
Da herrschte der Bursche den Alten an: »Merkst du denn nicht, was sich hier abspielt? Bist du denn blind? Der große Wyatt Earp ist wieder in der Stadt. Er hat es wieder auf die Clantons abgesehen!«
»Junge«, sagte der Alte benommen, »was du da redest, stimmt ganz sicher nicht. Und wenn du meinst, daß es wahr ist, dann komm mit hinaus. Wir sprechen mit ihnen.«
»Nein.« Flammender Zorn und wilde Entschlossenheit standen in den Augen des Burschen. Er riß sich los, wandte sich um und lief auf die Flurtür zu, die zum Hofausgang führte.
Als er die Tür aufriß, sah er sich einem Mann gegenüber. Er wich einen Schritt zurück.
»Der Marshal wartet vorne«, sagte der Spieler ruhig.
Jerry ballte die Fäuste, dann stampfte er mit dem Fuß auf und stieß einen lästerlichen Fluch durch die Zähne.
»All right. Gehen wir durch den Vordereingang.«
Der Alte war wieder hinausgegangen und sah den Marshal an.
»Ist er drin?« fragte Earp.
»Ja. Er ist durch den Hof gegangen.«
»Dann wird er gleich kommen«, entgegnete der Marshal.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, da wurde die Tür geöffnet und Jerry Clanton trat vor Doc Holliday auf den Vorbau.
Verblüfft blickte der Alte seinen Sohn an. Dann erst sah er den Spieler.
Jerry stand mit gespreizten Beinen da und sah den Marshal aus engen Augen an.
»Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen, Earp!«
Wyatt überging diese Worte mit der Frage: »Wo ist der andere?«
»Was weiß denn ich. Bin ich sein Hüter? Ich habe nichts mit ihm zu tun.«
»Sie haben mit ihm das Office verlassen!«
»Ja, er ging zu seinem Gaul. Mehr habe ich nicht gesehen. Er interessierte mich ja nicht.«
»Hören Sie, Jeremias Clanton. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dieser Mann ein in Fort Worth ausgebrochener Sträfling ist, der gestern nacht in Fairbanks einen Sheriff ermordet hat.«
Jerry zog die Brauen zusammen. Eine steile Falte grub sich in seine Stirn.
»Und wenn schon«, knurrte er schließlich, »was geht das mich an?«
»Sie werden kaum einen Mörder decken wollen.«
»Ich will ihn ja nicht decken!« brüllte Jerry. »Er stieg da neben dem Crystal Palace auf seinen Gaul und ritt davon.«
»Das ist ausgeschlossen«, sagte der Spieler. »Sein Pferd stand oben an Millers Bar.«
»Gehen wir nachsehen«, sagte der Marshal.
Die vier Männer gingen zur Allenstreet hinauf und dann durch die Dritte Straße in die Fremontstreet.
Doc Holliday kannte ja das Pferd des Mannes, mit dem er gepokert hatte. Er stellte nun sofort fest, daß es hier nicht mehr stand.
Langsam gingen sie ins Sheriffs Office zurück.
Luke Short war damit beschäftigt gewesen, Holz neben dem Kanonenofen aufzustapeln.
»Na«, meinte er, »hat er seinen Partner verloren?«
Da brauste der junge Clanton auf: »Er ist nicht mein Partner, Sheriff! Ich habe es dem Marshal schon gesagt. Und es wäre gut, wenn auch Sie sich das merken würden. Ich habe es nicht nötig, mich mit Ihnen lange abzugeben! Was fällt Ihnen überhaupt ein! Ich bin ein Clanton und werde es mir auf keinen Fall bieten lassen, von hergelaufenen…«
Da war der Texaner bei ihm, packte ihn an der rechten Schulter und zog ihn wie einen Schuljungen zu sich heran.
»Hör gut zu, Kleiner. Wenn du mit uns sprichst, dann befleißige dich eines anständigen Tones, sonst setzt’s Maulschellen!«
Da riß sich Jerry Clanton los und federte zurück.
»Sie haben mir Schläge angedroht, Luke Short! Das werden Sie zu bereuen haben.«
»Wer hier wem gedroht hat, Junge, wollen wir dahingestellt sein lassen. Wenn du dich nicht anständig aufführen kannst, fliegst du ins Loch, klar?«
»Sie haben kein Recht, mich einzusperren, Luke Short! Nicht das mindeste Recht.«
»So. Habe ich nicht? Irrtum, Kleiner. Du hast dich in einer Tombstoner Schenke aufgeführt wie ein Wilder. Das allein berechtigt mich schon, dich einzusperren.« Nach einem kurzen Blickwechsel mit dem Marshal ging er auf Jerry zu, packte ihn am Arm, zog ihm die Waffen aus den Halftern und schob ihn vor sich her auf die Tür zum Zellengang.
Jerry wandte sich um und stemmte sich dem Sheriff entgegen.
»Sie werden es bereuen, Short, das schwöre ich Ihnen! Mein Name ist Jeremias Clanton…«
Da hatte ihn der Texaner herumgedreht und schob ihn durch die Tür.«
»Halt keine Vorträge, Bursche, es ist spät in der Nacht. Und wir sind müde.«
Jerry wurde eingesperrt.
Als die Gittertür hinter ihm zufiel, brüllte er, daß es dröhnend von den kahlen Wänden des Gefängnistraktes widerhallte:
»Rache! Blutige Rache! Die Clantons stehen wieder auf!«
Wyatt Earp und Doc Holliday standen schon an der Tür.
»Sie legen sich jetzt am besten hin, Luke«, meinte der Marshal. »Und ich werde noch einen kurzen Rundgang machen.«
Der Alte schlurfte gesenkten Hauptes aus dem Office.
Als die Dodger auf der Straße standen, fragte der Georgier:
»Ob er Rozy Ginger kannte?«
»Ich weiß es nicht. Ausgeschlossen ist es natürlich nicht. Aber nach den letzten Erfahrungen sollte die Saloonerin klüger geworden sein und sich nicht mehr mit solchem Pack abgeben.«
»Wir haben ihre Schenke noch nicht durchsucht«, gab der Spieler zu bedenken.
»Sie wird jetzt höchstwahrscheinlich geschlossen haben«, entgegnete Wyatt.
Trotzdem beschlossen sie, noch einmal nachzusehen.
Der Weg in die enge geschlängelte Gasse war nicht sehr angenehm zu dieser Nachtstunde. Gerade hier in diesem Winkel Tombstones wohnten eine ganze Reihe von Leuten, die dem Marshal alles andere als wohlgesonnen waren.
Vor allem die Flanagans.
Die beiden Dodger trennten sich kurz vor dem Schankhaus der Rozy Ginger.
Doc Holliday blieb auf der anderen Straßenseite im Dunkel der Vorbauten gleich neben dem Haus der Familie Flanagan, während Wyatt Earp auf die Schenke zuhielt.
