Читать книгу Wyatt Earp Staffel 14 – Western - William Mark D. - Страница 9

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Es war kurz vor elf Uhr am Vormittag.

Der Himmel über Santa Fé war wie aus blauem Seidenpapier geschnitten, tief azurfarben und wolkenlos.

In wenigen Minuten mußte es passieren.

Vor Jimmy Croydons Sattelmacherei lehnte ein hochgewachsener Mensch im Schatten des Vorbaus an der hölzernen Hauswand, hatte den rechten Sporn mit seinem scharfzackigen Sternrad in das Holz hinter sich gebohrt und bewegte ihn langsam hin und her. Dies war die einzige Bewegung, die an ihm wahrzunehmen war, sonst schien er völlig ruhig zu sein. Und dennoch hätte einem aufmerksamen Beobachter gerade dieses Pressen des Sporenrades in das Holz die Unruhe verraten, von der der Mann beherrscht wurde.

Er hatte seinen breitkrempigen braunen Stetson tief über der linken Braue in die Stirn gezogen. Unter seiner hellbraunen Jacke trug er eine dunkle Weste und ein graues Kattunhemd, das oben am Hals von einer sauber gebundenen Halsschleife zusammengehalten wurde. Eine Waffe war an dem Mann nicht zu sehen. Seine enganliegenden dunkelblauen Levishosen liefen unten über die hochhackigen Stiefel aus.

Er hatte ein scharfgeschnittenes, kantiges männliches Gesicht, in dem ebenfalls nur einem aufmerksamen Betrachter die Züge von großer Härte aufgefallen wären.

Seine Augen waren von jenem irisierenden bernsteinfarbenen Lichtbraun, das man sehr selten findet und das auch nur ganz bestimmten Menschen eigen ist. Es waren herrische, harte und kalte Augen. Unter halbgesenkten Lidern beobachtete er die Straße scharf.

So wie er dastand, machte er durchaus den Eindruck eines Mannes, der in diese Stadt gehörte. Äußerlich unterschied er sich eigentlich durch nichts von den Menschen seiner Umgebung. Und dennoch unterschied er sich gewaltig von ihnen.

Ja, wenn man so will, hatte er nichts mit ihnen gemein. Und sicher hätte es in dem großen Santa Fé in dieser Stunde auch kaum einen Menschen gegeben, der etwas mit diesem Mann hätte gemein haben wollen.

War er ein Bandit?

Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Denn ein gewöhnlicher Bandit war er wirklich nicht. Er war mehr, viel mehr. Es war der gefährlichste Mann, den Santa Fé jemals gesehen hatte. Er führte die größte Verbrecherbande an, die der weite Westen überhaupt kannte: Den Geheimbund der Galgenmänner, Graugesichter oder, wie sie auch genannt wurden, Maskenmänner. Im ganzen Westen gab es zu dieser Zeit sicher keinen Mann, der noch nicht von dem Big Boß gehört hätte, von dem großen Chief jener Organisation, die ihre Geißel des Schreckens über ganz Arizona, Colorado und New Mexico geschwungen hatte.

Da stand er nun, unscheinbar, wie irgendein Bürger dieses Landes, und beobachtete unter halbgesenkten Lidern hervor die breite Mainstreet von Santa Fé.

Es war eine Minute vor elf.

Nur noch sechzig Sekunden.

Der Mann griff nicht zur Uhr. Es sollte nachher niemand sagen können: Der da hat genau eine Minute vor elf abwartend auf die Uhr gesehen.

Das hatte er auch gar nicht nötig, denn in der Sattelmacherei hing eine große Uhr, deren Schlag er ganz gewiß nicht überhören würde. Außerdem war nebenan im Santa Fé Saloon ebenfalls eine große Uhr, deren Schlag man durch die offene Tür bis auf die Straße hören mußte.

Scharf beobachtete er die schräg gegenüberliegende presbyterianische Kirche, deren Eingang sich jeden Augenblick öffnen mußte, um den Mann herauszulassen, der von dort aus geradewegs über die beiden Vorbauten auf die Westernbank zugehen mußte.

Und die Blicke des Bandenführers schweiften ohne Eile hinüber auf die große, aus Stein errichtete Wells Fargo-Poststation, wo ebenfalls im nächsten Augenblick der zweite Mann auftauchen mußte.

Und dann tastete der Chief die anderen Punkte ab, auf die er seine Leute bestellt hatte. Aus der Kirche hatte der neapolitanische Bandit Cesare »Jim« Valetta zu kommen. An der Rampe des Post Office mußte Laurentino Gatta aufkreuzen.

Und dann die anderen Männer, die alle ihren bestimmten Platz angewiesen bekommen hatten.

Weshalb erschien Valetta nicht? Wo blieb Gatta?

Weshalb ließ sich noch keiner von den anderen blicken?

Etwas wie Besorgnis stieg in ihm auf – falls er einer solchen Empfindung überhaupt fähig war.

Hatte er sich vielleicht in der Uhrzeit getäuscht? Nein, das war nicht möglich. Und dennoch blieb er beherrscht genug, nicht nach seiner eigenen Uhr zu greifen. Keinen Verdacht erregen, um keinen Preis!

Da schlug hinter ihm in der Sattelmacherei die große Uhr.

Der Bandenführer zählte ihre blechernen, mißtönenden Schläge mit.

Elf!

Es geschah nichts. Gar nichts.

Tiefer gruben sich die scharfen Zacken der Sternradsporen in das Holz der Hauswand. Und der Absatz bewegte sich vielleicht etwas schneller. Das war aber auch die einzige Erregung, die der unheimliche Mann zeigte. Immer noch hatte er die Lider halb gesenkt, und sein Blick suchte forschend die Straße ab. Und als eine Minute vergangen war, wandte er sich um und verschwand.

Was war geschehen?

Weshalb waren die Männer nicht auf ihren Plätzen?

Länger zu warten, hatte gar keinen Sinn, denn wenn bei den Galgenmännern ein Überfall nicht auf die Minute stattfand, fand er gar nicht statt. Das war Prinzip bei der Bande.

Es mußte also irgend etwas Besonderes geschehen sein!

Er verschwand in der kleinen Sommergate und durchquerte einen Hof, der ihn auf eine Parallelgasse zur Mainstreet führte. Hier ging er in einen schmalen Hof, wo ihm ein geistesschwacher Junge entgegenkam und mit den Händen durch die Luft fuchtelte.

»Hallo, Mister, ich weiß schon, Sie brauchen ein Pferd.«

Der Desperado warf dem Burschen eine Münze zu und holte dann sein Pferd aus dem Stall.

Es war ein Fuchs.

Der Big Boß hatte lange Zeit eine Schimmelstute geritten, sie dann gegen einen hochbeinigen braunen Wallach eingetauscht, und nun ritt er einen Fuchs. Er war selbst ein Fuchs, dieser Mann, gerissen und mit allen Wassern gewaschen wie kein anderer.

Die Schimmelstute war längst bekannt, das wußte er. Er würde sie nie mehr reiten. Und den braunen Wallach hatte er in der vergangenen Nacht in Camp Ladore zurückgelassen, mit dem festen Vorsatz, sich nie mehr in den Sattel dieses Tieres zu setzen, denn er mußte befürchten, daß das Tier vielleicht schon von seinem ärgsten Feind, dem Marshal Earp, gesehen worden war.

Deshalb hatte er den Fuchs genommen. Es war zwar kein so gutes Pferd wie die Schimmelstute oder der Wallach. Aber der Bandenführer war zu der Ansicht gekommen, daß es besser war, wenn er sich in der Gegend von Santa Fé nicht mit so erstklassigen Pferden sehen ließ. Unten in Arizona, wo das Land wenig besiedelt war, fiel man nicht so rasch auf mit einem solchen Pferd, hier oben in New Mexico war das schon schlimmer.

Er hatte sich in den Sattel gezogen und ritt nach Norden aus der Stadt. Kurz vor der Ansiedlung Precata bog er nach Nordwesten ab, um nach weiteren vier Meilen scharf nach Westen zu reiten.

Es gab keinen Zweifel für den Chief der Galgenmännerbande, daß nur irgendein einschneidendes Ereignis seine Männer daran gehindert haben konnte, pünktlich um elf Uhr in der Stadt auf ihren Posten zu sein.

Der Überfall auf die Bank von Santa Fé hatte der Beginn einer Serie von Überfällen sein sollen, die seinem großen Plan dienten, die Stadt ganz für sich zu erobern. Nun hatte gleich der erste Überfall nicht geklappt.

Der Desperado war nicht so dumm, nun etwa geradewegs nach Camp Ladore zu reiten. Das unvorhergesehene Ereignis mochte im Lager geschehen sein, ein Ereignis, das auch ihm gefährlich werden konnte. Wie nun, wenn sein ärgster Widersacher, Wyatt Earp, das Lager angegriffen hatte?

Aber eigentlich war der Outlaw überzeugt, daß der Marshal das Lager noch nicht entdeckt hatte, und so wiegte er sich in der Hoffnung, daß Ladore immer noch ihm gehörte.

Es war gegen zwei Uhr, als er von Südwesten kommend auf den Rio Puerco zuritt.

Hinter dem Fluß zogen sich von Norden nach Süden mehrere Täler, die von sanften Hügelkämmen umgeben wurden. Im engsten dieser Täler lag Camp Ladore.

Der Bandit war allein. Er hatte keinen Mann, den er hätte vorausschicken können oder der ihm den Weg hätte sichern können. Er war ganz auf sich selbst angewiesen. Und wenn ihn jetzt jemand hätte beobachten können, so hätte sich der höchstwahrscheinlich über die große Vorsicht und Umsicht dieses Menschen gewundert.

Der Big Boß schlich wie eine Raubkatze im weiten Bogen um das Tal herum und zog den Kreis immer enger.

Es war ein leichter Wind aufgekommen, der den sandigen Boden geglättet hatte. Es waren keine Spuren von Reitern zu sehen.

Fünf Uhr nachmittags war es, als der Bandit von Norden her den Hügelkamm erklomm, von wo aus er einen Blick in das Tal hatte, in dem seine Stadt lag, das Camp Ladore.

Erst als er sich davon überzeugt hatte, daß im weiten Umkreis kein menschliches Wesen war, bewegte er sich zu Fuß dem Hügel hinan. Auf dem Kamm nahm er den Hut ab und lugte über den leise in der Sonnenhitze flimmernden Sand in das Tal hinüber.

Da unten lag seine Stadt.

Obgleich sich gar nichts an ihr verändert zu haben schien, fühlte er doch sofort, daß es eine tote Stadt war. Tot und verlassen wie die Ansiedlung, die ein paar Täler weiter östlich lag und vom Sand verschlungen worden war.

Er hatte dieses Camp Ladore mit seinen Männern aufgebaut und eine neue Stadt daraus gemacht. Aber schon schien der Sand mit gierigen Fingern wieder nach den Häusern zu greifen, um sie zu verschlingen.

Ein harter Zug grub sich um die Mundwinkel. Er nahm sich nicht die Mühe, sich aufzurichten. Jetzt hinunter in das Camp zu gehen, war nicht mehr notwendig. Er wußte, daß seine Männer die Stadt verlassen hatten. Und untrügerisch spürte er, daß sie es nicht freiwillig getan hatten.

Er wandte sich um, rutschte den Hügel hinunter, zog sich in den Sattel und sprengte davon.

Bei Einbruch der Dunkelheit war der Bandenführer wieder in der Stadt.

Vielleicht war es das, was ihn über andere Banditen heraushob. Er hatte ein untrügerisches Gefühl für die Gefahr. Deshalb auch war er dem Mann, der das gleiche Gefühl in der Brust trug, bisher immer wieder im letzten Augenblick entgangen.

Auch Wyatt Earp hatte einen feinen Nerv für eine nahende Gefahr, der ihm schon oftmals das Leben gerettet hatte. Gut war das für einen Gesetzesmann – gefährlich aber wirkte es sich bei einem Banditen aus.

Unerkannt schritt der Big Boß durch die Stadt, über die sich jetzt der Abend mit sanften Schwingen gesenkt hatte. Er ging mitten zwischen anderen Männern über die Vorbauten an den lichterfüllten Schenken vorbei, in denen sich jetzt das Leben der Nacht von Santa Fé zu regen begann.

Zwischen der Kirkegard Street und der Lombardo Avenue lag das große Lipton-Hotel, das dem Engländer John Britton gehörte. Auf seinem Vorbau herrschte wenig Betrieb, da das Hotel nur von wohlhabenden Leuten aufgesucht wurde. Es hatte zwar eine Bar mit einem Ausschank, aber auch die wurde nur von reicheren Reisenden, aber kaum von Bürgern der Stadt besucht.

Niemand achtete auf den Fremden, der neben einem der breiten, mit Schnitzereien versehenen Pfeiler stehenblieb und die andere Straßenseite fixierte.

Im spitzen Winkel schräg gegenüber lag der große Bau des Sheriffs Office mit dem anschließenden Jail.

Waren da drin etwa seine Leute? Sollte es Wyatt Earp irgendwie gelungen sein, die ganze Crew auszuheben?

Der Gedanke war ungeheuerlich für den Bandenführer, denn in Camp Ladore waren seine besten Männer gewesen.

Der Chief war viel zu vorsichtig, in der Stadt jetzt etwa die Hintermänner aufzusuchen, die untergeordnete Positionen am Rande der Organisation innehatten.

Er mußte ja befürchten, daß es dem Marshal gelungen sei, den ganzen Ring von Santa Fé zu sprengen, einschließlich der Hintermänner und letzten Helfer der Bande.

Zum erstenmal war der Chief ganz auf sich gestellt.

Was er jetzt plante, war ganz typisch für ihn, war ein Gedanke, der nur seinem Hirn entspringen konnte. Sein Plan war Rache.

Rache an Wyatt Earp!

Sieben Minuten nach Mitternacht war es, als er in der stinkigen Bar des Chinesen Lung Fu das Gespräch eines betrunkenen Bahnarbeiters mit einem Neger belauschte.

Aus diesem Gespräch erfuhr er, einer der sieben Deputies des Sheriffs von Santa Fé habe berichtet, daß Wyatt Earp das Lager der Galgenmännerbande in der Nähe der Stadt ausgehoben hätte.

Mehr brauchte der Chief nicht zu hören.

Er zahlte seinen Drink und verließ im Schlenderschritt die Schenke.

Niemand, der dem hochgewachsenen, breitschultrigen Mann nachsah, ahnte, daß da ein teuflischer Verbrecher ging.

Nur ein Gedanke brannte im Hirn dieses Menschen: Rache!

Er sah die dunkle Gasse nicht, und nicht den sternbesäten Himmel über Santa Fé. Er spürte nur das eine Verlangen in seinem Schädel, das wie ein glühendes Eisenstück alles zu versengen schien: Rache!

*

Wenn man durch die Luft eine Linie zwischen den beiden Städten Santa Fé und dem fernen Dodge City gezogen hätte, so würde sie eine Strecke von dreihundertsiebzig Meilen ausgemacht haben. Der Weg auf der Erde aber betrug fast vierhundertfünfzig Meilen. Eine berühmte Strecke, sicherlich gibt es im ganzen Westen keine Straße, die populärer ist. Der alte Santa Fé Trail!

Der Chief der Maskenmänner ritt auf dieser Straße nach Nordosten, der Stadt am Arkansas entgegen, und überwand die gewaltige Strecke in verhältnismäßig kurzer Zeit.

Die Rache schien seinen Ritt gewaltig zu beflügeln.

Es war am späten Nachmittag des 13. Mai 1884, als der größte und gefährlichste Verbrecher des weiten Westens die Stadt vom südlichen Arkansasufer aus vor sich liegen sah. Er hielt auf den Hügel und blickte von dort über den schimmernden breiten Fluß auf die Stadt hinüber.

Der Anblick Dodge Citys enttäuschte den Verbrecher-Boß.

Welch einen Namen hatte doch Dodge City! Ihr Ruhm konnte von keiner anderen Stadt des Westens überboten werden. Aber welch ein armseliges Nest schien dieses Dodge City doch zu sein!

Königin der Cow Towns, der Kuhstädte? Welch ein Hohn! Eine armselige, schmutzig wirkende Ansammlung von Holzhäusern, verhältnismäßig groß geraten, graubraun, wenig organisch gelegen, rechts gesäumt von einer scheußlichen Hüttenstadt, zu beiden Seiten umgeben von riesigen staubigen Corrals – das also war Dodge City.

Wie mochten die Leute nur auf den Gedanken gekommen sein, ihre Häuser zwei- oder dreihundert Yard vom Flußufer entfernt aufzubauen?

Aus kalten Augen blickte der Desperado auf die breite hölzerne Brücke hinunter, die vom Südufer ans Nordufer des Arkansas hinüber führte. Von dort zog sich eine Straße nicht etwa schnurgerade in die Stadt, sondern bog nach Osten ab und ging dann auf eine breite Schneise zwischen den Häusern zu.

Langsam setzte der Verbrecher sein Pferd in Bewegung, trottete den Hügelhang hinunter und hielt auf die Brücke zu.

Nirgends war ein Mensch zu sehen. Dieses staubige Dodge City schien zu schlafen.

Hohl dröhnte der Hufschlag des Fuchshengstes auf den Holzbohlen der Ponte.

Die braunen Wasser des Arkansas wälzten sich träge dahin. Sie schienen den merkwürdigen Hang zu haben, gegen das nördliche Ufer zu drücken. War das der Grund, der die Leute veranlaßt hatte, weiter vom Ufer wegzubauen?

Doch darüber machte sich der Verbrecher nicht lange Gedanken. Sein Blick schweifte nach Osten hinüber zu der Hüttenstadt.

Das also waren die Miner Camps von Dodge City!

Jede Stadt schien ein solches Elendsviertel zu haben. In Tombstone waren es die Miner Camps unten im Süden, in Santa Fé gab es die Slums im Osten. Und hier zog sich die Hüttenkolonie vom Ostende der Stadt säuberlich getrennt durch hundertfünfzig Yard, wie ein Geschwür bis zum Flußufer hinunter. Sie, die Armen, die Lichtscheuen, mieden offenbar nicht die Nähe des Stromes.

Der Big Boß hatte die Brücke hinter sich und ritt auf die ersten Häuser zu.

Links war an einer gewaltigen Fassade mit Riesenlettern ein Name zu lesen: BLACKS LIVERY STABLE.

Es war dem Outlaw so, als hätte er den Namen dieses Mietstalls schon irgendwie gehört. Aber wahrscheinlich bildete man sich das ein. Wie konnte man irgend etwas aus diesem staubigen Kaff hier schon gehört haben!

Jetzt kam er in die Bridge Street und ritt genau nördlich auf eine breite Straße zu.

Als er deren Ecke erreicht hatte, wäre er fast zusammengezuckt. Das Eckhaus auf der rechten Seite hatte zur Brückenstraße zwei Fenster, in die ein großer fünfzackiger Stern im Wappenkranz eingelassen war.

Ohne daß er diesen Stern jemals gesehen hatte, wußte er genau, was er zu bedeuten hatte. Es war der Stern des Gesetzes von Dodge City. Der Marshal-Stern Wyatt Earps.

Die Residenz des großen Wyatt Earp war ein unscheinbarer Holzbau mit vielleicht drei oder höchstens vier Zimmern, an den sich jedoch wahrscheinlich ein ziemlich beachtliches Jail anschloß. Von der Straße aus konnte man es allerdings nicht sehen, da es eine der inneren Hoffronten abgab. Eine ganz raffinierte Lösung.

Der Bandit wandte den Blick vom Office sehr rasch wieder ab und sah vor sich in die Straße. Drüben am gegenüberliegenden Eckhaus, in dem ein Kleiderstore untergebracht war, hing ein Holzschild, auf das irgend jemand den Namen »Frontstreet« gepinselt hatte. Der Staub hatte die Buchstaben graubraun wie die ganze Stadt werden lassen.

Das also war die Frontstreet Dodge Citys.

Doch der Bandit wußte, daß er von dieser Straße schon sehr viel gehört hatte. Aber ihr Anblick enttäuschte ihn, wie alles ihn hier enttäuschte. Sie war zwar breit, schien aber nur an ihrer nördlichen Seite bestanden zu sein.

Die Südseite war so gut wie leer. Hier auf der Ecke stand das Sheriffs Office, daneben noch zwei, drei Häuser, und dann kam bis zu einem Depot, das mehrere hundert Yards entfernt stand, nichts mehr. Und links von der Brückenstraße standen auch nur ein paar Häuser, die sich zu Blacks Corral hinunterzogen. Die ganze Frontstreet bestand also tatsächlich nur aus einer einzigen Häuserseite, nämlich dem nördlichen Ufer. Das allerdings war mit Häusern dicht bestanden. Und der Bandit sah es sofort: Schenke an Schenke, fast schlimmer als in Santa Fé.

Gleich da drüben neben dem Kleider-Store sah er auf der Fassade eines hellbraun gestrichenen kleinen Hauses in leuchtend roten Lettern einen Namen stehen, der ihn geradezu elektrisierte: LONG BRANCH SALOON!

Fast wäre dem Verbrecher ein Ruf der Verblüffung über die Lippen gekommen. Aber zu solchen Emotionen ließ er sich nicht hinreißen. Um seine Mundwinkel kroch lediglich ein spöttisches Lächeln.

Der Long Branch Saloon! Die berühmte Schenke des Westens. Ein Lokal, in dem man noch nach achtzig Jahren erzählen würde, daß der berühmteste Gast Doktor John Henry Holliday gewesen sei.

Der Bandit ließ seinen Blick über die Fassade des Saloons gleiten und sah dann die Straße hinunter.

Nie hätte er sich träumen lassen, einmal hierher nach Dodge City zu kommen.

Und nun hatte er herreiten müssen.

Jawohl, müssen. Die Rache hatte ihn auf diesen weiten Trail gezwungen.

Dodge City war die Stadt Wyatt Earps. Der Chief dachte, daß er gleich hierher reiten hätte sollen, und nicht erst hinauf nach Colorado, wie er es vor zwei Monaten getan hatte, um dort zum Schlag gegen den Missourier auszuholen. Hier mußte er den Hebel ansetzen, hier in Earps Heimatstadt.

Wenn es auch immer noch reichlich staubig und primitiv wirkte, dieses Dodge City, so war es doch eine bedeutende Stadt. Fast alle Viehherden, die aus dem weiten Texas nach Norden getrieben wurden, machten hier Station. Hier wurden sie auf die Bahn verladen, die mitten durch die Stadt lief. Am Nordrand der Frontstreet entlang zog sich der Schienenstrang, und kurz vor dem Depot war die Station, die aus einem kleinen Holzbau bestand.

Jährlich wurden hier viele Tausende Rinder verladen und nach dem Osten hinüber verfrachtet. Dazu dienten auch die riesigen Corrals, in die die Tiere vor ihrer Verladung eingepfercht wurden.

Mit den Rinderherden kamen viele Cowboys in die Stadt. Männer, die nach wochenlangem Treiben nicht nur Staub, sondern auch gewaltigen Durst in der Kehle hatten, den sie in den zahlreichen Schenken Dodge Citys zu ertränken suchten. Wilde Burschen aus Texas, Oklahoma und den angrenzenden Staaten, die hier im Eldorado der Kuhtreiber die Freuden des Lebens genießen wollten.

Für viele bestand die Hauptfreude darin, im angetrunkenen Zustand auf die Straße hinauszugehen, um ihre Revolverkünste zu beweisen. Dabei waren zersprungene Fensterscheiben noch das mindeste Übel. Der Totenhügel am Nordwestrand der Stadt zeugte davon.

Wyatt Earp hatte diesem wilden Treiben ein Ende gesetzt, mit eiserner Energie hatte er hier durchgegriffen.

Es waren nicht die trinklustigen Cowboys allein, die in der Stadt ihr Wesen trieben und ihre Willkür an ihren Bürgern ausließen. Das Unheil kam auch nicht von den Pelztierjägern und Fallenstellern, die nach monatelanger Jagd in den winterlichen Bergen hierher kamen, um den berühmten Umschlagplatz aufzusuchen, auf dem sie ihre Beute losschlagen konnten. Auch die Büffeljäger waren es nicht, die Dodge City zu der wilden Stadt gemacht hatten. Es waren diejenigen Elemente, die immer an solchen Umschlagplätzen auftauchten wie Hyänen, wie Geier, um sich auf ihre Opfer zu stürzen. Es waren Kartenhaie, Glücksritter, Abenteurer, zwielichtige Gestalten aus aller Herren Länder.

Ein Abhub der Menschheit schien sich in den Saisonzeiten in diesem Dodge City zusammenzufinden. Korrupte Elemente, Verbrecher, ganze Banden hatten sich hier in den Siebziger Jahren eingefunden und ein wahres Inferno aus der Stadt am Arkansas gemacht.

Mit all dem hatte der junge, energiegeladene Gesetzesmann aus Missouri aufgeräumt. Wyatt Earp hatte wirklich mit eisernem Besen hier gefegt, so nachhaltig, daß Dodge City jetzt Ruhe hatte. Der Marshal konnte es sich sogar leisten, wochen-, ja, sogar monatelang der Stadt fernzubleiben, um irgendwo im Süden oder Norden einer Verbrecherbande nachzujagen.

Und jetzt war der Chief der Galgenmänner aufgetaucht, von seiner Sicht aus in der Höhle des Löwen.

Aber auch er war nervenlos und kannte keine Furcht. Er war hierhergekommen, um einen furchtbaren Schlag gegen den Marshal zu führen.

Seine Überlegungen gingen davon aus, daß ein so berühmter Marshal in dieser Stadt etwas besitzen müsse, das man greifen, das man zerstören konnte.

Und in dieser Annahme ging der Verbrecher nicht fehl. Zwar fand er keine Frau, wie er gehofft hatte, überhaupt keinen Menschen, mit dessen Tod er den Marshal hätte treffen können. Aber er fand etwas anderes.

Zunächst wollte er sich ein Quartier suchen, und zwar nicht hier oben in der Frontstreet, wo er gewissermaßen an der Front stand und von jedermann gesehen werden konnte, sondern irgendwo hinten in einer versteckten Gasse.

Er fand ein Boardinghouse in der Chestnut Street, klein, düster, nicht allzu sauber. Er forderte die gichtige Frau, die ihn in das Zimmer hinausführte, auf, das Zimmer gründlich zu säubern und das Bett frisch zu beziehen. Die empörte Abwehr der Alten erstickte er mit einem Geldstück.

Dann rasierte er sich sorgfältig, wusch sich und kleidete sich um. Als sich der Abend über die Stadt gesenkt hatte, verließ der Verbrecher das Haus.

Er wirkte absolut nicht verdächtig – und es hatte ja auch niemand einen Grund, ihn zu verdächtigen. Denn wer hätte hier den Big Boß der Maskenmännerbande gesucht? Niemals wäre in Dodge City jemand auf den Gedanken gekommen, daß dieser Verbrecherboß die Grenze des Staates Kansas schon überschritten haben könnte, um den Kometenschweif des Unheils hinter sich her bis nach Dodge City zu ziehen.

