Читать книгу Wyatt Earp 15 – Western - William Mark D. - Страница 6

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Die Hitze flimmerte in den gelbbraunen Straßen Tombstones. Wabernd stand sie zwischen den graubraunen Kistenholzhäusern, und die Farbe auf den Vorbaubalken zog große Blasen.

Es war kurz vor Mittag.

Die Allen Street war menschenleer.

Tombstone schien zu schlafen.

Da kam von Westen her ein Reiter in die Stadt. Fast schattenlos bewegte er sich vorwärts. Es war ein Mann in den dreißiger Jahren, breitschultrig, untersetzt, mit kantigem Gesicht, gelbbraunen Augen, angegrautem Haar, breiter Nase, schmallippigem Mund und weitvorspringendem Kinn. Er trug ein leuchtendgelbes Hemd und ein schreiendrotes Halstuch. Seine Hose war aus hellblauem verwaschenem Leinen, und unter dem Gürtel trug er schräg zur linken Hüfte einen abgewetzten Waffengurt, der einen schweren fünfundvierziger Revolver hielt.

Auffällig war eigentlich nichts an dem Fremden, es sei denn die Tatsache, daß er weißgelbe Wapitilederhandschuhe trug, die man zu dieser Jahreszeit nicht einmal oben im Norden des Landes zu tragen pflegte. Vielleicht wäre einem scharfen Beobachter auch aufgefallen, daß er sein kurzläufiges Rambleygewehr steil im Lederschuh und nahe der linken Hand stecken hatte.

Die Zügelleinen hielt er locker in der Hand, und sein Blick war auf die falbfarbene Mähne seines Wallachs gerichtet. Er schien müde zu sein und einen weiten Ritt hinter sich zu haben.

Erst etwa auf der Höhe des O.K.-Corral-Mietstalles, dessen Office zur Allen Street hinaus lag, hob er einmal den Kopf und musterte den Mann, der da, von der Sonne in ganzer Länge getroffen, am Rand des Vorbaues stand.

Es war ein hochgewachsener Mensch mit tiefbraunem markantgeschnittenem Gesicht und dunkelblauen Augen. Er trug ein offenes weißes Hemd hielt in der Rechten seinen flachkronigen Hut. Gerade strich er sich mit der Linken sein volles blauschwarzes Haar zurück und warf einen forschenden Blick über die Straße. Seine langen Beine steckten in enganliegenden schwarzen Levishosen, und unterm Gürtel trug er einen breiten büffelledernen Waffengurt, der an beiden Hüftseiten je einen schweren fünfundvierziger Revolver hielt.

Der Fremde hatte den Mann auf dem Vorbau nur für den Bruchteil eines Augenblicks gemustert – und wußte doch sofort, wer da stand: Marshal Wyatt Earp!

Und Jake Coogan sah noch mehr. Er sah auch den Mann, der hinter dem Marshal im Halbdunkel des Türganges lehnte.

Es war ein elegant gekleideter Gent, dessen Gesichtsschnitt etwas Aristokratisches an sich hatte, das nicht so recht in dieses Land passen wollte. Es war ein scharfgeschnittenes Gesicht, das von einer verblaßten Bräune bedeckt war und von einem eisblauen Augenpaar beherrscht wurde. Der Mann trug einen schwarzen Anzug und ein blütenweißes Hemd, das trotz der sengenden Hitze von einer sauber gebundenen Samtschleife zusammengehalten wurde.

Jake Coogan kannte auch diesen Mann genau – ohne ihn überhaupt richtig gesehen zu haben. Es konnte ja nur Doc Holliday sein, jener gespenstische ehemalige Bostoner Arzt, der sich seit einem Jahrzehnt im Westen aufhielt und als Gambler im ganzen Land einen Namen errungen hatte, der wohl nur noch von seinem Ruf als Gunman übertroffen wurde.

Coogan blickte längst wieder auf die Mähne seines Wallachs. Er hatte den Mietstall jetzt passiert und spürte den Blick des Marshals im Genick.

Wyatt Earp setzte seinen Hut auf und sagte, ohne sich nach dem Spieler umzudrehen:

»Ein Linkshänder.«

Und sofort bewies der Spieler, daß er eine ungeheuer scharfe Beobachtungsgabe besaß.

»Nur Linkshänder – weil seine Rechte lahm ist.«

Da wandte der Missourier den Kopf.

»Sind Sie sicher?«

»Yeah«, entgegnete der Georgier. »Die Rechte ist tot. Sehen Sie, wie steif er den Daumen in den Gurt gehakt hält. Das ist typisch für Halbgelähmte. Und außerdem…«

»Die Handschuhe!« unterbrach ihn der Marshal.

»Richtig. Er muß sie beide tragen, um die höchstwahrscheinlich verunstaltete Rechte zu verbergen.«

»Verdammt geschickt macht er das. Aber wie man sieht, eben doch noch nicht geschickt genug.«

Holliday trat jetzt neben den Marshal auf den Vorbau.

»Ich bin überzeugt, daß es so leicht niemand merkt.«

Er nahm sein goldenes Etui aus der Tasche und zog eine seiner langen russischen Zigaretten daraus hervor. Während er das Zündholz am Daumennagel der gleichen Hand, in der er es hielt, anriß, sagte er: »Er hat Sie erkannt.«

»Ja«, antwortete der Marshal, und sein Blick folgte dem Fremden, »mich – und Sie auch.«

Holliday nickte, wischte mit der Linken die blaue Tabakswolke auseinander, die vor seinem Gesicht stand, und sah nun dem Mann mit dem gelben Hemd nach.

»Er steigt beim Crystal Palace ab.«

Der Spieler hatte recht, Jake Coogan glitt beim Zügelholm vor der großen Bar aus dem Sattel, und selbst jetzt konnte nur ein außerordentlich waches Auge feststellen, daß er tatsächlich die rechte Hand nicht benutzte.

Während Coogan die Zügelleinen um das durchhängende ausgetrocknete Querholz schlang, glitt der Blick seiner opalfarbenen Augen unter den buschigen Brauen hinüber zu den beiden Männern.

Wyatt kniff das linke Auge ein und fixierte die gegenüberliegende Gassenmündung so, als habe er den Blick des Fremden nicht bemerkt.

»Gefällt mir nicht, der Junge.«

Der Spieler sog die Luft geräuschvoll durch die Nase, schob die Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen und erwiderte müde:

»Wer gefällt einem hier schon! Ich gefalle mir ja selbst nicht…«

Sie verließen den Vorbau und schlenderten auf die Mündung der Schlangengasse zu.

Kaum hatten sie die hinter sich, als sie stehenblieben.

Seit dem Inferno, das sich vor sieben Tagen in der Stadt abgespielt hatte, war es ruhig in Tombstone geblieben.

Für Wyatt Earp stand fest, daß nur der Chief der Galgenmännerbande den Feuerzauber losgelassen haben konnte. Dieser gefährliche Bandit hatte zum letzten und schwersten Schlag gegen seinen Erzgegner, den Marshal Earp, ausgeholt.

Nachdem er in einer ganzen Reihe von Zusammenstößen den Kürzeren gezogen hatte, war nun ein gewichtiger Punkt zu seinen Gunsten in die Waagschale gefallen: sein bester Mann, der gefürchtete Italo-Amerikanern Laz Capucine war aus dem Straflager der Lebenslänglichen entkommen und mußte zu ihm gestoßen sein. Die beiden zusammen waren gefährlicher denn je; vor allem, da sie genau wußten, daß es jetzt um Leben und Tod ging. Die Galgenmänner-Bande hatte nur noch diese letzte Chance.

Wyatt Earp hatte die ›Geheimorganisation vom goldenen Dreieck‹, wie sich die Maskenmänner selbst nannten, an mehreren Orten der Südweststaaten so empfindlich getroffen, daß sie am Boden zu liegen schien.

Schien! Aber noch lebte der Big Boß! noch wußte niemand, wer er wirklich war. Und von der schweren Verletzung, die ihm unten bei Sasabe eine Kugel Doc Hollidays zugefügt hatte, schien er sich erholt zu haben.

Es stand sogar zu befürchten, daß die beiden Desperados es tatsächlich noch einmal geschafft hatten, Reiter für sich in die Sättel zu bringen. Männer, die aus Furcht vor den beiden Verbrechern gefügig waren und ihr Leben für die Gang in die Schanze schlugen. Der Angriff auf Tombstone vor sieben Tagen bewies es, denn die zahlreichen Brände konnten zwei einzelne Männer allein nicht gelegt haben.

Es war dem Marshal mit Hilfe seines Freundes Holliday und unter dem Beistand des riesigen Texaners Luke Short, der hier in Tombstone den Sheriffstern trug, gelungen, die Angriffe niederzuwerfen; die Brände hatten gelöscht und mehrere Banditen festgenommen werden können.

Seitdem war es still geblieben.

Zu still.

Sieben Tage lang.

Mit jedem Tag wurde diese Stille drückender.

»Wenn sich jetzt nicht bald was tut, lasse ich Blasmusik aufmarschieren«, hatte der Tex gemeint, »damit diese verdammte Stille aufhört!«

Aber nichts rührte sich.

Die Bürger schlichen mit eingezogenen Köpfen und vorwurfsvollen Gesichtern schweigend über die Vorbauten. Vorwurfsvoll, weil sie die Schuld an diesem Zustand dem Gesetzesmann Earp zuschrieben, der ihrer Meinung nach die Graugesichter doch ungeschoren hätte lassen sollen. Diese gewissenlose Einstellung entsprang der Furcht, die die Galgenmänner-Bande der Bevölkerung seit neun Monaten eingeimpft hatte.

Wie der Marshal und seine beiden Gefährten, so spürten natürlich auch die anderen Menschen in der Stadt, daß die Stille trügerisch war.

Es war die Stille vor dem Sturm.

Sie alle kannten ja die Geschichte der grauen Gang genau. Sie wußten von den mörderischen Gefechten, die die Verbrecher dem Marshal geliefert hatten.

Und sie wußten auch, daß der Big Boß ein Unbekannter war, und daß er nach wie vor auf freiem Fuß lebte!

»Er wird kommen und die ganze Stadt in Schutt und Asche legen, Marshal, nur weil Sie ihn jagen«, hatte ein Mitglied des Stadtrates dem Missourier gesagt. Es war der Ire McDowell, der bisher immer auf Seiten des Marshals gestanden hatte, in den aufreibenden Kämpfen gegen die Clantons und auch noch, als Wyatt Earp gegen die Galgenmänner focht. Nun aber hatte auch der grauhaarige McDowell Front gegen den Marshal gemacht. Auch er war von der Angst ergriffen worden, die die Stadt in ihren Krallen hielt, die hinter den graubraunen Wänden und unter den flachen Dächern Tombstones nistete wie ein Gespenst.