Aus den Fenstern fiel nur noch ein schwacher Lichtschein.
Wyatt Earp warf einen Blick hinein, konnte aber nur drei Männer an der Theke stehen sehen. Die Tische waren alle leer. Rozy Ginger lehnte mit müdem Gesicht am Flaschenbord und kämpfte mit dem Schlaf.
Wyatt öffnete die Tür und blickte in den Schankraum.
Als die Frau den Missourier in der Tür auftauchen sah, war sie mit einem Schlage hellwach und stützte sich auf die Theke.
»Mr. Earp!« entfuhr es ihr.
Wyatt Earp kam langsam auf die Theke zu, musterte die Männer mit einem kurzen, forschenden Blick und war dann bei der Wirtin.
Rozy Ginger streckte ihm spontan die Hand entgegen. Die immer noch hübsche Frau vermochte ihre Zuneigung zu dem Marshal nicht zu verbergen. Sie hatte ihm zwar manchen Ärger bereitet. Denn oft hatte sie nicht gewagt, ihm offen zu sagen, wenn einer von der Clanton Gang oder Leute, die der Marshal für Graugesichter halten mußte, bei ihr im Hause waren. Aber das hatte sie längst bereut.
»Ich suche einen Mann, dem die obere Hälfte des rechten Ohres fehlt.« Wyatt Earp beschrieb Jake Lead genauer.
Die Saloonerin schüttelte den Kopf. »Er war nicht bei mir.«
Einer der Männer, die an der Theke gestanden hatten, griff mit der Hand ins Gläserbecken und befeuchtete sich das Gesicht.
»Augenblick, Marshal, den Burschen habe ich gesehen.«
»Wo?«
»Vor Wongs China-Bar.«
»Wann?«
»Warten Sie…, da muß ich nachdenken. Das kann vielleicht eine Stunde her sein.«
Wyatt verließ die Schenke und trat auf die Straße. Er hatte deren Mitte noch nicht erreicht, als ihm drüben aus dem Dunkel einer Türnische ein Schuß entgegenbrüllte.
Die Kugel streifte den Marshal am linken Oberarm.
Wyatt warf sich sofort zur Seite und feuerte, noch im Fall, zurück.
Doc Holliday, der zu diesem Zeitpunkt etwa zwölf Yard von dem hinterhältigen Schützen entfernt war, feuerte ebenfalls sofort.
Der Marshal hatte sich wieder erhoben und lief im Zickzack rechts hinüber.
Doc Holliday rannte an die Hauswand und schob den Revolver vor. »Los, komm da raus, Bursche!«
Der Schütze mußte in der Haustür der Flanagans stehen. Aber ein höhnisches Lachen war seine ganze Antwort.
Da sprang Wyatt Earp auf den Vorbau und rannte mit eiskalter Entschlossenheit auf die Tür zu.
Wieder brüllte ihm ein Schuß entgegen.
In diesen Schuß hinein schoß Doc Holliday, der jetzt bis auf sechs Yard an die Tür herangekommen war.
Eins, zwei, drei Schüsse – hart fiel das Stakkato in die nächtliche Straße.
Eine röhrende Lache schlug den Männern entgegen. Und gleich darauf fiel eine schwere Haustür krachend ins Schloß.
Wyatt Earp war an der Tür und warf sich dagegen. Sie gab nach.
Aus dem Hausflur krachte ihm ein Schuß entgegen, der dicht an seinem Kopf vorbeizischte.
Wyatt wandte sich blitzschnell zurück.
Doc Holliday war jetzt langsam auf der anderen Seite der Tür angekommen.
»Das ist Jack Flanagan«, flüsterte der Marshal dem Spieler zu.
Der Mann drinnen im Hausflur mußte es gehört haben. Seine röhrende Stimme dröhnte den beiden Dodgern durch den Hausgang wieder entgegen:
»Ja, hier steht Jack Flanagan! Der älteste der Familie, der Mann, der seine Brüder rächt!«
»Kommen Sie raus, Jack!« schrie ihm der Marshal zu.
»Holen Sie mich doch.«
»Das werde ich tun.«
Wyatt Earp ließ keine Sekunde verstreichen.
Er duckte sich nieder und sprang in den Hausgang.
Zu spät zischten die beiden Geschosse, die der Bandit auf ihn abgegeben hatte, durch die leere Tür.
Wyatt Earp war längst links an der Wandseite und hechtete dem Desperado mit vorgestrecktem Kopf entgegen. Er riß ihn nieder, stieß ihm die Waffe aus der Faust, packte ihn, zerrte ihn wieder hoch und schleifte ihn zum Eingang.
Jack Flanagan war von dem harten Angriff regelrecht überrumpelt worden. Aber als er auf den Vorbau geschleppt wurde, versuchte er noch sich zu wehren.
Wyatt schob ihm mit der Linken den schweren sechskantigen Buntline Special in die Rippen.
»Lassen Sie die Hände oben, Jack!«
Sie mußten jetzt sehen, daß sie schnell hier wegkamen, denn es war nicht ausgeschlossen, daß dem Outlaw aus dem Haus Hilfe kam.
Wyatt packte ihn am Ärmel und schob ihn vor sich her in die Parallelgasse.
In diesem Augenblick kamen unten aus den Miner Camps drei Männer, die sich der Ecke von Wongs China-Bar näherten. In dem fahlen Licht, das durch die mit grünem Glaspapier beklebte Tür auf die Straße fiel, mußten die drei Männer den Missourier erkannt haben.
Einer von ihnen blieb stehen und deutete auf die Straßenkreuzung.
»He, das ist doch der große Wyatt Earp!«
»Na klar, er hat Jack Flanagan gepackt.«
»Hilfe!« schrie da der Outlaw gellend.
Die drei Männer aus den Miner Camps kamen herangestürmt und wollten sich sofort auf den Marshal werfen.
Wyatt Earp hatte den knochigen Jack Flanagan zur Seite gerissen und versetzte ihm gegen das Jochbein einen blitzschnellen Faustschlag, der den Mann besinnungslos niederstreckte. Jetzt waren die drei anderen heran.
Wyatt fing den ersten mit einem schweren Rechtshänder, stieß den zweiten mit einem Fußtritt zurück und hielt dem dritten den Revolver entgegen.
Die drei düsteren Gestalten aus den Miner Camps formierten sich rasch wieder und nahmen eine drohende Haltung ein.
Da kam die klirrende Stimme des Georgiers von hinten an ihre Ohren:
»Wollt ihr nebeneinander oder übereinander liegen, Boys?«
Die drei standen wie angenagelt da.
»Hände hoch!« gebot der Marshal.
Langsam nahmen die drei Männer die Arme in Schulterhöhe.
Wyatt Earp entwaffnete sie und schob sie vor sich her.