Es dauerte nicht ganz zwei Tage, bis der Desperado folgendes in Erfahrung gebracht hatte:

Schräg gegenüber von Raths Kleiderstore, an der Ecke der Frontstreet, wo die Verlängerung der Bridge Street einmündete, lag zwischen dem großen Eckhaus mit Plumbams Generalstore und dem Haus des Arztes Cicil Donegan ein zweigeschossiger Holzbau, der als Eigentum des Marshals galt.

Das stimmte allerdings nicht ganz. Denn das Haus gehörte eigentlich einem anderen Mann, und zwar Doc Holliday. Der aber wollte nicht, daß es auf seinen Namen im Grundbuch eingetragen war und hatte es deshalb auf den Namen des Marshals überschreiben lassen. Wyatt Earp, der das Haus jedoch nicht benötigte, hatte – und das war typisch für ihn – der Gemeindeverwaltung die Erlaubnis gegeben, es als Obdach für elternlose Kinder herzurichten.

Auch in dem noch verhältnismäßig kleinen Dodge City gab es damals schon eine Reihe elternloser Kinder, die keine Anverwandten in der Stadt hatten oder nur solche, die bei sich keine Kinder mehr aufnehmen konnten, weil sie teils selbst zu alt oder krank waren, oder auch nicht die Mittel besaßen, um Kinder zu beherbergen und zu ernähren. In diesem Haus fanden die bedauernswerten kleinen Geschöpfe also eine Heimat, es war eines der ersten Waisenhäuser des Westens.

Der Bau war keineswegs sonderlich ansehnlich, und Doc Holliday war auf seinen Erwerb gar nicht scharf gewesen. Der Georgier hatte den Bau am grünen Spieltisch im Long Branch Saloon von dem Trinker Joe Dimmering gewonnen. Das war ein halbes Jahr vor dem Tod des Trinkers gewesen. Holliday, der mit dem Gebäude gar nichts anfangen konnte, hatte es auf den Namen des Marshals eintragen lassen in der Annahme, daß Wyatt Earp schon eine Verwendung für das Haus finden würde.

Von diesen Dingen hatte der Desperado nichts erfahren. Und er hatte sich mit der Eintragung, die das Haus als Eigentum des Marshals auswies, auch begnügt.

Tagelang beobachtete er das Haus unauffällig. Er sah, daß Frauen mit Kindern aus und ein gingen. Mußte eine ziemlich kinderreiche Familie sein, die da hauste. Kinder, die wohl den Namen Earp trugen. Also die Sippe des Verhaßten hauste dort!

Der Desperado sah keine Veranlassung, sich nach Näherem zu erkundigen. Sein Ziel stand fest. Er würde dieses Haus dem Erdboden gleichmachen.

Nachdem er sich mit der Örtlichkeit genau vertraut gemacht hatte, legte er seinen Plan bis ins Einzelne fest. Er würde keineswegs Feuer an das Haus legen. Ein solches Unternehmen wäre in dem eng bebauten Dodge City für den Brandstifter selbst äußerst gefährlich gewesen, da man in den winkligen Höfen hinter den Häusern der Bridge Street einen Mann, der Kerosin gegen die Holzwände spritzte, leicht von einem verborgenen Fenster aus hätte beobachten können.

Ein solches Risiko wollte der Chief auf keinen Fall eingehen.

Und deshalb kam der Bandit auf den teuflischen Gedanken, das Haus in die Luft zu sprengen.

Ein Haus, in dem er elf Kinder wußte!

Es waren indessen vierzehn. Aber elf hatte er schon beobachtet.

Der Gedanke an die Kinder bekümmerte den Verbrecher nicht im mindesten. Seine Rache galt nicht ihnen, sie galt dem Mann mit dem Stern. Daß dabei ein Dutzend Kinder ihr Leben lassen sollten, zählte für ihn nicht.

Bis aufs kleinste arbeitete er seinen Plan aus. Diesmal würde er die Tat ja völlig allein verüben. Er hatte keinen Partner, und das bedeutete auch, daß kein Helfer einen Fehler machen konnte.

Nachdem ihm in Camp Ladore aus der Satteltasche eine Wurfbombe gestohlen worden war, hatte der Bandenführer in Bezug auf solche Dinge noch größere Vorsicht walten lassen. Die Sprengkörper, die er immer mit sich führte, hatte er in seinem Zimmer in Santa Fé gut unter Verschluß gehalten.

Aber mit den Dynamitstangen, die er in der Satteltasche trug, konnte man wohl eine Reiterschar auseinandertreiben, eine Postkutsche in die Luft jagen oder einen Spielsalon durcheinanderwirbeln, aber kaum ein ganzes Haus aus den Angeln heben. Darüber war sich der Verbrecher natürlich klar. Schließlich war er in dem Umgang mit Sprengmaterial äußerst bewandert.

Nicht umsonst hatte er schon als Siebzehnjähriger in den Silberminen an den Blauen Bergen bei Sprengarbeiten mitgewirkt. Er war damals, obgleich er zu einer Ranch gehörte, von dem Minenmaster zu dem Sprengkommando eingeteilt worden und hatte sich bald selbst zum Sprengmaster hochgearbeitet.

Er kannte die Menge Sprengstoff genau, die man benötigte, um ein solches Haus zu zerstören. Und er wußte auch, wo man sich diesen Stoff beschaffen konnte. Es gab mehr solcher Stellen, als man für möglich gehalten hätte, und der Gedanke war ganz logisch, wenn man erst auf ihn gekommen war.

Überall im Land wurden neue Bahnlinien gebaut, und wo Bahnlinien gebaut wurden, gab es auch Hindernisse, und Hindernisse mußten, wenn sie aus Gestein bestanden, fast immer durch Sprengungen beseitigt werden.

Fünf Tage nach seinem Eintreffen in Dodge City hatte der Outlaw die neuen Bahnlinienpläne der Umgebung genau studiert. Auf der Bahnstrecke Dodge City – Grat Brand gab es zwei Abzweigungen. Die erste gleich von Wright hinauf nach Jetmore, das war eine Strecke von zweiundzwanzig Meilen Länge. Die zweite dreißig Meilen weiter östlich von Kinsley hinauf nach der kleinen Ansiedlung Rozel, eine Strecke von neunzehn Meilen Länge.

Auf beiden Strecken waren Sprengungen notwendig. Besonders auf der Strecke Kinsley – Rozel. Aber es war noch ungewiß, wann diese Bahnen wirklich gebaut werden sollten. (Sie wurden übrigens nie gebaut.) Schon war der Chief entschlossen, weiter hinüber nach Osten zu reiten, um zur Bahnstrecke von Belpre nach Larned zu kommen, wo an den kleinen Garden Mountains Sprengungen notwendig waren, als er eines Vormittags im Alhambra Saloon ganz durch Zufall ein Gespräch an der Theke belauschte, durch das er erfuhr, daß von Dodge City aus die Bahnlinie hinüber zu den Sand Hills weitergebaut werden sollte.

Es lagen schon Schienen südlich vom Arkansas hinüber zu den Hügeln von Ensign. Jetzt sollten sie weiter hinauf zu der Ansiedlung Montezuma verlegt werden.

Montezuma lag etwa sechsundzwanzig Meilen südwestlich von

Dodge City entfernt im Gray County. Noch am gleichen Tag machte sich der Verbrecher auf den Weg. Er war nicht so unvorsichtig, gleich vom Arkansas aus an den alten Schienen entlangzureiten, sondern er machte den Umweg über Cimarron, das sechzehn Meilen westlich von Dodge entfernt am Arkansas lag.

Dort mußte er, da es hier keine Brücke gab, den Arkansas durch eine Furt überqueren und ritt dann scharf nach Süden. Unterwegs wurde er von der Nacht überrascht.

Sein Weg von dort ließ sich nie mehr genau rekonstruieren. Jedenfalls muß er schon vorm Morgengrauen des nächsten Tages etwa drei oder vier Meilen östlich vor Montezuma auf die Streckenarbeiten gestoßen sein.

Wie es dem Verbrecher gelungen ist, aus den bewachten und im allgemeinen sehr sicheren Arbeitercamps eine so große Sprengladung zu entwenden, wie er sie zur Zerstörung des Hauses an der Brückenstraße in Dodge City benötigte, ist niemals ermittelt worden. Jedenfalls schleppte der Verbrecher eine Dynamitladung von mehreren Kilo Gewicht aus dem Streckenarbeiterlager heraus und ritt damit auf einem Umweg zurück nach Dodge City.

Der Umweg ist auch nicht bekannt geworden, da der Bandit nirgendwo gesehen wurde. Daß er jedoch im Lager von Montezuma war, steht fest. Denn als sich die Wogen der Ereignisse in Dodge City geglättet hatten, meldete sich der siebenundsechzigjährige Arbeiter Joseph Faber, der an Schlaflosigkeit litt, und erklärte, daß er in jener Nacht gegen Morgengrauen einen Reiter beobachtet habe, auf den die Beschreibung des Bandenführers haargenau zu passen schien.

Und selbst wenn man diese Erklärung des alten Railwayarbeiters für ein Hirngespinst hätte halten wollen – das Fehlen des Dynamitblocks machte jede weitere Frage überflüssig.

Der Unmensch hatte die Sonntagnacht zur Ausführung seines Planes ausgesucht. Da lief er am wenigsten Gefahr, bei seinem Vorhaben entdeckt zu werden.

Immerhin mußte er ja mit dem Sprengstoff den Hof betreten, um ins Haus zu gelangen. Dabei war noch unsicher, ob es ihm gelingen würde, geräuschlos durch die Hoftür ins Innere des Hauses zu gelangen.

Und das Dynamit mußte ins Haus hineingebracht werden.

Genau um halb eins würde er mit der Sprengladung durch die obere Brückenstraße auf die Frontstreet zukommen, um sich hinter dem Haus des Gerätehändlers Gerritsen in die Parallelgasse zu begeben, von wo aus er den Hof des bewußten Hauses erreichen wollte.

Es war Sonntagabend.

In Dodge City herrschte reges Leben. Aus allen Himmelsrichtungen waren Reiter und Fuhrwerke in die Stadt gekommen.

Der Betrieb auf der Frontstreet verursachte einen solchen Lärm, daß auch die nächsten Quergassen davon in Mitleidenschaft gezogen wurden. Dennoch hatte sich der erfahrene Verbrecher die Mitternachtsstunde ausgesucht. Denn sollte er zu dieser Zeit, in der der Lärm schon etwas abgeebbt war, hier hinten auf dem Hof irgend jemandem begegnen, so würde er die nicht zu vertreibende Angst vor der Geisterstunde noch auf seiner Seite haben.

Uns Heutigen erscheint dieser Gedanke vielleicht etwas sonderbar, aber man muß bedenken, daß noch weit nach der Jahrhundertwende die Mitternachtsstunde als Geisterstunde sogar in weiten Teilen Europas gefürchtet war, und dann kann man verstehen, daß sie in jenem einsamen Land noch eine große Rolle für die Bevölkerung spielte.

Bis dahin aber würden noch sechs Stunden vergehen.

Sechs Stunden – eine kurze Frist für vierzehn Kinder und die zwei alten Frauen, die die Aufsicht über die Waisen übernommen hatten.

Sechzehn Menschen wollte der Unhold töten, um seinen Rachedurst an einem Mann zu stillen, der weit von hier war.

Im Marshals Office stand ein großer, wuchtiger, vierkantiger Mensch hinterm Schreibtisch und blickte mit finsterer Miene durch die Türöffnung auf die Straße hinaus.

William Barclay Masterson war Wyatt Earps Chief Deputy, sein Stellvertreter also. Der Mann, der in der Abwesenheit des Marshals die anderen Deputies zu befehligen hatte und für Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung in der Stadt Sorge zu tragen hatte.

Bat Masterson wirkte zuweilen sehr viel muffiger, als er tatsächlich war. Vielleicht lag es auch daran, daß sich sein Innenleben allzusehr auf seinem Gesicht spiegelte. Jetzt war er ärgerlich, weil er sich den ganzen Nachmittag draußen an den Corrals mit den Treibern der ersten Herden hatte herumschlagen müssen, die sich durchaus nicht in das hatten fügen wollen, was er angeordnet hatte.

Da waren die großen Closterfield Corrals, die sich die Boys von der gewaltigen Closterfield Ranch in Texas hier selbst aufgebaut hatten. Der Rancher hatte sogar den Boden dazu von der Stadt gepachtet. Wie hätte der Chief Deputy Masterson es einer anderen Herde erlauben können, sich in diesem Corral aufzuhalten?

Aber die Flegger Boys, wie die Cowboys von der Flegger Ranch im nördlichen Oklahoma genannt wurden, hatten sich immer schon durch besondere Dickköpfigkeit ausgezeichnet. Natürlich hatte der Gesetzesmann nicht nachgegeben und mit aller Entschiedenheit dafür gesorgt, daß die Boys ihre Rinder in die für sie bestimmten Pferche getrieben hatten.

Eben erst war er den Trailboß losgeworden, der ihm schimpfend bis ins Office gefolgt war.

Nicht genug damit, war kurz vor sechs Uhr eine zweite Herde vor die Stadt gekommen, die ebenfalls einen Corral beziehen wollte, der zu Closterfields Einzäunungen gehörte.

Diese Closterfield Corrals waren deshalb so begehrt, weil sie erstens der Stadt am nächsten lagen, zweitens sehr stabile Gatter hatten, drittens von kleinen Wachtürmen umgeben waren, von denen aus man die ganzen Corrals überblicken konnte, ohne ständig zwischen den Rindern umherlaufen zu müssen.

Im Hintergrund des Office standen zwei Deputies, die damit beschäftigt waren, in den Corralplan, der hinter dem Gewehrständer an der Wand angebracht war, die neuen Besetzungen einzuzeichnen. All dies geschah auf Veranlassung des Marshals, der im Office für alles eine praktische Ordnung eingeführt hatte, eine Ordnung, die sein Stellvertreter Masterson genauestens beibehielt.

Durch die Hoftür betrat eben der riesige Potts das Office. Er war Mastersons Stellvertreter und hatte trotz seiner sechsundvierzig Jahre mehr Fröhlichkeit im Gesicht als der junge Barclay Masterson.

Ihm folgte Kid Kay, Wyatt Earps Lieblingsdeputy, ein hochgewachsener blondhaariger Bursche mit breiten Schultern, sehr schmalen Hüften und hellen, wachen blauen Augen.

Potts drehte sich nach Kid um und knurrte in freundlich-beißendem Ton: »Mensch, was kriechst du eigentlich die ganze Zeit immer hinter mir her?«

Kid schob die Hände in die Hüften, blieb breitbeinig vor der Tür stehen und meinte:

»Ich weiß gar nicht, was Sie wollen, Mr. Potts, überall wohin ich gehe, sehe ich Sie vor mir.«

Die anderen lachten.

Potts blieb vorm Schreibtisch stehen, sah Masterson an, sah dann auf die Schreibtischplatte nieder und fischte plötzlich aus den Briefschaften, die seit Samstag noch immer ungeöffnet dalagen, einen Brief heraus, auf dem mit steiler, harter, männlicher Schrift der Name Masterson stand.

»He, die Schrift kommt mir aber bekannt vor, Bat.«

»Ja, mir auch. Entweder hat mir da der Gouverneur geschrieben, oder…«

Potts drehte den Brief um und meinte:

»Kein Absender.«

Da stürmte eine ältliche Frau mit lilafarbenem Hütchen und weißer durchbrochener Stola ins Office und belästigte den Vertreter des Gesetzes mit einer jener Angelegenheiten, die sich hier im Office am Tage zu Dutzenden häuften. Ihre Nichte hatte Streit mit ihrem Bräutigam, und die beiden schlugen sich daheim nach dem Bericht der Alten so, daß die Scherben nur so spritzten.

Masterson hörte nur mit halbem Ohr hin und blickte auf den Brief in der Hand Potts.

Dann kam ein untersetzter kahlköpfiger Mensch ins Office und erklärte, daß bei ihm in der Schenke zwei Männer säßen, die schon für zwanzig Dollar verzehrt und keinen Dollar bezahlt hätten. Sie hätten ihm im Gegenteil mit einer Portion Prügel gedroht, falls er auch nur einen Cent von ihnen verlangte.

Dann kam ein Junge und rief, daß Doc Hillmers Mr. Masterson zu sprechen wünsche.

Der Deputy griff sich mit der Rechten von hinten unter den Hut und schob sich die Kopfbedeckung bis auf die Nasenwurzel, wobei er die Luft laut schnaubend durch die Nase ausstieß.

»Es ist gut. Sag dem Doc, daß ich komme.« Dann wandte er sich an die alte Frau und meinte: »Mr. Potts wird sich um Ihre Nichte kümmern, Mrs. Springtime.« Dem Kahlköpfigen erklärte er: »Kid Kay wird gleich mit Ihnen gehen, Mr. Colby.«

Kid, der sich gerade hatte abwenden wollen, warf noch einen Blick auf den Brief und folgte dem Salooner. In der Tür blieb er noch einmal stehen und wandte sich um.

»Jetzt hab’ ich’s, Mr. Masterson. Der Brief ist von Doc Holliday.«

Nach diesen Worten ging er mit Colby hinaus.

Masterson, der seinen Hut wieder richtig aufgesetzt hatte, war schon um den Schreibtisch herumgegangen, um Doc Hillmers aufzusuchen, tauschte jetzt aber einen Blick mit Potts.

Der hatte den Brief aufgenommen. »Soll ich?« fragte er.

Masterson nickte.

Potts riß den Umschlag auf und nahm das zusammengefaltete Schreiben heraus. Ehe er las, blickte er auf die Unterschrift. Tatsächlich, da stand John Henry Holliday.

Potts reichte das Schreiben dem Chief Deputy. Der las:

Lieber Bat,

ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Sehen Sie zu, daß das Haus des Marshals in der Bridge Street geräumt wird. Bringen Sie die Kinder einstweilen auf meine Kosten in meinem Appartement im Dodge House unter. Und die Räume, die außerdem noch benötigt werden, mieten Sie ebenfalls auf meine Kosten dazu. Den Grund kann ich Ihnen hier nicht nennen.

John Henry Holliday.

Masterson las den Brief noch einmal langsam und sorgfältig durch. Dann blickte er über den Rand des Schreibens hinweg in die Augen Potts.

»Hast du das gelesen?«

»Nein, natürlich nicht, ich habe nur seinen Namen gelesen.«

Masterson reichte Potts den Brief. Der las ihn durch, schüttelte den Kopf, las ihn noch einmal und legte ihn dann zusammengefaltet auf den Tisch zurück.

»Verstehst du das?«

Masterson zog die Schultern hoch. »Nein, keine Spur.«

Der Junge von Doc Hillmers stand immer noch in der Tür.

»Kommen Sie mit, Mr. Masterson?«

»Ja ja, ich komme schon.«

Als er zurückkam, war es acht Uhr.

Unterwegs war er noch von zwei Leuten aufgehalten worden, die ihn mit irgendeiner nichtigen Sache beschäftigt hatten.

Und drüben, unter dem großen Frontfenster des Long Branch Saloons, am gleichen Tisch, an dem sonst der einsame Doc Holliday zu sitzen pflegte, saß der Chief der Galgenmännerbande. Jetzt ein Verbrecherhäuptling ohne Crew.

Aber nun bewies dieser Mann, daß er allein noch gefährlicher war als ein Dutzend seiner Leute. Er benötigte für das, was er hier durchzuführen gedachte, niemanden. In der Stadt Wyatt Earps würde er seinen größten Coup landen. Er würde das Haus des Marshals mit allem, was sich darin befand, in die Luft jagen. Eine kiloschwere Sprengladung würde dem verhaßten Gegner Earp einen Schlag beibringen, wie er ihn schwerer bisher von der ganzen Organisation der Maskenmänner nicht hatte hinnehmen müssen.

Nicht, daß der Big Boß seine früheren Pläne aufgegeben hätte. Kein Gedanke daran. Nach wie vor hatte der Desperado den festen Vorsatz, mit seiner Bande eine Macht aufzubauen, die durch nichts in diesem Land niedergerungen werden konnte.

Ein Gedanke, der zu diesem Zeitpunkt wie ein Spott wirkte. Aber für den Verbrecher war er kein Spott. Die Tatsache, daß der Kern seiner Crew bei Santa Fé von Wyatt Earp zerschlagen worden war, hatte ihn keineswegs endgültig niedergeworfen.

Er würde eine neue Crew aufbauen. Es galt ja nur, das Kernstück zu ersetzen. Die anderen waren ja alle noch da, die kleinen Graugesichter, die Mitläufer, die von der Furcht bestimmt wurden, die von der Angst vor der Organisation der Maskenmänner zu Dingen getrieben wurden, die sie normalerweise niemals getan hätten.

So, wie sie jetzt in der Gemeinschaft der Bürger von Santa Fé, Tombstone, Naco, Tucson und vielen anderen Städten lebten, stellte sie für niemanden eine Gefahr dar, aber wenn der Große Boß wieder in der Nähe war, mit einer neuen Crew, dann würden sie wieder in die Sättel steigen, um für die Bande des Dreiecks zu reiten.

Der Outlaw hatte den Chief Deputy beobachtet, wie er unten aus der Frontstreet kam, über die Gleise ging und den Vorbau hinaufstieg.

Er wußte längst, wer dieser Mann war: Der Vertreter Wyatt Earps. So etwas konnte in der Stadt auch einem Fremden natürlich nicht verborgen bleiben, und es erregte auch kein Aufsehen, jemanden darüber zu befragen.

Es war acht Uhr durch, als Bat Masterson das Office wieder betrat.

Marc Lawrence, der inzwischen Dienst im Office gehabt hatte, war mit Berichten so beschäftigt gewesen, daß er auf den Brief Doc Hollidays gar nicht geachtet und seine Papiere darauf gelegt hatte.

Masterson wurde, als er kaum das Office betrat, von einem Mann empfangen, der schon auf ihn gewartet hatte. Es war ein alter kränklicher Mann, von dem Bat wußte, daß er in unverschuldeter Not in den Hütten unten am Fluß lebte.

»Was gibt es, Mr. Henderson?«

Der Alte hatte sich von seinem Hocker erhoben und kam in gebückter Haltung heran.

»Es ist nur wegen dem Job, Mr. Masterson, den Sie mir versprochen hatten.«

»Es ist noch nicht soweit, Mr. Henderson. Ich lasse Ihnen Bescheid geben, wenn es etwas an den Corrals zu tun gibt.«

»Aber es sind doch Herden dort.«

Und dann betrat ein hochgewachsener Mann im braunen Samtanzug mit paspelierten Revers das Office. Es war Fitzgerald Flemming, der Vertreter des Mayors. Auch er hatte eine Menge Dinge, die er für wichtig hielt, und behelligte Masterson damit.

Doc Hollidays Brief lag jetzt unter sechs engbeschriebenen Bögen, die der Deputy Lawrence mit Berichten bedeckt hatte.

Bat Masterson jedoch griff nach dem Brief, zog ihn unter den Bögen heraus und überflog die Zeilen noch einmal.

Es muß an dieser Stelle gesagt werden, daß der bärbeißige Deputy des Marshals Earp keine Freundschaft für Holliday empfand. Der Spieler stellte so ganz das Gegenteil von dem dar, was Masterson selbst war. Der feingliedrige, nervige John Holliday war ein Mann voller Geist, Witz und Verstand, stets zu Spott aufgelegt, blitzschnell mit dem Wort wie auch mit dem Revolver, und jeder Situation gewachsen. Ganz anders der etwas hölzerne, steif wirkende Masterson. Was den Deputy aber veranlaßte, dem Georgier fast ein wenig feindlich gegenüberzustehen, war die Tatsache, daß er der Favorit des Marshals war.

Wyatt Earp schätzte keinen Menschen so sehr wie Doktor Holliday, das wußte Bat, und er war nicht sehr glücklich über die Freundschaft des Marshals mit dem aalglatten, vornehmen, eleganten Spieler. Masterson hätte es lieber gesehen, wenn Wyatt Earp nicht mit Holliday geritten wäre. Andererseits aber war er nicht so ungerecht, an den großen Fähigkeiten des Georgiers vorbeizusehen. Er schätzte die schnelle Revolverhand des Spielers ebenso wie sein waches Auge und seinen hellen Verstand, wenn es darum ging, dem Marshal auf seinen gefährlichen Ritten beizustehen.

Verbürgt sind die Worte Mastersons, die er kurz vor seinem Tod in New York gesprochen hat und die von einem bekannten Journalisten aufgeschrieben wurden: »Ich habe ihn niemals leiden mögen. Aber fest steht, daß es drei Dinge gibt, die ich immer an ihm bewundert habe: seine unvergleichlich schnelle Revolverhand, seine nervenlose Eiseskälte und seine unverbrüchliche Freundschaft zu Wyatt Earp.«

Das war es, was den Deputy veranlaßte, noch einmal auf den Brief zu blicken. Aber der zweite Mayor störte ihn bei der Lektüre und machte ihm auf theatralische Art Vorhaltungen über den Lärm, den die Bauarbeiten einer Schenke oben in der Dritten Straße verursachten.

So gab es ein Dutzend Nichtigkeiten, die das Leben von vierzehn Kindern und zwei Frauen gefährdeten. Und drüben im Long Branch Saloon lag der tödlich entschlossene Desperado wie ein lauerndes Raubtier bereit, den vielfachen Tod über diese Stadt zu bringen.

War es blinder Haß, der ihn dazu trieb? Absolut nicht. Wenn ihn auch die Rache hierher geführt hatte, so war doch alles, was er tat, mit eisiger Kühle überlegt und geplant. Er wollte einen schweren Schlag gegen seinen schärfsten Gegner Wyatt Earp führen, um diesen dadurch zu veranlassen, von der erbitterten Verfolgung des Maskenmännerbundes abzusehen. Irgendwann mußte ein Schlag ja einmal schwer und nachhaltig genug sein, um den Marshal zur Einstellung seiner Verfolgungsjagd zu bestimmen.

Der Big Boß hatte alles für seine Flucht aus der Stadt vorbereitet. Unauffällig umsichtig, so wie er immer vorzugehen pflegte.

Unaufhaltsam lief der Zeiger auf dem großen vergilbten Zifferblatt der Uhr im Marshals Office weiter.

*

Einige Tage vorher hatten im Hof der großen Fegefeuer Bar von Santa Fé zwei Männer gestanden.

Einer von ihnen war hochgewachsen und schlank, hatte ein blaßbraunes, aristokratisch geschnittenes Gesicht, das von einem scharfen eisblauen Augenpaar beherrscht wurde. Über seiner Oberlippe saß ein sauber getrimmter Schnurrbart. Er trug einen schwarzen Anzug, der nach der neuesten Mode geschnitten war, dazu ein weißes Rüschenhemd und eine weinrote, mit schwarzen Stickereien besetzte Weste. Seine schwarze Samtschleife war sauber gebunden. Eine breite goldene Uhrkette ging von der linken unteren Westentasche über den Leib zur rechten hinüber. Unter dem schwarzen kurzschößigen Rock war ein breiter Waffengurt aus schwarzem Büffelleder zu sehen, der patronengespickt war und über den Oberschenkel in großen Halftern je einen schweren 45er Revolver trug, deren Metallteile vernickelt und deren Knäufe mit Elfenbein beschlagen waren.