Es gab außer dem alten Mayor Clum und Luke niemanden mehr in der Stadt, der dem Marshal beigestanden hätte.

Wie mit Polypenarmen hatte die große Furcht Tombstone umschlungen.

Die Menschen waren überzeugt, daß der Big Boß sich nicht niederwerfen lassen würde, sondern ganz im Gegenteil jetzt zum erbittertsten Schlag gegen Wyatt Earp ausholen würde. Es war so wie damals, als der große Ike Clanton mit seiner Gang die Stadt in Atem hielt; auch da hatte niemand gewagt, die Partei des einzelnen Wyatt Earp zu ergreifen.

Noch nie seit dem Tag, an dem die Schüsse im O.K.-Corral gefallen waren, hatte über Tombstone eine so bleischwere Luft gelegen.

Wo würde der Big Boß angreifen? Wo würde er zuschlagen? Und vor allem: wie würde er angreifen und zuschlagen? Die Menschen der alten Silberstadt sahen mit dem rigorosen Desperado und seinem schweren Kampf gegen Earp den Untergang Tombstones auf sich zukommen.

Für Wyatt Earp selbst war am schlimmsten die Ungewissheit über die Person des Bandenführers. Nach wie vor herrschte noch absolute Dunkelheit um diesen gefährlichen Mann. Nicht der geringste Hinweis, der Aufschluß über ihn hätte geben können, war bisher ermittelt worden. Dennoch nistete im Hirn des Missouriers seit langem die Idee, daß der Chief der Bande niemand anders als Ike Clanton selbst sein könnte.

Der gefürchtete ›große‹ Ike Clanton! Der Mann, der vor einem Dreivierteljahrhundert von sich behauptet hatte: »Ich bin der König von Arizona!« Der gleiche Mann, der ein halbes Hundert Reiter in die Sättel gebracht hatte, um im Cochise County zu herrschen wie ein Despot.

Mehrmals war der Marshal draußen auf der Clanton-Ranch gewesen, und auch nach dem großen Brand hatte er sich dort noch einmal eingefunden und Ike gesehen. Da war ihm zu seiner Verblüffung aufgefallen, daß der Rancher hinkte. Wyatt hatte daran denken müssen, daß der Big Boß von Doc Holliday mit einer Kugel an der Ferse verletzt worden war.

War das ein Hinweis?

Und da war noch ein Mann, der sich vage aus dem verschwommenen Hintergrund abhob: die düstere Gestalt des Kirk McLowery, Jenes Mannes, dessen Brüder Tom und Frank beim Kampf im O.K.-Corral gegen die Earps gefallen waren. Mehrfach war der Marshal dem zwielichtigen Manne an Orten begegnet, an denen er Galgenmänner-Ringe ausgehoben hatte. Aber bisher hatte er dem ehemaligen Cowboy aus dem San Pedro Valley keine Mittäterschaft bei den Verbrechen der Gang nachweisen können.

Seit einigen Tagen war ein neuer Verdacht aufgetaucht. Die beiden Dodger hatten sich an einen Mann erinnert, dessen Gestalt der Ike Clantons und auch Kirk McLowerys aufs Haar glich: Es war Firpo Behan. Es hieß, er sei ein Vetter jenes lappigen Hilfssheriffs, der jahrelang hier in Tombstone seine Amtszeit verschlafen und sich dann zur Zeit der Clanton-Kämpfe gegen die Earps gestellt hatte. Jonny Behan hatte die Stadt verlassen, nachdem der Marshal ihn dazu aufgefordert hatte.

Firpo Behan allerdings hatte außer dem Namen nichts mit diesem Jonny Behan gemein. Er war ein großer, breitschultriger, grobschlächtiger Bursche, von dem es hieß, daß er früher Holzfäller und dann Gefängnisaufseher irgendwo im südlichen Texas gewesen sei. Er war seit einiger Zeit hier in der Gegend aufgetaucht und hatte durch Schlägereien in der Umgebung der Stadt von sich reden gemacht. In Tombstone selbst war er noch nicht aufgetaucht.

Um diese drei Männer hatte sich ein wahres Spinnennetz von Gerüchten gebildet, am dichtesten aber um die Gestalt Ike Clantons.

Tag und Nacht hatten Wyatt Earp und Doc Holliday die Stadt im Auge behalten. Luke Short hatte mit den beiden Deputies Jeff und Ric Hunter um Tombstone wieder und wieder Kreise gezogen, aber all diese Patrouillenritte waren ergebnislos geblieben.

Niemand hätte ahnen können, daß der Mann mit dem gelben Hemd und dem schreiendroten Halstuch der erste Vorbote des großen Sturmes sein sollte. Sah er doch wirklich harmlos aus, dieser Jake Coogan!

Der Chief, der ihn geschickt hatte, hatte es raffiniert angelegt, denn Coogan war nicht allein gekommen. Zur gleichen Zeit mit ihm war von Nord-Osten ein zweiter Mann in die Stadt eingeritten, der weniger harmlos wirkte als Coogan.

Es war ein langaufgeschossener Bursche mit strohblondem Haar und wasserhellen Augen. Er hatte ein unangenehmes, mit Pockennarben übersätes Gesicht und weitausladende Schultern. Seine großen Ohren waren dunkelrot und blickten nur mit ihren unteren Hälften unter dem überlangen Schopf hervor. Er trug eine alte blaue Uniformjacke und eine dunkle Hose. Oben in der Kordel seines breiten Sombrerohutes steckte eine lange Indianerfeder, und um die Hüften hatte er einen Poncho geschlungen. Der auffällige Eindruck wurde noch durch das schwarzweiß gescheckte Pferd und die schreiende bunte Jacariladecke unterm Sattel verstärkt.

Charlie Lenz war, wie sich später herausstellen sollte, von dem Großen Chief zu einem Preis von fünfundsiebzig Dollar für diesen Ritt in die Stadt angeheuert worden. Der Schießer Lenz, der aus der Pest-Stadt El Paso stammte und sich jahrelang vor Steckbriefen nicht retten konnte, hatte für diesen Lohn den Job auf sich genommen, in Tombstone die Aufmerksamkeit von dem anderen Mann zu lenken, den der Chief dorthin beordert hatte, während sich Charlie Lenz vor Jonny Millers Bar ›aufspielen‹ sollte.

Holliday strich sich übers Kinn und blickte in die Allen Street zurück, als er sagte: »Ich werde einen Drink nehmen – im Crystal Palace.«

Der Marshal nickte. »Ja. Es ist gut. Ich werde hinunter zum Russian House gehen.«

Seit die Stadt vor einer Woche an fünf Stellen gebrannt hatte, galt die Sorge des Marshals vor allem dem Russian House Hotel. Es war seit Jahren sein persönliches Quartier. Bei der schönen Nellie Cashman war alles sauber und adrett, und man fühlte sich wohl als Gast in ihrem Hause.

Die beiden Freunde trennten sich. Während der Marshal die Schlangengasse hinunter zur Toughnut Street schritt, ging Doc Holliday in die Allen Street zurück, betrat den Vorbau und blieb im Schatten der Dächer, bis er den Crystal Palace erreicht hatte.

Er betrat ihn nicht vorn durch den Eingang, sondern ging neben Dave Cohens Cicgar Store & Card Room in den Hof des Crystal Palaces und kam von dort lautlos in den Korridor der Schenke.

Als er die Tür zum Spielraum öffnete, sah er in einem der Spiegel, die die großen Säulen verkleideten, den Mann mit dem gelben Hemd an der langen Theke lehnen. Da Holliday wußte, daß der Fremde ihn selbst nicht sehen konnte, blieb er beobachtend stehen.

Coogan, der den Auftrag hatte, so unauffällig wie möglich vorzugehen, hatte die Linke auf die Theke gestützt, nahm jetzt das Whiskyglas und trank einen Schluck. Dabei glitten seine gelben Augen über den Rand des Glases hinweg zu den reichhaltigen Flaschenborden und blieben schließlich auf dem Gesicht des Keepers haften.

»Ziemlich müde Stadt, dieses Tombstone«, meinte er näselnd.

Der Keeper zog die Schultern hoch. »Wie man’s nimmt.«

Coogan setzte das Glas ab und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Habe ich mir anders vorgestellt! Hier ist ja nichts los!«

»Auch das kommt darauf an«, entgegnete Keeper Gordon vorsichtig.

Coogan nahm ein Geldstück aus der Gurttasche und ließ es klimpernd aufs Thekenblech fallen.

»Gibts überhaupt Girls in diesem Nest?«

»Doch, Mister, die gibts hier.«

»Hab nicht einen Zopf gesehen«, schnarrte der Bandit.

Über das Gesicht des Keepers kroch ein verdrießliches Lächeln.

»Schon möglich. Die Girls schlafen um diese Zeit, damit sie abends fit sind.«

Bill Gordon riss ein Zündholz an, hielt es über die Theke, und Cogan sog die Flamme in die Tabakfäden seiner Zigarette. Er rauchte eine Weile schweigend vor sich hin. Dann sagte er:

»Colorado Bill ist Sheriff hier, nicht wahr?«

Der Keeper schüttelte den Kopf.

»Nein, der Sheriff heißt Luke Short.«

»Ach ja, richtig! Aber ich glaube auch gehört zu haben, daß Bill Hickock sich zuweilen hier herumtreibt?«

Wieder schüttelte der Keeper den Kopf.

»Nein, den haben wir hier noch nicht gesehen.«

»Nanu? Mir war doch so, als hätte ich gehört…, ach nein«, unterbrach sich Coogan dann selbst. »Das war ja Wyatt Earp, nicht wahr?«

Der Keeper nickte nur.

Aber Jake Coogan wollte mehr wissen. Er mußte herausbringen, ob der Marshal noch in der Stadt war.

»Er war doch hier, nicht wahr?«

Gordon nickte wieder.

»Kann nicht verstehen, was einen solchen Mann an diese erbärmliche Stadt fesselt.«

Der Keeper zog nur die Schultern hoch.

Coogan, leicht gereizt, stützte sich auf den linken Ellbogen, und er stieß die Rauchwolken durch die Nasenlöcher, als er erklärte:

»Habe extra einen Umweg gemacht, um dieses Nest zu passieren, weil ich gehört hatte, den Marshal wenigstens einmal sehen zu können.«

Dem Keeper traten Schweißperlen auf die Stirn. Er wußte schließlich so gut wie jeder andere, was hier los war. Er wußte, daß Wyatt Earp auf seinen Gegner wartete. Seit sieben Tagen und sieben Nächten konnte deshalb niemand in Tombstone ruhig schlafen. Und nun kam dieser Fremde daher und sprach mit der leutseligsten Miene davon, daß er den berühmten Wyatt Earp sehen wollte!