Jack Flanagan, der wieder zu sich gekommen war, mußte sich den dreien anschließen.
»Ein Spaziergang durch diese Stadt ist die reinste Lumpensammlung«, meinte Doc Holliday, während er an einer Zigarette genüßlich zog.
Als sie ins Office kamen, war Luke Short noch damit beschäftigt, die Holzstapel hinter seinem Kanonenofen aufzubauen.
»He, da sind ja schon wieder vier Leute. Und der liebe Jack Flanagan ist auch dabei. Welch eine Überraschung! Haben uns lange nicht mehr gesehen, Junge. Hast wohl Sehnsucht nach deinen Brüdern? – Tun Sie mir einen Gefallen, Marshal, und beenden Sie Ihre Rundgänge. Sie bringen jedesmal ein paar Halunken mit, die hier bewacht werden müssen. Wenn es wenigstens noch für jeden einen Dollar gäbe.«
»Die Stadt hat zwei Dollar fünfzig für jeden rechtmäßig festgesetzten Mann zu zahlen«, erklärte Wyatt Earp. »Es wird überhaupt Zeit, daß der Mayor sich wieder einmal um dieses Gesetz kümmert.«
Der Riese kratzte sich im Genick. »Zwei Dollar fünfzig? He, das ist ja eine ganze Menge.« Er stülpte sich seinen Hut auf. »Soll ich den nächsten Rundgang machen?«
Wyatt winkte lächelnd ab. »Nein, Luke, Sie bleiben lieber hier.«
Es war dem Riesen ohnehin nicht ernst gewesen. Es lag ihm nichts daran, zwei Dollar fünfzig für einen Festgenommenen zu erhalten. Der riesige Mann aus Texas liebte das Abenteuer, das freie, wilde Leben. Wenn er Geld benötigte, so verdiente er sich das entweder auf einer Ranch, oder er saß wie Doc Holliday am grünen Spieltisch und machte da seine Dollars, wenn auch nicht mit dem gleichen brillanten Geschick wie der Georgier. Zur Zeit verdiente er ja mit dem Stern ein paar Dollars.
Als er sah, daß die beiden Dodger das Office wieder verlassen wollten, warf er einen schrägen Blick zur Uhr.
»Wollen Sie noch den einohrigen Kerl suchen, Marshal?«
Wyatt nickte.
*
Als Jake Lead sich von Jerry Clanton getrennt hatte, lief er die Fremontstreet hinauf und holte sein Pferd. Er hatte zwar ein paar Dollars gewonnen beim Poker, aber doch zu wenig Geld in der Tasche, um davonreiten zu können.
Daß er einen Menschen niedergeschossen hatte, und nur um Haaresbreite dem Zugriff des gefürchteten Marshals Earp entronnen war, belastete diesen Mann trotz aller Furcht nicht genug, als daß es ihn um jeden Preis aus der Stadt getrieben hätte.
Jake Lead beschloß, noch in Tombstone zu bleiben.
Hier allein war es möglich, Geld zu machen. Es gab mehr Spielsaloons hier als in irgendeiner anderen Stadt Arizonas.
Die mehrmalige Frage des Marshals, ob er über Fairbanks geritten wäre, hatte ihn noch vor einer Viertelstunde bis ins Mark erschrocken. Aber dieser Schrecken war mit der wiedergewonnenen Freiheit rasch verflogen.
Jake Lead hatte sich dazu entschlossen, in der Stadt zu bleiben.
Machte er sich denn gar keine Gedanken darüber, daß von Fort Worth aus Steckbriefe nach ihm losgelassen werden mußten? Dachte er nicht darüber nach, daß man drüben in Fairbanks, das nur wenige Meilen von Tombstone entfernt lag, überlegen würde, wer als Mörder des Sheriffs und seines Deputy in Frage kommen konnte?
Das war das eigentliche Wesen des Mörders Jake Lead: zynische Gleichgültigkeit, die zuweilen von hündischer Angst überdeckt wurde.
Lead zog seinen Wallach hinter sich her und verschwand in einer kleinen, winkligen Gasse, die zum Nordende der Stadt führte.
In einem der letzten Häuser sah er noch einen Lichtschein in den Hof fallen. Er zog seinen Gaul durch das Tor, ließ ihn stehen und trat an das Fenster.
Er sah eine junge Frau über eine Waschwanne gebeugt, damit beschäftigt, Hemden auszuwaschen.
Lead beobachtete sie eine Weile. Dann ging er auf die Hoftür zu und fand sie zu seiner Befriedigung unverschlossen. Lautlos trat er in den Hausgang.
Links stand die Tür zu einem kleinen Zimmer offen.
Er lauschte hinein und hörte das gleichmäßige Atmen eines Menschen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er rechts ein Kinderbett.
Er verließ das Zimmer wieder, trat auf den Gang, blieb vor der Tür stehen und sah den Lichtschein, der in den Flur fiel. Es war die Küchentür, hinter der er die Frau wußte.
Als er sie öffnete, fuhr die Frau mit einem erstickten Schreckensruf herum.
»Was wollen Sie?« brach es von ihren Lippen.
Beinerne Blässe hatte ihr verhärmtes Gesicht überzogen.
Der Mann sah, daß sie große hellblaue Augen hatte, die noch sehr schön waren.
Wie alt mochte sie sein? Vielleicht Ende der Zwanzig?
»Was wollen Sie?« stöhnte sie noch einmal, während sie das nasse Wäschestück gegen ihre Brust preßte.
Lead blickte sie unverwandt an.
Da gaben die Nerven der Frau nach, sie taumelte zurück und sank auf einen Hocker neben dem Ofen nieder.
»Bitte«, stammelte sie, »ich hab’ nichts...?Ich bin Witwe! Mein Mann...,?er ist erschossen worden. Er war Overlandrider. Ich habe wirklich nichts. Ich bringe mich und mein Kind mit Waschen und Näharbeiten durch...«
Da sprangen die Lippen des Verbrechers auseinander.
»Faseln Sie nicht!«
Die Frau zuckte bei dem Klang dieser Stimme zusammen.
Lead warf die Tür hinter sich ins Schloß und trat ans Fenster und zog den Vorhang zu.
»Wer ist sonst noch im Haus?«
»Niemand. Mein Kind und ich.«
»Das ist gut. Ich brauche ein Zimmer.«
»Ein Zimmer?« fragte die Frau fassungslos.
»Ja, ein Zimmer.«
»Aber ich verstehe nicht…«
»Sie werden gleich verstehen. Mein Name ist Lead, Jake Lead. Ich bin aus dem Straflager Fort Worth ausgebrochen, wo ich wegen Mordes gesessen habe. Ich bin entflohen und habe drüben in Fairbanks Sheriff Douglas und den Deputy Calhoun getötet, weil sie mich nach Fort Worth gebracht haben.«
Fassungslos starrte die Frau den Fremden an.