Doc Holliday!

Eben hatte er sich aus seinem goldenen Etui eine seiner geliebten langen russischen Zigaretten hervorgeholt, die er zwischen die Lippen steckte. Er riß am Daumennagel der Rechten ein Zündholz an und sog die kleine Flamme in die Tabakfäden.

Neben ihm an einem schweren Planwagen gelehnt, stand ein Mann, aus dem man leicht hätte zwei machen können, er war von wahrhaft riesigen Körpermaßen. Ganz sicher maß er mehr als zwei Meter. Er hatte ein markantes Gesicht, das von Wind und Wetter tief gebräunt war und in dem ein Paar smaragdgrüne, langbewimperte Augen standen, die aufmerksam auf der Gestalt des Spielers ruhten. Er trug einen großen, weißen neuen Stetson, ein graues Kattunhemd, eine hellbraune Lederweste und eine Hose aus dem gleichen Material. Im Kreuzgurt steckten zwei schwere Revolver, deren dunkelrote Knäufe seltsamerweise nach vorn standen. Dieser Mann war der Texaner Luke Short.

Eben jetzt nahm er aus seiner Westentasche eine lange Strohhalmzigarre, schob sie zwischen seine gewaltigen, ebenmäßig gewachsenen weißen Zähne und nahm das Feuer, das der Spieler ihm reichte.

»Wo bleibt er nur?« kam es in tiefem Baß aus der Kehle des Riesen.

Der Spieler zog die Schultern hoch, griff mit der Rechten nach der Uhr, ließ den Deckel aufspringen und warf einen schnellen Blick auf das Zifferblatt.

Dann wandte er sich um und schnipste mit den Fingern. Ein kleiner Negerjunge kam auf erdbraunen Füßen herangewetzt und blieb vor ihm stehen.

»Ja, Doc?« fragte er.

»Bring die Pferde.«

Der Bursche nickte, verschwand und kam nach wenigen Augenblicken mit drei Tieren zurück, die anzuschauen eine wahre Wonne für einen Pferdekenner gewesen wäre.

Das vordere war ein hochbeiniger Falbhengst, von edelstem Wuchs mit schwarzer Mähne, schwarzem Schwanz und schwarzen Unterbeinen. Das Tier war texanisch aufgezäumt und hatte einen wachen Blick. Seine Ohren spielten zu den beiden Männern hinüber.

Hinter ihm folgten zwei Rapphengste, von denen der eine riesig groß war, so daß es keinen Zweifel gab, welchem der beiden Männer er gehörte. Der andere Hengst schien von indianischer Zucht zu sein und stand dem Falbhengst an Klasse nur wenig nach.

Da wurde vorn das Tor aufgestoßen, und die hochgewachsene breitschultrige Gestalt Wyatt Earps erschien in ihrer Öffnung. Sein männlich gut geschnittenes Gesicht wurde von einem leuchtend blauen Augenpaar beherrscht, und unter der Krempe seines schwarzen Hutes blickte blauschwarzes Haar hervor. Er trug einen schwarzen Anzug, ähnlich wie Doc Holliday, nur nicht von so elegantem Schnitt, ein graues Kattunhemd wie Luke Short und eine schwarze Halsschleife. Im breiten Waffengurt steckte auf der linken Seite ein Revolver mit einem Lauf von wenigstens 30 Zentimeter Länge, es war einer jener seltenen berühmten Buntline Special 45, schwer, mit sechskantigem Lauf, schwarzknäufig. Im Halfter auf der rechten Seite hatte der Marshal einen normalen 45er Revolver, dessen Knauf ebenfalls schwarz war. Die hochhackigen Stiefel des Missouriers waren mit texanischen Steppereien besetzt. Sonst aber war der Mann einfach gekleidet.

Die beiden Gefährten blickten ihm entgegen.

Wyatt sah auf seinen Falbhengst und nickte dann.

»Es ist gut, wir können reiten.«

Doc Holliday gab dem Negerjungen ein Geldstück. Der Riese fuhr dem Burschen durch seinen krausen Schopf, schwang sich dann wie die anderen in den Sattel und ritt auf das Tor zu.

Der Negerjunge riß den Flügel auf, und Wyatt Earp ritt voran.

Langsam ritten die drei Westmänner durch die breite Mainstreet von Santa Fé nach Norden aus der Stadt.

In der vergangenen Nacht hatten sie in einem furiosen Gunfight Camp Ladore, das Quartier der Galgenmänner, ausgehoben.

Mehr als ein Dutzend Galgenmänner saßen jetzt im Jail von Santa Fé und würden noch in der kommenden Nacht mit einem geheimen Transport die Stadt verlassen.

Der größte Fisch aber war durch die Maschen des Netzes geschlüpft: der Chief der Bande.

Der Marshal war inzwischen zu der Ansicht gelangt, daß der Bandenführer das Camp schon vor dem Überfall verlassen haben mußte. Sei es, daß er den Angriff geahnt hatte, sei es, daß ihn ein anderer Grund aus der Stadt geführt hatte.

Doch wußte der Missourier nicht, daß aus der Hölle von Camp Ladore nur ein einziger Galgenmann entkommen war, nämlich einer ihrer Unterführer, und wahrscheinlich der gefährlichste Mann seit Capucine: Der neapolitanische Bandit Cesare »Jim« Valetta.

Es gab außer diesem Valetta zu diesem Zeitpunkt keinen Galgenmann mehr, der einen Ring mit dem Dreieck besaß; einen solchen Ring durfte nur ein Unterführer des Geheimbundes besitzen. Wyatt hatte mit seinem zähen Kampf eine gewaltige Bresche in die Front der Galgenmänner geschlagen.

Er hätte jetzt eigentlich hoffen können, die Bande vernichtet zu haben. Aber dieser Hoffnung gab er sich keineswegs hin. Er war im Gegenteil überzeugt, daß diese Verbrechergilde weiterleben würde.

Die Erfahrungen, die Wyatt Earp mit dem Geheimbund gemacht hatte, waren so fürchterlich, daß er wenig Hoffnung hatte, die Bande wirklich je ausrotten zu können. Dazu hätte es eines energischen Eingreifens der Regierung bedurft. Und wie die Zukunft erweisen sollte, war es dazu bereits zu spät.

Zu spät! Ja, obgleich es in dieser Stunde ja nur den Boß selbst und einen Unterführer gab, zu dem der Big Boß nicht einmal Verbindung hatte.

Den ganzen Vormittag hatten die drei Verfechter des Gesetzes von ihrer Ansicht nach unauffälligen Plätzen aus das Jail von Santa Fé beobachtet, hatten aber keinen Menschen entdecken können, der ihnen irgendwie verdächtig vorgekommen wäre. Daß der Große Chief selbst von einem geschützten Winkel her das Office eine Weile beobachtet hatte, war niemandem aufgefallen. Der Chief hatte es verstanden, keinem der drei gefährlichen Gegner ins Blickfeld zu kommen.

Kurz nach Mittag verließen die drei die Stadt. Wyatt Earp war entschlossen, noch einmal, ein letztes Mal, nach Camp Ladore zu reiten.

Hätte er mehr Leute gehabt, so würde er Wächter an den Talseiten des Lagers zurückgelassen haben, die den Bandenchief bei dessen eventueller Rückkehr hätten abfangen können. Allerdings wäre das kein leichtes Unterfangen gewesen. Einen Mann wie den Big Boß stellte man nicht so leicht.

Es war kurz vor fünf, als der Missourier auf die Spur eines Reiters stieß, die der abgeflaute Wind noch nicht verwischt hatte.

Sehr schnell hatten die geübten Augen des Marshals festgestellt, daß es eine Spur war, die sich im Spiralkreis um das Tal zog, in dem Camp Ladore lag.

Die Spur des Bandenführers!

Während Wyatt Earp und Doc Holliday am Nordende über dem Talhang auf die verlassene Stadt hinunterblickten, hatte sich der Texaner, wie schon bei dem Angriff auf die Stadt, vom Rio Puerco her dem Eingang des Tales genähert.

Schließlich war es nicht ausgeschlossen, daß sich der Bandenführer jetzt wieder in der Stadt aufhielt und vielleicht auf einem anderen Weg Leute, die dem Gunfight entgangen waren, hierher geführt hatte.

Wyatt Earp richtete sich auf dem Hügelkamm auf und blickte auf die Stadt hinunter.

Dann wandte er den Kopf, und seine Augen begegneten denen des Freundes.

Holliday schüttelte den Kopf.

»Der ist weg«, sagte er halblaut, fast wie zu sich selbst.

»In der Stadt war er jedenfalls nicht«, setzte der Missourier hinzu, denn er hatte inzwischen festgestellt, daß sich die Spur des Mannes, der hier oben gestanden hatte, in einem weiten Bogen nach Norden zog.

Dennoch stieg der Marshal in den Sattel und ritt, von Holliday gedeckt, den Hang hinunter in die enge Hauptstraße des Lagers.

Er rief den Texaner mit einem Pfiff an den Stadteingang.

Die beiden suchten sämtliche Häuser und Höfe durch.

Das Ergebnis überraschte den Marshal nicht. Ladore war leer und verlassen.

Als die drei Männer dann am Talausgang standen und auf die Stadt zurückblickten, meinte der Texaner:

»Am liebsten würde ich das ganze Nest anzünden.«

Der Gedanke war naheliegend, denn eine niedergebrannte Stadt wäre so leicht nicht mehr aufzubauen.

Aber es widerstrebte dem seltsamen Mann aus Missouri, in diesem Land Feuer an irgendein Haus zu legen, das noch irgendeinem braven Menschen nützlich sein konnte. Niemand wußte besser als er selbst, wie schwer es war, ein solches Haus aufzubauen. Wer konnte denn voraussetzen, ob von den zahllosen Siedlertrecks, die hier immer noch von Osten nach Westen das Land durchzogen, nicht eines Tages hier einer wieder ansiedeln wollte? Dann stand schon eine kleine Stadt da und konnte weiter ausgebaut werden, wenn es auch eine Stadt im Sand war. Infolge des immer weiter vordringenden Stromes der Siedler würde man eines Tages doch gezwungen sein, auch hier wieder zu siedeln. Der Rio Puerco bot genug Wasser, und tüchtige Menschen würden auch wieder nach Quellen graben können, die jetzt hier versiegt zu sein schienen.

So drehten denn die drei Westmänner dem verlassenen Camp den Rücken und ritten nach Santa Fé zurück.

Es war Nacht, als sie die Stadt erreichten.

Dennoch schlief Santa Fé nicht. Aus den vielen Schenken in der breiten Mainstreet fiel gespenstisches Licht auf die Pferdereihen, die vor den Vorbauten auf ihre zechenden Reiter warteten. Wagen zogen von Norden nach Süden und von Süden nach Norden. Sie ratterten und rollten mit ihren Stahlreifen durch den Sand knirschend dahin. Es war das gewohnte Bild der großen Westernstadt.

Und irgendwo in dieser Stadt steckte an jenem Tag noch der Mann, den die drei Jäger suchten!

Tage vergingen.

Die Suche nach dem Grauen Chief war erfolglos gewesen. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hatten die drei Westmänner die Stadt durchkämmt. Diesmal hatten sie Helfer gefunden, denn Jerry Lorayne, den der Marshal als Vertreter für den Sheriff bestellt hatte, war von der Stadt offiziell als Sheriff gewählt worden, und er hatte dem Missourier mit seinen Männern beigestanden. Und als die Stadt erfahren hatte, daß der Marshal mit nur zwei Helfern ein ganzes Camp der Galgenmännerbande in der Nähe der Stadt ausgehoben hatte und so viele Graugesichter hinter Schloß und Riegel gebracht hatte, war man wachgerüttelt worden, viele Freiwillige hatten sich an der Suche beteiligt.

Da es um diese Jahreszeit in Santa Fé schon sehr heiß zu werden begann, war die unaufhaltsame Suche eine große Strapaze für die drei Gefährten gewesen.

Wieder einmal war einer jener strahlenden, wolkenlosen Tage über der Stadt heraufgezogen. Schon um neun Uhr in der Frühe waberte die Luft in den Gassen und Straßen Santa Fés.

Im Hof der Fegefeuer Bar standen Doc Holliday und Luke Short unter dem schattenspendenden Wagendach und warteten auf den Marshal.

Wyatt Earp war vor einer Stunde beim Mayor gewesen, hatte dann den kranken ehemaligen Sheriff Winters noch einmal aufgesucht und erschien jetzt oben in der Hoftür. Hinter ihm tauchte das hübsche Gesicht der Saloonerin Janet Black auf.

»Sie wollen uns also wirklich verlassen, Mr. Earp?« hörten die beiden anderen das Mädchen fragen.

Der Marshal blickte in den Hof und suchte die Augen Doc Hollidays. Dann sagte er halblaut:

»Ja, Miß Black, wir wollen weiter.«

»Und wohin – wenn ich fragen darf?«

»Wahrscheinlich nach Hause.«

»Nach Hause?« fragte das Mädchen mit bedrückter Stimme. »Wo ist das für Sie, Wyatt?«

Über das bronzefarbene Gesicht des Missouriers flog ein Schatten. Er wandte den Kopf und blickte auf das zarte, hübsche Gesicht Janets.

»Die Frage ist wirklich berechtigt, Janet. Aber ich glaube, mein Zuhause ist Dodge City. Was meinen Sie, Doc?«

Der Spieler nickte und erhob sich von der Wagendeichsel, auf der er rittlings gesessen hatte. Luke Short lehnte an einem der riesigen Hinterräder des Prärieschooners, schob sich den Hut aus der Stirn. Nun kam er zusammen mit dem Spieler auf die Treppe zu.

»Wir reiten also?« fragte der Tex.

»Ja, Luke, wir reiten.«

Eine halbe Stunde später lag Santa Fé hinter ihnen.

Aber sie ritten nicht nach Westen auf den zerfurchten Santa Fé Trail zu, sondern geradewegs nach Norden.

Sechs Meilen hinter der Stadt hielt der Missourier seinen Falbhengst an und wandte sich nach Holliday um, der ein Stück rechts hinter ihm ritt.

Schweigend fing der Georgier den Blick des Freundes auf.

Luke Short hatte sein Pferd ebenfalls angehalten. Er tastete das Gesicht des Spielers ab, um daraus irgend etwas lesen zu können. Aber das Antlitz Hollidays war verschlossen wie immer.

Da wandte sich der Tex im Sattel um und blickte auf die Stadt zurück.

»Ich weiß nicht, wo wir den Burschen jetzt suchen sollen. Er könnte überall sein. In Montana oder Texas, in Nevada oder in Santa Fé.«

Er hatte damit genau das ausgesprochen, was die beiden anderen bedrückte. Ja, wo sollte man ihn jetzt suchen? Wo steckte er?

Da ihn niemand von Angesicht kannte, ja, nicht einmal den Klang seiner Stimme gehört hatte, konnte er sich unbehelligt in Santa Fé aufhalten und seine Pläne weiterschmieden. Wer wußte denn, ob er nicht weitere Unterführer zur Verfügung hatte, um mit ihnen einen neuen Kern für die Bande zu bilden?

»Müßten wir nicht eigentlich nach Tombstone?« erkundigte sich der Riese.

Der Marshal nickte. »Ja, das müßten wir eigentlich. Aber wir müßten allmählich auch wieder einmal nach Dodge City zurück.«

Doc Holliday blickte auf. »Haben Sie wirklich die Absicht?«

Der Marshal hob den Blick über den Sand und sah nach Nordosten hinüber, dahin, wo sich irgendwo am Horizont der breite Santa Fé Trail entlangziehen mußte.

»Ja, diese Absicht hatte ich wirklich.«

Der Tex zog seine breiten Schultern hoch und ließ sie langsam wieder fallen.

»Meinetwegen! Sie können es sich aussuchen, Marshal. Wir sind hier wahrscheinlich so ziemlich in der Mitte zwischen Tombstone und Dodge City. Aber ich dachte, Sie wollten dem Halunken folgen?«

»Wissen Sie denn, wohin er geritten ist?« kam es von Hollidays Lippen.

»Natürlich nicht. Aber nach Dodge City doch wahrscheinlich nicht.«

Jetzt blickte auch der Spieler zum Santa Fé Trail hinüber.

»Wahrscheinlich?« wiederholte er leise. »Was ist schon wahrscheinlich an diesem Menschen?«

Wyatt Earp hatte sich mit beiden Händen auf das Sattelhorn gestützt und blickte gedankenvoll vor sich hin.

»Wir werden nach Dodge City reiten«, sagte er nach einer Weile.

Doc Holliday blickte ihn forschend an.

Und Luke Short fragte: »Haben Sie einen besonderen Grund, Marshal?«

»Ja, den wichtigsten. Es wird Zeit, daß ich daheim wieder einmal nach dem Rechten sehe.«

Sie ritten nach Dodge City. Auf dem kürzesten Weg, am Turkeymount vorbei über Abbott hinauf nach Clayton an die Grenze von Texas, dann quer durch den schmalen Streifen Oklahomas über Boise Cyte, Ona und Hooker nach Tyrone. Hier überschritten sie die Grenze von Kansas und hielten von Liberal hinauf nach Plains. Von dort ging es hinauf zum Crookes Creek und dann dem Arkansas entgegen. Damit waren sie nicht haargenau dem Santa Fé Trail gefolgt, sondern hatten alle seine Windungen abgeschnitten, um den Weg möglichst rasch zurückzulegen.

Es war Nacht, als sie die Hügelkette erreichten, die den Weg und den Blick ins Flußtal freigeben mußte.

Der Marshal hielt an, streckte den Arm aus und deutete nach Norden.

»Der Fluß!«

Die beiden Freunde, die hinter ihm gewesen waren, hielten jetzt neben ihm und sahen auf die nächtliche Landschaft, die von dem silbernen Band des Arkansas River durchzogen wurde. Im schwachen Sternenlicht sahen sie am jenseitigen Ufer die Stadt liegen.

Dodge City schien in völliges Dunkel gehüllt. Friedlich und still lag es da.

Es war wenige Minuten vor halb eins, als die drei Männer von der Anhöhe hinunter dem Flußufer und der Brücke zuritten.

Plötzlich zerriß eine Detonation die Luft. Unten in der Stadt stieg eine Feuerwolke hoch, als sei plötzlich ein Vulkan ausgebrochen.

Die drei Männer hatten erschrocken ihre Pferde angehalten.

Dann stieß der Marshal die Linke mit den Zügelleinen nach vorn. »Heo!« rief er, und der Falbhengst schoß mit weiten Sätzen der Brücke zu, preschte darüber hinweg und jagte in die Bridge Street.

Als sie die Frontstreet erreicht hatten, waren seit der Detonation höchstens drei Minuten vergangen.

Auf der Mitte der Frontstreet sahen sie, daß die Explosion sich in der Verlängerung der Bridge Street ereignet hatte.

Wyatt Earp rutschte auf der Frontstreet vom Pferd und starrte in die rauschenden Trümmer, aus denen noch Flammen schlugen.

Doc Holliday, der ebenfalls abgestiegen war, stand neben ihm.

Wie gelähmt stand der Marshal da und vermochte sich nicht zu rühren. Plötzlich sprangen seine Lippen auseinander.

»Die Kinder, Doc!«

Es war das Haus, das Doc Holliday gehörte und das im Grundbuch auf den Namen des Marshals eingetragen war.

In diesem Augenblick sahen sie einen Mann aus dem Hof des zertrümmerten Hauses stürzen.

Gedankenschnell flogen beide Revolver in die Hände des Georgiers. Er stieß die rechte Waffe vor.

»Stehenbleiben!«

Da trat der Tex vor. »Lassen Sie nur, Doc, den Jungen werde ich mir vornehmen.« Er sprang mit weiten Sätzen vorwärts, er packte den Mann, der aus den Rauchwolken hervortorkelte, riß ihn herum und hielt verblüfft inne.

»Bat!«

Ja, es war Bat Masterson, Wyatt

Earps Chief Deputy.

Masterson prustete, wischte sich durchs Gesicht, starrte den Riesen an und keuchte: »Luke – Sie?«

»Ja, ich.«

Und dann sah der Deputy den Marshal auf der Frontstreet stehen. Er torkelte ihm entgegen und krächzte:

»Boß! Sie sind da? Das ist gut…«

Wyatt blickte an dem Deputy vorbei auf die Explosionsstelle.

»Die Kinder«, kam es dann wieder über seine Lippen.

»Wieso Kinder?« knurrte der Texaner und blickte auf die drei Männer, die ratlos vor ihm standen.

Da raffte sich der Marshal zusammen, er wischte sich mit der Linken durchs Gesicht und sagte mit belegter Stimme:

»Es ist das Kinderhaus gewesen, Luke. Wir hatten vierzehn elternlose Kinder darin untergebracht.«

»Waas?«

Bat Masterson nahm sein Taschentuch hervor und wischte sich die nasse Stirn.

»Die Kinder, Marshal, habe ich doch weggeschafft.«

Wyatts Kopf flog herum. Er blickte dem Deputy in die Augen.

»Was haben Sie?«

»Ich habe die Kinder weggeschafft, wie der Doc mir es aufgetragen hatte.«

»Der Doc?« Ganz langsam wandte der Marshal sich nach dem Spieler um, der jetzt zwei Schritte hinter ihm stand. Holliday hatte sich eine Zigarette angezündet und sah zur anderen Seite der Frontstreet hinunter, als gäbe es dort irgend etwas Interessantes zu sehen.

Der Marshal war einfach sprachlos.

»Der Doc hat Ihnen das aufgetragen?«

»Ja, ich habe den Brief heute bekommen. Heute am Sonntag ganz früh. Eigentlich ist es Zufall, daß ich heute noch dazu gekommen bin, die Kinder auszuquartieren.«

Doc Holliday hatte sich langsam von der Gruppe gelöst und ging die Frontstreet hinunter. Vorm Long Branch Saloon blieb er stehen und warf einen Blick durch die blinden Scheiben in den dunklen Raum. Er betrat nicht den niedrigen Vorbau, sondern ging daran entlang weiter. Sein Rappe trottete hinter ihm her.

Es war ein trauriges Bild, wie der Mann die nächtliche Straße hinunterging. Die drei anderen blickten ihm nach.

»Verstehen Sie das?« meinte der Texaner.

Da ging der Marshal hinter dem Freund her. Auf der Höhe von Zimmermans Hardware Shop holte er ihn ein und ging langsam neben ihm her. Die beiden Pferde trotteten auf der Straßenmitte weiter.

»Hören Sie, Doc, das interessiert mich doch wirklich. Sie haben Bat einen Brief geschrieben?«

Holliday schnipste eine Zigarette von sich. Er hatte einen faden Geschmack im Mund.

»Ja, das habe ich.«

»Weshalb?«

»Weiß ich nicht. Wissen Sie, weshalb Sie nach Dodge City geritten sind?« Der Georgier blickte den Gefährten bei diesen Worten nicht an.

Der Marshal war stehengeblieben und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Nein, das weiß ich wirklich nicht.« Und leise wie zu sich selbst fuhr er fort: »Ich mußte einfach hierher reiten, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, daß ich hier gebraucht würde, daß hier irgend etwas passiert.«

Holliday zog die Arme hoch und ließ sie wieder fallen.

»Nun ja, das ist dann ja nun passiert. Unser Freund war etwas schneller als wir.«

Da ergriff der Marshal den Spieler am Arm und zog ihn zu sich herum. »Aber, Doc, das ist doch ein Wunder! Ein Wunder!« Seine Stimme bebte leise. »Wie sind Sie nur auf den Gedanken gekommen, Bat den Brief zu schreiben, daß er die Kinder rausholen soll? Lieber Gott, das werde ich nie verstehen.«

»Ich auch nicht«, murmelte der Spieler mit abgewandtem Gesicht. »Und jetzt bin ich müde, das verstehen Sie sicher.«

»Und ob ich das verstehe, Doc.«

Plötzlich blieb Holliday stehen. »Damned, wo schlafe ich jetzt bloß?«

»Wieso?«

Masterson und Luke Short waren inzwischen herangekommen.

Der Chief Deputy erklärte: »Seine Zimmer im Dodgehouse Hotel sind mit den Kindern belegt. Er hat sie ja zur Verfügung gestellt. Und wir haben noch drei weitere dazugemietet. Und die will er auch noch bezahlen, aber…«

»Die Kinder sind in seinem Appartement?« fragte der Marshal, der daran dachte, wie schonend der Georgier seine so vornehm und teuer eingerichteten Räume bisher immer behandelt wissen wollte.

»Nun ja«, meinte Doc Holliday leichthin, »da wußte er doch, wo er wenigstens einen Teil der Bagage unterbringen sollte, und ich riskierte nicht, daß er vor lauter Sorgen um ein neues Quartier die Sache erst noch einmal verschob.«

Masterson stieß pfeifend die Luft durch die Nase.

»Damned, das war aber haarscharf, Doc. Ich muß wirklich sagen, ein wahres Glück, daß ich die Sache ernst genug genommen habe. Ich weiß auch nicht, wie ich dazu kam. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich noch ganz schnell den Umzug vornehmen müßte. Es war schon ziemlich spät, halb neun, und die Girls und Boys lagen schon in ihren Betten. Aber ich habe sie alle wieder herausgeholt und mit den beiden alten Tanten rüber ins Dodgehouse Hotel gebracht. Und die in dem feinen Laden da haben ziemlich dumm geguckt. Aber ich habe Mr. Kelly Ihren Brief gezeigt. Und dann hat er nur genickt und gemeint, das wäre also in Ordnung.«

»Junge, Junge«, meinte der Texaner, »das ist ja eine tolle Kiste! Und es ist tatsächlich nichts passiert?«

Bat schüttelte den Kopf.

»Nein, nichts. Nur das Haus ist im Eimer.«

»Nicht schade drum«, meinte der Spieler, »war ohnehin nicht allzuviel wert.«

»Das stimmt ja nun nicht ganz«, meldete sich der Marshal wieder. »Es war ein sehr brauchbares Haus und hätte gut noch ein Vierteljahrhundert stehen können.«

»Na«, meinte der Tex, »die Dollars schlagen wir dem Halunken wieder aus den Rippen, darauf könnt ihr euch verlassen.«

»Sie können alle im Office schlafen«, fand Bat Masterson.

Holliday winkte ab. »Davor bewahre mich Gott, daß ich mich noch mal so nahe bei einem Gefängnis zur Nachtruhe niederlege.«

»Ist auch nicht nötig«, erklärte der Marshal. »Bei Mrs. Barker ist Platz genug.« Seit Jahren hatte er sein Quartier in dem Haus der Bäckerfamilie Barker, das zwei Häuser neben dem Office stand. Es war eines der vier Häuser, die der dichtbebauten Frontstreetseite gegenüber standen.

Es war eine Weile still zwischen den vier Männern.

Dann fragte der Marshal: »Sonst noch etwas, Bat?«

Masterson schüttelte den Kopf. »Nein, in Anbetracht dessen, was Sie da eben selbst erlebt haben, gibt es nichts zu berichten, Boß.«

Der Marshal nickte, nahm sein Pferd am Zügel und führte es über die Straße auf das Haus der Barkers zu.