Coogan griff wieder in die Tasche und warf zwei weitere Geldstücke auf die Theke.

»Einen Drink auch für Sie, Keeper.«

Bill Gordon goss ein, hob sein Glas an und prostete dem Banditen zu.

Der lachte und zog auf eine merkwürdige Weise die linke Schulter hoch.

»Wenn man so anderthalb Jahrzehnte durch die Savanne reitet, mal hier ist und mal dort, ist es klar, daß man sich die paar Rosinen, die es in diesem staubigen Kuchen gibt, herauspickt. In Topeka war es ein hübsches Girl, und in Virginia City war es das Spielcasino. In Colorado war es wieder ein Girl, das mich anzog, und jetzt hätte ich gern den großen Wyatt Earp gesehen.«

Der Keeper trank schweigend sein Glas aus und setzte es wieder ab.

Coogan nippte an seinem Whisky und meinte nach einer Weile:

»War nicht auch Doc Holliday schon in Tombstone?«

»Doch«, entgegnete der Keeper einsilbig.

»Dann war er bestimmt schon hier in der Schenke?«

»Ja.«

»Wie sieht er aus?«

Unbehaglich zog der Mann hinter der Theke die Schultern hoch.

»Wie soll er aussehen? Er ist ziemlich groß und schlank, und – tja, was soll ich sagen, er trägt einen schwarzen Anzug und…«

»Sein Gesicht?« forschte der Tramp ungeduldig.

»Das ist schwer zu beschreiben. Er sieht gut aus, ich sagte es schon. Er sieht anders aus als die Leute hier. Vornehmer, gebildeter oder – ich weiß nicht, wie ich sagen soll – wie die Leute aussehen, die drüben an den Küsten wohnen und mehr lernen als wir, mehr Geld haben und klüger sind.«

»Daraus soll man sich jetzt ein Bild zurechtzimmern«, entgegnete der Out­­law. »Ich kann mir nichts unter einem solchen Manne vorstellen.«

Bill spülte sein Glas aus, als er sagte:

»Es gibt bestimmt interessantere Städte als Tombstone, Mister –«

Jake Coogan warf den Kopf hoch. In seinen gelben Augen glimmte es plötzlich auf. »Wie meinen Sie das?« fragte er, und in dieser Frage war deutlich eine gewisse Schärfe zu hören.

»Well, ich meine nur«, versetzte der Keeper, »es sind so viele Leute nach Tombstone gekommen, die sich nach Doc Holliday erkundigt haben…«

Es war ein großer Fehler Gordons, das zu sagen.

Und Coogans Reaktion war entsprechend. Sein Gesicht verzog sich auf eine häßliche Weise zu einer wütenden Fratze.

»Soll das etwa heißen, daß Sie glauben, ich hätte Angst vor eurem Holliday?« Der einstige Vaquero aus Cloverdalle hatte die Maske fallenlassen. Die Verbitterung, die ihn eigentlich hätte hart machen sollen, hatte ihn nur unbeherrscht werden lassen und jähzornig. Er war nicht der beste Mann, den der Big Boß für eine so wichtige Aufgabe ausgesandt hatte!

»Sie sollten sich nicht aufregen, Mister«, suchte der Keeper ihn zu besänftigen. »Ich habe nicht behauptet, daß Sie Angst hätten. Ich finde nur, man sollte sich aus allen Schwierigkeiten heraushalten.«

Coogan stieß den Kopf vor, und seine Augen waren hart wie Bergkiesel, als er sagte:

»Ihr bildet euch zuviel ein, hier in diesem elenden Kaff! Wer ist er denn schon, der Marshal Earp? Ein kleiner Sternschlepper, nichts weiter! Und der andere ist ein Kartenhai, der ein paar Schenken mit dem Revolver erschreckt hat.«

Der Keeper zog die Schultern hoch, ohne etwas zu sagen.

Das gefiel Coogan ganz und gar nicht. »Sind Sie etwa anderer Meinung?«

Die Schweißtropfen rannen dem Mann hinter der Theke über die Stirn in die Augenbrauen.

»Ich streite mich nicht gern, Mister –?«

»Mein Name ist Coogan«, schnarrte der Bandit, »Jake Coogan! Sie sollten sich diesen Namen merken. Und was Ihren Holliday betrifft, so können Sie ihm bestellen…« Er unterbrach sich jäh, fuhr sich mit der Linken übers Gesicht und stieß eine heisere Lache aus: »Ich weiß nicht, mich geht das natürlich nichts an. Ich habe nur oben in Tucson ein paar Boys über ihn sprechen hören. Hols der Satan, so lausige Gestalten interessieren mich nicht. Mich interessiert nur, daß mich bisher noch niemand mit dem Revolver geschlagen hat. Und da kann mich eine solche Vogelscheuche wie dieser ehemalige Pillendreher bestimmt nicht…«

Wieder unterbrach sich Jake Coogan. Diesmal aber, weil sich hinten im Spielsaloon plötzlich die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes vor den grünbezogenen Samtwänden abhob. Mit geweiteten Augen starrte der Outlaw dem Georgier entgegen.

Holliday kam langsam näher und blieb zwei Schritt neben ihm an der Theke stehen. Er stützte sich auf den linken Ellbogen und fixierte den Banditen aus eiskalten Augen.

Coogan spürte, wie ihm der Schweiß durch die Brauen salzig beißend in die Augen rann. Wie hatte er sich nur zu solchen Reden hinreißen lassen können!

Jetzt, da der Spieler neben ihm stand, war Coogan, wie jeder andere, der bisher mit Holliday zu tun gehabt hatte, von seiner Persönlichkeit zutiefst beeindruckt. Eine eisige Hand schien plötzlich nach seinem Herzen zu greifen.

Er tippte grüßend an den Hutrand, wandte sich ab und schlenderte der Pendeltür entgegen.

Als er die linke Hand ausstreckte, um einen der Schwingarme nach vorn zu stoßen, rief der Spieler ihm nach:

»Ich würde es weiterhin mit den Mädchen halten, Coogan! Und in der nächsten Stadt gibt’s schönere als hier. Vergessen Sie es nicht!«

Jake Coogan stand wie angenagelt anderthalb Schritt vor der Tür. Er wagte nicht, sich umzudrehen.

Drei Sekunden krochen wie eine Ewigkeit durch die Schenke.

Der einstige Vaquero, der nach einer Messerstecherei unten in Süd-New Mexico so schwer an der rechten Armsehne verletzt worden war, daß er weder die Hand noch den Arm bewegen konnte, kämpfte mit aufsteigender Wut und dem bangenden Gefühl, das der Gambler in ihm ausgelöst hatte. Er lauschte den Worten Hollidays nach und ging dann weiter, stieß die Tür auf und verschwand.

»Ziemlich merkwürdige Type«, meinte der Keeper.

Holliday schnipste mit den Fingern.

Bill Gordon kannte den Wink und zog eine Brandyflasche unter der Theke hervor, die er eigens für den Georgier da stehen hatte.

Es war ein ausgezeichnetes Getränk. Holliday nahm gleich ein paar Schlucke.

»Eine alltägliche Erscheinung war das nicht«, meinte er.

Als Coogan die Schenke verlassen hatte, hätte er sich ohrfeigen können vor Ärger. Wie hatte er sich nur soweit vergessen können! Er hatte den Auftrag bekommen, sich unauffällig in der Stadt zu bewegen. Was hatte er statt dessen getan? Sich um ein Haar ausgerechnet mit Doc Holliday angelegt!

Er stand auf dem Vorbau und blickte zu seinem Pferd hinüber, wo er in den Satteltaschen die Plakate wußte, die er hier hätte lassen sollen: eines im Crystal Palace, ein zweites unten vorm Bird Cage Theatre, ein drittes am Court House.

Während er dastand, den Blick von seinem Pferd wegnahm und auf den flimmernden Sand der Straße senkte, dachte er an die gespenstische Mitternachtsstunde der vergangenen Nacht, wo sie fern von hier mitten in der Savanne zwischen hohen Kaktusstauden in einer Mulde gestanden hatten. Einer der Männer hatte ein Zündholz angerissen, damit Coogan sehen konnte, was der Große Chief mit einem Stock in den Sand gezeichnet hatte, nämlich die Straßen Tombstones mit den Punkten, die Coogan aufzusuchen hatte.

Der Chief hatte nicht selbst mit ihm gesprochen, sondern Capucine. Und das Gesicht des Chiefs hatte Coogan auch nicht gesehen, da er eine Zipfelmaske trug.

Der Vaquero war der Bande schon vor einem Vierteljahr bei Roswell ins Garn gegangen und hatte dann noch den Fehler gemacht, nach Arizona zu reiten, wo er sich den Befehlen des Chiefs nicht mehr entziehen konnte.

Sein Auftrag war klar: er hatte die Plakate an den bezeichneten Stellen zurückzulassen. Er nahm die alte Uhr, die er von Capucine mitbekommen hatte, aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Es war genau zwölf.

Jetzt mußte Charlie Lenz oben vor Millers Bar sein, um da seine Show abzuziehen.

Und genau in diesem Moment krachte der Schuß…

Ganz Tombstone schien zusammenzuzucken!

Und dann folgten zwei weitere Schüsse.

Die Menschen in ihren Behausungen hielten den Atem an und lauschten bebend auf die Straße hinaus.

Es war so still in der Stadt, daß der Schuss bis hinunter in die Miner-Camps zu hören war.

Coogan wischte sich durchs Gesicht und ging dann langsam zu seinem Pferd.

Seine Rechnung war richtig gewesen. Als er nach einer Weile wieder in die Schenke blickte, war die Theke leer.

Doc Holliday hatte den Schankraum verlassen, war diesmal aber auf der anderen Hofseite hinausgegangen und zwar in die Fifth Street, von wo aus er rasch in die Fremont Street hinaufkam. Der erfahrene Gunman hatte sofort die Richtung des Schusses erkannt.

Vor der berüchtigten Jonny Miller Bar war Charlie Lenz vom Pferd gestiegen und hatte einem Mann, den er durch ein offenes Hoftor nebenan beobachtet hatte, zugerufen, er solle herauskommen.

Als der nur bis ans Tor kam, hatte der Coltman auf sein Pferd gedeutet. »He, Mister, das muß gestriegelt werden. Und zwar soll es in einer Stunde fertig sein, klar?«

Der Unglückliche, an den sich Lenz da gewandt hatte, war der alte Richter J. H. Lucas. Lucas war neunundsechzig Jahre alt und übte sein Amt wegen einer schweren Krankheit seit fast neun Jahren nicht mehr aus. Er war nach Tombstone gekommen, weil eine seiner beiden Töchter hierhergeheiratet hatte. Die junge Ann Wallace hatte ihren Vater bei sich aufgenommen. Um den jungen Leuten nicht nur zur Last zu sein, hielt sich der alte Mann tagsüber im Hof auf.