»Nein«, stotterte sie, »das kann doch nicht wahr sein!«
»Es ist wahr!«
Lead zog mit dem Stiefel einen Hocker heran und ließ sich darauf niederfallen. Mit der Linken griff er in die Reverstasche und nahm eine Zigarette heraus.
»Wo sind Zündhölzer?«
Die Frau griff auf die Ofenklappe und nahm mit zitternder Hand die Streichhölzer herunter.
Lead erhob sich, trat auf sie zu und umspannte die Frauenhand, die die Zündholzschachtel festhielt.
Unter dem Blick des Mannes wollte das Blut in den Adern der Frau gefrieren.
Wieder stieg in dem unseligen Mann aus Fairbanks die alte Lust am Quälen auf. Er verzog das Gesicht zu einem bösen Lächeln.
»Angst?«
Die Frau nickte.
Da griff er mit der Linken nach ihrem Kopf und spannte die Hand um ihr Kinn.
Sekundenlang verharrte er so.
Die Frau war steif vor Schreck.
Lead ließ ihr Gesicht plötzlich los und setzte seine Zigarette in Brand. Dann ging er in der Küche auf und ab.
»Ich habe Hunger.«
Die Frau stand auf und ging auf schwankenden Beinen auf die Vorratskammer zu.
»Halt!« rief der Bandit ihr nach.
Die Frau blieb stehen, ohne sich umzuwenden.
»Wenn Sie irgendeine Hinterlist planen, dann ist Ihr Kind Waise.«
Die Frau wandte den Kopf und blickte entsetzt in das grinsende Gesicht des Verbrechers.
»Ich plane keine Hinterlist, Mr. Lead.«
Da nahm der Outlaw blitzschnell seine Zigarette aus den Zähnen und sagte, wobei seine Augen spalteneng zusammengekniffen waren, mit leiser Stimme und drohendem Unterton:
»Wie gut Sie sich meinen Namen gemerkt haben.«
»Soll ich ihn mir nicht merken? Sie konnten mir einen falschen nennen. Vielleicht haben Sie mir ja auch einen falschen genannt?«
»Ich habe Ihnen keinen falschen genannt. Ich bin Jake Lead. Und ich bin stolz darauf. Vor zwei Jahren habe ich Edward Billinger niedergeschossen. Schon mal was von Billinger gehört? Wahrscheinlich werden Sie es in der Zeitung gelesen haben. Und dafür haben sie mich nach Fort Worth gebracht. Aber es war kein Mord. Billinger hatte zuerst gezogen. Ich habe ihn aber zuerst getroffen. Zwei Jahre habe ich in Fort Worth gehockt. Der gute alte Douglas hat mich fertiggemacht, er und der lange Calhoun. Ich habe sie beide ausgelöscht, in einer Nacht. Ja, sehen Sie mich nur an, Mrs… Wie heißen Sie überhaupt?«
»Brendy Gilbert.«
»Brendy.« Er rieb sich mit dem Handrücken der Linken über sein stoppeliges Kinn, wobei er den Mund auf eine unangenehme Weise verzog. »Ein hübscher Name. Er gefällt mir direkt, Brendy. All right. Hören Sie, Brendy, mein Gaul steht im Hof. Wie sieht’s mit dem Stall aus?«
»Er ist leer. Seit unser Vater tot ist, steht er leer.«
»Gut. Dann werden wir gleich zusammen den Gaul unterstellen. Vorwärts!«
Die Frau kam in ängstlichem Gehorsam an die Tür und ging vor dem Mann her.
Als sie im Flur eine Stalllaterne von der Wand nehmen wollte, schlug der Mann ihr auf die Hand. Die Laterne fiel polternd auf die Steinfliesen des Bodens.
Aus schreckgeweiteten Augen starrte die Frau ihn an.
»Sie machen nichts, was ich nicht befohlen habe, Brendy, klar?«
Wortlos verließ die Frau das Haus und ging vor dem Verbrecher her über den Hof auf den Stall zu.
Lead zog seinen Wallach am Zügel hinter sich her.
Als das Pferd untergebracht worden war, schlossen sie das Hoftor und gingen ins Haus zurück.
Unschlüssig und auf zitternden Beinen stand die Frau in der Mitte der Küche und blickte starr vor sich hin.
Er sah sich um. »Wie sieht’s denn mit dem Essen aus? Ich habe Hunger.«
Die Frau ging in die Vorratskammer. Als sie zurückkam, brachte sie Brot, Käse und Milch mit.
Der Mann aß unmäßig und rülpste unbekümmert vor sich hin.
Angewidert stand die Frau an der Küchentür.
»Setzen Sie sich hin«, gebot er.
Sie ließ sich auf dem Schemel nieder und blickte auf ihre verarbeiteten Hände.
Als Lead fertig war, stand er auf. »Wo kann ich schlafen?«
»Wir haben noch eine Dachkammer frei.«
»Das könnte Ihnen so passen, Brendy. Nichts da! Wo schlafen Sie?«
Die Frau zuckte zusammen und griff sich an die Kehle.
»Ich schlafe bei dem Kind drüben im Zimmer.«
»Daraus wird nichts. Um morgen in aller Herrgottsfrühe zum Marshal zu laufen, während ich noch schlafe?«
Die Frau blickte wieder auf ihre Hände.
»Legen Sie das Kind in die Dachkammer, dann sind Betten frei.«
»Sie müssen verrückt sein«, entfuhr es der Frau.
Da trat er auf sie zu und schlug ihr zweimal ins Gesicht.
Die Augen der Frau waren tränenlos. Auf ihren bleichen Wangen brannten hektische Flecken.
»Entweder Sie tun jetzt, was ich Ihnen sage, oder Sie lernen mich kennen. Mit mir ist nicht zu spaßen.«
»Davon bin ich überzeugt«, entgegnete Brendy Gilbert mit schwacher Stimme.
Was sollte sie nur tun? Das Kind in die Dachkammer bringen? Nein, solange das Kind unten war, hatte sie wenigstens noch irgendeinen Menschen in der Nähe.
»Also, bringen Sie das Kind nach oben.«
Brendy schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Es ist krank.«
»Was geht das mich an!« schnarrte er rücksichtslos.
»Es hat Fieber. Ich kann es nicht hinaufbringen. Oben ist es eiskalt.«
»Da unten auch.«
»Es bleibt, wo es ist«, entgegnete die Frau. Aus ihrer Stimme klang plötzlich eine seltsame Entschlossenheit.
Der Verbrecher lauschte dem Klang ihrer Worte nach.
»He, haben Sie etwa die Absicht, aufsässig zu werden? Sie können davon überzeugt sein, daß ich kurzen Prozeß mit Ihnen mache. Ich habe nichts zu verlieren.«
»Weshalb schlafen Sie nicht drüben in der Scheune?«
»In der Scheune?« Er sah sie verblüfft an. »Sind Sie verrückt? Ich schlafe hier im Haus.«
»Dann schlafen Sie da auf dem Sofa«, versetzte sie kühl und wollte zur Tür.