*

Im Morgengrauen waren sie schon unterwegs: Wyatt Earp, Luke Short, Bat Masterson und fünf von den Deputies.

Nachdem sie die Explosionsstelle untersucht hatten, machten sie sich auf den Weg. Gegen elf Uhr kamen Potts, Lawrence und Bat Masterson zurück. Eine halbe Stunde später kamen die anderen. Nur Wyatt Earp und Luke Short blieben noch aus. Sie kamen erst bei Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zurück.

Wyatt Earp hatte das getan, was er früher schon getan hatte, wenn er einen Mann suchte, der in der Stadt irgendein Verbrechen verübt hatte. Er hatte alle die Leute aufgesucht, von denen er irgendeine Nachricht erhalten konnte. Aber vergebens, niemand hatte einen Verdächtigen beobachtet.

Der Marshal hatte sich auch nicht allzuviel von der Suche versprochen, da er ja keine Beschreibung des Täters hatte geben können.

Und selbst die Vermutung, daß der Täter der Chief der Graugesichterbande sein müßte, war ja nur ein Verdacht, der nicht das geringste zur Ergreifung des Täters beitrug.

Nach dem Abendbrot saß der Marshal im Office hinter seinem großen Schreibtisch, hatte den Kopf in die Hände gestützt und starrte auf eine alte vergilbte Landkarte. Luke Short lehnte an einem Gewehrständer und Bat Masterson stand hinter dem Marshal. Doc Holliday lehnte, wie er es gerne tat, zwischen Tür und Fenster an der Wand, hatte einen Fuß angezogen und rauchte.

Potts, Lawrence, Kid Kay und zwei andere Deputies standen vor dem Schreibtisch und blickten ebenfalls auf die Karte.

»Wir sind wieder so klug wie an dem Tag, als wir aus Santa Fé ritten«, unterbrach der Riese auf einmal die Stille. »Er kann wieder überall sein. Im Süden, im Norden, im Westen, im Osten – und in der Stadt.«

Wyatt Earp hob den Kopf. »Er ist nicht mehr in Dodge City.«

Es war einen Augenblick still, dann fragte der Tex:

»Wie kommen Sie darauf?«

Der Marshal hob den Kopf und blickte unter dem Hutrand hervor zu Doc Holliday hinüber.

Der stieß zwei kunstvolle Rauchwolken aus, blickte ihnen nach, wie sie sich zur Zimmerdecke hinaufringelten, und sagte halblaut: »Dafür gibt es drei Gründe: Erstens stünde dann Barkers Haus jetzt nicht mehr, zweitens ist er noch nach jedem Überfall blitzschnell verschwunden, und drittens ist er fremd in der Stadt und mußte damit rechnen, in der Nacht möglicherweise von jemandem beobachtet worden zu sein.«

»Ich verstehe«, entgegnete Bat Masterson. »Aber wie meinen Sie das mit Barkers Haus?«

Der Spieler hatte seine Zigarette wieder im Mundwinkel und entgegnete: »Immer vorausgesetzt, es war wirklich unser großer Freund – dann hätte er Barkers Haus nicht unverschont gelassen, wenn er in der Stadt geblieben wäre. Dann hätte er nämlich beobachtet, daß der Marshal zurückgekommen ist und hier in Barkers Haus übernachtet hat.«

Der lange Potts fand: »Sie sind also fest davon überzeugt, daß es tatsächlich der Big Boß der Maskenmänner gewesen ist?«

Der Marshal schwieg. Aber Bat Masterson antwortete:

»Davon sind wir eben nicht fest überzeugt, Potts.«

Doc Holliday lachte leise in sich hinein.

»Leider doch, Bat, leider doch.« Dann wandte er sich um und ging langsam hinaus.

Bestürzt blickten die Deputies drein.

Masterson wandte sich an den Marshal:

»Sind Sie auch seiner Ansicht, Boß?«

Wyatt Earp stand auf, faltete die Karte langsam zusammen und schob sie in die Ledertasche zurück.

»Ja, Bat, leider.«

Die furchtbare Explosion in der Nacht hatte Dodge City erschüttert. Wenn auch noch morgens niemand gewußt hatte, was eigentlich passiert war, so sickerte es in den Mittagsstunden des nächsten Tages doch durch. Gegen das Gebot des Marshals mußte einer der Deputies geschwätzt haben – oder aber ein Bürger hatte das nächtliche Gespräch der Männer auf der Frontstreet belauscht.

Jedenfalls wußten die Bürger von Dodge City in den Mittagsstunden des nächsten Tages nicht nur, daß Wyatt Earp zurückgekommen war – was sie mit stiller Freude begrüßten – sondern auch, daß seine Rückkehr mit der Explosion zusammenhing und das Verbrechen in der Bridgestreet von niemandem anderes als von dem Big Boß der Galgenmännerbande verübt worden sein mußte.

Und jetzt geschah etwas Seltsames:

Dodge City war durch die langen Jahre der Ruhe, die es seinem Marshal verdankte, eine neue Stadt geworden. Die Bürger hatten sich daran gewöhnt, in Ruhe und Frieden leben zu können. Wenn auch hier und da kleine Zwischenfälle nicht zu vermeiden waren und immer wieder einmal eine Schießerei losbrach, so erstickte doch alles schnell wieder unter der Autorität, die allein der Name des großen Gesetzesmannes ausübte.

Aber was in der vergangenen Nacht geschehen war, rüttelte die Bürger von Dodge City auf und versetzte sie in den gleichen Zustand, in den die Bürger anderer Städte durch die Galgenmännerbande versetzt worden waren. Die Angst zog in Dodge City ein.

Erst waren sie in Tombstone gewesen, dann oben in Colorado, dann in Santa Fé, und jetzt waren sie also tatsächlich in Dodge City aufgetaucht, die Graugesichter. Und der Große Chief hatte sich nicht gescheut, mitten in der Stadt ein ganzes Haus in die Luft zu jagen.

Das würde nur der Anfang sein. Ein Fanal, ein Zeichen zum Beginn einer Kette von Greueltaten, die der Stadt noch bevorstünden.

Die Angst kroch auf hinkenden Füßen unter die Dächer der grau-braunen Häuser der alten Cowtown und nistete sich dort ein, machte sich breit und verdrängte alles andere.

Das graue Gespenst der Angst lastete wie ein Dämon über der Stadt am Arkansas.

Mit einem einzigen nächtlichen Donnerschlag war das Gefüge der Sicherheit, das in einer Reihe von Jahren für die Bürger aufgebaut worden zu sein schien, hinweggefegt worden. Es regierte wieder die Angst von einst.

Well, der Marshal war zurückgekommen. Er war in der Stadt – das war aber auch die einzige Beruhigung, der einzige Trost. Doch würde er den Täter fassen? Würde er den Verbrecher stellen können?

Früher hatte man diese Frage nie aufgeworfen, denn Wyatt Earp hatte noch jeden Banditen gestellt, wer es auch sein mochte. Aber dieser Mann, dem man das Verbrechen in der Bridge Street zuschrieb, war kein gewöhnlicher Bandit. Er war der gerissenste und gefährlichste Verbrecher, der je in den Weststaaten aufgetaucht war.

Das schlimmste war, daß niemand ihn kannte. Auch Wyatt Earp kannte ihn nicht.

Hatte nicht noch vor wenigen Tagen die Zeitung stolz berichtet, daß der Marshal in Santa Fé die Galgenmännerbande zerschlagen hätte? Aber da hatte auch der Satz gestanden, daß es dem Marshal leider nicht gelungen sei, den gefährlichsten Maskenmann, nämlich den Chief selbst, zu stellen. Der Big Boß hatte dem Kampf im Lager der Bande entkommen können.

Wer aber wollte sagen, daß der Bandenführer jetzt allein arbeitete? Daß er nicht doch noch mehr Leute gehabt hatte, die ihn jetzt auf seinem Zug hierher nach Dodge City begleitet hatten? Vielleicht steckte die Stadt schon voller Galgenmänner!

All das, was sich in Tombstone, Tucson, Naco, Pyramid, Yampa und vielen anderen Städten abgespielt hatte, spielte sich jetzt haargenau so auch in Dodge City ab. In Wyatt Earps eigener Stadt! Die Menschen zitterten vor Angst.

Unablässig suchten alte Leute das Office auf und beschworen den Marshal, alles zu tun, um die Verbrecher aus der Stadt zu bringen.

Händeringend stand Bat Masterson da und beschwor die Leute, doch Vernunft anzunehmen.

»Wo sind sie denn, die Verbrecher, Madam?« brüllte er eine alte Frau an. »Es ist doch gar keiner da. Es war ein einzelner Mensch, ein Irrsinniger, der das Haus in die Luft gejagt hat.«

»Nein, nein, nein, die Galgenmänner sind in der Stadt«, wimmerte die zahnlose Alte und faltete verzweifelt die Hände. »Sie sind in der Stadt, jeder sagt es.«

»Wer jeder?« unterbrach sie der Deputy.

»Mrs. Bloomfield und Mrs. Tucker, selbst Mr. Lonegan und Doktor Croft.«

»Doktor Croft? Der Teufel soll ihn holen! Ich werde ihn mir gleich kaufen, darauf können Sie sich verlassen.« Mit diesen Worten stürzte der Chief Deputy aus dem Raum.

Wenige Minuten später polterte er in der Chestnut Street in das Haus des Arztes Croft hinein.

»Doc, ich habe gehört, daß Sie den Leuten Flöhe in die Ohren setzen.«

»Ich?« meinte der Arzt, ein winzigkleiner kahlköpfiger Mann mit verschrumpeltem Gesicht. »Was reden Sie für einen Unsinn, Mr. Masterson? Wie kommen Sie überhaupt darauf?«

»Sie haben den Leuten gesagt, daß die Galgenmänner in der Stadt sind.«

»Das habe ich gesagt? Das habe ich gar nicht nötig«, empörte sich der Arzt. »Jeder weiß es doch.«

Da packte Bat ihn derb an der Schulter und schüttelte ihn hin und her. »Hören Sie, Doc, wenn ich noch irgendeinen Laut höre, den Sie irgend jemandem darüber zugeflüstert haben, dann können Sie Ihr blaues Wunder erleben.«

»Lassen Sie mich doch los! Das verbitte ich mir, ich werde mich bei Wyatt Earp beschweren. Was fällt Ihnen überhaupt ein, Sie verdammter Trampel? Die Stadt wimmelt von Galgenmännern, und Sie kommen her und glauben, ein Recht zu haben, mich hier zum Hanswurst zu machen? Scheren Sie sich hinaus und machen sich an die Arbeit! Kommen Sie Ihrer Pflicht nach, und sorgen Sie dafür, daß hier nicht die Häuser in die Luft fliegen. Ein wahres Glück, daß die beiden Frauen schon vorher Lunte gerochen haben und mit den Kindern verschwunden sind.«

Masterson ließ den Mann stehen, wandte sich um und ging davon. Es hatte ja doch alles keinen Zweck, man redete hier gegen Wände.

Die Menschen in der Stadt waren eben felsenfest davon überzeugt, daß die Galgenmänner unter ihnen waren.

Und gegen diese Überzeugung war nichts zu machen.

Es war gegen elf Uhr am Vormittag, als eine Depesche von Garden City im Post Office eintraf.

An Wyatt Earp, Marshal in Dodge City!

Habe gestern morgen einen Mann beobachtet, der aus Dodge City gekommen sein mag. Er ritt anderthalb Meilen nördlich an Garden City vorbei. Saß auf einem Fuchs. Muß ein großer Mensch gewesen sein, trug leichtes braunes Lederzeug und einen dunklen Hut.

Ed Masterson, Sheriff.

Die Nachricht war von Bat Mastersons Bruder Ed, der in Garden City vor einigen Jahren das Amt des Sheriffs übernommen hatte.

Es war die einzige Antwort bisher auf die Rundfrage, die der Marshal sofort nach dem Unglück an die benachbarten Orte geschickt hatte.

Und es blieb auch die einzige Nachricht. Damals herrschte noch nicht die Krankheit unserer Tage, die Polizei durch hundert falsche Hinweise in die Irre zu führen, um sich interessant zu machen.

Es war kurz vor zwei Uhr am Nachmittag, als Doc Holliday, der im Long Branch Saloon an der Theke lehnte, den Marshal drüben aus dem Hof des Office reiten sah.

Der Spieler warf zwei Geldstücke auf die Theke und tippte an den Hutrand.

»Leben Sie wohl, Chalk.«

Chalk Beeson, der Salooner, nahm den Zigarrenstummel aus dem Mund und brummte: »Was denn, wollen Sie etwa schon wieder weg?«

»Ja.«

»Für länger etwa?«

»Sieht so aus.«

»Wie kommen Sie denn darauf, so plötzlich?«

»Weil der Marshal die Winchester im Scabbard hat.«

Doc Holliday verließ die Schenke durch den Hof, ging dann in den Livery Stable, in dem er sein Pferd stehen hatte, sattelte auf und ritt wenige Minuten später durch die Frontstreet am Boot Hill vorbei nach Westen aus der Stadt.

Der Texaner hatte in der Alhambra Bar gestanden und sich mit dem Mayor unterhalten, als Bat Masterson plötzlich in der Saloontür stand.

»Hallo, Luke.«

Der Riese wandte sich um. »Augenblick, Bat, ich komme sofort.«

Der Chief Deputy wandte sich um. »Ich will ja nicht stören, Mayor, aber ich weiß nicht, ob es Mr. Short interessiert, daß Wyatt Earp und Doc Holliday die Stadt verlassen haben.«

Der Tex stieß sich den Hut aus der Stirn.

»Was ist los?«

»Der Marshal und Doc Holliday haben die Stadt verlassen.«

»Was denn? Alle beide, und keiner sagt mir was davon?«

»Sie sind ja nicht zusammen geritten«, meinte Masterson und kratzte sich unterm Hut. »Wyatt Earp ritt vor einer Viertelstunde, und Doc Holliday folgte ihm vor einigen Minuten nach.«

»Und wo sind sie hingeritten?«

»Da fragen Sie mich zuviel«, knurrte der Deputy und ging wieder hinaus. »Ich dachte nur, es würde Sie vielleicht interessieren«, meinte er noch in der Tür.

»Und ob mich das interessiert.« Der Riese polterte hinaus.

Als er in Erfahrung gebracht hatte, daß die beiden am Boot Hill vorbeigeritten wären, sattelte er seinen Gaul auf und preschte aus der Stadt. Eine halbe Stunde später sah er im Westen vor sich einen Reiter auf der Straße nach Garden City auftauchen.

Es war Doc Holliday. Als er ihn endlich eingeholt hatte, meinte er: »Hallo, Doc! Ulkig, daß wir uns hier treffen, nicht wahr?«

»Ja, ulkig«, entgegnete der Spieler, ohne das Gesicht zur Seite zu wenden.

»Ihr seid vielleicht komische Heilige«, knurrte der Texaner, rückte sich im Sattel zurecht und schob sich eine Virginia zwischen die Zähne. »Und der Marshal, ist er auch auf dem Trail?«

»Ja, da vorn reitet er.«

»Wo denn? Ich kann ihn nicht sehen.«

»Sie sollen ja nicht in die Luft gucken, sondern auf den Boden«, entgegnete der Spieler spöttisch.

Luke senkte den Blick und sah vor sich im feinen Sand der Straße eine halb schon verwehte Hufspur.

»Ist er das?«

»Ich hoffe doch«, entgegnete Holliday.

Sie ritten weiter. Aber von dem Marshal war nichts zu sehen.

Als sie Garden City erreicht hatten, hielt der Spieler auf das Sheriffs Office zu.

»Meinen Sie, daß er hier ist?« fragte Luke Short.

Holliday nickte. »Ja, das meine ich.«

Der Tex sprang vom Pferd, lief auf die Hausecke zu – und richtig, in der Gasse stand der Falbhengst des Marshals an der Halfterstange.

»Aus euch soll der Teufel klug werden«, knurrte der Riese und setzte sich auf die Vorbautreppe nieder.

Der Spieler glitt aus dem Sattel, warf die Zügelleinen über den Querholm und rief dem Texaner über die Schulter zu:

»Falls jemand unerwarteterweise auf den Gedanken kommen sollte, mich zu suchen, ich bin da drüben in der Bar.«

Der Tex blickte ihm nach, wie er mit seinem elastischen federnden Schritt die staubige Mainstreet, die im Abendsonnenschein lag, überquerte, den einstufigen Vorbau betrat und dann drüben hinter den Pendeltüren der Schenke verschwand.

In diesem Augenblick trat Wyatt Earp aus dem Sheriffs Office, gefolgt von einem Mann, der Bat Masterson wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein schien.

Als der Marshal auf den breiten Rücken des Texaners blickte, mußte er lachen.

»Hallo, Luke, wo kommen Sie denn her?«

Der Tex kaute auf einem abgebrannten Zündholz herum und meinte dann: »Möchte ich auch gern wissen.«

Und dann sah der Marshal das Pferd Doc Hollidays vorn am Zügelholm.

»Der Doc ist also auch da?«

»Da ist er nicht – er ist drüben in der Kneipe.«

»Ich wußte gar nicht, daß die beiden mit Ihnen gekommen sind«, meinte Ed Masterson.

»Das wußte ich auch nicht«, entgegnete der Marshal.

»Also, ich habe Ihnen alles gesagt, was ich zu berichten hatte«, fuhr der Sheriff fort. »Ich habe den Mann durch einen reinen Zufall gesehen. Ich kam von Hancrofts Ranch, wo der Geburtstag des Ranchers gefeiert wurde. Der Bursche ist fünfzig Jahre alt geworden und hatte mich schon vor Monaten eingeladen. Ich fühlte mich gestern nicht besonders, aber ich ritt dann doch hin. Ich verließ den Verein gegen zwei Uhr. Die Ranch liegt ziemlich weit draußen, und ich hatte einen schönen Weg vor mir. Halb dösend hing ich im Sattel, aber plötzlich sah ich vorn auf der Straße den Reiter. Ich blickte natürlich sofort auf, aber da war er schon vorüber.«

»Wie weit war er entfernt?« unterbrach ihn der Marshal.

»Ja, das sind sicher zweihundert Schritt gewesen, wenn nicht noch etwas mehr.«

»Ziemlich weit.«

»Ja, aber ich habe seine Kleidung doch genau erkannt.«

Luke Short schlug sich mit seiner gewaltigen linken Pranke auf den mächtigen Oberschenkel.

Er erhob sich, spie das Zündholz aus und stand dann in seiner ganzen Länge auf dem Vorbau.

»Und, Marshal, wissen Sie jetzt, wohin er geritten ist?«

»Zunächst einmal steht noch gar nicht fest, ob es unser Mann gewesen ist.«

»Nicht? Und deshalb sind Sie die achtundvierzig Meilen hierher geritten?«

»Ich muß jeder Spur nachgehen, Luke. Vor allem, wenn mir ein Sheriff davon berichtet.«

Ed Masterson kratzte sich hinterm Ohr. »Ja, ich hätte Ihnen gern Genaueres gesagt, Marshal, aber es tut mir leid.«

»Schon gut, Ed, das ist immerhin schon ein Fingerzeig.«

Masterson ging an die Hausecke und deutete nach Nordwesten.

»Da hinüber ist er geritten.«

»Also genau nach Westen?«

»Ja. Und ich habe auch sofort, als ich Ihre Nachricht erhielt, eine Anfrage nach Syracuse zu Ferguson geschickt, der aber noch nicht geantwortet hat.«

In diesem Augenblick kam ein Junge von der Poststation über die Straße gelaufen und schwenkte eine Depesche.

»Sheriff, das ist für…« Er hielt inne, als er den Marshal sah.

Masterson nahm ihn die Depesche aus der Hand und las sie durch. Dann reichte er sie dem Marshal.

Luke Short, der das Gesicht des Missouriers beobachtete, sah zu seiner Verwunderung, daß sich eine tiefe Falte in die Stirn des Marshals grub. Das war etwas, das in dem sonst so beherrschten Gesicht des Marshals selten geschah.

»Wo ist der Doc?«

Der Texaner deutete mit dem Kinn über die Straße.

»Soll ich ihn holen?«

»Ja, tun Sie mir den Gefallen.« Und mit rauher Stimme und leiserem Ton fügte Wyatt Earp hinzu: »Sheriff Ferguson ist erschossen worden.«

*

Als der Texaner in der Tür der Schenke erschien, blickte Doc Holliday in den Thekenspiegel.

»Schon?« fragte der Spieler nur.

»Ja, der Marshal wartet.«

Doc Holliday warf ein Geldstück auf den Tisch, kippte den Brandy und meinte zu dem alten Salooner:

»Schade, war ein guter Tropfen, ein zweiter hätte den Geschmack vielleicht noch besser hervorgebracht. So long.«

»So long«, meinte der Salooner und strich das Geld ein.

Als Holliday an der Tür war, berichtete der Tex ihm flüsternd, was passiert war.

Holliday zog in einer für ihn typischen Geste die Schultern leicht hoch und ließ sie wieder fallen. Während er vom Vorbau schritt, meinte er: »Na also, ich wußte doch, daß der Marshal den richtigen Trail eingeschlagen hatte.«

Der Weg nach Syracuse war vielleicht um zwei Meilen weiter als der von Dodge City nach Garden City. Es war eine gute Straße, die dicht am Ufer des Arkansas dahinführte.

Schon oft auf seinen Ritten nach Westen war der Marshal durch die Stadt gekommen. Und auf der gewundenen Mainstreet der alten Stadt hatte er schon mehrere Gefechte durchgestanden.

Der untersetzte grauhaarige Jimmy Ferguson hatte seit einigen Jahren den Stern des Gesetzes in Syracuse getragen.

Er war ein guter Sheriff gewesen, der mit seinen beiden Deputies keine Mühe gescheut hatte, dem Gesetz auch in dieser Arkansas-Stadt zu seinem Recht zu verhelfen.

Die drei Westmänner ritten noch in der Nacht in Syracuse ein. Sie hatten die ersten Meilen in größter Weile zurückgelegt und sich unterwegs nur einmal eine Rast und einen Imbiß gegönnt.

Vorm Sheriffs Office schaukelte ein kleines Licht im Nachtwind hin und her.

Da wurde oben die Tür des Office aufgestoßen, und ein schnauzbärtiger Mann mit einem Gewehr erschien auf dem Vorbau.

»Wer ist da?«

Im gleichen Moment sprang nebenan das Hoftor auf, und ein zweiter Mann erschien mit einem Gewehr.

»Wir kommen von Garden City«, meinte der Marshal.

Da ließ der Mann mit dem Schnauzbart das Gewehr schon sinken.

»Wyatt Earp!« rief er. Dann brüllte er dem Deputy zu: »Führ die Pferde der Gents in den Hof!«

Dann traten die drei Westmänner mit dem alten Deputy ins Office.

Der Schnauzbärtige hatte nicht allzuviel zu berichten:

»Hier in der Stadt ist es seit langer Zeit ruhig, Marshal. Und wir haben wenig Grund zum Ärger gehabt. Trotzdem machte der Sheriff jede Nacht noch seine Runde um die Stadt. Ich weiß auch nicht, weshalb er darauf beharrte. Jedenfalls fand ich ihn dann neben der Pferdetränke.«

»Wann war das?«

»Morgens, als ich zum Office ging.«

Der Marshal ließ sich die Stelle zeigen.

Jimmy Ferguson hatte auf dem Rücken gelegen mit einem Messerstich in der Brust, der ihn sofort getötet haben mußte.

Mehr hatte der Deputy nicht zu berichten.

Ein Sheriff war ermordet worden. Das war das Verbrechen, das im Westen am härtesten geahndet wurde. Es stand noch über dem Pferdediebstahl, dem Frauen- und Kindermord. Wer einen Gesetzesmann ermordete, den traf die ganze Strenge und Härte des Gesetzes.

Es geschah nicht allzuoft, glücklicherweise. Und in Syracuse war so etwas noch nie geschehen.

Wer hatte einen Grund dazu, den kleinen stillen Jimmy Ferguson zu ermorden?

Natürlich stellten sich in der Untersuchung, die der Marshal am Vormittag in der Stadt durchführte, hunderterlei mögliche Gründe heraus, die diesen oder jenen Menschen hätten dazu veranlassen können, einen Zorn auf den Sheriff zu empfinden, aber es fand sich kein Grund, den einen Menschen hätte veranlassen können, mit dem Messer auf den Sheriff loszugehen.

Der Sheriff war, wenn auch kein sonderlich geschätzter Mann, ein stiller Mitbürger gewesen, der niemandem etwas zuleide getan hatte und sich im Grunde mit jedem gut vertrug.

Und dennoch war er mitten in der Stadt ermordet worden!

Die Ermittlungen ergaben so gut wie nichts.

Auch die beiden »gefährlichen« Männer der Stadt hatte sich der Marshal komme lassen, nämlich den Trinker Abe Clifford und den geistesschwachen schlaksigen Jonny Lechler.

Der Trinker, der von mehreren Leuten denunziert worden war, konnte beweisen, daß er in dieser Nacht im Zustand der Volltrunkenheit von dem Wirt der Schenke »Zum knarrenden Balken« selbst nach Hause gebracht worden war, wo ihn seine Frau sofort ins Bett gesteckt hatte. Er hätte von seinem Haus bis zum Tatort eine Strecke zurücklegen müssen, die zu gehen er zu dieser Zeit gar nicht imstande gewesen wäre.

Und der geistesschwache Lechler, ein Bursche mit wildem Aussehen und dem Verstand eines Kindes, hatte in jener Nacht das Haus seiner Eltern gar nicht verlassen können. Er war von seiner Mutter eingeschlossen worden, weil er kurz vor dem Abendessen das Brot, den Käse und auch noch die Kartoffeln verzehrt hatte, die für die Mahlzeit der ganzen Familie bestimmt gewesen waren. Er war in seiner Kammer eingeschlossen worden, aus der es für ihn kein Entrinnen gab, da sie ein so winziges Fenster hatte, daß allenfalls eine Katze, nicht aber so ein riesiger Bursche hätte hinauskommen können.

Wyatt Earp hatte sich ohnehin von den Verhören der beiden Gestalten nichts versprochen.

Die Witwe des ermordeten Sheriffs, die weinend vor dem Marshal gesessen hatte, vermochte sich seinen gewaltsamen Tod auch nicht zu erklären.

Syracuse stand vor einem Rätsel.

Der Marshal auch?

Als die Leute alle gegangen waren, verließen die drei Gefährten das Office und suchten noch einmal die Stelle auf, an der der alte Deputy seinen Boß gefunden hatte.

»Was meinen Sie, Doc?« fragte der Marshal.

»Es war unser Mann«, entgegnete der Spieler mit einer Sicherheit, als könne es gar keinen Zweifel daran geben.

»Wie kommen Sie darauf?« wollte Luke Short wissen.

Doc Holliday setzte einen Fuß auf die Pferdetränke und blickte in das Wasser.