Es ist niemals herausgefunden worden, ob der Bandenführer dies nun alles genauso geplant hatte. Ebensogut hätte Lenz ja auch einen anderen Mann ansprechen können. Aber ausgeschlossen ist es nicht, daß der Bandenführer den Richter in seinen Plan vorgesehen hatte.

Der alte Mann stand jetzt im Torspalt und blickte verstört auf den Banditen.

»Es tut mir leid, Mister, aber ich kann Ihr Pferd nicht striegeln. Sie müssten es schon hinüber in einen der Mietställe bringen. Wir haben ja genug davon in der Stadt.«

Der blonde Tramp stand mit gespreizten Beinen da und stemmte seine haarigen Fäuste in die Hüften, wobei er den Kopf hochwarf, und er brüllte: »Was fällt dir ein, elender Dreckskerl! Ich habe gesagt, du sollst meinen Gaul striegeln, klar! Wenn dir das nicht paßt, erlebst du was.«

Ehe der Richter zu einer Antwort kam, flog in die Hand des Schießers einer seiner Revolver, und der Schuß brüllte auf.

Die Kugel riß dicht neben dem rechten Ellbogen des Richters ein daumengroßes Stück aus dem Holz des Tores. Als der Richter sich umwenden wollte, um in den Hof zu flüchten, jagte der Bandit ihm noch zwei Schüsse nach, die aber ebenfalls keinen größeren Schaden anrichteten.

Was Lenz erreichen wollte, war erreicht: die Tombstoner waren nun aus ihrer ängstlichen Erwartung aufgeschreckt worden.

Wyatt Earp, der um das Russian House Hotel an der Ecke der Toughnut Street und der Fünften Straße herumgegangen war, blickte zur Allen Street hinauf. Er verließ seinen Posten aber nicht, da er Doc Holliday im oberen Teil der Stadt wußte und sich darauf verlassen konnte, daß der Spieler dort alles im Auge behielt.

Luke Short hatte gegen neun Uhr etwa das Office verlassen müssen, da auf der Humphery-Ranch wieder einmal seine Gegenwart erforderlich war. Der Marshal hatte eine ganze Weile überlegt, ob er ihn überhaupt weglassen sollte. Aber da es bis jetzt still geblieben war, konnte er den Tex nicht zurückbehalten, denn gerade jetzt durfte das Ansehen des Sheriffs unter keinen Umständen gefährdet werden.

Wyatt Earp konnte von seinem Standort aus den Mann nicht sehen, der in diesem Augenblick an einem der Dachpfeiler des Crystal Palaces das große Plakat anheftete.

Jake Coogan schob eine Stahlnadel durch das starke Papier in das weiche Holz, stieg dann auf sein Pferd und ritt zum Bird Cage Theatre hinüber, genau im gleichen Augenblick, in dem Wyatt Earp die Toughnut Street zurückging. Es war ein vertrackter Zufall, der den Marshal in die Third Street führte, als Coogan durch die Fünfte Straße hinunter auf die Miner-Camps zuritt, um auf einem Umweg zum Court House zu kommen, das hinter einem Vorgarten an der Ecke Dritte Straße und Toughnut Street stand.

Hier heftete der Bandit das nächste Plakat mit zwei Stahlklammern an den vorspringenden Schnitzereien der Tür fest. Ohne Hast zog er sich in den Sattel und ritt zur Zweiten Straße hinüber, um durch einen Trampelpfad in den Hof der Familie Flanagan zu kommen.

Der alte Flanagan, der gerade auf einem Holzklotz sitzend den Mittagsschlaf hielt, schreckte zusammen und blickte dem Fremden zwinkernd entgegen.

»He, was ist denn das?«

Coogan glitt aus dem Sattel, ging auf den Alten zu und hielt ihm die offene linke Hand entgegen, in deren Innenfläche ein silberner Ring schimmerte, auf dessen Siegelplatte ein großes Dreieck eingraviert war.

Der alte Flangan zuckte unwillkürlich zurück, erhob sich dann aber rasch und nickte.

»In Ordnung, Mister. Bin im Bilde. Sie wollen ins Haus, nicht wahr?«

Coogan schüttelte den Kopf. »Nein, ich will hinüber zu Rozy Ginger.«

Der alte Flanagan, der dem Burschen gern die Warnung mit auf den Weg gegeben hätte, daß es gar nicht so ratsam war, jetzt die Schenke drüben aufzusuchen, schluckte seinen gutgemeinten Rat nach einem weiteren Blick in das Gesicht des Galgenmannes hinunter.

Der erste Teil der Aufgabe, die Jake Coogan zu erfüllen hatte, war erledigt. Aber Coogan wußte nicht, daß es einem puren Zufall zu verdanken war, daß er die Plakate ungesehen an ihre Plätze hatte bringen können.

Und das machte ihn so leichtsinnig genug, daß er jetzt Flanagans Hof verließ, um drüben bei Rozy Ginger einzukehren.

Wyatt Earp sah, als er durch die Allen Street ging und in die Fourth Street einbiegen wollte, das Plakat vor dem Crystal Palace, hielt inne und ging dann langsam auf der Straßenmitte weiter.

Und dann konnte er die großen Lettern lesen, die da auf dem weißgelben Plakat standen.

Die Augen des Marshals glitten über die Buchstabenreihen, und immer wieder mußte er vorn beginnen, da ihm die Lettern vor den Augen herumzutanzen schienen, als ob sie das Plakat verlassen wollten, um herunter in den flimmernden Sand zu purzeln.

Da stand doch tatsächlich schwarz auf weiß und völlig unverwechselbar:

An Wyatt Earp!

Du hast nur einen einzige Chance: verlasse die Stadt!

Ich komme am 7. Juli um die Mittagsstunde, um die Stadt zu besetzen. Wenn ich Dich noch vorfinden sollte, wirst Du in der Mainstreet an einem Dachpfeiler aufgeknüpft.

Und dann wird Tombstone angezündet!

Wenn Tombstone brennt und dann in Schutt und Asche liegt, ist es Deine Schuld!

Du weißt, daß ich nicht spaße!

Der Große Chief!

Darunter leuchtete weithin sichtbar das schwarze Dreieck der Galgenmännerbande.

Sekundenlang stand der Marshal wie gebannt auf dem Fleck und rührte sich nicht.

Dann kam Leben in seine Gestalt. Er ging auf den Vorbau zu, riß das Papier herunter und knüllte es zusammen.

Als er aufs Sheriffs Office zuging, kam ihm Jeff Hunter entgegen.

»Rasch, Jeff, mein Pferd!«

»All right, Marshal.« Der Deputy lief in den Stall und sattelte den Falben des Missouriers.

Wenige Minuten später ritt Wyatt zum Stiefelhügel, der einzigen Erhöhung in der Nähe, und zog sein Nelsonglas aus der Tasche.

Sorgfältig suchte er die Savanne ab.

Aber vergebens. Der Mann mit dem gelben Hemd war nirgends zu sehen.

Er mußte also entweder die Stadt nach Osten verlassen haben – oder aber noch in Tombstone sein.

Wyatt ritt zurück.

Als er die Second Street passierte, sah er unten in der Toughnut Street mehrere Leute stehen, die bei seinem Anblick in den Höfen verschwanden.

Wyatt ritt sofort die Gasse hinunter. Dort sah er es schon von der Straßenecke aus: das Plakat am Portal des Cochise Court Houses.

Da geisterten die grauen Gespenster also schon durch die Stadt! Rattengleich waren sie bereits am Werk.

Und die Tombstoner, die bisher nichts aus ihren Behausungen hatte locken können, hatten den Aufruf des Big Boß gelesen! Das war das Schlimmste.

Wyatt entfernte auch diesen Wisch und ritt hinauf in die Fremont Street, wo er Doc Holliday bei dem aufgeputzten Sombrero-Cowboy Charlie Lenz stehen sah.

Der Missourier ritt wieder zurück, und als er in die Allen Street kam, sah er unten vorm Bird Cage Theatre einen Menschenauflauf. Der Marshal konnte vom Sattel aus über die Köpfe der Leute hinweg das Plakat auf der Tür des Theaters sehen.

Er sprang vom Pferd und zwängte sich durch die Menge, riß das Plakat herunter und knüllte es zusammen.

Als er sich umwandte, blickte er in eine Runde tückischer, bösartiger Gesichter.

Einer der Männer, ein dickleibiger Kerl mit schwammigem Gesicht und zahnlosem Mund, kläffte:

»Was soll jetzt werden, Marshal?«

»Was wohl!« herrschte ihn der Marshal an. »Gibts da vielleicht noch eine Frage?«

»Nein, da gibts keine Frage!« geiferte der andere. »Sie müssen die Stadt verlassen!«

Wyatt, der sich schon abgewandt hatte, war stehengeblieben und maß den Mann mit flammendem Blick.

»Die Stadt verlassen? Hören Sie, Gilmore, wenn ich die Stadt verlasse, so nur als toter Mann, der zum Stiefelhügel hinaufgeschleppt wird!«

Die Leute waren zurückgewichen und bahnten ihm eine Gasse zu seinem Pferd.

Wyatt, der vorm Tor des Sheriffhofes Jeff Hunter stehen sah, winkte dem Burschen, gab ihm das Pferd und die beiden Plakate.

Die Menschenmenge vorm Theater verzog sich allmählich. Einige aber blieben hartnäckig stehen und fixierten den Marshal mit finsteren Blicken.

Einer von ihnen war Gilmore. Er stieß einen muskulösen Rowdy-Typ an und zischelte ihm zu: »Was sagst du, Ted, es ist doch unser gutes Recht, daß wir darauf bestehen!«

»Na klar«, entgegnete Ted.

»Ihr müßt doch zugeben, Männer«, hetzte Gilmore, »daß wir wegen eines einzigen Mannes nicht unsere Stadt hochgehen lassen können!«

»Eben!« brüllte ein vierschrötiger Mann, der ein rußiges Gesicht hatte und eine Schmiedeschürze trug. »Alles war recht ist, Marshal!«, röhrte er dem Missourier zu, »jetzt ist es Zeit, daß Sie weiterreiten!«

Wyatt blickte aus harten Augen in das Gesicht des Schmiedes. Völlig ruhig fragte er: »Und das sagen Sie mir, John Cardwyk?«

Eine flüchtige Röte zog über das Gesicht des Schmiedes. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte jene Vormittagsstunde vor ihm auf, als sechs Männer der Clanton-Gang in seinem Hof aufgetaucht waren, um seine beiden Pferde herauszuholen. Als dann seine Tochter in der Hoftür mit Wäsche erschien, die sie von den Leinen geholt hatte, zerrte der Rustler Jonny Calhoun das Mädchen mit sich, stopfte ihm einen Knebel in den Mund und zerrte es auf sein Pferd. Sechs Banditen – und der alte Cardwyk war allein.