Er versperrte ihr den Weg, packte sie am linken Handgelenk und riß sie zu sich heran.
Scharfer Whiskydunst und Tabakgeruch schlugen ihr aus seinem Mund entgegen wie eine Flamme. Als sie jetzt in seine Augen sah, jagte ihr ein jäher Schreck durch die Brust und umklammerte ihr Herz mit eisigem Griff.
Sie hatte in die Augen eines Mörders gesehen. In Augen, aus denen eisige Kälte, Brutalität und Rücksichtslosigkeit blitzten.
Dieser Mann hatte ihr sein grauenhaftes Geheimnis verraten! Damit war sie zur Mitwisserin seiner furchtbaren Tat geworden. Das bedeutete, daß ihr Leben von diesem Augenblick an verwirkt war!
Der Verbrecher würde sie nicht leben lassen…?Stellte sie doch jetzt eine gefährliche Mitwisserin dar!
Diese Erkenntnis erschütterte die junge Frau so, daß sie taumelnd zur Seite schwankte und gegen den Schrank prallte.
Lead war stehengeblieben und fixierte sie aus schmalen Augen.
Brendy torkelte auf das alte Sofa zu und ließ sich darauf nieder.
»Was soll das heißen?« fragte der Mann.
Sie sog die Luft tief ein und mühte sich, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. »Ich bleibe hier sitzen.«
»Die ganze Nacht?«
»Die ganze Nacht.«
Es war schon so spät, daß bis zum Morgen nur noch wenige Stunden blieben.
In sich zusammengekauert hockte die Frau da und stierte vor sich hin.
Lead blickte sie lauernd an.
Er wird mich nicht leben lassen! Dieser Gedanke erfüllte ihr Hirn. Der rasenden Furcht, die sie erfaßt hatte, folgte eine bleierne Schwere, die sich in alle ihre Glieder legte.
Er wird mich nicht leben lassen…
Da trat der Mann dicht vor sie hin.
»Wie sieht es mit einem Drink aus?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Alkohol im Haus.«
Da holte er aus und schlug ihr ins Gesicht.
Sie wich zurück. »Ich schwöre Ihnen, ich habe keinen Whisky im Haus.«
»Dann wirst du einen herbeischaffen!«
»Wie sollte ich das tun, jetzt, mitten in der Nacht?«
»Das ist mir egal.«
Sie stand auf und ging zur Tür.
Er sah die brandroten Flecken auf ihren Wangen.
Als sie die Tür öffnen wollte, brüllte er ihr nach: »Halt!«
Brendy blieb stehen.
»Könnte Ihnen so passen, was?« schnarrte der Verbrecher ihr entgegen, packte sie am Arm und zerrte sie in den Raum zurück.
Die Frau starrte den Mann aus leeren Augen an.
Er ging auf einen Schrank zu, riß die obere Klappe auf und suchte nach Whisky. Aber er fand nichts.
Da wandte er sich plötzlich um.
»Los, setz dich da hin.«
Sie zog die Brauen zusammen.
»Du sollst dich auf das Sofa setzen.«
Brendy Gilbert ließ sich an der rechten Ecke des Sofas auf der Kante nieder.
Jake Lead wanderte um den Tisch herum und setzte sich neben sie.
Obgleich die Frau schon in der Ecke gesessen hatte, rutschte sie noch weiter, um den Abstand zwischen sich und dem Banditen zu vergrößern.
Lead lachte rüde auf und schob mit dem Stiefel den Tisch von sich.
Mit langausgestreckten Beinen lag er in der Sofaecke. Qualvolle Minuten vergingen.
Plötzlich bemerkte die Frau, die es nicht gewagt hatte, zu dem Mann hinüberzusehen, leise, gleichmäßige Atemzüge. Rasch wandte sie den Kopf und sah, daß er die Augen geschlossen hatte. Aber sie wagte immer noch nicht, sich zu bewegen.
Höchstwahrscheinlich suchte er sie nur zu täuschen.
Aber er atmete ruhig weiter.
Fast eine halbe Stunde war vergangen, ehe sie es wagte, aufzustehen.
Sofort war er hellwach und schrie:
»Was willst du?«
Brendy Gilbert war wie angenagelt stehengeblieben.
»Ich wollte die Lampe löschen, wir haben kein Petroleum mehr.«
»Das Licht bleibt an«, befahl er.
Sie wollte sich auf den Schemel setzen, aber ohne die Augen zu öffnen, schnarrte er: »Los, setz dich in die Sofaecke.«
Sie ließ sich auf dem Sofa nieder.
Nicht ganz anderthalb Yard trennten die beiden Menschen voneinander. So verbrachte Brendy Gilbert die fürchterlichsten Stunden ihres Lebens.
Kleiner und kleiner wurde der Docht der Lampe, dann blakte das Licht nur noch in langen rußigen Fäden und erlosch schließlich ganz.
Die Dunkelheit, die die Frau sich herbeigewünscht hatte, erschreckte sie jetzt. Würgende Angst stieg in ihre Kehle.
Er wird mich nicht leben lassen… Immer wieder kreisten ihre Gedanken um diese Gewißheit.
Da wurden die Atemzüge des Mannes unregelmäßiger, und plötzlich hörte sie ihn leise stöhnen: »Nein«, keuchte er schluckend, »nein, nicht!«
Die Frau hatte sich in der Sofaecke zusammengekauert und die Hände vors Gesicht gepreßt.
»Nein!« schrie der Mann los. »Nicht…!«
Dann wurde es wieder still.
Aber nur für wenige Minuten. Und dann hörte sie ihn zu ihrem eisigen Entsetzen sagen: »… durch einen Strick aus irischem Hanf…, aus irischem Hanf! – Nein! Ich will nicht! Hilfe!«
Wie gelähmt kauerte Brendy Gilbert in der Sofaecke und starrte in die Dunkelheit.
Der Mann neben ihr war aufgesprungen.
Sie sah seine Silhouette gegen das Fenster.
Benommen taumelte er vorwärts, blieb stehen, griff sich an die Kehle, riß sich das Halstuch herunter und schleuderte es zu Boden. Dann wischte er sich über die schweißnasse Stirn. Und plötzlich drehte er sich um, stürzte auf den Tisch zu, kippte ihn um und tastete sich zum Sofa vor.
Die Frau sprang hoch.
»Ah, du bist noch da! Das ist gut. Warum ist das Licht aus?«
»Ich sagte Ihnen ja, wir haben kein Petroleum mehr.«
»Kein Petroleum?«
Er ließ sich nieder und legte sich mit dem Kopf in die Sofaecke zurück.