»Sehen Sie sich das an, Luke. Was ist das?«

»Was soll das schon sein? Eine Pferdetränke.«

»Richtig.«

»Ich sehe«, meinte der Marshal, »der Doc sitzt auf der gleichen Fährte wie ich.«

Da biß der Texaner die Spitze von seiner Virginia ab und spuckte sie in den Sand. »He, ich glaube, ich kapiere. Der Halunke hatte eine ziemlich durstige Strecke hinter sich gehabt, und da er nur nachts in die Städte kommen konnte, kam er auch hierher nachts. Höchstwahrscheinlich hat er hier seinen Gaul getränkt. Aber weshalb er deshalb den Sheriff ausgelöscht hat, kapiere ich immer noch nicht.«

»Weshalb er das getan hat«, antwortete der Marshal, »wird vielleicht ein Rätsel bleiben. Jedenfalls hat er es getan.«

Es wurde niemals ermittelt, weshalb Sheriff Ferguson ermordet worden war. Vermutlich war er hier plötzlich vor dem Galgenmann aufgetaucht, hatte ihn vielleicht gar erschreckt, und das hatte er mit dem Leben büßen müssen.

Der flüchtige Desperado, dessen Fluchtweg sich nach hundert Meilen hier vielleicht schwieriger gestaltet hatte, als es sich der Bandit hatte träumen lassen, war stark strapaziert, hatte gereizte Nerven und mußte höchstwahrscheinlich sofort in einer für ihn typischen Weise reagiert haben, als er plötzlich den Mann mit dem Stern vor sich in der Dunkelheit hatte auftauchen sehen.

Und wie der Hilfssheriff dem Marshal berichtet hatte, war es die Art Fergusons gewesen, urplötzlich vor jemandem aufzutauchen.

Das war genau das gewesen, was der Big Boß nicht hatte gebrauchen können. Da hatte er wahrscheinlich blitzschnell zu der Waffe gegriffen, um diese lästige Begegnung lautlos und endgültig zu beenden.

Es war die Tatsache an sich, daß ein Sheriff ermordet worden war, die den Marshal hierher nach Syracuse gelockt hatte, ein Verbrechen, dessen sich so leicht niemand in diesem Lande schuldig machte. Und wenn es dennoch einmal geschah, dann war es so aufsehenerregend, daß man es nirgends gleichgültig hinnahm. Wie hätte Wyatt Earp diesen Mord nicht in Zusammenhang mit jenem Mann bringen sollen, den er für den gefährlichsten Verbrecher hielt, dem er jemals begegnet war.

Der Big Boß der Galgenmänner mußte etwa um die gleiche Zeit, in der das Verbrechen verübt worden war, die Stadt passiert haben. Ein Mann zudem, dem ein solches Verbrechen zuzutrauen war, da ihm ein Menschenleben gar nichts galt.

Die Spur, die der Verbrecher Chief hinter sich gelassen hatte, war also deutlicher gezeichnet, als er es beabsichtigt haben konnte. Mit einem Sheriffs-Mord hinter sich jagte der Graue Chief dem Felsenstaat Colorado entgegen. Es konnte kaum einen Zweifel darüber geben, daß er von Syracuse aus weiter am Arkansas entlang nach Westen geritten war. Denn wer so scharf die Richtung bisher beibehalten hatte, würde sie nicht ausgerechnet hier vor der Grenze Colorados ändern.

Dennoch glaubte der umsichtige Mann aus Missouri die Möglichkeit nicht außer acht lassen zu können, daß der Bandit einem eventuellen Verfolger hier ein Täuschungsmanöver zu bieten gedachte.

Um das zu untersuchen, ritt Earp von Syracuse aus nach Norden den Blue Hills entgegen, während der Texaner sich nach Süden wandte, um auf den Farmen vor der Grenze Erkundigungen einzuziehen. Doc Holliday hingegen ritt weiter auf der Straße nach Westen. Sechs Meilen hinter der Staatsgrenze Colorados wollten sich die drei Freunde in der kleinen Stadt Holly vorm Sheriffs Office wieder treffen.

Der Weg, den der Spieler zurückzulegen hatte, betrug etwa neunzehn Meilen.

Da sie von Syracuse aus in den frühen Morgenstunden aufgebrochen waren, passierte der Spieler die Grenze schon gegen elf Uhr und erreichte Holly um Mittag. Es war klar, daß sich noch keiner der beiden anderen am Treffpunkt eingefunden haben konnte.

Doc Holliday sah sich nach einer Schenke um, und da er in der Nähe des Office keine finden konnte, ging er in das Boardinghouse, um einen Kaffee zu trinken.

Der Wirt war ein kleiner, gedrungener Mensch, der von der Arbeit eines langen Lebens einen runden Rücken bekommen hatte und dessen weißes Haar in einem Kranz um seinen kahlen Schädel stand. Er hatte buschige Brauen, eine lange Nase, die unten birnenförmig über dem weißen zottigen Schnurrbart auslief, und ein listiges Augenpaar, das den Besucher aus einem Kranz zahlloser Fältchen heraus forschend anblickte.

»Einen Kaffee? Natürlich, Mister, wird rasch gemacht.«

Der Spieler setzte sich so, daß er das kleine etwas windschiefe Holzhaus, an dem das Schild Sheriffs Office angebracht war, im Auge behalten konnte.

Als der Kaffee kam, blieb der Wirt neben dem Tisch stehen und suchte mit dem Fremden ins Gespräch zu kommen.

»Auf der Durchreise?«

Holliday nickte, nahm die Tasse hoch und probierte einen Schluck. Das Gebräu war ganz leidlich.

»Noch weit heute?« fragte der Wirt.

Holliday zog die Schultern hoch.

»Weiß ich noch nicht.«

»Wo soll es denn hingehen?« bohrte der Wirt jetzt etwas schärfer.

»Auch das ist noch nicht ganz sicher, Mister. Vielleicht bleibe ich sogar hier.«

»Hier?« Der Wirt wurde sehr lebendig. »Oh, da hätte ich ein sehr schönes Zimmer für Sie. Es hat nicht eine einzige schräge Wand, ein wunderbares Bett mit sehr schönen weichen Federn. Wenn ich Ihnen sage, daß Lord Priceton darin geschlafen hat, als er auf seiner Fahrt nach Kalifornien hier durchkam, dann können Sie mir glauben, daß es ein ausgezeichnetes Bett ist. Und außerdem wurde es von mehreren Damen frequentiert.«

»Ja, ja, ich glaube Ihnen schon.«

»Und es ist sehr billig«, beeilte sich der Wirt hinzuzufügen. »Sie geben dafür nur vier Dollar aus.«

Holliday hob kurz den Blick, musterte den Wirt und schickte den Blick dann wieder durchs Fenster auf die Straße.

Für ein Zimmer in dieser winzigen Stadt vier Dollar zu nehmen, war eine Unverschämtheit. Für diesen Preis bekam man in Santa Fé das eleganteste Zimmer, das man sich wünschte, in Dodge City und Tombstone bekam man sogar zwei dafür, wenn es sein mußte.

Holliday dachte auch nicht im entferntesten daran, hier in der Stadt zu übernachten. Er hoffte im Gegenteil, daß es in Kürze weitergehen würde.

Da irrte er sich allerdings sehr.

Der Wirt begann ein Gespräch über die Fremden, die hier vorüberkamen und bei ihm abstiegen, er erklärte dem Georgier, daß es daran liege, daß die beiden anderen Kneipen in Seitenstraßen lägen.

»Komisch, was?« meinte er dann. »Das findet man nicht oft. Und es ist mein Glück, daß es so ist, denn die meisten Leute erwarten doch eine Schenke in der Hauptstraße. Aber sehen Sie, das hat sich so ergeben, weil Bird und Myer die Grundstücke in den Seitenstraßen, und hier oben in der Mainstreet kein Grundstück bekommen konnten.«

Der Georgier deutete mit dem Kopf auf die Straße und meinte:

»Ziemlich still hier in Holly.«

»Ach, nicht immer.«

»Ich glaube, Ihnen entgeht kein Fremder, der hier durch die Stadt kommt?« versuchte der Spieler nun Kapital aus der Redseligkeit des Boardinghouse-Inhabers zu schlagen.

Der grinste wohlgefällig und rieb sich seine Nase.

»O ja, das kann man wohl sagen. Ich bin ein wachsamer Bursche, bin ich allzeit gewesen, das kann man wohl sagen.«

Holliday zündete sich eine neue Zigarette an, bot auch dem Alten eine an, der sie nahm und zum Schrecken des Spielers zerdrückte, das Papier aus dem Knäuel herauszupfte und die zusammengeballten Tabaksfäden in eine Zahnlücke schob, um sie dort als Priem allmählich auszukauen.

»Ich hatte mich mit einem Freund hier verabredet«, erklärte der Gast. »Leider konnte ich mich nicht rechtzeitig einstellen.«

»Hier in Holly hatten Sie sich verabredet?« meinte der Alte interessiert.

»Ja, wir wollten uns hier auf der Mainstreet treffen.«

»Heute?«

»Nein, nein, schon vor zwei Tagen.«

»Oh, das ist schlecht. Da wird er vielleicht weitergeritten sein.«

»Ja, das nehme ich auch an – falls er sich nämlich nicht auch verspätet hat.«

»Ja, so wird das sein«, meinte der Wirt nachdenklich und kraulte sich seinen Kopf.

Holliday blickte ihn nicht an, als er fragte:

»Sie haben nicht zufällig vorgestern oder gestern einen Fremden gesehen?«

»Wie soll er denn ausgesehen haben?«

»Hm, Jeff ist nicht leicht zu beschreiben«, meinte der Spieler nachsinnend. »Aber vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen sage, daß er einen Fuchs reitet.«

»Einen Fuchs?« tat der Wirt. »Hm, ich glaube, ich habe einen Jungen gesehen, der auf einem Fuchs saß.«

»Nun, ein Junge ist er eigentlich nicht mehr«, meinte der Spieler.

»Nein, nein, er kann so in Ihrem Alter gewesen sein, dreißig, fünfunddreißig vielleicht, etwas älter oder jünger, genau kann ich es nicht sagen. Ich habe ihn jedenfalls gesehen, er kam hier durch. Er kam die Straße herunter, hielt hier einen Augenblick an und sah in das offene Fenster. Wahrscheinlich suchte er eine andere Kneipe, denn er ritt weiter.«

Vor der nächsten Frage nahm der Spieler einen tiefen ruhigen Zug aus seiner Zigarette, stieß den Rauch in zwei Fontänen durch die Nase aus und meinte dann wie nebenbei:

»Wie sah er denn aus?«

»Ja, wie ich schon sagte. Er war vielleicht dreißig oder fünfunddreißig, ein ziemlich großer Mann, in Ihrer Größe ungefähr. Er hatte breite Schultern und…«

Diese Beschreibung paßte auf hunderttausend Menschen in diesem Lande.

»Nun«, meinte der Spieler, »daraus kann ich Jeff noch nicht erkennen. Nein, das wird er wohl nicht gewesen sein. Schade, daß Sie den Mann nicht näher beschreiben können.«

Der Wirt kratzte sich den Kopf.

»He, warten Sie, ich werde nachdenken, es fällt mir bestimmt noch etwas ein. Er trug braunes Lederzeug, kann das sein?«

»Doch, das kann gut sein.«

»Jetzt erinnere ich mich genau, hellbraunes Lederzeug, ziemlich teurer Anzug muß das gewesen sein, gegerbtes Wildleder oder so etwas.«

Holliday nickte zustimmend und suchte den Alten dadurch zu weiteren Schilderungen zu ermuntern.

Doch dem schien der Faden wieder abgerissen zu sein.

»Ich weiß nicht, ich bin natürlich auch nicht mehr der Jüngste und sehe nicht so gut, Mister, aber daran kann ich mich jedenfalls noch erinnern, an den Anzug.«

»Und an sein Gesicht?«

Wenn der alte Boardinghouse-Besitzer Oliver Peabody geahnt hätte, wie unendlich wichtig die Beantwortung dieser Frage für den Fremden war, würde er vielleicht noch etwas gründlicher nachgedacht haben.

Aber Doc Holliday konnte es nicht riskieren, noch auffälliger zu fragen oder gar sich diesem Mann zu offenbaren. Da er jedoch das Gefühl hatte, daß der Alte im Augenblick nicht aufschnitt, sondern den Fremden tatsächlich gesehen hatte, denn Ed Mastersons Beschreibung der Kleidung des Fremden war ja ganz ähnlich gewesen, beschloß der Georgier noch einen letzten Vorstoß.

Dazu mußte er etwas dick auftragen, was ihm gar nicht lag. Er sah den Alten jetzt voll an und meinte im jovialen Ton der Anerkennung:

»Habe sofort gemerkt, daß Sie ein guter Beobachter sind und vor allen Dingen so ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben.«

Diese Worte gingen dem Alten nicht nur wie Honig ein, sie schienen sein Erinnerungsvermögen plötzlich zu jugendlicher Frische zu beflügeln. Denn zu Hollidays Verblüffung brach es plötzlich aus ihm hervor:

»Da haben Sie richtig getippt, Mister, ich bin sicher ein ausgezeichneter Beobachter und habe ein enormes Gedächtnis, das immer wieder bewundert wird. Ich erinnere mich zum Beispiel genau daran, daß der Mann helle gelbliche Augen hatte und ein graues Hemd trug. Und aufgefallen ist mir, daß er gar keine Waffe zu tragen schien. Doch, das ist mir aufgefallen.«

Hier war das »ausgezeichnete« Erinnerungsvermögen des Wirtes erschöpft.

Was der Spieler auch versuchte, der Alte vermochte sich an nichts weiter zu erinnern.

War das, was Holliday nun wußte, nicht schon ungeheuer viel? Im Verhältnis zu dem, was sie bisher von dem Mann wußten, den sie so heiß suchten?

Er hatte also gelbe Augen.

Und sofort zuckte dem Spieler ein brennender Gedanke durchs Hirn: Hatte nicht auch jener Mann helle gelbliche Augen, den der Marshal trotz aller gegenteiliger Beteuerungen insgeheim nach wie vor verdächtigte, der Chief des Geheimbundes zu sein, jener Rancher aus dem Süden Arizonas, der einst der gefürchtetste Bandenführer des Westens war?

Der Mann, der den Namen Ike Clanton trug!

Und was heißt einst? War es nicht erst wenige Jahre her, nicht einmal ganze drei, da dieser Mann die schlimmste Gang anführte, die man sich damals überhaupt denken konnte? Und wie hatte Ike Clanton seine Bande angeführt? Mit ungeheurem Geschick und Organisationstalent hatte er die Crew aufgebaut. Mehr als ein halbes Hundert Männer hatte er in den Sattel gebracht. Burschen, die den Teufel nicht scheuten und deren Namen noch heute jedes Kind in Arizona und den angrenzenden Staaten kannte. Nach wie vor wurde von den Mc-Lowerys gesprochen, von den Flanagans, von Frank Stilwell, Pete Spence, Indian Charly und vor allem von Curly Bill! Von dem siebzehnjährigen Billy Clanton und seinem älteren Bruder Phin. Sie alle gehörten damals zu Ike Clantons großer Gang.

Und es war nicht nur die erstaunliche Figur des Bandenführers Isaac Joseph Clanton, die den Marshal in dem Verdacht beharren ließ, sondern der heutige Ike Clanton bestärkte seinen Verdacht noch, denn der Rancher lebte ein seltsam stummes Leben, von überbetonter Zurückgezogenheit. Im scharfen Gegensatz dazu stand immer wieder das plötzliche Auftauchen des Ranchers an Orten, wo man ihn ganz und gar nicht erwartet hatte.

Es war eine geraume Weile vergangen, als der Spieler plötzlich fragte: »Und wann ist er hiergewesen?«

»Gestern vormittag. Es muß so gegen elf gewesen sein.«

War der Mann, der gestern um die Mittagsstunde hier in dieses Boardinghousefenster hineingesehen hatte, Ike Clanton?

Holliday hätte tausend Dollar dafür gegeben, wenn er jetzt einen Blick auf den fernen Clanton Ranchhof hätte tun können, um festzustellen, ob Ike jetzt daheim war.

Eine weitere Stunde verging. Und immer noch saß der Wirt erzählend neben seinem Gast.

Plötzlich hörte Holliday ihn zu seiner Verblüffung sagen:

»Vielleicht ist es deshalb auch heute so still draußen, weil die Männer gestern bei der Einweihung des neuen Sheriffs Office alle einen über den Durst getrunken haben.«

»Die Stadt hat ein neues Sheriffs Office bekommen?« erkundigte sich Holliday, während er aufstand.

»Ja«, meinte der Wirt ein wenig erschrocken und blickte zu dem Gast auf, verwundert über dessen plötzliche Betroffenheit.

»Und wo ist dieses neue Office?« fragte Holliday fast schroff.

»Die Mainstreet macht nach etwa hundert Yard eine Biegung nach Norden. Und dann ist es gleich das dritte Haus in der ersten Quergasse links. Eigentlich ist es zum Lachen, denn es gibt nur zwei Quergassen in ganz Holly, und…«

Der Spieler hörte nicht mehr, was es noch alles in Holly gab. Er warf ein paar Geldstücke auf den Tisch, tippte grüßend an den Hutrand und ging sehr eilig hinaus.

Damned, höchstwahrscheinlich saßen die beiden jetzt unten in der Quergasse und warteten vorm Sheriffs Office auf ihn, während er bei diesem schwatzhaften Alten saß und in seine leere Kaffeetasse starrte!

Er schwang sich auf seinen Hengst und preschte die Straße hinunter.

Und richtig, kaum war er um die Ecke in die Gasse gebogen, als er auch schon den Falbhengst des Missouriers im Schatten eines Überdaches stehen sah.

Wyatt Earp saß auf der vorletzten Stufe der Vorbautreppe und blickte ihm entgegen.

Als der Spieler herangekommen war, erhob sich der Marshal und kam auf ihn zu.

»Wo ist Luke?« fragte er.

Holliday zog die Schultern hoch und berichtete ihm von seinem Besuch im Boardinghouse.

»Vielleicht sollten wir oben auf der Mainstreet warten«, meinte der Marshal. »An der Ecke können wir das alte Office ja auch sehen. Und schließlich können wir ja nicht das Schild einfach wegreißen.«

»Das nicht«, meinte Holliday, »aber vielleicht könnte man den Sheriff bitten, daß er es tut.«

»Den Sheriff?« Der Marshal winkte ab.

Und der superschnelle Holliday hatte sofort begriffen.

»Ist er noch betrunken?«

Wyatt nickte. »Ja, und wie! Ich habe zweimal versucht, mit ihm zu sprechen, aber das war zwecklos. Er schnarcht wie ein Grisly.«

Sie warteten in der Biegung der Mainstreet vor einem Blacksmith.

Die Stunden verrannen. Der Nachmittag ging vorüber, und die Dämmerung senkte sich über die Stadt.

Längst hatte auch der elegante Spieler, der es sonst gar nicht liebte, sich auf der Straße hinzusetzen, auf einem Vorbaurand Platz genommen und ließ die Beine baumeln. Der Marshal saß neben ihm auf einer Treppe und sah dem Schmied zu, der schon sein drittes Pferd beschlug.

»Es wird dunkel«, meinte der rußige Alte, nachdem der Kunde mit dem frischbeschlagenen Pferd abgezogen war. Er wischte sich die Hände an seiner grünen Schürze ab und kam, was er schon ein paarmal getan hatte, zu den beiden Fremden, lehnte sich gegen den Vorbau und blickte die Straße hinunter.

»Wird wohl nicht mehr kommen, Ihr Freund.«

»Sieht so aus«, meinte der Marshal.

Dann wurde es dunkel.

Doc Holliday rutschte von seinem Platz hinunter, schob mit dem Fuß die Zigarettenreste, die sich in erschreckender Anzahl unter seinen Stiefeln gesammelt hatten, unter den Vorbau und meinte:

»Ich werde das Gefühl nicht los, daß das Vierdollar-Zimmer meines Freundes allmählich auf mich zukommt.«

Sie blieben noch eine Stunde vor der Schmiede, ehe sie in die Sättel stiegen, um nach dem Gefährten zu suchen.

Sie machten sich um den Texaner nicht so leicht Sorgen, denn wenn sie es recht bedachten, so hatten sie ihn noch niemals in lebensgefährlichen Schwierigkeiten angetroffen. Seine sieghafte Natur, seine stählerne Gesundheit, seine gewaltigen Kräfte und seine große Schußsicherheit, das waren Dinge, die ihn zu einer Persönlichkeit machten, für die es einfach kein Hindernis zu geben schien.

Dennoch – wie leicht konnte auch diesem Supermenschen etwas passieren. Beispielsweise eine genau gezielte Gewehrkugel aus dem Hinterhalt konnte alle diese Vorzüge mit einem Schlag zunichte machen.

Und je später es wurde, desto intensiver mußte der Marshal an all jene Dinge denken, die den Goliath eben doch in Gefahr bringen konnten, beispielsweise sein bis ans Tollkühne grenzender Mut, seine große Unbekümmertheit und seine Furchtlosigkeit.

Am Ortsrand trafen sie einen alten Mann, der ein paar Ziegen aus dem Gehege in den Stall trieb, und erkundigten sich nach den Farmen, die zwischen hier und der Grenze lagen.

»Da ist eigentlich nur die Gilbert Ranch, Mister«, meinte der Alte, »und die liegt gleich vor der Grenze.«

»Noch hier in Colorado?«

»Ja, ja, hier in Colorado. Es sind nicht ganz sechs Meilen von hier. Sie können sie kaum verfehlen, wenn Sie schnurstracks nach Südosten reiten.«

Im gestreckten Galopp preschten die beiden Dodger über die Prärie dahin, der Gilbert Ranch entgegen.

Nachdem sie etwa sechs Meilen zurückgelegt hatten, sahen sie in der Ferne die Bauten einer Ranch, von einer Hügelkuppe aus als scharfe Silhouette gegen den Nachthimmel.

Sie hielten darauf zu, und als sie das offene Hoftor erreicht hatten, hielt der Marshal sein Pferd an.

Die rechte Hofseite wurde fast in ihrer ganzen Länge von dem Wohnhaus abgeschlossen, aus dessen Fenstern Licht in den Hof fiel.

Die beiden hatten kaum einen Augenblick verschnauft, als plötzlich ein fürchterliches Poltern und Dröhnen den Hof erfüllte.

Eines der Fenster zerbarst, und die Scherben sprengten klirrend davon. Ein menschlicher Körper landete draußen auf dem Vorbau. Gleich darauf platzte ein Schemel durch das nächste Fenster und prallte draußen mitsamt den Scherben gegen eine Hofglocke, die einen schauerlichen Laut von sich gab.

Doc Holliday hatte sich mit beiden Händen aufs Sattelhorn aufgestützt und meinte in leutseligem Ton:

»Hier sind wir richtig. Wir brauchen nicht weiterzusuchen. Das war seine Sprache. Unverkennbar.«

Und wie zur Bestätigung erfüllte plötzlich die dröhnende Stimme des Texaners den ganzen Ranchhof:

»Euch werde ich es geben, ihr verdammten Hunde! So etwas habe ich gern!«

Gleich darauf wurde die Tür des Ranchhauses mit einem Fußtritt aufgestoßen, daß sie oben aus der Angel riß, und dann erschien im Lichtschein des Korridors die hünenhafte Gestalt des Texaners. Er schleppte zwei Männer mit sich, die er mit den Köpfen aneinander stieß und dann auf die Bohlen der Veranda schleuderte.

»So, das wäre es fürs erste. Ihr könnt euch darauf verlassen, daß ich euren sauberen Freund finden werde, und wenn ich bis Nevada reiten müßte.«

Ohne sich noch um die vier ächzenden und keuchenden Gestalten auf der Ranchhausveranda zu kümmern, ging er über die Treppe hinunter in den Hof. Er zog seinen großen schwarzen Hengst aus dem tiefen Schatten eines Wagendaches, stieg in den Sattel und trabte aus dem Hof.

Als er das Tor fast erreicht hatte, hielt er an.

»Hallo, Marshal! Tut mir leid, gebe zu, daß ich mich etwas verspätet habe. Aber Sie hätten mich nicht gleich zu suchen brauchen. Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit den Boys, weil…«

»Ja, ja, das habe ich gemerkt«, meinte der Marshal, während er seinen Falben herumnahm.

Während sie im leichten Trab nach Nordwesten ritten, berichtete der Tex.

»Ich hatte den Bogen nach Südwesten hinter mir und muß wohl schon die Grenze Colorados zu packen gehabt haben, als ich in ein ziemlich unübersehbares Gelände geriet. Büsche, Gesteinsbrocken, und was man hier in dieser traurigen Landschaft alles so hat. Dazu Bodenwellen und anderes nutzloses Zeug. Plötzlich krachte ein Schuß. Sie werden es nicht glauben, aber die Kugel ging mitten durch meinen neuen Hut. Der Doc kann bezeugen, daß ich ihn mir in Dodge City neu gekauft habe.«

»Ja, ja, ich weiß«, sagte der Marshal, denn er wußte ja längst, daß der weiße Hut der Tick des Texaners war, fast schon eine Marotte, denn wenn die Kopfbedeckung etwas von ihrer Blütenweiße verloren hatte, sah sich der Tex bald wieder nach einer neuen um, nicht ohne in dem Laden den alten Hut dagegen eingetauscht zu haben. Auf diese Weise besaß er immer einen neuen Hut, ohne einen besonders hohen Preis dafür zu zahlen, denn die Storeinhaber fanden in der damaligen Zeit für einen angebrauchten Hut immer noch einen Käufer. Was die Sache ein wenig erschwerte, war die gewaltige Kopfgröße des Riesen.

»Sie können sich also vorstellen, Wyatt, daß ich nicht damit einverstanden war, wie kann so ein Bursche einen Durchzug in meinen Hut schießen? Schließlich kosten diese Dinger eine Menge Geld. Ich sah mich also nach dem Kerl um, und was glauben Sie, was ich fand?«

»Keine Ahnung.«

»Fünf Burschen. Fünf an der Zahl! Einer von ihnen hatte Reißaus genommen, und er war ziemlich schnell. Und da die anderen ihre Gäule idiotischerweise zusammengebunden hatten, konnten sie sich nicht in verschiedene Richtungen davonmachen, sondern nur in einer einzigen. Und da blieb der liebe Onkel Luke ihnen auf den Fersen.

Was soll ich Ihnen sagen, die Boys verkrochen sich hier in die Ranch. Das heißt, ich wurde das Gefühl nicht los, daß sie sogar hierher gehören, denn der grauhaarige Alte, der hinterm Ofen saß, rief dauernd zeternd nach Bill, Jimmy, Ted und Ferry. Also wahrscheinlich handelte es sich bei den Halunken um seine Brut. Die vier Strolche versuchten mich mit der Waffe vom Haus fernzuhalten. Aber das nützte nichts. Onkel Luke kam hinten durchs Fenster. Sie kennen das ja.«

»Ja, ja«, meinte Doc Holliday, »gewissermaßen auf ihre Weise. Sie haben die Scherben noch in der Jacke. Und in dem Haus muß es jetzt einen ziemlichen Durchzug geben. Das ist dann ein Ausgleich für den Hut.«

Der Tex lachte dröhnend los und schlug sich klatschend auf den Oberschenkel.