Da hatte der Schmied seinen Hammer geholt und war in den Hof gestürzt. Sechs Revolver blinkten ihm entgegen. In diesem mörderischen Augenblick war der Marshal aufgetaucht.

Es gab ein höllisches Gefecht; Wyatt Earp streckte zwei der Tramps nieder, und der dritte wurde von einem Faustschlag niedergerissen. Die drei anderen gaben auf.

John Cardwyk hatte noch einen weiteren Grund, dem Marshal dankbar zu sein. Als vor vier Jahren der fettleibige Besitzer des Occidental-Saloons von ihm verlangte, das gepachtete Grundstück zu räumen, auf dem die Schmiede stand, war es wiederum Wyatt Earp, der sich bei dem Salooner für den Schmied einsetzte.

Aber diese Bilder waren nur allzuschnell verflogen. Mit trotzigem Gesicht knurrte der Schmied:

»Es hilft nichts, Earp, Sie müssen reiten!«

Da kam Wyatt langsam auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. Er überragte den Schmied um Haupteslänge und senkte den Blick in seine Augen.

»Nein, Cardwyk, ich werde nicht reiten.«

Da sank der Kopf des Schmiedes auf die Brust.

Gilmore belferte: »Wir lassen uns nicht mehr einschüchtern, Earp! Die Tage der Clantons sind vorbei. Wir brauchen Ihre Hilfe nicht mehr. Schließlich haben wir nichts mit den Galgenmännern zu tun. Der Big Boß hat uns eine letzte Mahnung zukommen lassen; und wir werden sie nicht unbeachtet lassen!«

Wyatt wandte den Kopf und blickte in das schwammige Gesicht des Kaschemmenwirtes, der unten an der Gassenbiegung der Flee Street in einer Baracke eine Spielhölle für Minderbemittelte errichtet hatte. Damals, als er beim Bürgerrat um die Genehmigung der Schenke eingekommen war, hatte man ihn abgewiesen. Es war Wyatt Earp gewesen, der ein gutes Wort für den treuherzig dreinblickenden Mann eingelegt hatte. Also auch er hätte allen Grund gehabt, auf Seiten des Marshals zu stehen. Aber die Furcht saß ihm wie allen anderen im Genick und hatte ihn alles vergessen lassen.

»Sie werden reiten müssen, Earp!«

Wyatt blickte von einem zum anderen.

Auch James Vincents, der schräg gegenüber einen Laden hatte, in dem Musikinstrumente, Körbe und Geschirr verkauft wurden, stand unter den Männern. Auch er hatte eine Dankesschuld bei dem Marshal, und auch er hatte sie jetzt völlig vergessen.

»Sie müssen reiten, Marshal«, brach es heiser über seine Lippen.

Da wandte der Missourier sich um und ging langsam aufs Office zu, stieg die Vorbaustufen hinauf, öffnete die Tür und Schloß sie langsam hinter sich.

Mitten im Raum stand er und blickte dumpf vor sich hin. Ein bohrender Schmerz war in seinem Schädel, und auf seiner Zunge verspürte er einen faden Geschmack.

Das also war der Dank und die Treue einer Stadt, für die er sein Leben so oft aufs Spiel gesetzt hatte.

Sie wollten ihn aus ihrer Stadt jagen – und schaufelten sich damit ihre eigene Grube.

*

Als Doc Holliday die Fremont Street erreicht hatte, sah er Charlie Lenz vor Jonny Millers Bar stehen.

Der Spieler kam mit seinem federnden, elastischen Schritt näher und blieb wenige Yards hinter dem Schießer stehen. Der hatte ihn noch gar nicht bemerkt, und brüllte gerade in den Hof der Wallaces:

»Komm raus, Alter, und tu’, was ich dir gesagt habe. Ich zähle bis drei, und wenn du dann keinen Striegel zur Hand hast und machst dich an meinen Gaul, passiert dir was. Ich bin es nicht gewohnt, daß man meine Befehle mißachtet!«

»Dann bist du ein ziemlich verwöhnter Bursche!« drang da eine klirrende Stimme an sein Ohr.

Lenz wirbelte herum. Er wollte den Revolver ziehen, hielt aber in der Bewegung inne, da er selbst in eine Revolvermündung blickte.

In der rechten Faust des Georgiers blinkte ein großer vernickelter Frontier-Colt.

Als der Schießer den Blick hob und in die eisigen Augen des Georgiers sah, spürte er einen Schauer über seinen Rücken rinnen.

Da lächelte der Spieler, und der schwere Revolver flog mit einem brillanten Handsalto ins Halfter zurück.

Auch von dem Coltman fiel die Spannung ab. Er stieß eine künstliche Lache aus und meinte:

»Sonderbare Angewohnheiten habt ihr hier!«

Der Bandit ahnte noch nicht, daß er ausgerechnet an Doc Holliday geraten war.

»Wirklich, ziemlich lustige Gewohnheiten.«

Eine kalte Lache stand im Gesicht des Spielers. »Findest du?«

»Ja.« Lenz kratzte sich mit dem Zeigefinger hinterm Ohr und verzog das Gesicht zu einem faunischen Grinsen. »Wer sind Sie denn?«

»Ich dachte, du wärest selbst darauf gekommen«, entgegnete der Gambler.

»Nun, wenn ich ehrlich sein soll, dann hätte ich Sie bestimmt für einen Pfaffen gehalten, wenn ich Ihnen wo anders begegnet wäre. So aber glaube ich, daß Sie ein Richter sein könnten oder auch ein Lawyer.«

»Irrtum«, entgegnete der Spieler.

»Wer sind Sie denn?«

»Mein Name ist Holliday, John Henry Holliday.«

Beinerne Blässe überzog das Gesicht des Banditen.

»Holliday!« entfuhr es ihm. »Doc Holliday?«

»Mein Name scheint dir nicht zu gefallen, Amigo?«

»Hols der Teufel!« fluchte Lenz.

»Nicht doch, Brother. Den Teufel wollen wir vorerst aus dem Spiel lassen.«

Holliday nahm eine Zigarette aus seinem Etui, zündete sie an und schob die Hände in die Taschen seines Jacketts. Mit schräggelegtem Kopf beobachtete er den Schießer.

»Wir haben uns doch schon irgendwo gesehen, Boy?«

Es paßte dem Schießer absolut nicht, daß der Gambler ihn mit ›Boy‹ anredete, denn er war immerhin dreiundzwanzig Jahre alt. Aber Doc Holliday, der über ein Jahrzehnt älter war, scherte sich nicht darum, was dem Tramp angenehm war oder nicht.

»Doch«, sagte er jetzt, »wir haben uns sogar bestimmt schon gesehen.«

Der Bandit konnte sich allerdings nicht daran erinnern.

Um so besser war das Gedächtnis des Spielers.

»Es ist knapp fünf Jahre her. Du mußt damals eben achtzehn gewesen sein. Es war drüben in Texas in einem kleinen Nest, wo die Leute gerade damit beschäftigt waren, Tierfelle zu gerben. Du hattest zusammen mit zwei anderen Burschen den lausigen Einfall, sie um einige dieser Felle zu erleichtern, ohne Geld dafür zurückzulassen.«

Jetzt erinnerte sich der Bandit. Ja, damals hatte er drüben in dem kleinen Wüstennest San Domingo zusammen mit Fred Harper und Jerry White nach einer Kette kleinerer Diebstähle versucht, einen größeren Coup zu landen. Da war ein Mann dazwischengekommen, den Harper erwischt hatte. Dadurch wurden auch er und White gestellt. Daß es Doc Holliday gewesen war, hatte Charlie Lenz nie erfahren.

Als er seinen Schrecken überwunden hatte, kroch wieder das faunische Grinsen über sein verschlagenes Gesicht.

»All right, Doc, war eine dumme Sache, ist aber doch lange her.«

»Nicht lange genug, Charlie«, entgegnete der Spieler.

Der Bandit war geradezu entsetzt darüber, daß der Georgier sogar seinen Namen zu kennen schien.

»Was wollen Sie damit sagen, Doc?«

»Ich will damit sagen, daß es besser für dich wäre, Charlie, wenn du auf deinen Gaul klettern würdest, um die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen.«

Der Coltman griff sich mit der Rechten ins Genick und bog den Kopf zurück, ohne den Spieler jedoch aus den Augen zu lassen. »Meinen Sie?«

»Unbedingt.«

»Ich weiß nicht recht«, krächzte Lenz, während er den Kopf im Nacken stützte, hin und her bewegte, als müsse er da hinten einen Krampf wegmassieren. »Ich finde, es ist eine schöne Stadt, und es lohnt sich, eine Weile zu bleiben.«

»Lohnt sich bestimmt nicht, Charlie Lenz.«

Er kennt meinen Namen also wirklich! hämmerte es im Hirn des Tramps.

Tatsächlich hätte er sich nun am liebsten auf seinen Gaul geschwungen, um die Stadt zu verlassen. Aber da war der Auftrag, den ihm Capucine gegeben hatte.

Noch jetzt richteten sich ihm die Haare unterm Hut auf, wenn er an die Stunde dachte, in der der geflüchtete Sträfling aus Camp Masadona plötzlich in seiner Behausung unten am Fleetbush-Creek aufgetaucht war. Capucine hatte ihm ohne Umschweife erklärt, was er zu tun hatte. Lenz war nicht mutig genug gewesen, sich gegen diesen Befehl des Verbrechers zu wehren, obgleich er wenig Lust verspürt hatte, ausgerechnet nach Tombstone zu reiten.

Holliday und der Bandit standen noch da und sprachen miteinander, als Wyatt Earp an der Ecke auftauchte, den Georgier sah und wieder verschwand.

»Wie gesagt, Charlie, ich gebe dir den gleichen Tip, den ich vor wenigen Minuten einem anderen Burschen gegeben habe, der sich auch in der Stadt geirrt hatte: Weiterreiten – in der nächsten Stadt sind die Girls hübscher!«

Eine krampfhafte Lache zuckte um den schiefen Mund des Coltman.

»Geht leider nicht, Doc, habe eine Verabredung hier.«

Blitzartig schoß ihm der Spieler die Frage entgegen:

»Mit einem Mann, der ein gelbes Hemd trägt und eine lahme rechte Flosse hat?«

Der Bandit war so überrumpelt, daß er seine Überraschung nicht zu verbergen vermochte. Und die Reaktion, die darauf erfolgte, war typisch für diese Gattung Mensch: seine Rechte fiel auf den Revolverkolben.