Noch hämmerten die Pulse der Frau wild vor Angst.
Plötzlich begann der Mann wieder zu sprechen.
»Sie werden mich hängen! Hängen! Aber ich will nicht! Ich will nicht!«
Es war das schlechte Gewissen, das ihm keine Ruhe ließ.
»Wyatt Earp!« flüsterte er. »Wyatt Earp kommt! Der Wolf aus Dodge City! Ich bin ihm in die Fänge gelaufen! Doc Holliday, das Pokergesicht, hat mich gestellt!«
Der Verbrecher warf sich im Halbschlaf verzweifelt hin und her.
Er sagte nichts mehr, und die Frau lauschte seinen Atemzügen. Sie wurden ruhiger, gleichmäßiger.
Er schlief fest.
Unendlich langsam erhob sich Brendy Gilbert aus der Sofaecke und trat neben den umgestürzten Tisch.
»Ich muß fliehen! Mit dem Kind! Er wird mich nicht leben lassen! Zuviel weiß ich von ihm«, murmelte sie.
Yard um Yard bewegte sie sich vorwärts auf die Tür zu.
Da erschreckte sie ein Geräusch. Der Mann schien aufgewacht zu sein.
Sofort bewegte sie sich von der Tür zurück in die dunkle Zimmerecke.
Da schnellte der Desperado von dem Sofa hoch und brüllte:
»Halt! He, wo bist du?«
Er stürmte vorwärts, blieb an einem Tischbein hängen, stürzte zu Boden, stieß einen lästerlichen Fluch aus, erhob sich wieder und rannte vorwärts. Er prallte mit dem Schädel gegen das Fenster, das klirrend in Hunderte von Scherbenstücken zersprang, die in den Hof hinaus fielen.
Schreckgelähmt stand Brendy Gilbert in der dunklen Zimmerecke und starrte auf die Silhouette des Mannes.
Jake Lead wandte sich benommen um und stierte in die Dunkelheit. Durch die zusammengebissenen Zähne röhrte er: »Ich bringe dich um!«
*
Als der alte Albert Clanton das Sheriffs Office verlassen hatte, ging er zu seinem Pferd, zog sich in den Sattel und ritt aus der Stadt.
Er kannte den Weg zur Ranch seines Neffen genau. Schneller und schneller ritt der alte Mann. Als er endlich hinter dem großen Kaktusfeld die Bauten der Ranch auftauchen sah, atmete er auf, da er feststellen konnte, daß aus dem Wohnhaus noch Licht über die Vorbauten in den Hof fiel.
Als er sein Pferd zum Stehen gebracht hatte, wurde oben am Haus die Tür geöffnet. In ihrem Rahmen erschien ein großer breitschultriger wuchtiger Mann.
Der Alte erkannte ihn sofort. Es war sein Neffe Ike, Isaac Joseph Clanton. Der einstige Bandenführer blickte mit schmalen Augen auf den Reiter, der da gekommen war.
Der Alte hatte die Zügelleine um die Halfterstange geworfen und ging mit seinen säbelkrummen Beinen langsam auf die Vorbaukante zu, vor deren unterster Stufe er stehenblieb.
»Hallo, Ike!« kam es rostig aus seiner Kehle.
Verblüfft blickte der Rancher auf den Alten hinunter.
»Onkel Al…«
»Ja, Ike, ich bin’s.«
Der Alte hob den linken Fuß, um auf die Treppe zu steigen, taumelte aber plötzlich zur Seite und brach in das rechte Knie ein.
Ein sonderbar schmerzliches Gefühl fuhr bei diesem Anblick durch die mächtige Brust des sonst wirklich nicht empfindlichen Ike Clanton.
Rasch überquerte er den Vorbau, sprang über die Treppenstufen in den Hof und kniete neben dem Alten nieder.
»Onkel Al, komm, ich helfe dir.« Er richtete den Alten auf, führte ihn zur Treppe und half ihm hinauf ins Haus.
Tief in sich zusammengesunken hockte der alte Mann in dem schäbigen grünen Polstersessel, in dem Ike sonst zu sitzen pflegte.
Der Rancher stand vor ihm am Tisch und musterte ihn forschend.
»Warte, Onkel Al, ich hole dir einen Whisky.«
»Nein, nein.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich habe schon in der Stadt einen Whisky getrunken.«
»Doch, doch, du wirst einen Whisky trinken. Der tut dir bestimmt gut. Wo kommst du um Himmels willen überhaupt her? Jetzt mitten in der Nacht? Kein Mensch wußte, daß du unterwegs bist. Ich hätte dir doch entgegenkommen können. Oder ein paar von den Boys auf den Weg schicken können…«
Der sonst so eisenharte Ike Clanton hatte ein ausgeprägtes Familiengefühl. Hier saß ihm der Bruder seines Vaters gegenüber, der Onkel, der früher, als der Vater noch gelebt hatte, zuweilen mit dem kleinen Jerry zu Besuch auf die Ranch gekommen war.
Aber seit dem letzten Besuch des Alten waren Jahre vergangen.
Ike, der selten etwas trank, holte aus dem Winkel des Schrankes eine verstaubte Flasche hervor, die Phin noch dahingestellt hatte, und hielt sie gegen das Licht. Sie war noch fast bis zur Hälfte gefüllt. Er goß ein Glas halbvoll und stellte es vor den Alten hin.
»Trink, Onkel Al, das wird dir guttun«, kam es rauh über seine Lippen.
Der Alte griff mit einer müden Bewegung nach dem Glas und führte es zitternd an die Lippen. Nachdem er zwei Schlucke getrunken hatte, krächzte er: »Thanks, Ike.«
Der Rancher setzte sich auf die Tischkante und betrachtete den Alten.
»Weshalb hast du denn nicht geschrieben, daß du kommst? Wie geht es Jerry?«
Ein Schatten flog über das Gesicht des Alten.