»Sie haben recht, Doc, hahaha! Sie haben wirklich recht, ich habe hinten vom Hof aus einen Planwagen bestiegen und bin dann im Hechtsprung durch das Fenster in die Stube geflogen. Also war schon ein Fenster kaputt. Und zwei von den Boys wollten das unbedingt nachmachen und gaben keine Ruhe, bis ich sie durch die beiden Vorderfenster in den Hof beförderte.

Das wäre es eigentlich. Das heißt, sie schwören, daß sie nicht geschossen hätten. Es sei ein Bursche gewesen, der erst in den Morgenstunden auf ihrer Weide erschienen sei und mit ihnen gesprochen hätte. Ein Kerl, der nur ein Auge haben soll. Weiß der Teufel, ich habe Zyklonen nie gemocht. Ein Bursche mit einer Hasenscharte, meinte Billy. Der Teufel mag wissen, ob sie mir da nicht einen Bären aufgebunden haben. Allerdings glaube ich schon, daß es der fünfte Mann war, der geschossen hat, denn ich habe die Schießerei der anderen untersucht, die Trommeln waren alle noch voll.«

»Die können sie aber nachgeladen haben«, meinte der Marshal.

»Stimmt schon, aber für so gerissen halte ich die Bagage nicht. Es sind Cowboys, harmlose Burschen, und wir sind ja auch ganz friedlich auseinander gegangen.«

»Doch, das kann man wohl sagen«, meinte der Marshal.

»Nun ja«, der Tex hob beide Hände und ließ sie wieder sinken. »Ferry, oder wie der Bursche hieß, hatte plötzlich den Einfall, als ich wieder gehen wollte, mir mit dem Feuerhaken eins über den doch schon lädierten Hut ziehen zu wollen. Das ging nicht ganz auf, denn ich drehte mich in dem Augenblick herum, als er das Eisen schon heruntergerissen hatte. Es ging natürlich daneben, dafür hatte ich ihn sofort zu packen und… nun ja, das andere wissen Sie ja.«

Daß die vier Cowboys einen gewaltigen Umweg gemacht hatten, um den Verfolger abzuschütteln, berichtete Luke nicht. Aber der Marshal konnte es sich ausrechnen, weil der Riese ja sonst wohl längst am vereinbarten Treffpunkt aufgekreuzt wäre.

Es war den Cowboys erst sehr spät gelungen, die Pferde voneinander loszukoppeln, aber sie waren gar nicht auf den Gedanken gekommen, in die vier Himmelsrichtungen davonzujagen, sondern waren hintereinander geblieben und auf einem unmöglichen Umweg ihrem Ranchhof entgegengeritten, wo sie den lästigen, zähen Verfolger mit Schußwaffen verscheuchen wollten.

Da allerdings waren sie an den Falschen geraten. Und höchstwahrscheinlich würden die Boys es sich in Zukunft überlegen, sich einem Heckenschützen anzuschließen.

Indessen machte sich der Marshal Gedanken über den Mann, der den Schuß auf den Texaner abgegeben hatte. Ein Zyklop mit einer Hasenscharte!

Was mochte den Mann veranlaßt haben, den Schuß aus dem Hinterhalt auf den Texaner abzugeben? War es ein Begleiter des Big Boß?

Hatte der Bandenführer also doch Leute bei sich?

Die Frage, ob das Verbrechen in Dodge City wirklich von dem Banden Chief ausgeführt worden war, hatte man sich ja ohnehin endgültig beantworten können. Dafür sprach nicht mehr als eine Vermutung, ein Verdacht. Ein schwerwiegender Verdacht allerdings, denn sonst hätte sich der Marshal von Santa Fé aus nicht auf den Weg nach Dodge City gemacht. Es war nicht nur das Gefühl gewesen, das ihn auf diesen Trail gebracht hatte. Es war auch Berechnung dabei, und zwar eine Berechnung, die allem Anschein nach genau aufgegangen war.

Wohin hatte sich der Chief der Galgenmänner wenden können, nachdem er in Santa Fé einen so schweren Schlag hatte hinnehmen müssen?

Nach Tombstone?

Gewiß, denn aus dem südlichen Arizona kam er ja. Aber gerade weil es das Nächstliegende war, mochte er das genaue Gegenteil getan haben, nämlich den Weg nach Nordosten zu nehmen. Und im Nordosten lag Dodge City. Nachdem der Bandit schon in Colorado versucht hatte, die Freunde des Marshals zu schädigen, nachdem er in Tombstone alles Mögliche versucht hatte, mußte man sich direkt wundern, daß er nicht früher auf den Gedanken gekommen war, nach Dodge City zu reiten.

Natürlich war es nicht ungefährlich für ihn, sich ausgerechnet in diese Stadt zu begeben, denn er mußte ja damit rechnen, daß er gerade da gegen den Marshal anlief, denn Wyatt Earp gehörte schließlich nach Dodge City.

Er hatte in der Stadt am Arkansas ein Haus in die Luft gesprengt und sich davongemacht mit der Gewißheit, dem Marshal einen furchtbaren Schlag beigebracht zu haben.

Daß der Schlag in Wirklichkeit ins Wasser gegangen war, wußte er ja nicht. Er hatte eine grauenvolle Tat beabsichtigt. Er wollte ein Haus, in dem er eine ganze Reihe Kinder wußte, kaltherzig zerstören.

Dem Marshal lag nichts an dem Gebäude, und Doc Holliday, dem eigentlichen Besitzer erst recht nicht. Die Kinder würden ein anderes Haus zugewiesen bekommen.

Der Spieler hatte abgewinkt und gemeint: Wenn ich nichts Besseres erspielen kann als so einen Kasten, soll es der Teufel holen.

Wenn ich wieder solch einem Burschen gegenüber sitze, lasse ich mich nur dann mit ihm auf einen scharfen Poker ein, wenn er mindestens eine anständige Ranch besitzt.

Sie hatten es mit Humor genommen, die beiden Westmänner – aber die Absicht des Täters blieb entsetzlich!

Wyatt Earp, Doc Holliday und Luke Short ritten nach Holly zurück. Sie mieden die schlafende Stadt und trafen an ihrem Westausgang wieder auf die Straße, die nach Lamar führte.

Es war halb zwölf, als sie die Häuser von Lamar vor sich auftauchen sahen.

Das war eine größere Stadt auf dem Weg zum Platin See.

Als sie die Mainstreet erreicht hatten, sahen sie aus einigen Fenstern noch Licht auf die Straße fallen.

Auch aus dem Fenster des kleinen Sheriffs Office fiel noch ein schwacher gelblicher Lichtstrahl auf den schmalen unüberdachten Vorbau hinaus.

Der Marshal glitt aus dem Sattel, warf dem Spieler die Zügelleinen zu und klopfte an die Tür des Office.

Nur ein mürrisches »Herein!« war die Antwort.

Der Missourier hatte geöffnet und sah sich in einem schmalen, niedrigen Raum, der mit allerlei vollgestopft war, was ganz sicher nicht hineingehörte.

Zum Beispiel standen da sieben oder acht Vogelkäfige aufeinander, in denen es munter zwitscherte und trillerte, daneben eine gewaltige Hundehütte, in der ein großer Rottweilerhund lag und den Fremden aus Triefaugen ansah und knurrend begrüßte. Ein gewaltiger Kater thronte breit auf dem Schreibtisch, die Vorderpfoten unter seinen pelzigen Leib gezogen, und äugte dem Eintretenden uninteressiert entgegen.

Rechts an den Wänden hingen wieder Vogelkäfige, aus denen das Gezwitscher der gegenüberliegenden Käfigfront munter erwidert wurde. Stühle, Sessel, Korbstühle, Schaukelstühle und dergleichen waren übereinander gestapelt wie in einer Altwarenhandlung. Über einer offenen Feuerstelle schaukelte leise ein gewaltiger Kupferkessel, dem seltsame Geräusche entströmten.

Einer jener Gipsindianer, die von fahrenden Händlern unbegreiflicherweise in gewaltigen Mengen an die doch so arme Bevölkerung der Weststaaten immer wieder verhökert wurden, stand neben der Tür und starrte mit erschreckten Glotzaugen und erhobenem Kriegsbeil.

Der interessanteste Punkt in diesem Tohuwabohu war ohne Zweifel die menschliche Gestalt, die hinter dem Schreibtisch hockte, vornübergeneigt, den struppigen Schädel tief über ein Zeitungsblatt gebeugt, das mit Hilfe einer dickglasigen Brille und des den Zeilen folgenden Zeigefingers studiert wurde. Der Mann mußte alt sein, denn seine knotigen Finger waren von der Gicht gekrümmt. In der Linken hielt er eine erloschene Zigarre. Gerade kratzte er sich zum dritten Mal seit dem Eintreten des Fremden ungeniert im Nacken.

»Evening, Sheriff!«

Der Sheriff geruhte aufzublicken.

Der Missourier blickte zu seiner Verblüffung in das von Tausenden von Falten und Runzeln zerschnittene Gesicht einer Frau.

Inmitten der unzähligen Kerben, die dieses Antlitz im Laufe eines langen Lebens so zurechtgemeißelt hatten, saß eine kurze rote Nase, auf der die dickglasige Brille thronte. Über den Brillenrand blickte jetzt ein sehr waches hellgraues Augenpaar, das mit dem Alter dieses Wesens nur wenig zu tun zu haben schien.

»Was gibt’s?«

»Pardon, Madam, kann ich den Sheriff vielleicht sprechen?«

»Sie sprechen schon mit ihm«, kam es kurz und präzise zurück.

Der Marshal griff unwillkürlich nach dem Hut, nahm ihn ab, setzte ihn aber gleich wieder auf.

»Sie sind der Sheriff?«

»Ja, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Mister.«

»Nein, nein, Madam, nur… Sie sind tatsächlich der Sheriff?«

Da nahm die Alte die Kerosinlampe zu sich heran, nahm den grünen Schirm ab, dann den Zylinder, und hielt die Zigarre, von der sie zuvor sorgfältig die Aschenreste gekratzt hatte, und hielt sie über die Flamme. Langsam fraß sich die Glut in die Tabakblätter.

Gleich darauf schwebte eine gewaltige Nebelwolke vor ihrem Gesicht. Sie wedelte sie zur Seite, stützte den Kopf in die Rechte und schob die Zigarre in den linken Mundwinkel.

»Was wollen Sie, Mister?«

»Ich sagte ja schon, ich wollte mit dem Sheriff sprechen. Aber…«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich der Sheriff bin. Es ist zum Wimmern, daß ich immer wieder die alte Leier abrollen muß: Mein Mann ist vor drei Jahren draußen auf der Straße von Banditen erschossen worden. Seitdem hat sich in diesem elenden Nest kein Mensch für diesen Posten finden lassen. Um wenigstens ein paar Dollars von seinem Sold retten zu können, habe ich derweil den Dienst versehen. Und mittlerweile haben sich die Schlafmützen und Pfeffersäcke dieser Stadt so daran gewöhnt, daß sie mich hiergelassen haben mitsamt dem Stern und alldem anderen drumherum. Auch mit den Schießereien. Ich habe Jimmy Degoreh und seinen Bruder Flip vor anderthalb Jahren an den Galgen gebracht, falls Sie es interessiert. Und Fepe Sharkey habe ich draußen vor dem Lahmen Jimmy erschossen, nachdem er den Salooner ausgelöscht hatte. Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«

Der Marshal fuhr sich mit dem Mittelfinger der Linken durch den Kragen und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, Madam – Sheriff, absolut nichts.«

Da erhob sich die Alte mit einem Ruck und stand aufrecht da. Sie war nicht einmal klein. Madam Sheriff trug ein dunkelblaues Hemd, das am Kragen von einem weißen Strickstück zusammengehalten wurde, eine dunkelbraune Lederweste, auf der links richtig der große fünfzackige Stern prangte, und tatsächlich auch eine Hose und einen Waffengurt, der auf der linken Seite einen gewaltigen

Peacemaker Revolver hielt.

Plötzlich nahm sie die Zigarre aus dem Mund, stieß sie in den metallenen Aschenbecher, legte den Kopf auf die Seite und fragte mit pfeifendem Ton:

»Wollen Sie sich etwa um den Job bewerben?«

»Nein, nein, absolut nicht, Madame Sheriff.«

»Was wollen Sie dann?«

»Ich wollte eine Erkundigung einziehen. Ich folge einem Mann…«

»Ja, ja, die Geschichte kenne ich. Sie folgen einem Mann und wollen hier eine Schießerei veranstalten.« Plötzlich hatte die Alte ihr Schießeisen in der Hand, spannte den Hahn und hielt dem Marshal die Waffe mit drohendem Blick entgegen. »Verschwinden Sie!«

»Ja, ja, ich glaube, das wird das beste sein, Sheriff.«

Der Missourier wandte sich kopfschüttelnd um und ging zur Tür. Es hatte anscheinend nicht den geringsten Sinn, sich mit der kauzigen Alten aufzuhalten.

Als er auf dem Vorbau erschien, lachte ihm der Texaner dröhnend entgegen. »He, war das der Große Manitu?« fragte er.

Er mußte vom Sattel aus die Alte gesehen haben.

»Scheint so«, meinte der Marshal, zog sich in den Sattel und ritt weiter.

Auf der linken Straßenseite war eine Schenke, aus deren Fenster noch Licht auf die Straße fiel. Wahrscheinlich der Lahme Jimmy.

Wyatt blickte den Spieler an. »Wir brauchen drei Zimmer, Doc.«

Holliday nickte, glitt aus dem Sattel, warf dem Marshal die Zügelleinen zu, und gleich darauf verschwand seine hochgewachsene Gestalt im Eingang der Schenke.

Trotz der mitternächtlichen Stunde war der Schankraum zum Bersten gefüllt.

Gleich links neben der Tür an einem Ecktisch kauerte in sich zusammengesunken ein Mann, der eine schwarze Klappe über dem linken Auge trug und dessen Oberlippe eine Hasenscharte bildete. Er mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein und hatte ein geradezu abstoßendes Äußeres, das zu seinem entstellten Gesicht paßte.

Der zerfranste Schlapphut hing ihm zu beiden Seiten über die Ohren und hatte unappetitliche Schweißränder. Ein verwaschen gelbliches Halstuch war so geknotet, daß die beiden Spitzen rechts über die Brust hingen und der Knoten auf der linken fallenden Schulter lag. Er trug einen Rock aus derb gegerbtem Büffelleder, der an mehreren Stellen aufgerissen war. Von seinem Hemd war nichts zu sehen. Seine dunkelgraue Hose hatte an den Knien Lederstücke und lief unten in hohe, hartschäftige Stiefel aus, die Messertaschen hatten, aus denen die Knäufe zweier Messer blickten. Über der langen Jacke trug der seltsame Mensch einen Strick, an dem an der rechten Hüfte ein Lederhalfter hing, in dem ein wahres Monstrum von Colt steckte.

Der Mann hatte seine schmierigen Hände um ein großes Bierglas gelegt, und es hatte den Anschein, als ob er das Glas im nächsten Augenblick zwischen seinen Pranken zerdrücken wollte.

Geduckt, wie zum Sprung bereit, so saß er da und stierte vor sich hin. Die drei Männer, die mit ihm den kleinen Tisch teilten, beachtete er nicht im geringsten. Da sie mit ihrem Spiel beschäftigt waren, achteten sie auch nicht auf ihn.

Ein altes Orchestrion hämmerte den Colorado Song und stieß die Tonfetzen reichlich unmelodiös durch den verqualmten, lärmerfüllten Raum.

Trotz der tausend Geräusche hörte der Mann mit der Hasenscharte sofort das leise Quietschen der Türschwingarme hinter sich, fuhr herum und zuckte beim Anblick des Mannes, der da eintrat, so sehr zusammen, daß er das Bier umstieß.

Im nächsten Augenblick hatte er den Revolver aus dem Lederschuh gerissen, stieß ihn nach vorn, spannte gleichzeitig den Hahn und drückte auf den hochgewachsenen, schwarz gekleideten Fremden ab.

Aber noch ehe sein Schuß loszuckte, brüllte in der Faust des Georgiers der Revolver auf.

Doc Holliday hatte das leise Klicken gehört, und mit der Reaktion einer Pantherkatze war er herumgefahren, hatte gleichzeitig den Revolver gezogen und abgedrückt.

Die Kugel drang dem Mann mit der Hasenscharte in den rechten Oberarm.

Dessen Kugel schlug neben Holliday in den Fußboden und riß ein daumengroßes Loch in das Holz.

In der Schenke war augenblicklich die Hölle los.

Wyatt Earp war mit einem Sprung vom Pferd, mit dem nächsten auf dem Vorbau, stieß die Tür auf und drang in die Schenke ein.

Luke Short sprang gleich aus dem Sattel auf den Vorbau und riß das Fenster hoch, wo er den Mann erspäht hatte, der den Schuß auf den Spieler abgegeben hatte.

Er war als erster bei ihm, packte ihn am Kragen und zerrte ihn zum Fenster hin.

Da hatte sich auch der Marshal durch die Menge Bahn gebrochen und blickte in das aschgraue Gesicht des Schützen. Die Männer hatten dem Spieler Platz gemacht. Ein Mann, der über eine so hervorragende Reaktion verfügte, besaß sofort den Respekt dieser Leute.

»Sie haben ihn getroffen, Mister!« brüllte ein schnauzbärtiger Mensch mit offener Hemdbrust und vorspringendem brutalem Kinn.

Ein anderer, der sich wütend auf den Mann mit der Hasenscharte stürzen wollte, wurde von Luke Short derb zurückgeschoben.

»Nur sachte, Mister, diesen Burschen habe ich in meine Obhut genommen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«

Niemand konnte etwas dagegen haben, denn der Riese richtete sich drohend auf. Seine imposante Gestalt ließ keine Zweifel daran aufkommen, daß er seine Erklärung notfalls mit den Fäusten unterstreichen würde.

»Hier, Marshal, hier ist der Bursche«, meinte er und schob den Verletzten auf den Missourier zu.

Marshal?!

Die Menschen machten dem Missourier jetzt ebenfalls Platz.

»Ein Marshal«, raunte es jetzt irgendwo, und dann setzte sich der Ruf durch die Schenke fort.

Ein Marshal!

Wyatt Earp nahm den Hasenschartenmann am unverletzten Arm und führte ihn durch die Gasse der Gaffenden zur Tür, er brachte ihn hinaus auf die Straße und bugsierte ihn schnellstens auf den Weg zum Sheriffs Office.

Aber mitten auf der Straße wurde er aufgehalten.

Es war die Alte mit dem Stern. Sie hatte den Revolver in der Hand und blieb breitbeinig vor dem Missourier stehen.

»Was ist das?« krächzte sie mit drohender Rabenstimme.

»Dieser Mann hat auf meinen Gefährten geschossen. Ich bringe ihn ins Jail.«

»Geschossen hat er? All right, das ist gut. Her mit ihm!«

Sie nahm den Hasenschartenmann selbst am Arm und führte ihn aufs Sheriffs Office zu.

Wyatt Earp und Luke Short folgten ihr.

Doc Holliday blieb drüben im Eingang der Schenke stehen.

Die Alte nahm im Office die Lampe hoch und hielt sie dem Hasenschartenmann vors Gesicht.

»He, der soll geschossen haben? Der sieht eher aus, als hätte er eins verpaßt bekommen.«

»Das hat er auch. Seine Kugel ging fehl, und mein Gefährte muß ihn im Oberarm getroffen haben. Es wäre gut, Madam, wenn Sie einen Arzt holten.«

»Erst kommt der Bursche in die Zelle«, ordnete der »Sheriff« an, tastete den Gefangenen nach Waffen ab und führte ihn dann in eine der beiden Zellen.

Aber mit dem Doktor ließ sich die Alte Zeit. Sie nahm Platz hinter ihrem Schreibtisch, machte einen nutzlosen Versuch, unter dem Kater einen Papierbogen hervorzuziehen, dachte aber nicht daran, das Tier zu jagen, sondern nahm einen anderen Bogen aus der Schublade, auf dem ein Brief angefangen worden war.

»Also, wie heißt er?«

Der Missourier stand noch vor der Gittertür der Zelle und blickte den Gefangenen an.

»Es wäre wohl besser, Madam, wenn Sie ihn das selber fragen würden.«

Luke Short stieß eine kurze Lache aus. »Glauben Sie, der Kerl hat sich uns vorgestellt? Überhaupt, weshalb holen Sie nicht den Sheriff?«

Da flog der Kopf der Alten hoch. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der zerfurchten Stirn, kniff das linke Auge ein und krächzte den Marshal an:

»Vielleicht sagen Sie diesem wandelnden Scheunentor, daß ich der Sheriff bin, Mister…«

»Ja, ja, schon gut«, meinte der Marshal und knurrte dann: »Ich muß das selbst erst einmal verdauen – Sheriff.«

Der Texaner kam mit ein paar raschen Schritten von der Tür auf die Zellen zu, blieb vor dem Marshal stehen, deutete mit dem linken Daumen über die Schulter, bückte sich etwas hinunter und bellte: »Was denn, diese karierte Vogelscheuche soll der Sheriff sein?«

Da fuhr die Alte hinter dem Tisch hoch, nahm den Revolver aus dem Halfter und schlug mit dem Knauf auf den Tisch, daß das Tintenfaß zu tanzen begann und sogar der sonst absolut nicht empfindliche Kater unwillig mit dem linken Ohr zuckte.

»Noch eine solche Äußerung, Mister, und ich muß Sie wegen Beleidigung ebenfalls einsperren.«

Da fuhr der Tex herum, richtete sich zur vollen Höhe auf und stieß prompt mit dem Kopf gegen die Decke. Also duckte er sich, blickte hoch und sah, daß er eine Delle in die aus einer Mischung von Strohgeflecht und Lehm bestehenden Zimmerdecke gestoßen hatte.

Er nahm seinen Hut ab und betrachtete die Schmutzstelle daran, stieß die Beule heraus und bellte:

»In dieser verdammten Gegend haben sie es offensichtlich auf meinen teuren Hut abgesehen. Ein paar Meilen von hier knallt mir so ein verdammter Zyklop ein Loch in den Deckel, und hier in diesem Tierpark stößt man sich den Schädel ein.«

Plötzlich wandte er sich um. »He, Marshal, Zyklop! Hat der Kerl nicht auch nur ein Auge?«

Mit einem Satz war er an der Zellentür und sagte:

»He, komm doch mal her, Junge, ich möchte dich noch mal betrachten.«

Aber der Bandit dachte natürlich nicht daran, aus dem dunklen Hintergrund der Zelle hervorzukommen.

»He, Alte, machen Sie den Käfig noch einmal auf.«

Von dem Augenblick an, da Madame Sheriff die Anrede »Marshal« gehört hatte, war sie wie zur Salzsäule erstarrt.

»Marshal!« stotterte der »Sheriff« von Lamar. »Er ist ein Marshal?«

»Ja, ein Marshal«, knurrte der Riese. »Hatten Sie ihn für ein Tanzgirl gehalten? Vorwärts, machen Sie diesen Kasten hier noch einmal auf!«

Und als die Alte sich vor Erstarrung nicht rührte, packte der Riese einmal kurz mit beiden Fäusten an, stemmte den rechten Fuß gegen die Wand neben der Tür, und mit einem gewaltigen Ruck riß er das Schloß aus der Halterung. Für die Bullenkräfte dieses Mannes schien es einfach kein Hindernis zu geben.

Er selbst war keineswegs erstaunt darüber, daß die Tür so rasch aufgesprungen war. Er holte den Mann am Kragen aus der Zelle, brachte ihn an die Lampe heran und hielt ihn zu sich hoch.

»Komm, Junge, sieh Onkel Luke mal genau an. Ja, so! Und jetzt nehmen wir da mal die Klappe herunter. Ah, sieh da, da sitzt ja noch ein richtiges Auge. Weshalb trägst du denn den Deckel da drauf, Junge? Komm, erkläre das Onkel Luke mal. Und überlege es dir nicht zu lange, sonst fehlen dir morgen früh beim Frühstück ein paar Backenzähne.«

Der Mann mit der Hasenscharte senkte den Blick.

»Mr. Earp«, krächzte er plötzlich den Marshal an, »Sie werden nicht zulassen, daß dieser gewalttätige Mensch mich mißhandelt.«

Da stieß der Texaner eine brüllende Lache aus.

»Hör zu, Junge, du gefällst mir, du hast tatsächlich Humor.«

»Mr. Earp?« kam es da rostig von den Lippen der Alten. Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und stieß dann einen schrillen Schrei aus, der den Kater zu einem unwilligen Knurren veranlaßte, und sie wankte bis an die Zimmerwand zurück.

»Wyatt Earp! Ich Närrin! Und ich will ein Sheriff sein? Eine alte Vogelscheuche bin ich! Dieses menschliche Scheunentor da, das meine Zellentür kaputtreißt, als seien sie aus Papier, hat vollkommen recht, ich bin eine Vogelscheuche. Er ist Wyatt Earp! Wo hatte ich nur meine Augen? Marshal, können Sie mir noch einmal verzeihen?«

Aber die beiden kümmerten sich gar nicht um sie.

Wyatt Earp hatte den Banditen auf einen Hocker geschoben und stand jetzt mit forschendem Blick vor ihm.

»Haben Sie mir irgend etwas zu sagen?«

Der Mann mit der Hasenscharte senkte den Kopf.

»Sehen Sie?« meinte der Hüne. »Der Bursche ist verstockt. Er ist so eine vornehme Anrede gar nicht gewohnt. Komm, Junge, sieh dir diese zarten Händchen an.« Er hielt dem Banditen eine gewaltige schwielige Pranke unter die Nase. »Sieh es dir genau an. Wenn du dem Marshal jetzt nicht sofort antwortest, machst du unangenehme Bekanntschaft mit diesem Händchen, Amigo.«

Der Bandit zuckte von dem Hocker hoch und stotterte:

»Marshal, Sie werden es nicht zulassen.«

»Faseln Sie keinen Unsinn, Mensch, sagen Sie mir lieber, weshalb Sie auf den Doc Holliday geschossen haben.«

»Doc Holliday?« krächzte die Alte. »Er ist auch in der Stadt? Allmächtiger, welch ein Tag! Das muß gefeiert werden. Wo ist die Whiskyflasche?« Sie wandte sich um, stürzte auf eine Kommode zu, riß eine Lade auf und brachte eine dunkle Flasche zum Vorschein, auf der ein großes Schild mit der Aufschrift Petroleum angebracht war.

Erst nahm sie selbst einen tiefen Schluck, dann reichte sie die Flasche dem Missourier.

»Hier, Marshal, trinken Sie, das muß gefeiert werden.«

Der Marshal lehnte ab.

Als sie dem Tex die Buddel hinhielt, verzog der nur das Gesicht. »Es reicht mir, daß ich mir bei Ihnen den Hut verbeult habe, ich habe nicht die Absicht, mir auch noch den Magen auszurenken.« Dann knurrte er wieder den Tramp bedrohlich an: »So, Junge, und jetzt mach die Zähne auseinander, sonst wird Onkel Luke böse.«

Der Bandit wich bis an die Wand zurück.

»Ich habe nichts zu sagen.«

»Und was ich Ihnen zu sagen habe, wird nur wenig sein«, entgegnete der Marshal mit eisiger Kühle. »Morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, werden Sie gehängt.«

Der Mann mit der Hasenscharte stierte ihn aus flackernden Augen an. Er hatte den Schmerz im rechten Oberarm vergessen. Die Angst schnürte ihm fast die Kehle zu.