Zu spät, das Schießphantom aus Georgia war um eine Zehntelsekunde schneller.

Die Mittagssonne spiegelte sich grell in dem vernickelten Revolverknauf Doc Hollidays.

»Nimm die Hände hoch, Lenz. Wer nicht reisen will, muß sitzen.«

Blitzschnell entwaffnete der Spieler den Tramp und führte ihn in die Allen Street.

Als Wyatt Earp die Schritte auf dem Vorbau hörte, wandte er sich um.

Die Tür wurde geöffnet, und Doc Holliday schob den Schießer herein.

»Tut mir leid, Marshal, aber der Junge wollte mit Gewalt ins Jail.«

Entgeistert starrte Charlie Lenz den Missourier an.

Das also war der große Wyatt Earp! Hölle und Teufel!

Lenz hatte den Auftrag bekommen, eine halbe Stunde lang in der Fremont Street die Leute durch allerlei Unfug auf sich aufmerksam zu machen, damit Coogan Gelegenheit hatte, seine Plakate unterzubringen. Dann hatte er die Stadt wieder zu verlassen. Und nun war er ausgerechnet Doc Holliday ins Garn gegangen und stand jetzt sogar vor Wyatt Earp!

Der Marshal musterte ihn kurz und schob ihn dann in den Zellengang.

Als die schwere Gittertür ins Schloß fiel, schlug die Angst in dem Tramp brandhohe Wellen. Und dieser Angst folgte sofort der Zorn. Wütend brüllte er:

»Das werden Sie bereuen, Marshal, verlassen Sie sich darauf! Sie werden es bitter bereuen!«

Wyatt kümmerte sich nicht um ihn und ging ins Office zurück.

Holliday hatte inzwischen an seinem Stammplatz zwischen Tür und Fenster Aufstellung genommen, die Füße übereinander geschlagen und die Hände in die Taschen geschoben.

»In ein paar Tagen kriegen wir Besuch«, sagte der Marshal, als er das Bureau betrat.

Holliday blickte nur auf.

Wyatt nahm das zerknüllte Plakat aus der Tasche, strich es glatt und hielt es hoch.

Mit einem eingekniffenen Auge blickte der Spieler darauf und stieß dann einen leisen Pfiff durch die Zähne.

»Sieh an, unser Freund hat sich angekündigt. – Bin gespannt, ob die Suppe in den richtigen Topf fällt.«

»Ist sie schon«, entgegnete der Marshal düster.

»Wieso? Haben die Leute schon etwas gemerkt?«

»Leider. Eines der Plakate habe ich frühzeitig genug erwischt, zwei andere aber haben die tapferen Tombstoner entdeckt. Eines klebte unten vorm Crystal Palace, das zweite vorm Court House und das dritte ist drüben am Bird Cage angeheftet worden.«

Holliday lachte leise in sich hinein.

»Dann kann der Tanz ja losgehen.«

Der Tag verging.

Und als sich der Abend über die Stadt senkte, war der Texaner noch nicht von seinem Ritt zur Humphery-Ranch zurückgekehrt.

Wyatt, der von einem Rundgang durch die Stadt zurückgekommen war, warf einen Blick zur Uhr, und in diesem Augenblick hörte er Schritte auf dem Vorbau.

Doc Holliday trat ein. »Es war der Bursche mit dem gelben Hemd«, sagte er nur.

Wyatt stand am Gewehrschrank und wandte den Kopf über die linke Schulter. »Der Mann mit dem gelähmten Arm?«

Der Gambler nickte.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil nur er es gewesen sein kann. Der andere ist sein Partner.«

»Ja, ich weiß.«

Der Spieler zog die linke Braue fragend in die Stirn.

Da deutete Wyatt auf die Tür zum Zellengang. Sie stand noch offen.

Holliday ging darauf zu, machte ein paar Schritte ins Jail und sah in einer der ersten Zellen den Mann mit dem gelben Hemd.

Langsam kam der Spieler ins Bureau zurück.

»Wie sind Sie darauf gekommen?«

»War doch ganz klar«, meinte der Missourier gelassen, während er seine Winchester auflud, »deshalb habe ich ihn gesucht.«

Nur etwa eine Dreiviertelstunde, nachdem Lenz ins Jail gebracht worden war, hatte Wyatt in Rozy Gingers Bar Jake Coogan aufgegriffen. Der Marshal war in seiner einmaligen Manier, die ihn von Anfang seiner Karriere an ausgezeichnet hatte, schnurgerade auf den Outlaw zugegangen und hatte ihm auf den Kopf zugesagt: »Sie sind mit Charlie Lenz in die Stadt gekommen und haben die Plakate angeheftet.«

Coogan war so überrascht gewesen, daß er keines Wortes fähig war.

Wyatt hatte ihm den Colt aus dem Halfter genommen, und auf die Tür gedeutet. »Kommen Sie, denn ich nehme nicht an, daß Sie auf eine Prügelei eingestellt sind.«

Die Überrumpelung war vollkommen gewesen. Jake Coogan hatte nicht mehr die Kraft zu irgendwelchem Widerstand gefunden.

Die beiden Sendlinge des Bandenchiefs saßen hinter Schloß und Riegel. Aber das bedeutete leider nicht allzuviel, denn es waren nur drittklassige Leute gewesen.

Der Big Boß hatte nichts mehr zu verschenken. Die gerisseneren Leute benötigte er für den großen Fight selbst. Der Chief hatte einkalkuliert, daß Coogan und Lenz ergriffen werden könnten, wenn sie ihre Aufgabe erledigt hatten. Es spielte keine Rolle mehr. Die Plakate hätten ihren Zweck dann bereits erfüllt.

An diesem Abend wurde in John Dunbars Stable eine Versammlung abgehalten, bei der sich vor allem Sandy Bob und sein Freund Ben Summerfield durch Hetzreden gegen den Marshal hervortaten.

»Wir werden unsere Stadt nicht wegen dieses Sternschleppers opfern, Leute!« brüllte Sandy mit Stentorstimme.

Mike Dunbar stieß ihn an. »He, Sandy, machs halb so laut. Wir sind nicht taub.«

»Was denn!« herrschte ihn Sandy Bob an. »Stehst du etwa hinter ihm?«

Dunbar zog die Schultern hoch. »Ich komme mir jedenfalls nicht glücklich in der Rolle eines Wyatt Earp-Gegners vor. Der Marshal hat verdammt viel für die Stadt getan. Das sollten wir nicht vergessen!«

Der kleine Harry Springs nickte beifällig. »Ja, stimmt genau. Ohne ihn hätten die Clantons damals die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Das steht fest. Und auch die Farman-Brothers hätten uns wie Hennen gerupft.«

»Hat alles nichts damit zu tun! Jetzt sieht die Sache anders aus. Der Karren steckt mitten im Dreck, und der Marshal kann ihn nicht mehr herauszerren!« rief Summerfield, ein untersetzter, unangenehmer Bursche mit langgezogenem Pferdeschädel und breitem Mund. Während er sprach, zuckte sein Adamsapfel unentwegt auf und nieder. »Die Zeiten haben sich geändert. Wyatt Earp ist am Ende! Er hat sich in einer Sackgasse verrannt. Er hätte sich doch denken können, daß er gegen eine solche Organisation nicht aufkommt. Der Große Chief stampft ihn in die Erde. Und mit ihm die ganze Stadt. Ich habe keine Lust, alles zu opfern, was ich in anderthalb Jahrzehnten aufgebaut habe. Wenn ihr Lust dazu verspürt, dann ist das eure Sache. Wir jedenfalls sind gegen den Marshal. Oder genauer gesagt: dafür, daß er verschwindet!«

»Jawohl, und mit ihm Holliday und Luke Short!« brüllte Sandy Bob.

War die Stimmung anfangs noch sehr geteilt gewesen, so schlugen sich nun mehr und mehr Leute auf die Seite des grauen Clans. Gegen elf Uhr hatte sich die Runde dazu entschlossen, das Office aufzusuchen, um dem Marshal mitzuteilen, daß er Tombstone verlassen solle.

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und in ihrem Rahmen stand zur namenlosen Verblüffung der Männer Wyatt. Der Marshal warf einen Blick über die Runde und sagte mit ruhiger Stimme:

»Evening, Gents. Sind wir schon soweit gekommen, daß wir zu feige sind, die Stadtversammlungen in der Stadthalle abzuhalten? Müssen wir uns dazu in diese muffige Bude verkriechen?«

Es dauerte eine Weile, ehe jemand wagte zu antworten. Es war der pferdeköpfige Summerfield, der brabbelte: »Es geht jetzt nicht darum, Marshal. Es geht jetzt nur um die Stadt! Es geht darum, daß Tombstone gerettet werden muß.«

»Ganz meine Ansicht, Mr. Summerfield.«

»Die Stadt muß gerettet werden«, brüllte Sandy Bob, »und sie kann nur gerettet werden, wenn Sie das tun, was die Gegenseite verlangt: Sie müssen Tombstone verlassen!«

Der Marshal maß ihn mit einem verächtlichen Blick.

»Die Gegenseite, Sandy? Sie wollten wohl sagen: die Banditen!«

Wyatt wandte sich um. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

*

Ben Summerfield, Sandy Bob und Mat Flegger hatten gegen Mitternacht drei weitere Männer aufgetrieben, die mit ihnen unterwegs hinunter in die Allen Street waren, um den Marshal abzufangen.

Sandy Bob wußte, daß Wyatt Earp um diese Zeit meist ins Russian House Hotel ging, wo sein Quartier war.

Aber sie warteten vergeblich.

Um zwanzig nach zwölf gingen sie in die Allen Street zurück und sahen, daß immer noch Licht im Office brannte.

Da entschlossen sie sich, das Bureau aufzusuchen.

Summerfield und Sandy Bob gingen voran. Die anderen folgten.

Aber im Office saß nur der alte Hunter.

»Wo ist der Marshal?« herrschte ihn Sandy Bob an.

»Ich weiß es nicht, Mr. Bob.«

Da wurde die Hoftür geöffnet, und der Gesuchte trat ein.

Obwohl die Männer erst verblüfft waren, fing sich Summerfield doch schnell und geiferte den Marshal an:

»Mr. Earp, wir sind gekommen, um Sie nochmals dringend aufzufordern, die Stadt zu verlassen.«

»Ach – ?«

»Ja, Sie brauchen das gar nicht so spöttisch zu fragen. Es ist bitter ernst gemeint. Das Wohl der Stadt liegt uns am Herzen –«

»Wie es Ihnen immer am Herzen gelegen hatte«, unterbrach ihn der Missourier brüsk.