»Jerry? Ich weiß nicht…«
»Weshalb ist er denn nicht mitgekommen?«
»Er ist mitgekommen – bis Tombstone.«
»Bis Tombstone? Was soll das heißen? Ist er noch in der Stadt?«
»Ja.«
»Ich verstehe nicht. Sprich doch endlich!«
»Er ist mit Wyatt Earp zusammengeraten.«
»Was!« Ike rutschte von der Tischkante und stand breitbeinig da. »Was sagst du da? Erzähl doch schon!«
»Was soll ich erzählen? Irgendwie muß es in einer Schenke zu einer Schlägerei und dann zu einer Schießerei gekommen sein. Ein Mann wurde verletzt.«
»Jerry…!« Ike griff sich an die Stirn. »Das kann doch nicht wahr sein! Onkel Al, was hat er angestellt?«
»Ich weiß es nicht, Ike«, krächzte der Alte. »Frag mich nicht. Es war eben irgendeine Schießerei, bei der er beteiligt gewesen sein soll.«
»Was heißt: gewesen sein soll? War er daran beteiligt oder nicht? Das mußt du doch wissen.«
»Nein, ich war doch nicht dabei. Ein Bursche in seiner Gesellschaft hat einen Mann niedergeschossen.«
»Tot?«
»Nein – das heißt, ich weiß es nicht. Wyatt Earp hat Jerry und den anderen ins Office gebracht, und anschließend hat er dann in der Schenke Nachforschungen angestellt. Irgend jemand hat ausgesagt, daß der andere zuerst gezogen hat. Ich kann es nicht genau sagen. Jerry hat es mir erzählt. Jedenfalls wurden die beiden wieder freigelassen, und kurz darauf muß der Marshal festgestellt haben, daß der andere ein steckbrieflich gesuchter Mörder ist.«
Ike hob den Kopf und starrte durch das Fenster in den dunklen Hof. »Es ist nicht zu fassen. Kaum sind die Dodger wieder in Tombstone, passiert etwas.«
Er nahm seinen Hut vom Wandhaken, zog die dicke braune Lederjacke an und stampfte zur Tür.
»Wo willst du hin?«
»Nach Tombstone.«
*
Wyatt Earp und Doc Holliday waren oben in der Fremontstreet. Langsam gingen sie in Richtung Westen vorwärts.
Als sie den Eingang des O.K. Corrals erreicht hatten, blieben die beiden stehen.
Der Marshal blickte in die düstere Enge des Wagenabstellplatzes, und plötzlich stiegen die Geister der Vergangenheit in ihm auf.
Er sah sich selbst hier stehen, fast auf der gleichen Stelle, auf der er jetzt stand, mit dem Revolver in der linken Faust.
Rechts neben ihm, nur etwa zwei oder drei Yard von ihm entfernt, hatte Doc Holliday gestanden, auch er nicht weit von dem Fleck entfernt, auf dem er jetzt im Augenblick stand.
Links war Virgil, und ein Stück weiter dem Torpfosten zu hatte Morgan gestanden.
Rechts, ein paar Yards von Doc Holliday entfernt, am linken Torpfeiler, hatte sich Billy Clanton aufgebaut. Dann Frank McLowery. Hinten in der Mitte des Corrals stand Ike Clanton, und rechts von ihm hatte Tom gestanden, Tom McLowery.
Und dann waren Schüsse gefallen. Ein knatterndes, dröhnendes Stakkato, ein wildes Furioso, ein Hämmern von Detonationen, die sich an der grauweißen Adobewand von Fly’s Gallery brachen und ihr Echo über die ganze Stadt warfen.
Nie würde Wyatt Earp diese furchtbare Minute vergessen können.
Er hatte in vielen Revolverkämpfen gestanden. Und nicht selten war sein Leben in größerer Gefahr gewesen. Dennoch hatte diese eine höllische Minute im O.K. Corral etwas so Schreckliches an sich gehabt, daß sie unauslöschlich in seinem Gedächtnis haften bleiben würde.
Als er zur Seite blickte, sah er, daß auch der Georgier mit unbeweglichem Gesicht in den Hof blickte.
»Ich glaube, wir müssen es aufgeben«, sagte Wyatt Earp mit belegter Stimme.
Holliday nickte. »Ja, in diesem Haus hier kann er sich verborgen haben. Es hat keinen Zweck. Wir müssen den Tag abwarten.«
Dennoch rührten sie sich nicht von der Stelle. Immer noch blickten sie in das Dunkel des O.K. Corrals.
Es mochten vielleicht dreißig Sekunden vergangen sein, als ein dumpfer Knall und das Bersten von Glas die Stille der Nacht zerriß.
Die beiden Männer blickten einander an.
»Das kam von da drüben.« Doc Holliday deutete auf eine Gasse, die nach Norden hin aus der Stadt führte.
Wyatt Earp rannte sofort los.
Der Spieler folgte ihm.
Der Marshal war noch nicht ganz bis auf die Höhe des Hauses gekommen, in dem die Scheibe zertrümmert worden war, als er lauschend stehenblieb.
Doc Holliday verhielt ebenfalls den Schritt, als er bemerkte, daß der Marshal nicht weiterlief.
Nach angestrengtem Lauschen vernahm der Missourier die dumpfe Stimme eines Mannes. Das Geräusch kam links drüben aus einem der Höfe.
Wyatt ging auf das Tor zu. Es war verschlossen.
Er zog sich hoch und sprang über die Torkante. Federnd erreichte er drüben den Hof.
Doc Holliday, der vor dem Tor gewartet hatte, sah, daß sich der Torflügel aufschob. Der Marshal hatte von innen geöffnet.
Beide standen sie jetzt in dem nächtlichen Hof und lauschten.
Da, die dumpfe Stimme des Mannes war wieder zu hören.
Wyatt huschte geduckt an der Seitenwand des Hauses vorwärts, bis er die Treppe zur Hoftür genau sehen konnte.
Direkt vor ihm am Boden blinkte es und glitzerte.
Scherben!
Der Marshal lauschte zu dem zerschlagenen Fenster hinauf.
Deutlich hörte er jetzt die heisere Stimme des Mannes:
»Stimmt, Sweety! Ich habe dir zuviel erzählt. War eine Riesendummheit von mir. Aber es ist noch nicht zu spät, das wiedergutzumachen.«
»Rühren Sie mich nicht an!« drang die Stimme einer Frau in den Hof.
Ein häßliches Lachen brach über die Lippen des Banditen.
»Was habe ich gesagt? Ich hätte einen Sheriff ermordet? Haha! Es ist auch so. Ich habe ihn umgebracht. Und zwar aus einem ganz besonderen Grund. Dieser Dreckskerl hat mich nach Fort Worth gebracht. Ich habe Billinger nicht ermordet, aber dafür haben sie mich nach Fort Worth geschleppt. Douglas war schuld, und der andere, der lange Calhoun, hat mit dafür gesorgt. Es geht auf ihr Konto, daß ich die Jahre da unten verbracht habe. Ich bin ausgebrochen. Und es wäre mir wohl nie geglückt, wenn mich nicht der Haß nach Fairbanks zurückgetrieben hätte. Ich habe sie beide aufgesucht, den Sheriff und seinen sauberen Deputy. Und beide haben ihr Leben im Schlaf verröchelt…«
Inzwischen hatte der Marshal die Hoftür erreicht.
Er betätigte den Drehknauf. Die Tür war unverschlossen. Er hob sie etwas in den Angeln an, um nach Möglichkeit Geräusche zu vermeiden.
Dennoch war ein leises Knarren im Haus zu hören.
Jake Lead flog herum. »Was war das?« stieß er heiser durch die Zähne.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete die Frau bebend.
Da packte er brutal nach ihrem Arm und riß sie zu sich heran.