»Sie wollen mich hängen lassen, Mr. Earp? Weshalb? Sie haben kein Recht dazu. Ich habe…«

»Was Sie haben, weiß ich. Es reicht dreimal dazu aus, Sie an den Galgen zu bringen. Sheriff, sperren Sie ihn ein!«

Die Alte, die sich die Flasche wieder an den Hals gesetzt hatte, ließ sie sofort sinken und nickte.

»Selbstverständlich, Marshal, sofort! Der Bursche kommt in die nächste Zelle. Die ist ja noch heil.«

Wyatt Earp und Luke Short verließen das Office.

Die Alte folgte ihnen auf den Vorbau hinaus.

Der Texaner blickte sich unbehaglich um. Dann tippte er den Marshal an und meinte so laut, daß die Alte es unbedingt hören mußte: »Ist diese Schleiereule etwa scharf auf mich? Weshalb läuft sie denn noch hinter uns her?«

Und jetzt zeigte es sich, daß die Witwe des Sheriffs von Lamar gar kein so übler Kerl war.

»Entschuldigen Sie, Mr. Earp, daß ich vor Begeisterung einen Schluck genommen habe. Aber Sie werden sich davon überzeugen können, daß alles in Ordnung geht. Wenn der Bursche morgen früh an den Galgen soll, dann soll er an den Galgen. Mir gefällt er ohnehin nicht. Ich habe ihn vor einer Stunde schon mit dem anderen Schuft aus dem Mietstall gejagt, als sie da eine der Mägde belästigten.«

»Sie sprechen von einem zweiten Mann?« forschte der Marshal rasch.

»Ja, der andere, der bei ihm war.«

»Wie sah der denn aus?«

»Es war ein mittelgroßer Boy von vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Er hatte ein glattrasiertes Gesicht und trug einen schwarzen flachkronigen Hut. Sein Hemd war schwarz, schwarz auch seine Weste und Hose. Seine Stiefel waren staubig. Er trug zwei Revolver. Vom linken Mundwinkel zog sich schräg hinunter zur Kinnlade eine breite rote Narbe.«

Das war eine ausgezeichnete Beschreibung.

»Wissen Sie, wo der Mann jetzt ist?«

»Das weiß ich nicht. Aber es kann sein, daß er in der Fledermaus Bar steckt.«

Die Fledermaus Bar war eine schmalbrüstige Schenke, die vorn nur ein winziges Fenster und die Tür hatte. Dahinter lag der schlauchartige Schankraum, auf dessen rechter Seite sich die Theke von der Tür bis zum Ende des Raumes entlangzog. Platz zum Sitzen gab es nicht in der Fledermaus Bar. Wer hier einkehrte, hatte an der Theke zu lehnen, und die bot ja einer ganzen Reihe von Zechern Platz.

Aber es lehnte nur ein einzelner Mann am Stirnende des Schanktisches. Ein Mann, auf den die Beschreibung der Sheriffs Sweety genau paßte.

Wie unterwegs beschlossen worden war, betrat Madame Sheriff die Schenke allein. Wyatt Earp und Luke Short blieben vorm Eingang, während der Spieler, der sich der Crew unterwegs zugesellt hatte, den Hof durchquerte und sich am Hinterausgang postierte.

Die Alte machte ein paar Schritte in den schlauchartigen Raum. Unter der blakenden Kerosinlampe blieb sie breitbeinig stehen, die Fäuste in die Hüften gestützt. Dann stieß sie den Kopf nach vorn und krächzte:

»Wie heißt du?«

Der Bursche fuhr sich mit dem Mittelfinger der linken Hand vom Mundwinkel über die brandrote Narbe bis zur Kinnlade hinunter.

»Schätze, das geht dich einen Dreck an, Alte. Nimm lieber den Stern ab, ehe ich ihn dir vom Leib schieße.«

Da hatte die Alte plötzlich den Revolver in der Hand.

»Komm, Junge, nimm die Hände hoch!«

Da stieß der Bursche die Rechte zum Revolver, und in diesem Augenblick bekam er einen Stoß in den Rücken.

Das Klicken eines gespannten Revolverhahns ließ ihn erstarren.

Hinter ihm stand der Georgier.

»Nimm die Hände schön langsam hoch, Junge. Der Aufforderung eines Sheriffs hat man in diesem Land nachzukommen. Und wie du siehst, trägt diese Person da den Stern. Es scheint, daß du vor diesem Stern verdammt wenig Respekt hast.«

»Wer sind Sie?« brach es rostig über die Lippen des Burschen.

»Mein Name ist Holliday, John Henry Holliday. Ich hoffe, der Name gefällt dir, Kleiner.«

Der Bursche sank förmlich in sich zusammen, lehnte sich weit über die Theke und stützte die Hände auf deren Stirnkante.

»Doc Holliday! Teufel auch! Verrat! Der Hund aus Rio Blanco hat mich angeschwärzt.«

Jäh brach er ab, wich einen Schritt zur Seite, hob beide Hände beschwörend und meinte:

»Ich verstehe Sie nicht, Doc. Was wollen Sie von mir? Ich habe nichts mit Ihnen zu tun, ich kenne Sie überhaupt nicht. Was wollen Sie von mir? Ich bin ein harmloser Mann und habe nichts mit Ihnen zu schaffen. Wirklich, ich kenne Sie nicht.«

»Ja, das sagtest du schon. Laß die Hände oben und dreh dich ganz langsam um.«

»Umdrehen? Weshalb?«

»Weil der Marshal es nicht gern hat, wenn man ihm den Rücken zukehrt.«

»Der Mar… shal?«

Ganz langsam wandte sich der Tramp um und blickte den Mann an, der drei Schritte vor ihm stand.

»Wyatt Earp!« entfuhr es ihm sofort.

»Hast du noch irgend etwas zu sagen?« kam es metallen von den Lippen des Marshals.

»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Earp. Was soll ich noch zu sagen haben? Überhaupt, wie meinen Sie das? Das hört sich ja gerade an, als ob…«

»Ja, genauso ist es auch gemeint!« entgegnete der Marshal schroff.

»Aber ich habe doch mit der ganzen Sache nichts zu tun! Ich habe weder auf Luke Short geschossen, noch war ich…«

»… in Syracuse dabei?« donnerte ihm der Marshal entgegen.

Der Mann wurde so blaß, daß die rote Narbe in seinem Gesicht geradezu schrie.

Stotternd krächzte er: »Aber das alles ist nicht wahr… das heißt… ich habe gar nichts damit zu tun! Bestimmt nicht! Ich kenne diese Leute gar nicht. Ich heiße Tom Gibbons und bin ein Handelsmann. Und mit der Bande habe ich nicht das geringste zu tun, ich kann es beschwören.«

Der Marshal blickte ihn aus kalten forschenden Augen eine volle Minute an. Dann kam es wie ein Urteil durch seine zusammengebissenen Zähne: »Du bist ein Galgenmann.«

Gibbons wich einen Schritt zurück, stieß gegen Holliday, sprang entsetzt wieder nach vorn, da er dessen Revolverlaufmündung im Rücken gespürt hatte, und plötzlich schlotterten seine Knie.

»Nein!« schrie er. »Nein!« Und plötzlich sackte er in sich zusammen, kauerte am Boden und stöhnte: »Er hat mich gezwungen. Gezwungen hat er mich!«

»Wer?« Der Marshal schoß ihm die Frage zu.

Ohne den Kopf zu heben, keuchte der Bandit:

»Ich habe neun Meilen nordöstlich von Syracuse eine kleine Farm. Es war am Abend, die Dunkelheit war schon hereingebrochen, und plötzlich stand ein Mann in meinem Hof zwischen Scheune und Gerätehaus…«

Niemand unterbrach ihn.

»Er trug eine Zipfelmaske, und ich starrte ihn wie ein Gespenst an. Aber ich wußte plötzlich genau, wer er war. Er war der Chief. Der Big Boß!«

»Seit wann gehörst du zu der Bande?« unterbrach ihn der Marshal rasch.

»Ich…« Er schüttelte den Kopf. »Ich – ich…«

Wieder spannte der Spieler den Revolverhahn, und das harte Klicken drang dem Banditen in die Ohren. Er beeilte sich zu erklären:

»Vor anderthalb Monaten war der Mann bei mir, der mich den Wisch unterschreiben ließ.«

»Was für ein Mann?«

»Ich kannte ihn nicht. Und kenne ihn auch nicht. Er trug ein graues Gesichtstuch, einen grauen Hut und einen grauen Anzug. Ich weiß nur, daß ich in der Nacht vorher in Syracuse mit ihm an einem Spieltisch gesessen haben muß und eine ganze Menge Dollars an ihn verlor, mehr als ich zahlen konnte. Ich stellte ihm einen Schuldschein aus. Am anderen Morgen erschien er bei mir mit dem Schuldschein. Er hielt mir einen zweiten Zettel hin, den er mich unterschreiben ließ. Als ich unterschrieben hatte, zerriß er meinen Schuldschein.

Ich hatte mein Todesurteil unterschrieben.

Es war ein ganz einfacher Wisch, auf dem zu lesen stand: Hiermit erkläre ich, daß ich mein Leben dem Geheimbund des Grauen Dreiecks verschreibe.

Dann geschah eine ganze Weile nichts. Bis zu dem Abend, wo der Mann mit der Maske plötzlich in meinem Hof stand. Erst hielt ich es für einen Spuk. Aber dann sprach er zu mir mit einer krächzenden, zischenden Stimme. Er befahl mir, sofort mit ihm zu kommen. Er war nicht allein. Draußen wartete ein zweiter Reiter auf ihn, der sein Pferd hielt. Das war der Hund aus Rio Blanco. Ich hatte auch ihn nie vorher gesehen. Wir ritten nach Syracuse. Ich weiß nicht, was er dort gesucht hat. Als wir in die erste Gasse einbogen, tränkte er sein Pferd an einem ausgehöhlten Baumstamm und…«

»Rede weiter!«

»Sie wissen das Weitere schon, Marshal.«

»Ja, ich weiß das Weitere schon, Gibbons, aber du wirst es mir erzählen.«

»Ich habe es nicht getan. Ich nicht! Es war der andere! Und jetzt habe ich nichts mehr zu sagen!«

»Wenn du nichts mehr zu sagen hast, Thomas Gibbons, dann halte ich dich für den Mörder von Sheriff Ferguson. Und als solcher wirst du im Morgengrauen gehängt.«

Der Marshal hatte es mit eisiger Ruhe gesagt.

Da sprang Gibbons auf, ballte die Fäuste und schrie:

»Es war der Mann aus Rio Blanco! Er hatte im Dunkel auf dem Vorbau gestanden und konnte von dem Sheriff nicht gesehen werden. Als der auf den Big Boß zuging und ihn anredete, riß der hasenschartige Halunke ein Messer hoch und stieß auf den Sheriff ein. Ich hörte Ferguson nur noch röcheln und sah dann, wie er gegen die Pferdetränke taumelte und neben ihr zusammensackte.«

Eine Stunde später standen die drei Westmänner oben im Korridor über der Schenke zum Lahmen Jimmy vor der Zimmertür des Marshals.

Der Mann aus Rio Blanco war von einem alten Feldscher behandelt worden. Das Geschoß des Spielers hatte ihm eine große Fleischwunde in den rechten Oberarm gerissen, die aber weder lebensgefährlich noch allzu schmerzhaft war. Dieser Mann war zäh wie Leder, er verzog nicht einmal das Gesicht, als der Arzt ihm die Wunde gereinigt und verbunden hatte.

Anschließend hatte Wyatt Earp noch einmal versucht, den Banditen zum Reden zu bringen.

Aber der Mann aus Rio Blanco schwieg.

Und Gibbons kauerte niedergeschlagen in der anderen Zelle, deren Schloß inzwischen repariert worden war.

Etwas sehr Entscheidendes hatte sich an diesem Tag ereignet: Ein Mann hatte in das Gesicht des Chiefs der Maskenmänner gesehen. Er hatte ihn angesehen, ohne zu ahnen, wen er da sah. Doc Holliday hatte so eine Beschreibung von dem Grauen Boß erhalten. Es war der wichtigste Fingerzeig, den Wyatt Earp seit Monaten bekommen hatte.

Der Bandenführer hatte seine Flucht von Dodge City bis hierher nach Colorado also nicht allein fortgesetzt. Er hatte unterwegs Leute mitgenommen.

Mitglieder seiner Bande! Diese Erkenntnis war geradezu niederschmetternd.

Hatte sich die Bande also schon wie ein Krebsgeschwür in diesem Land ausgebreitet? Gab es in Kansas jetzt auch schon Galgenmänner?

Daß ein Mann, wie der kleine Farmer Thomas Gibbons zu der Gang gezwungen worden war, war ganz sicher kein Einzelfall. Es wäre ein purer Zufall gewesen, daß der Marshal nun gerade auf einen Einzelfall gestoßen wäre. Die Werber der Bande schwirrten und schwärmten offenbar durch das ganze Land.

Wie eine Seuche breitete sich die Verbrecherbande in den westlichen Unionstaaten aus. Wenn hier eine Zusammenballung zerschlagen wurde, schienen an anderer Stelle die Graugesichter wie Pilze aus der Erde zu schießen.

In ohnmächtiger Verzweiflung standen die drei Westmänner auf dem von nur einer kleinen Wandlampe erleuchteten Korridor und blickten stumm vor sich hin.

Der Tex hatte die Arme ausgestreckt, er stützte sich mit der Rechten über dem oberen Türrahmen an der Wand und mit der Linken am Fensterbrett auf der gegenüberliegenden Korridorseite. Doc Holliday lehnte neben der Tür, und der Marshal stand in ihrem Rahmen.

Endlich öffneten sich die Lippen Wyatt Earps. Mit halblauter Stimme sagte er:

»Es ist fürchterlich und scheinbar aussichtslos. Ich weiß – trotzdem, ich reite morgen früh weiter.«

Er hob den Kopf, blickte zur Seite und sah auf das scharf geschnittene aristokratische Profil des Spielers, das von der neben ihm hängenden kleinen Kerosinlampe mit einem gelblichen Schimmer beleuchtet wurde.

Holliday rührte sich nicht.

Da blickte der Marshal den Texaner an.

Der zog die Schultern hoch, nahm die Hände von den Wänden und stand hilflos da.

»Sie müssen es wissen, Marshal. Sie sind der Boß.«

»Ich bin nicht Ihr Boß, Luke«, entgegnete der Missourier rauh.

»Reden Sie keinen Unsinn, Wyatt«, meinte der Tex bärbeißig, wobei er sich abwandte und mit seinem riesigen Kreuz das ganze gegenüberliegende Fenster verdeckte. »Sie sind natürlich der Boß. Und solange ich mit Ihnen reite, bleiben Sie es auch.«

Doc Holliday nahm mit einer hölzernen, seltsam müden Bewegung sein Etui aus der Tasche, öffnete es langsam, nahm eine Zigarette daraus hervor und schob sie zwischen seine Zähne, ohne sie jedoch anzuzünden.

»Haben Sie mal die Geschichte von dem spanischen Ritter gehört, der gegen die Windmühlenflügel anritt, Wyatt?«

»Ja, Doc, ich habe sie schon einmal gehört, und zwar aus Ihrem Mund. Und ich weiß, was Sie meinen – ich bin wie dieser spanische Ritter und renne gegen Windmühlenflügel an. Kann sein, daß Sie recht haben, ich will es nicht bestreiten. Aber ich habe keine Wahl, Doc. Es ist meine Pflicht, diesem Mann zu folgen. Und wenn hinter jedem Stein in diesem verdammten Land einer seiner Leute steckt, und hinter jedem Baum ein neuer auftaucht – ich muß ihm folgen.«

Damit wandte sich Wyatt Earp um und ging in sein Zimmer.

Luke Short riß ein Zündholz an der Decke an und hielt es dem Spieler vor die Zigarette.

Der schüttelte den Kopf und sagte leise: »Danke.« Dann blickte er kurz in das Zimmer des Marshals. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Doc.«

»Gute Nacht«, brummte der Texaner und schlenderte seinem Zimmer entgegen.

Jeder lag schlaflos auf seinem Bett, vollkommen angezogen, und starrte gegen die Zimmerdecke.

Hatte es überhaupt einen Sinn, diesem Phantom nachzujagen? Einem schattenhaften Vampir, der würgend, sengend und mordend durch dieses Land ritt, der immer wieder neue Reiter in die Sättel brachte, der anscheinend nur zu pfeifen brauchte, um immer wieder neue Ratten um sich zu sammeln!

*

Der Marshal war erst spät eingeschlafen.

Als er hochschreckte, dämmerte draußen der neue Tag. Es mochte kurz nach vier Uhr sein.

Wyatt sprang plötzlich auf, trat ans Fenster und blickte zum Sheriffs Office hinüber.

Drüben war alles still.

Trotzdem packte der Marshal seinen Hut, stülpte ihn auf das ungekämmte Haar, er schnallte sich den Waffengurt um, band seine Halsschleife und verließ sein Zimmer.

Als er auf den Korridor trat, sah er den Spieler drüben rauchend am Fenster lehnen und in den Hof hinunterblicken.

»Hallo, Marshal.«

»Hallo, Doc.«

»Geht’s los?«

»Seit wann stehen Sie denn hier?« antwortete der Marshal mit einer Gegenfrage.

Der Georgier wandte nicht den Kopf, sondern blickte unverwandt in den Hof hinunter.

Spott klang in seinen Worten mit, als er sagte:

»Figuren schleppen Sie mit sich rum! Der eine kriegt plötzlich um halb vier den Fimmel, in den Hof hinunterzugehen und die Gäule zu striegeln.«

»Was?« fragte der Missourier.

»Da, sehen Sie ihn sich doch an.«

Wyatt trat neben den Freund und blickte in den Hof hinunter.

Unten stand der Texaner mit aufgekrempelten Hemdsärmeln zwischen den beiden Rappen und war gerade damit beschäftigt, dem Falbhengst den Rücken zu striegeln.

»Er hat Pferde sehr gern, sagt er, und er kann es nicht sehen, wenn sie tagelang nicht gestriegelt werden«, erklärte der Spieler.

»Hat er Ihnen das gesagt?«

»Ja, als ich nämlich in der Tür erschien, weil ich seine Tür quietschen hörte.«

Sie gingen zusammen hinunter.

Als Luke Short den Missourier sah, meinte er, während er sich mit dem Striegel am Hinterkopf kratzte:

»Verdammt, habe ich Sie etwa auch geweckt?«

»Nein, nein, Luke, vielen Dank, daß Sie meinen Gaul poliert haben.«

»Ach was, ich konnte ganz einfach nicht schlafen, bin schon seit halb drei Uhr wach. Weiß auch nicht, weshalb.«

Sie erledigten die Arbeit gemeinsam, und dann ging der Marshal auf das Hoftor zu, öffnete es und blickte auf die stille Straße hinaus.

Plötzlich sah Doc Holliday, daß Earp sich in Bewegung setzte und auf das Sheriffs Office zuging. Der Marshal zog die Tür auf und betrat das Haus.

Doc Holliday und Luke Short standen im Hoftor und blickten gespannt auf die Tür des Sheriffs Office.

Nach einer halben Minute kam Wyatt Earp zurück und blieb an der Vorbaukante stehen.

Der Texaner rannte ihm entgegen. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Wyatt?«

Der Missourier sog die Luft ein und pumpte seinen mächtigen Brustkasten voll. Dann sagte er ganz leise:

»Der eine ist tot, und der andere ist fort.«

Mit einem Satz übersprang der Riese die Treppe, landete auf dem Vorbau und stieß die Tür auf. Auch Holliday trat heraus.

Als der Marshal zu ihnen kam, hatte sich eine tiefe Falte zwischen seine dunklen Augenbrauen gegraben. Schweigend blickte er auf die beiden Freunde.

Obgleich Wyatt nichts erklärt hatte, sagte der Spieler jetzt: »Der Tote ist Gibbons, nicht wahr?«

Der Missourier nickte. »Ja, der Mann aus Rio Blanco ist verschwunden.«

*

Ein dickleibiger, noch junger Mensch kam mit eiligen Schritten quer über die Straße auf die Gruppe der drei Westmänner zu. Er hatte ein gerötetes Gesicht und kleine listige Augen.

»Was ist passiert, Marshal?« rief er, wobei er die Hände nervös rieb.

»Wieso soll etwas passiert sein, Mr. Dean?« Forschend hafteten die Augen des Missouriers auf dem Gesicht Deans, den er am vergangenen Abend als den Mayor von Lamar kennengelernt hatte. Und plötzlich sagte er schnell: »Gibbons ist verschwunden, und der Mann mit der Hasenscharte ist tot.«

»Gibbons?« entfuhr es dem Bürgermeister. »Das ist doch absolut ausgeschlossen. Er ist doch…«

Mit einem Sprung war der Marshal vom Vorbau herunter und stand vor dem fettleibigen Mayor. Sein Gesicht war in diesem Augenblick wie aus braunem Marmor gehauen. Frostig kam es über seine Lippen:

»Haben Sie mir irgend etwas zu sagen, Mr. Dean?«

Der Mayor wich einen Schritt zurück, hob die Hände und rief theatralisch: »Ich verstehe nicht. Was soll ich Ihnen zu sagen haben? Ich bin ja selbst entrüstet, daß der Bursche entkommen ist.«

Doc Holliday, der ebenfalls den Vorbau verlassen hatte, stand jetzt hinter Dean und griff mit einer blitzschnellen Bewegung nach dessen linker Hosentasche, aus der ein winziger Tuchzipfel hervorgeblickt hatte, den er anpackte, und dann hatte er ein großes graues Halstuch in der Hand.

Der Mayor fuhr herum. »Was fällt Ihnen ein!« schrie er mit hochrotem Schädel.

Wyatt tippte ihm auf die Schulter. »Schreien Sie nicht, Dean. Es ist kein Grund vorhanden, die ganze Stadt zu wecken, wegen eines einzigen Galgenmannes.«

Die graue Farbe des Gesichtstuches schien auf das Gesicht Deans überzuwechseln. Seine Lippen zitterten plötzlich, und er senkte den Kopf.

»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Marshal«, hechelte er. »Ich habe mit der Sache nichts zu tun.«

Dann sah er, daß der Marshal plötzlich einen Revolver in seiner linken Faust hielt, jenen Colt, dessen Lauf wenigstens dreißig Zentimeter lang war. Die Mündung war genau auf seine Brust gerichtet.

Dean wollte zurückweichen, prallte aber gegen Holliday und blieb schlotternd auf weichen Knien stehen.

»Ich warte!« Mehr sagte der Missourier nicht.

Ohne den Kopf zu heben, stammelte der Mayor von Lamar:

»Ich habe mit dem Tod von Gibbons nichts zu tun. Der Mann aus Rio Blanco hat ihn erstochen.«

Wyatt Earp blickte den verräterischen Bürgermeister aus eiskalten Augen an, ohne etwas zu sagen. Der spürte den Blick, ohne aufzusehen und stotterte weiter: »Er hat mich gezwungen, der Big Boß. Plötzlich stand er in meinem Hausgang, als ich mich zur Ruhe legen wollte. Mit zischender Stimme befahl er mir, den Mann aus Rio Blanco aus dem Jail zu holen.«

»Seit wann gehören Sie zu der Bande?«

Da warf Dean den Kopf hoch und keuchte:

»Ich gehöre überhaupt nicht dazu, Marshal. Ich habe bisher nie etwas mit diesen Menschen zu schaffen gehabt. Aber als der Mann mit der Maske plötzlich in meinem Haus stand, wußte ich, daß ich gar keine Wahl hatte.«

»Nein, Sie hatten keine Wahl. Haben Sie keinen Eid auf die Verfassung der Unionsstaaten geschworen, Mr. Dean? Sie hatten absolut keine Wahl, denn es war nichts weiter als Ihre Pflicht, nach Gesetz und Recht zu handeln. Der Mann hat Sie bestimmt nicht zum Jail begleitet.«

»Nein, das hat er nicht. Aber ich wußte, daß er mir folgen würde.«

»Haben Sie ihn denn auf der Straße gesehen?«

»Das nicht. Aber wie er so plötzlich in meinem Haus aufgetaucht war, würde er auch auf der Straße neben mir aus dem Erdboden hochgekommen sein, wenn ich seinem Befehl zuwider gehandelt hätte.«

»Und Sie haben zugesehen, wie der Mann aus Rio Blanco Gibbons erstach?«

»Nein. Ich hatte ihn aus dem Jail befreit, wie es mir befohlen worden war, war schon in der Tür, als ich plötzlich den gurgelnden Laut hörte, mich umwandte und sah, wie der Hasenschartenmann Gibbons Zelle wieder verschloß.«

»Damit tragen Sie die Schuld an dem Tod Gibbons, Dean«, entschied der Marshal rauh. »Sie haben die Zellen geöffnet, beide.«

»Weil es mir befohlen worden war!«

»Befohlen«, kam es verächtlich von den Lippen des Missouriers. »Wer hat es Ihnen denn befohlen? Ein Bandit! Ein Verbrecherboß! Wenn Sie einem Verbrecherboß zu gehorchen haben, dann sind Sie selbst ein Verbrecher, Dean.«

Wieder sank der Kopf des verräterischen Bürgermeisters auf die Brust hinunter.

»Wo ist die Witwe des Sheriffs?«

Nur ein Achselzucken war die Antwort.

Da packte Wyatt den fettleibigen Mann an der Schulter und schüttelte ihn derb.

»Reden Sie, Mensch, wenn Sie sich nicht noch eine Ohrfeige einhandeln wollen.«

»Ich weiß es nicht«, jammerte Dean. »Die Frau schläft ja nicht im Office. Sie wohnt in einem kleinen Bau unten am südlichen Stadtrand.«

Als die Alte von dem Verbrechen erfuhr, war sie sofort bereit, die Verfolgung des Mörders aufzunehmen. Der Marshal hatte alle Mühe, sie von diesem Vorhaben abzubringen.

Es war kurz vor sechs, als die drei Westmänner die Stadt verließen.

Sie ritten nach Westen. Zwar hatten sie nicht die geringste Spur entdecken können, aber da die Flucht des Chiefs sich bisher nach Westen gezogen hatte, war anzunehmen, daß er weiter in dieser Richtung reiten würde.

Wyatt Earp hatte geahnt, daß der Geheimbund der Maskenmänner keineswegs zerstört war, als er Camp Ladore ausgehoben hatte. Er hatte damit gerechnet, daß der Big Boß eine neue Bande in die Sättel brachte. Aber daß es diesem Mann auch ohne solchen Rückhalt gelang, sich die Menschen untertan zu machen, die er für seine verbrecherischen Vorhaben brauchte, daß sein bloßes Auftauchen sogar in dieser Gegend, in der er noch niemals gewesen war, genügte, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und damit zu seinen Knechten zu machen, das war eine erschütternde Feststellung.

Da wurde ein bisher unbescholtener Mann, ein Mayor, aus Angst zum Verbrecher.