»Mr. Earp, wir sind nicht hier um uns mit Ihnen zu unterhalten, sondern um mit Nachdruck Ihre Abreise zu fördern.«

»Was du nicht sagst, Summerfield.«

Der Pferdekopf wich zwei Schritte zurück und trat einem der hinter ihm stehenden Männer auf den Fuß.

»Sie können mich nicht bedrohen, Marshal, ich spreche im Namen der ganzen Stadt!«

Und plötzlich hatte einer der Männer einen Revolver in der Hand. Es war der linkische Theodore Heinson; ein Trinker, der überhaupt nur zu irgend etwas zu gebrauchen war, wenn er wenigstens eine halbe Flasche Whisky intus hatte.

Wyatt blickte auf den Revolver und schüttelte den Kopf.

»Du mußt lebensmüde sein, Ted.«

Heinson lallte mit schwerer Zunge:

»Es hat keinen Zweck, Marshal! Ich kann nicht dulden, daß Sie sich den Boys widersetzen.«

In diesem Augenblick klang draußen Hufschlag auf, der vor dem Office hart abgebremst wurde. Dann war ein schweres Poltern auf den Vorbaudielen, und gleich darauf tauchte hinter den Männern im Türrahmen die riesige Gestalt des Texaners auf.

Als Luke den Revolver in der Hand des Trinkers sah, schaltete er sofort, riß das linke Bein hoch, und die Waffe flog an die Decke. Ein fürchterlicher Faustschlag warf Heinson bis an die schwere Bohlentür, die zum Zellengang führte.

»Hallo, Marshal!« Der Riese wandte sich nach dem Missourier um und tat dann ganz erstaunt, als er die anderen Männer im Office anblickte. »Sie haben Besuch? Wünschen Sie, daß ich noch ein paar Bonbons austeile?«

Summerfield ballte die Fäuste, als er sah, daß die anderen sich bereits dem Ausgang näherten.

»Wartet, Männer! Wir haben dem Marshal etwas zu sagen. Weshalb soll der Sheriff es nicht auch hören?«

»Ja, da bin ich gespannt«, entgegnete der Texaner dröhnend.

»Es ist so, Mr. Short: Die Galgenmänner haben heute Plakate in die Stadt gebracht, auf denen sie den Abzug des Marshals fordern. Und wenn Wyatt Earp nicht geht, wollen sie in einigen Tagen die Stadt in Schutt und Asche legen.«

»Kein schlechter Gedanke«, meinte der Tex, zog eine seiner langen Virginiazigarren aus der Hemdtasche und schob sie zwischen seine großen, ebenmäßig gewachsenen weißen Zähne. Als er das Zündholz an der Decke anriss, sagte er an der Zigarre vorbei: »Wirklich kein schlechter Gedanke, dieses elende Drecksnest niederzubrennen. Man hätte dem Teufel viel Arbeit erspart.«

»Aber Sheriff!« ärgerte sich Summerfield. »Denken Sie doch an die Frauen und Kinder, die Gebrechlichen und die Greise…«

Der Tex winkte ab und schnauzte Summerfield an:

»Halt deinen Rand, Angsthase! Glaubst du, ich wüßte nicht, um was es hier geht? Ihr seid Feiglinge alle miteinander, elende Feiglinge! Raus jetzt, ehe ich mich an euch vergreife!«

Die Männer beeilten sich hinauszukommen.

Der Riese ging ihnen auf den Vorbau nach und ballte die Fäuste:

»Verdammtes Gesindel! Hat sich dieser Mann fast ein Jahrzehnt um die Ohren geschlagen, um dieses Kaff am Leben zu erhalten, und jetzt werden diese Wanzen noch frech! Wenn ich einen von euch noch einmal hier sehe, gibts Knochensalat!«

Schnaubend vor Ärger kam er ins Office zurück und sah zu seiner Verblüffung in das lächelnde Gesicht des Missouriers.

»Ihre Ruhe möchte ich haben, Marshal. Sie haben Nerven wie Stacheldraht. Weshalb haben Sie die Bande nicht verprügelt und hinausgeworfen?«

Der Missourier zog seine breiten Schultern hoch und ließ sie langsam wieder fallen. »Wozu, Luke? Ich brauche meine Nerven jetzt mehr denn je. Wir werden sie alle brauchen…«

*

Am 7. Juli also! Das waren noch drei Tage. Heute war Freitag. Der 7. war ein Montag.

Ganz Tombstone bebte diesem Tag entgegen.

Es war spät am Abend, und im Kontor des Mayors, das gleichzeitig das Office seines Zeitungshauses war, wo der Tombstoner Epitaph herausgegeben wurde, saß John Clum tief über den Tisch gebeugt und schrieb.

Sieben Briefe hatte er verfasst, schob sie in die Umschläge und Schloß das Tintenfass. Dann zog er sein Jackett an, setzte seinen Hut auf und verließ das Haus.

Es war still auf der Freemont Street. Schräg gegenüber gähnte der ewig offenstehende O.K.-Corral. Drüben schoben sich die Konturen der City Hall düster in den hellen Nachthimmel.

John Clum überquerte die Straße und ging am O.K.-Corral vorbei. Wie immer blieb er einen Augenblick stehen und blickte in den düsteren Wagenabstellplatz, in dem sich vor zweieinhalb Jahren Wyatt Earp mit den Clantons geschossen hatte.

Langsam ging er weiter, bog um die Ecke des Harwood-Houses, in dem der siebzehnjährige Billy Clanton nach dem furchtbaren Gunfight gestorben war. Obgleich der grauhaarige Mayor sich schon oft vorgenommen hatte, diese düsteren Dinge zu vergessen, sprangen sie ihn doch immer wieder an, wenn er nachts hier vorüber kam.

Er ging die Dritte Straße hinunter bis zur Allen Street, bog rechts bei Billy Kings Shop ab, passierte noch das kleine Atlantic Restaurant und blieb vor dem großen Steinbau der US-Bank stehen.

Abe Solomons hatte eines der schönsten Häuser der Stadt. Es stand noch nicht sehr lange und bildete neben dem Crystal Palace und einigen anderen Häusern den Stolz der Allen Street.

Der Mayor blickte auf das dunkle Gebäude, sah sich dann nach allen Seiten um und ging schließlich auf den Eingang zu.

Als er die Hand um den Messinggriff des Klingelzuges spannte, hielt er einen Augenblick inne und überlegte. Dann zog er den Griff zurück. Hart und metallen fiel das Geräusch der Türglocke in den Hausgang.

Es dauerte eine Weile, bis im Obergeschoß eines der Fenster geöffnet wurde.

»Wer ist da unten?« hörte der Mayor die Stimme des Bankiers.

»Ich bin’s, Solomons.«

»Der Mayor?«

»Ja –«

»Warten Sie, ich komme.«

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Solomons die Tür öffnete, um den Bürgermeister einzulassen.

»Was führt Sie denn so spät noch zu mir, Mr. Clum!«

»Können wir einen Augenblick in Ihr Office gehen, Mr. Solomons?«

»Selbstverständlich.«

Der weißhaarige Bankier führte den Mayor in sein Bureau. Als er ihm einen Sessel anbieten wollte, lehnte Clum ab und kam gleich zur Sache.

»Sie waren doch an meinem Haus interessiert, Mr. Solomons –!«

Der Bankier blickte ihn verblüfft an. »Wieso, wollen Sie es plötzlich doch verkaufen?«

»Verkaufen nicht, Mr. Solomons. Ich habe Ihnen damals schon gesagt, daß ich das Haus für meine Zeitung brauche und die Zeitung noch einige Jahre herausgeben will. Aber ich möchte Geld auf das Haus aufnehmen.«

»Auf das Haus?« Solomons fuhr sich durch sein weißes Haar. Lauernd beobachtete er den Bürgermeister, da er sich dessen plötzlichen Entschluß nicht erklären konnte. »Wieviel wollen Sie aufnehmen?«

»Siebentausend Dollar.«

Der Bankier fuhr sich wieder durchs Haar, nahm dann seine Brille auf und schob sie sich auf die Nase.

»Das ist ein schönes Stück Geld, Clum.«

Prompt ließ er schon den ›Mister‹ weg. Der Mayor überhörte diese Unhöflichkeit und versetzte:

»Ja, aber Sie wissen selbst, daß das Haus gut und gern dieses Geld wert ist.«

Sie verhandelten noch eine Weile, und dann war der Bankier einverstanden, das Geld zu einem beträchtlichen Zinssatz auszuleihen.

Schweren Herzens trat John Clum den Heimweg an, auf dem er im Post Office die sieben Briefe einwarf.

*

Der Samstag verlief in bedrückender Ruhe. Alles blieb still in Tombstone.

Wyatt Earp machte unablässig die Runde durch die Stadt, und zwar nicht ohne sein Pferd, um gegebenenfalls schneller vorwärts zu kommen.

Doc Holliday hatte gegenüber vom Crystal Palace im Obergeschoß des Grand Hotels ein Zimmer bezogen, von wo aus er die Mainstreet gut im Auge hatte.

Luke Short ritt durch den südlichen Teil der Stadt, während der Marshal den nördlichen abgraste. Und die Deputies Jeff und Ric Hunter patrouillierten jeweils am Ost- und Westrand Tombstones. Der alte Hunter saß meist allein im Office, um Wache zu halten.

Der Samstag war ereignislos vergangen, und auch die Nacht zum Sonntag war still.

Gedrückt kamen die Menschen in die beiden Gotteshäuser und lauschten während des Gebets ängstlich nach draußen.

Im Schneckentempo krochen die Stunden vorüber. Es wurde Nachmittag und schließlich Abend.

Blauschwarze Nacht lag über Tombstone. Nur noch wenige Stunden trennten die Stadt vom Montag.

Wyatt Earp war im Sheriffs Office und hatte gerade mit dem alten Hunter die neuen Wachrunden der beiden Deputies besprochen, als draußen auf dem Vorbau Schritte zu hören waren.

Der Missourier löschte sofort das Licht, forderte den Alten auf, in den Hof zu gehen, und trat selbst in die Tür zur Straße.

Mehrere Männer kamen vom Oriental Saloon her und blieben vor dem Marshal stehen.

Es war nicht so dunkel, daß er sie nicht hätte erkennen können: Gilmore war bei ihnen, Sandy Bob, Summerfield und Vincent.

Sommerfield blieb breitbeinig stehen und ließ einige Sekunden der Stille verstreichen. Dann warf er den Kopf hoch und bellte los:

»Earp, Sie sind noch hier?«

»Wie Sie sehen.«

»Dann müssen wir es Ihnen deutlicher sagen: Sie verlassen die Stadt, und zwar gleich!«

Ben Summerfield hatte das Phänomen Wyatt Earp noch nicht eingehend genug studiert. Er sollte erfahren, daß der Ruhm, der diesem Manne seit seinem ersten Kampf als Marshal gegen Ben Tompson oben in Ellsworths anhaftete, kein Zufall war.