»Ich habe gefragt, was das war!«
Wyatt hatte keine Zeit zu verlieren. Er tastete sich an der Flurwand vorwärts und erreichte die Küchentür.
Er mußte damit rechnen, daß sie verriegelt war. Deshalb nahm er einen kurzen Anlauf und warf sich mit der Schulter dagegen. Holz zerbarst, und die Tür sprang auf.
Mit gezogenem Revolver stand der Marshal in ihrem Rahmen. Kaum drei Yard vor ihm stand der Mörder.
»Hände hoch!«
Jake Lead war wie vom Schlag getroffen. Unfähig, auch nur ein Glied zu bewegen, stand er da und stierte auf den Mann im Türrahmen.
»Ich habe gesagt, Hände hoch!«
Plötzlich bewegten sich die Lippen des Verbrechers.
»… durch einen Strick – aus irischem Hanf –!« Und dann stieß er das Kinn vor und brüllte mit markerschütternder Stimme: »Nein!«
Die Frau erschütterte unter diesem tierischen Schrei.
Wyatt Earp war sofort bei dem Verbrecher, hatte ihm den Revolver aus dem Halfter gerissen, drehte seinen Arm auf den Rücken und trieb ihn aus der Tür.
Da blieb er noch einmal stehen und wandte sich um.
»Pardon, Madam. Es ist alles in Ordnung. Entschuldigen Sie bitte.«
Vorn im Hof stand der Georgier.
»Ich habe sein Pferd im Stall gefunden. Es ist ein Wallach mit sternförmiger Blesse…«
*
Der Weg des Jake Lead war zu Ende.
Ein Verbrecherleben hatte seinen Abschluß gefunden. Ein sinnloses Leben. Durch eine anfängliche geringfügige Charakterschwäche hatte sich der Mann aus Fairbanks die Grube selbst geschaufelt.
Er war an Wyatt Earp gescheitert.
Es war sein Geschick, daß er nach dem Mord ausgerechnet nach Tombstone, in die Stadt namens Grabstein, geritten war.
Jetzt saß er in der Zelle des Sheriffs Luke Short und hatte keine Chance mehr, dem zu entrinnen, dem er hatte entrinnen wollen – dem Strick aus irischem Hanf.
Wyatt gab dem Texaner einen Wink.
Der Riese schloß die Zelle auf, in der Jerry Clanton saß.
Der Bursche stand hinter der offenen Gittertür und blickte den Marshal fragend an.
Die Kerosinlampe in der linken Hand des Texaners blakte und warf ein gespenstisches Licht auf die Gesichter der Männer.
»Kommen Sie heraus, Clanton.«
Wyatt Earp nahm ihn am Arm und schob ihn vorn ins Office.
Luke Short und Doc Holliday standen hinter dem Marshal.
Der junge Clanton stand mitten im Raum.
»Hören Sie zu, Jerry. Sie haben sich da in Millers Saloon eine dumme Geschichte eingebrockt. Ich hoffe, daß wir sie vergessen können. In Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen, die Stadt zu verlassen. Ich könnte mir vorstellen, daß Ihr Vetter Ike nicht sehr glücklich über diese Dinge sein wird.«
»Kann ich jetzt gehen?« fragte der Bursche trotzig.
Der Marshal nickte.
Jeremias Clanton wandte sich um, ging zur Tür, blieb da noch einmal stehen und blickte über die Schulter zurück. Er maß die Männer mit einem verächtlichen Blick und ging dann hinaus.
Wyatt Earp folgte ihm sofort.
Als sie auf den Vorbau kamen, sahen sie einen Reiter aus einer Quergasse in die Allenstreet sprengen. Er flog aus dem Sattel, stampfte auf das Sheriffs Office zu. Mit zwei Sprüngen hatte er die Treppenstufen genommen und stand jetzt auf dem Vorbau. Groß, vierkantig und drohend.
Obgleich der Marshal nur seine Silhouette erkennen konnte, wußte er doch genau, wer jetzt da vor ihm stand.
Ike Clanton!
Es war fast eine volle Minute still auf dem düsteren Vorbau in der Tombstoner Allenstreet.
Dann hob der Rancher die rechte Hand an die ausgefranste Hutkrempe. »Hallo, Marshal«, kam es rostig aus seiner Kehle.
»Hallo, Ike«, entgegnete Wyatt kühl.
»Ich bin gekommen, um meinen Vetter abzuholen.«
»Ja, er steht schon vor Ihnen.«
Ike blickte auf den Mann, der vor ihm stand.
»Jerry? Du bist Jerry?«
Der Bursche nickte. »Ja, Ike, ich bin dein Vetter Jerry.«
Da machte der einstige Bandenführer, der gefürchtetste Desperado der Union Staaten, drei Schritte vorwärts, und blitzschnell klatschten zwei Ohrfeigen in das Gesicht des Burschen, die Jerry zurücktaumeln ließen.
Jerrys Hände flogen zu den Revolvern.
Aber schon schob ihm der Marshal den sechskantigen Buntline Special in den Rücken.
Aber Jerry wäre ohnedies nicht dazu gekommen, die Revolver zu ziehen. Schon hatte Ike ihn gepackt und schleuderte ihn vom Vorbau.
»Los, steh auf!«
Der Bursche erhob sich langsam. »Ike, ich bitte dich…, ich bin doch…«
»Halt’s Maul!«
Zusammengedonnert stand der junge Clanton da.
»Los, setz dich aufs Pferd. Ich werde dir Manieren beibringen.«
Ike wandte sich nach dem Marshal um.
»Tut mir leid, Wyatt.«
Unbeweglich blickte ihn der Missourier an. Doc Holliday und Luke Short standen hinter ihm.
Jeremias Clanton sah sich um.
»Mein Pferd ist nicht hier, Ike.«
»Das macht nichts. Wir werden es suchen.«
Langsam verließ der Rancher den Vorbau und ging zu seinem Pferd hinunter.
Er war der alte geblieben, der herrische, selbstgefällige Isaac Joseph Clanton, der einst Hunderte von Tramps, Outlaws und Desperados angeführt hatte.
Wie sehr unterschied sich dieser Mann doch von den beiden Figuren, die Wyatt Earp im Verdacht hatte haben müssen, daß sie die Galgenmänner anführten! Welch eine dynamitgeladene Atmosphäre verbreitete Ike Clanton immer noch um sich, wo er auch auftrat.
Stumm trottete Jerry vor dem Rancher her, der seinen Rapphengst mit der Linken am Zügel hinter sich her führte.
Als das Geräusch der Schritte und der Hufschlag des Pferdes in der Ferne der Allenstreet verklungen war, meinte der Georgier leise: »Den sind wir los. Und trotzdem… In dem Augenblick, in dem Ike hier ankam, habe ich den Gedanken an den Chief der Kapuzenmänner oben vom Roten See nicht loswerden können!«