Wie viele solcher Menschen gab es in diesem Land? Ihre Zahl mußte Legion sein. Denn die Angst vor dem Grauen Gespenst war ungeheuerlich. Es zeigte sich jetzt ganz deutlich, daß die Menschen über den Mann, der sie zu verbrecherischen Handlungen trieb, nicht erst nachdachten, sondern sein Auftauchen ihnen einen derart panischen Schrecken einjagte, daß sie kopflos taten, was er ihnen gebot.

Es ging nun also nicht bloß um den Mann, der wie der Tod durch den Westen ritt, sondern mehr noch um die Fama, die ihm vorausjagte, die Legende, die ihn umgab, den Schrecken, den er verbreitet hatte und der wie ein Gewittersturm vor ihm her zu fegen schien.

Hätten die Menschen nachgedacht, wären sie zu der Einsicht gekommen, daß sie es hier mit einem einzelnen Mann zu tun hatten, dann hätte sich doch einer von ihnen zur Wehr setzen müssen, zumindest hätte es einer von ihnen versucht… Aber sie dachten nicht nach. Die Angst ließ ihnen keine Zeit dazu, sie saß ihnen wie eine Eisenklammer im Nacken und lähmte ihr Gehirn.

Sie ritten über Ford Lyon nach Las Animas, einer Stadt, in der Doc Holliday vor Jahren einen schweren Kampf durchgestanden hatte.

Von dort hielten sie über Ly Junta nach Rocky Ford.

Hier beschlossen sie, wieder in verschiedene Richtungen zu reiten. Wyatt Earp ritt hinauf nach Norden, nach Ordway ins Crowley County, der Texaner hinunter nach Timpas, und Doc Holliday blieb auf der Straße nach Westen. Sie hatten beschlossen, in der Ansiedlung Nepesta wieder zusammenzutreffen.

Als Wyatt Earp die kleine Stadt erreichte, sah er im Abendsonnenschein den Texaner vor dem ersten Haus auf einem Baumstumpf sitzen.

»Wo ist der Doc?«

Der Texaner schob sich den Hut aus der Stirn und entgegnete:

»Keine Ahnung.«

Sie ritten zusammen in die Stadt. Bei der ersten Schenke glitt der Marshal aus dem Sattel, warf dem Tex die Zügelleinen zu und betrat den Schankraum, der im Halbdämmer des Abends lag.

Hinter der Theke stand eine junge Frau, die ihm aus müden Augen entgegenblickte.

»Ich war hier mit einem Freund verabredet«, begann Earp. »Er trägt einen schwarzen Anzug und…«

»Ja, er war hier«, sagte das Mädchen rasch. »Er hatte fürchterliche Zahnschmerzen, und ich soll Ihnen sagen, daß er deshalb nach Pueblo weiterreiten mußte, wo ein Zahndoktor wohnt.«

»Aha«, entgegnete der Marshal. »Ja, das ist richtig, er hatte damals schon Zahnschmerzen. Vielen Dank, Miß.« Er nahm ein kleines Geldstück aus dem Gurt und warf es aufs Thekenblech.

Draußen schwang er sich sofort in den Sattel und sprengte, von dem Tex gefolgt, im Galopp aus der Stadt.

Als sie dann auf der Overlandstreet nebeneinander ritten, berichtete Wyatt, was er in Erfahrung gebracht hatte.

»Er muß einen verdammt wichtigen Grund gehabt haben, weiterzureiten«, fand der Texaner.

»Ganz bestimmt«, versetzte Wyatt. »Mir ist übrigens unterwegs eingefallen, woher mir der Mann mit der Hasenscharte bekannt vorkam. Wir haben oben in Shoshone und auf dem Navajo Field einen Burschen namens Jeff Baines kennengelernt. Ich wette, daß dieser Kerl aus der gleichen Familie stammt. Er ist schon der dritte

Baines, den wir kennenlernen. Die beiden anderen hatten ebenfalls mit der Graugesichterbande zu tun.«

»Dieser hier scheint sich auf die Messerstecherei spezialisiert zu haben«, knurrte der Texaner. »Wenn ich den Burschen zwischen meine Finger kriege, zerquetsche ich ihn zu Apfelmus.«

Der Weg nach Pueblo führte über eine breite Overlandstraße. Dreiunddreißig Meilen nach Nordwesten, eine Strecke, für die man normalerweise gut einen halben Tag brauchte. Die beiden Dodger legten sie so rasch zurück, daß sie die Stadt noch vor Mitternacht erreichten.

Wo jetzt den Spieler finden?

Luke Short sprach diese Frage aus, als sie die breite Mainstreet der großen Stadt vor sich sahen.

Der Marshal entgegnete ruhig: »Machen Sie sich keine Sorgen darüber. Die hat sich der Doc schon gemacht, und wie ich ihn kenne, wird er zu einer Lösung gekommen sein.«

Auf diese Lösung brauchten sie wahrhaftig nicht lange zu warten. Denn als sie das zweite Haus passierten, lief ihnen ein grauhaariger, gebeugter Neger entgegen, der dem Marshal halblaut zurief: »Mister, ich habe Ihnen etwas von Ihrem Freund zu bestellen.«

Wyatt stieg ab und blickte den Alten fragend an.

»Sie sollen mit dem Keeper in der Colorado Bar sprechen.«

»Thanks, schwarzer Mann.« Der Marshal drückte ihm eine kleine Münze in die Hand und stieg wieder in den Sattel.

Zehn Minuten später stand er an der Theke der großen Colorado Bar, der größten Schenke der Stadt. Ein rothaariger Ire hantierte hinter der Theke, und als er den Marshal sah, wischte er sich an der Schürze die Hände ab, kam auf ihn zu, beugte sich über den Tresen und raunte ihm zu:

»Der Doc ist nach Pinon geritten.« Das war eine Stadt, die neun Meilen nördlich von Pueblo entfernt lag. »Er war schon unten in Minnequa und auch in Livesey. Er kommt noch vor Mitternacht zurück.«

Der Marshal bedankte sich, verließ die Schenke und wartete mit Luke Short in deren Hof.

Als es etwa zwölf Uhr war, meinte der Texaner:

»Na, ich glaube, das wird er nicht einhalten können.«

Da schlug es von der presbyterianischen Kirche Mitternacht. In diesem Augenblick drang harter Hufschlag an die Ohren der beiden Wartenden und verstummte vor dem Hoftor. Gleich darauf tauchte die Gestalt des Spielers vor ihnen auf. Man sah nur seine weiße Hemdbrust in der Dunkelheit hell schimmern.

Die beiden gingen dem Gefährten entgegen.

Doc Holliday berichtete in aller Kürze:

»Ich habe in Elder die Spur von Baines gefunden. Es muß einer der Halunken aus der Baines-Familie von Rio Blanco sein, mit denen wir oben in Shoshone zu tun hatten. Ich habe da erfahren, daß er nach Pueblo geritten ist. Ein angetrunkener Digger hat es mir anvertraut. Ich hielt es für das beste, keine Zeit verstreichen zu lassen und ritt sofort hierher. Aber wie erwartet, war die Spur zwar noch vor der Stadt, nämlich in Devine, zu finden, wo Baines mit einem Blacksmith gesprochen hat, aber in der Stadt selbst verlor sie sich. Ich war unten in Minnequa und bin dann auch nach Westen geritten und hinauf nach Pinon. Wenn er die Stadt verlassen hätte, müßte er eine dieser Straßen benutzt haben. Ich weiß, daß er sie nicht benutzt hat. Er ist also noch in der Stadt.«

Und wenn der Rio Blancoman noch in Pueblo war, so lag die Vermutung nahe, daß sich auch der Big Boß in der Stadt aufhielt.

Die drei Westmänner gönnten sich keine Ruhe in dieser Nacht. Jedes Boardinghouse wurde aufgesucht und jede Schenke. Überall, wo es ein Zimmer zu vermieten gab, hielten sie Nachfrage. Sie bekamen mancherlei mürrische Gesichter zu sehen und manchen Fluch von aufgeweckten Vermietern zu hören.

Als der Morgen graute, standen sie im westlichen Teil der Mainstreet hinter dem kleinen Feuerhaus und sprachen mit einem Mietstallpeon, der ihnen eine interessante Mitteilung zu machen hatte:

»Der Mann mit der Hasenscharte hat bei mir hinten in der Futterkammer geschlafen. Er hat mir drei Dollar dafür gegeben. Aber er gefiel mir nicht. Und ich habe ihm die drei Dollar zurückgegeben.«

»Wann hat er die Futterkammer verlassen?«

»Das ist knapp eine halbe Stunde her.«

»Und wissen Sie, wo er sich hingewandt hat?«

»Nein, das weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß er nicht allein war, denn als er aus der Futterkammer kam, war ein anderer bei ihm.«

»Und wie sah der aus?«

In atemloser Spannung blickten die drei Westmänner den Stallknecht an.

Der zog nur die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken.

»Ich weiß es nicht. Sie verließen den Hof hinten durch die Pforte.«

Leider ließ er sich von dem Bericht eines alten Mannes täuschen, der ihm zehn Minuten später erklärte, er hätte zwei Reiter beobachtet, die die Stadt auf der Straße nach Pinon verlassen hätten.

Während der Marshal und Doc Holliday auf die Straße zuhielten, blieb der Texaner in der Stadt.

An der ersten Pferdewechselstation erfuhren sie von einer jungen Frau, die schon früh mit der Wäsche am Fluß begonnen hatte, daß hier noch kein Reiter vorübergekommen sei. Sie hätte ihn unbedingt sehen müssen, da sie seit dem Morgengrauen hier arbeitete.

Der Marshal hatte das Gefühl, daß er der Frau Glauben schenken konnte, und er kehrte um.

Als sie die Stadt wieder erreichten, war es acht Uhr geworden.

Wieder stand er mit den Gefährten im Hof des Mietstalles an der Pforte und blickte auf die schmale Gasse hinaus.

Plötzlich griff er sich an den Schädel, zog die beiden Gefährten von der Pforte zurück in den Hof und sagte:

»Die Schule! Sie sind in der Schule!«

Doc Holliday warf den Kopf herum und musterte das große zweigeschossige Haus, das schräg gegenüber lag und dessen Hof auf der anderen Seite auf die kleine Gasse mündete.

Dann nickte der Spieler. »Ja, sie müssen in der Schule sein, es kann gar nicht anders sein. Das Versteck wird ihnen hundertprozentig erscheinen.«

Holliday zog seine Uhr und meinte dann mit rauher Stimme:

»Die Kinder sind schon drin.«

Die drei Westmänner verließen den Hof, gingen um den Mietstall herum, bis sie an der Straßenecke standen, von der aus sie die ganze Vorderfront des Schulhauses sehen konnten.

»Luke, schnell drüben auf die andere Seite! Doc…«

Es war unnötig, dem Spieler weitere Anweisungen zu geben, er war schon unterwegs, um den Posten jenseits des Schulhofes zu beziehen.

Wyatt Earp selbst blieb vorn auf der Mainstreet. Er sah Luke Short drüben in einem Hausgang der Quergasse verschwinden.

Und dann geschah es auch schon.

Aus dem Obergeschoß des Schulhauses peitschte ein Schuß auf die Mainstreet, der die Menschen zusammenschrecken ließ.

»Earp!« dröhnte dann eine heisere Stimme auf die Straße hinaus, ohne daß ihr Besitzer zu sehen war. »Ich will dir etwas sagen.«

»Rede!« entgegnete der Marshal.

»Ihr drei verschwindet jetzt. Und zwar auf der Straße nach Pinon! Ich kann euch oben vom Schulhaus aus beobachten. Wenn ihr nicht auf der Straße bleibt und nebeneinander reitet, lasse ich die ganze Schule in die Luft gehen! Falls du mir nicht glaubst, so…«

»Doch, Bandit, ich glaube dir schon!« rief der Marshal zurück. »Du willst das Schulhaus in die Luft sprengen wie das Waisenhaus in Dodge City.«

Es blieb einen Augenblick still.

Wyatt Earp glaubte keineswegs, mit dem Big Boß der Galgenmänner zu sprechen. Selbst wenn dieser Bandenführer auf seiner Flucht von den Strapazen ermattet gewesen wäre, er hätte sich nicht einmal hier, in die Enge getrieben, dazu bereitgefunden, mit lauter Stimme mit dem Gegner zu sprechen. Der Chief gab sich niemals verloren. Auch in dieser Situation nicht.

»Laß die Kinder aus dem Haus!« rief der Marshal, und wußte doch im gleichen Augenblick, daß es eine sinnlose Forderung war.

Und schon brach die dröhnende Lache des Galgenmannes auf die Mainstreet hinaus:

»Du mußt verrückt sein, Earp. Die Kinder werden bewacht, und sie werden nicht eher aus dem Haus gelassen, als bis ich euch auf der Straße nach Pinon sehe. Ich kann die Straße weithin beobachten, sie steigt etwas an. Wenn ihr dieser Aufforderung nicht nachkommt, lasse ich den ganzen Laden hier in die Wolken fliegen!«

»Du mußt wahnsinnig sein, Bandit!«

»Das laß meine Sorge sein, Sternschlepper. Ich gebe dir genau eine Minute Zeit zum Überlegen. Wenn du dann noch da stehst, fliegt die Bude in die Luft.«

Der Marshal überlegte blitzschnell. War es nur ein Bluff? Oder war die Drohung des Galgenmannes ernst zu nehmen?

In Anbetracht dessen, was in Dodge City geschehen war, konnte der Missourier an dem Ernst dieser Worte nicht zweifeln. Er konnte es nicht riskieren, eine Schar von Schulkindern in höchste Lebensgefahr zu bringen. Selbst der Gedanke, daß die Galgenmänner davor zurückschrecken würden, sich selbst mit in die Luft zu jagen, konnte ihn nicht veranlassen, das Leben der Kinder auch nur einen Augenblick zu gefährden.

»In Ordnung, Bandit, wir reiten!«

Da stieß drüben der Texaner einen Fluch aus und brüllte:

»All right, wir reiten, weil der Marshal das so will. Aber das sage ich dir, du hasenschartiger Halunke, wenn ich dich erwische, schlage ich dich platt wie eine Flunder, verlaß dich drauf!«

Wütend stampfte er aus der Gasse und kam auf den Marshal zu, die Gefahr nicht achtend, in der er sich befand, denn wie leicht hätte der Galgenmann von oben auf ihn schießen können.

Aber das riskierte der Bandit doch nicht, denn er mußte damit rechnen, daß es den Männern unten auf der Straße gelang, die Barrikade, die er sich oben hinter dem Fenster aufgebaut hatte, zu zerschießen. Vielleicht traute er dieser Deckung nicht allzu sehr.

»Wir müssen den Doc holen«, meinte der Marshal. Er wollte sich eben auf den Weg machen, als er den Spieler hinter dem Hof der Schule auftauchen sah.

Zehn Minuten später ritten die drei Männer auf der Straße nach Pinon, links die unverkennbare Riesengestalt des Texaners, rechts ein Mann im schwarzen Habit des Georgiers und in der Mitte der Falbreiter.

Der Beobachter oben in der Dachluke des Schulhauses verzog sein hasenschartiges Gesicht zu einer Grimasse, und der Bursche, der neben ihm durch die Luke linste, meinte:

»Ja, das sind sie, ich erkenne das schwarze Kalbslederzeug des Marshals genau, und es ist auch sein Gaul. Und wenn links der Halunke nicht der Texaner ist, fresse ich einen Besen! Den Doc würde ich auch auf zehn Meilen hin erkennen.«

Die beiden Banditen stürmten die Treppen hinunter.

Unten vorm Schultor stand der dritte Mann. Es war ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, groß, breitschultrig, mit harten pulvergrauen Augen. Er trug ein graues Tuch um die untere Hälfte seines Gesichts. Als er die beiden anderen sah, fragte er:

»Nun?«

»Sie sind weg, sie reiten nach Pinon.«

»Ihr hättet länger beobachten müssen«, knurrte er.

»Unnötig, sie sind es. Und sie können es nicht wagen umzukehren, weil sie genau wissen, daß wir sie sehen können. Sie müssen wenigstens bis Pinon reiten. Und wie ich den Marshal kenne, setzt er diese Schulgören nicht aufs Spiel.«

»Also los«, meinte der Mann mit dem grauen Gesichtstuch, stieß das Tor auf und spähte auf die Straße hinaus.

»Gibs, du holst die Gäule«, rief er dem Burschen zu.

Der verließ das Schulhaus durch den Hof.

Der alte grauhaarige Lehrer, der verzweifelt versucht hatte, die Kinder zu beruhigen, tauchte im Korridor auf.

Da fuhr der Mann mit der Hasenscharte herum und riß den Revolver hoch: »Verschwinde, sonst knallt es!«

Der Lehrer ging in den Schulraum zurück und tat das, was er die ganze Zeit über getan hatte: er tröstete die Kinder. Immer und immer wieder hatte er gesagt: »Wir brauchen keine Angst zu haben, Kinder, draußen ist Wyatt Earp, er wird uns nicht im Stich lassen.«

Der Mann mit dem grauen Gesichtstuch spähte durch einen Spalt des Tores auf die Straße hinauf.

»Nichts zu sehen«, flüsterte er.

Der Rio Blanco Mann stand an der Treppe, der andere Bursche an der Tür, die in den Hof hinaufführte.

»Er soll die Pferde holen«, zischte der Mann mit dem grauen Gesichtstuch.

Aber Baines krächzte: »Warte doch! Du kennst den Wolf Earp nicht. Er kann uns eine Falle gelegt haben.«

»Wie denn? Du sagst doch selber, daß er nach Pinon reitet.«

»Das schon. Dennoch kann er uns hier einen Hinterhalt gelegt haben.«

»Wie denn?« krächzte der andere und zog sein graues Gesichtstuch herunter.

Ein Gesicht von abstoßender Häßlichkeit kam zum Vorschein. Die gelbliche Haut war von Blatternarben übersät. Strichdünn war der kleine Mund und so aufgeworfen die Nase, daß man in ihre Löcher hineinsah. Die schmalen grauen Augen trugen nicht dazu bei, die Härte und Gefährlichkeit dieses Gesichts zu mildern. Auf abstehenden Ohren schien die Hutkrempe zu liegen, und das rostige aschblonde Haar wuchs hinten in den Kragen hinein.

Dieser Mann war der Schellenleger Boston Fairbanks aus Pueblo. Er hatte vor zwei Jahren einen Kameraden im Streit am Schienenstrang erschlagen und war deshalb vom Gericht zu fünfzehn Jahren Straflager verurteilt worden. Nach anderthalb Jahren aber schon hatte man ihn aus dem Lager entlassen, da er daheim eine zehnköpfige Familie hatte, neun Kinder, die ohne den Vater verhungern mußten. Außerdem hatte sein Bruder, der Reverend von Pueblo, für ihn gebetet und sich für ihn verbürgt.

Danach hatte sich Fairbanks daheim still verhalten. Genau bis zu dem Augenblick, in dem der Mann mit der Maske ihm im Hof plötzlich gegenübergestanden hatte.

Woher der Maskenmann von ihm wußte, war Fairbanks schleierhaft. Jedenfalls befahl der Große Chief des Geheimbundes ihm, dafür zu sorgen, daß der verletzte Baines irgendwo in Sicherheit gebracht wurde. Er befahl ihm weiter, noch mehr Leute aufzutreiben, die den Marshal hier in der Stadt festzuhalten hätten.

Fairbanks, der eingeschüchtert war, da er wußte, wer ihm da gegenüberstand, versprach zu gehorchen.

»Du wirst auf jeden Fall gehorchen«, drohte ihm der Maskenmann, »sonst lebst du keine drei Tage mehr.«

Als der Maskenmann verschwunden war, hatte Fairbanks sofort einen Burschen namens Richardson aufgetrieben, der draußen in den Slums wohnte und von dem er, wie es unter Banditen üblich war, Dinge wußte, die Kid sehr gern ungeschehen gemacht hätte.

Richardson und Fairbanks wollten den Mann aus Rio Blanco in einem Haus draußen am Stadtrand unterbringen, als sie erfuhren, daß Doc Holliday in der Stadt aufgetaucht war.

Baines machte sich in panischer Hast sofort davon und kroch in dem Mietstall unter, wo er im Morgengrauen von Fairbanks abgeholt wurde.

Da die Galgenmänner inzwischen herausbekommen hatten, daß Wyatt Earp in der Stadt war, beschlossen sie, sich in der Schule zu verschanzen.

Der Mann aus Rio Blanco war auf diesen Gedanken gekommen, der Mörder des Sheriffs von Syracuse. Die drei Galgenvögel hatten den Plan sofort in die Tat umgesetzt und die Schule besetzt. Ahnungslos liefen ihnen die Kinder und Lehrer in die Fänge.

Jetzt standen sie in dem schmalen Korridor, Fairbanks an dem Tor zur Straße und Kid Richardson an der Tür, die in den Hof führte. Baines lehnte an der Treppe. Die Wunde am Arm machte ihm mehr zu schaffen, als ihm lieb war.

Da wurde die Tür des Schulraumes geöffnet, und ein kleiner Bursche mit schwarzem Haar lief auf den Gang hinaus.

Baines packte ihn sofort am Arm, riß ihn zu sich herum und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die den Burschen an die Erde warf. Weinend erhob sich der Kleine.

»Ich muß in den Hof.«

»Halt den Mund!« herrschte ihn der Verbrecher an.

»Ich muß in den Hof«, wimmerte der Junge.

Da erschien die gebeugte Gestalt des Lehrers in der Tür.

»Sie sollten sich schämen!«

Da riß der Verbrecher ein Messer aus dem Stiefel. Flammender Zorn verdunkelte seine Augen.

»Verschwinde, Schulmeister, und paß auf die Bande da auf!«

»Soll der kleine Junge seine Notdurft vor all den anderen Jungen und Mädchen im Schulraum verrichten müssen?« Die Stimme des Lehrers bebte vor Empörung.

Da kam Baines wie ein Riesenaffe auf ihn zu, mit gebogenen Beinen und tief hängenden Armen.

Der alte Lehrer wich in den Schulraum zurück.

Die Kinder begannen zu schreien.

Und auf der Straße nach Pinon ritten die drei Männer.

Aber nur einer von ihnen war echt, nämlich der Texaner. Seine Riesengestalt hatte sich in Pueblo nicht ersetzen lassen.

Knurrend meinte er jetzt zu seinen beiden Begleitern:

»Dreht euch nicht um, Boys! Ihr wißt, was der Marshal gesagt hat. Wir reiten schön langsam weiter. Immer der Nase nach.«

Im Sattel des Falbhengstes saß ein Mann, der etwa die Größe des Marshals hatte, aber das war auch alles, was er mit dem Missourier gemeinsam hatte. Im übrigen war der Sattelmacher, neunundzwanzig Jahre alt, hatte vier Kinder und bangte in tiefster Seele darum, daß seine Frau erfahren könnte, worauf er sich da eingelassen hatte. Der dritte Mann im Bunde war Jose Ramirez, der Keeper aus dem Silberdollar-Saloon gleich neben dem Stationshaus von Pueblo.

In fliegender Eile hatten Wyatt Earp und Doc Holliday die beiden Männer aufgetrieben, sie in ihre Kleider gesteckt und auf ihre Pferde gesetzt mit dem Auftrag, den Texaner nach Pinon zu begleiten.

Glücklicherweise waren die beiden Männer dazu bereit gewesen – allerdings erst, als der Georgier jedem von ihnen eine Geldnote in die Hand gedrückt hatte.

Um keinen Preis der Welt wäre der Marshal Earp bereit gewesen, die Forderung der Banditen wirklich zu erfüllen. Aber der Schein war gewahrt, der Bluff klappte ausgezeichnet.

Es war Kid Richardson, der jetzt die Nerven verlor. Er brüllte in den Hausgang:

»Laß ihn doch, Baines. Komm, wir müssen weg!«

Da wandte sich der Mann aus Rio Blanco um. Seine Hasenscharte zuckte.

»Was fällt dir ein, Bursche? Seit wann gehörst du zu uns? Du hast zu gehorchen, verstanden?«

»Er hat aber recht«, krächzte Fairbanks von der Tür.

»Laß uns verschwinden.«

»Wir verschwinden, wenn ich es befehle!« schrie der Mann aus Rio Blanco.

Da riß Richardson die Hoftür auf und sprang hinaus. In weiten Sätzen lief er hinüber zum Stall, zerrte seinen Braunen heraus, schwang sich in den Sattel und wollte zum Hoftor.

Da versperrte ihm Baines den Weg.

»Steig ab!« befahl er.

»Was soll das, was wollen Sie?«

Fairbanks hatte seinen Posten im Korridor wohl oder übel verlassen und erschien ebenfalls im Hof.

»Hören Sie, Baines. Ihr Boß hat mir aufgetragen, für Sie zu sorgen, und nichts anderes werde ich tun. Er hat mir nicht den Auftrag gegeben zuzulassen, daß Sie meinen Freund angreifen.«

Der Mann aus Rio Blanco stand mit ganz wachsbleichem Gesicht vorm Tor.

»Mein Pferd«, schnarrte er im Befehlston.

Kid Richardson stieg ab und lief noch einmal zum Stall zurück. Er kam jetzt mit beiden Pferden zurück. Auch den Grauen von Fairbanks brachte er mit.

»Und jetzt raus!« knurrte der Bursche.

Aber Baines versperrte ihm den Weg.

»Ihr seid wahnsinnig! Ihr kennt ihn nicht! Ich habe euch schon gesagt, er kann uns eine Falle gestellt haben.«

»Was soll er uns für eine Falle gestellt haben? Er ist doch verschwunden.«

Da drängte Kid Richardson Baines zur Seite, stieß das Tor auf – und hielt wie gelähmt inne.

Drei Yard vorm Tor auf der Mainstreet stand Wyatt Earp. Er trug einen an ihm völlig ungewohnten braunen Samtanzug und einen hellen Hut. In der linken Faust hielt er seinen schweren Buntline Special.

Eisige Kälte stand in seinen Augen.

Die drei Verbrecher verharrten wie angewachsen am Tor.

Es war der Mann aus Rio Blanco, der sich zuerst faßte. Er warf sich herum und wollte durch den Hof flüchten.

Da jumpte hinten über die niedrigste Stelle der Fenz ein Mann, der einen hellgrauen Anzug und einen hellen Hut trug – und dennoch unverkennbar Doc Holliday war.

Obgleich der Spieler keine Waffe gezogen hatte, verhielt der Galgenmann mitten im Lauf den Schritt und zog im gleichen Augenblick aus dem Stiefel ein Messer.

Sirrend flog die Wurfklinge durch die Luft und blieb dicht neben dem Kopf des Georgiers in einen Brett der Fenz federnd stecken.

»Schlecht bei Wurf heute, old man?« kam es spöttisch von den Lippen des Gamblers. Und dann fügte er mit einer Stimme, die an brechendes Glas erinnerte, hinzu:

»In Syracuse und Lamar klappte das besser!«

Baines rührte sich nicht. Seine langen Arme hingen wie bei einem Riesenaffen an seinen Körperseiten herunter, er senkte den Kopf tief auf die Brust.

Der Mann aus Rio Blanco hatte aufgegeben.

Wyatt Earp Staffel 14 – Western

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