Ehe einer der Männer etwas hätte unternehmen können, kam Wyatt näher und blieb dicht vor Summerfield stehen.

»Was hast du gesagt, Summerfield?«

Der dreiunddreißigjährige muskulöse Bursche krächzte stur:

»Du sollst dich zum Teufel scheren, Mensch!«

Niemand hatte die Faust des Missouriers hochzucken sehen, aber krachend detonierte der Faustschlag an Bens Kinnlade. Summerfield war so hart getroffen, daß er vom Vorbau gerissen wurde.

Wyatt sah Sandy Bob auf sich zukommen, riß einen rechten Haken nach vorn, traf den ungestümen Mann am Jochbein und fegte ihn ebenfalls von den Stepwalks.

Der gorillahafte Butchergeselle Andrew Engelman rechnete sich eine Chance aus, polterte vorwärts und brüllte:

»Es hat keinen Zweck, Earp, du verschwindest jetzt!«

Sein pfeifender Schwinger fuhr über den abgeduckten Kopf des Marshals hinweg. Tief aus der Hüfte heraus riß Wyatt einen linken Uppercut hoch, der genau die mächtige Kinnspitze des Fleischers traf.

Es schien, als würde Engelmann hochgehoben, doch dann kippte er zurück und fiel gegen Vincent und Gilmore, die hinter ihm standen.

»Hat noch irgend jemand etwas zu sagen?«

Nein, es hatte niemand etwas zu sagen. Die Männer machten kehrt.

Erst als sie die Ecke erreicht hatten, murmelten sie Verwünschungen vor sich hin, aber als sie auch noch Luke Short unten aus der Fünften Straße herankommen sahen, suchten sie schnell das Weite.

Doc Holliday, der in seinem Zimmer gewesen war, kam herunter auf die Straße.

Die drei trafen sich an der Ecke des Oriental Saloons.

»Sieht mulmig aus, die Geschichte«, meinte der Tex. »Am liebsten würde ich dem Big Boß die Arbeit abnehmen und das ganze Nest selbst anzünden.«

Der Missourier stand schweigend da und blickte in das dunkle Gesicht Hollidays.

Der Spieler schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, und für einen Augenblick wurde sein hageres Gesicht von der rötlichen Flamme des Zündholzes beleuchtet.

»Ich habe immer gesagt, daß es eine schöne, erholsame und gemütliche Stadt mit netten Leuten ist, dieses Tombstone. Der Marshal wollte es nie glauben. Meinethalben können wir noch dreißig oder fünfzig Jahre hierbleiben«, meinte Holliday gallig.

Der Tex lachte los. »Damned, wenn wir Sie nicht hätten, Doc, könnte man trübselig werden. Well, nehmen wir einen Drink, vielleicht sieht die Sache dann rosiger aus.«

Aber auch der kleine Drink im Crystal Palace änderte nichts an der Situation.

Tombstone war wie verhext; die Menschen waren von einer Panik ohnegleichen ergriffen.

Selbst die Häuser, die ohnehin schon nicht sehr hoch waren, schienen niedergeduckt dazuliegen und vor Angst ihre Dächer eingezogen zu haben.

Morgen war der 7. Juli, der Tag, an dem der Große Chief der Galgenmännerbande nach Tombstone kommen wollte, um mit dem Gegner abzurechnen!

In dieser Nacht schliefen die drei Gefährten nicht. Unentwegt machten sie ihre Runden.

Als der Morgen dämmerte, sah Wyatt die beiden jungen Deputies mit übernächtigten grünschimmernden Gesichtern auf das Office zukommen.

»Legt euch schlafen, Boys.«

Die beiden nickten und machten sich davon.

Kein Mensch ließ sich auf der Straße blicken.

Kurz vor acht Uhr glaubte der Marshal, der gerade im Hof des Sheriffs Office damit beschäftigt war, seinen Falben zu tränken und zu füttern, Hufschlag die Straße heraufkommen zu hören.

Er trat ans Tor und sah unten am Ende der Allen Street, fast bei der Abzweigung zum Boot Hill, eine Reiterschar kommen. Wenigstens sechs oder sieben Männer.

Wyatt ging ins Office und nahm seine Winchester aus dem Gewehrschrank. Dann ging er bis zur Tür, schob das linke Revolverhalfter weiter nach vor und lockerte den Colt im Lederschuh, wie er es immer getan hatte, wenn eine Gefahr auf ihn zukam.

Wo mochte der Texaner sein? Höchstwahrscheinlich irgendwo unten an den Miner-Camps. Und Doc Holliday hatte vor einer Stunde mit todblassem Gesicht sein Quartier im Grand Hotel aufgesucht. Wyatt hatte ihn aufgefordert, sich ein paar Stunden hinzulegen.

Er war also allein.

Hart spannte sich seine sehnige Rechte um das Winchestergewehr, als er die Tür zur Straße aufstieß und auf den Vorbau trat.

Die Reiter waren jetzt fast bis zum Crystal Palace herangekommen. Sie ritten nicht etwa in breiter Front nebeneinander, sondern zu zweit hintereinander.

Der Missourier, der an den Rand des Vorbaues getreten war, hatte sofort die ersten mit seinem Blick erfaßt – und riß die Augen weit auf.

Er glaubte, seinem Wahrnehmungsvermögen nicht trauen zu können, denn in dem linken der beiden Männer erkannte er den schnauzbärtigen bulligen Sheriff Clyde Harrings aus Continental. Und neben ihm ritt Billy Norton, der Sheriff von Tucson.

Wyatt kniff die Augen zusammen, riß sie dann wieder auf, aber das Bild blieb. Und wenn er noch einen Zweifel gehabt haben sollte, so belehrten ihn die Sterne auf den linken Brustseiten der beiden Männer ihn eines besseren. Und hinter den beiden erkannte er Jerry Collins, den Sheriff von Mescal, und Cass Larkin aus Naco. Dahinter ritt Jack Milton, der Sheriff von Bowie; die beiden anderen Reiter kannte er nicht.

Wyatt wartete, bis sie das Sheriffs Office erreicht hatten, und sah dann der Reihe nach über ihre Gesichter.

Außer Larkin kannte er nur noch Clyde Harrings und Bill Norton etwas besser.

Norton stützte sich aufs Sattelhorn auf und kniff das linke Auge ein.

»Hallo, Wyatt?«

Der Marshal tippte an den Hutrand. Jetzt fiel ihm erst ein, daß er die Büchse in der Hand hatte, und blickte darauf nieder.

Clyde Harrings sah sich um. »Ich weiß nicht, Marshal, ob Sie die Männer alle kennen?«

»Zum größten Teil«, entgegnete der Missourier, der zugleich sah, daß sowohl Doc Holliday – oben am Fenster des Grand Hotels – als auch Luke Short – in der Gassenmündung der Fünften Straße – auf dem Posten waren.

Was hatte das hier zu bedeuten? Was wollten diese sieben Männer in Tombstone? Das war ja eine regelrechte Abordnung von Gesetzesmännern aus der Umgebung!

Sheriff Norton aus Tucson deutete auf Harrings und meinte:

»Das ist Clyde Harrings aus Continental.«

»Wir kennen uns«, meinte Harrings feixend.

Collins rief: »Auch wir kennen uns!«

Der Marshal nickte nur. »Ja, ich kenne auch Jack Milton und Sheriff Larkin.«

»All right«, versetzte Norton, »der kleine Bursche da mit dem verkniffenen Gesicht ist Fred Black, der neue Sheriff von Nogales und der Rotschopf neben ihm ist Chris Chesterton, der Sheriff von Bisbee.«

Wyatt nickte den Männern zu.

Norton griff sich unbehaglich hinters Ohr.

»Sagen Sie, Marshal, wissen Sie etwa nicht, weshalb wir hier sind?«

Ein unangenehmes Gefühl stieg in dem Missourier auf.

»Nein«, entgegnete er ruhig.

»Nun«, Norton griff in die Tasche. »Wir haben eine Depesche bekommen. Ich glaubte erst, nur ich hätte diese Nachricht bekommen. Aber unterwegs traf ich dann die anderen. Wir alle haben Depeschen bekommen von Mayor Clum. Er hat uns für heute hierher bestellt.«

Eine flammende Röte übergoß das Gesicht des Marshals.

Da hatte also der greise John Clum in die Dinge eingreifen wollen und sieben Sheriffs aus benachbarten Städten hierher nach Tombstone gerufen! Der gute John Clum! Er wollte nicht mit ansehen, wie sein Freund Earp hier vor die Hunde ging.

Wyatt schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Bill, ich wußte nichts von der Sache.«

»Macht nichts«, meinte Norton, während er vom Pferd stieg und die Zügelleinen über den Querholm warf. »Wir sind da, und das ist die Hauptsache.«

Auch Harrings glitt aus dem Sattel. »Bin mal gespannt, ob der Bandenführer Wort hält.«

Milton blickte seinen Kollegen Larkin an und fragte ihn:

»Was meinen Sie, Cass, wollen wir erst einen Drink nehmen?«

Der hochgewachsene, breitschultrige und schmalhüftige Gesetzesmann von Naco fuhr sich mit der Linken durch sein gutgeschnittenes, kantiges Gesicht, schüttelte dann den Kopf, nahm eine Strohhalmzigarre aus der Westentasche und schob sie zwischen seine Zähne. »Nein, ich werde lieber einen Ritt durch die Stadt unternehmen, wenn es dem Marshal recht ist.«

»Wie Sie wollen, Larkin«, meinte Wyatt.

Der Sheriff von Nogales fand: »Ja, Larkin hat recht, wir sollten uns erst in der Stadt umsehen, ehe wir uns einen Drink gönnen.«

Chesterton, der sein Pferd jetzt ebenfalls gewendet hatte, hielt an, als er drüben in der Gassenmündung den riesigen Texaner erblickte.

»He, der Teufel soll mich reiten, wenn dieses Riesenspielzeug da nicht Luke Short ist!«

Schlagfertig entgegnete der Tex: »Wenn ich nicht so von deinem roten Schopf geblendet würde, Brother, würde ich dich für Chris Chesterton aus Bisbee halten.«

Die beiden lachten brüllend los. Der erste Kontakt war also geschlossen.

Harrings, Norton und Collins gingen mit ins Office und ließen sich von dem Marshal das einzige Plakat zeigen, das Wyatt aufgehoben hatte. Kopfschüttelnd standen die Gesetzesmänner da und blickten sinnend vor sich hin.

Harrings meinte nach einer Weile:

»Das ist eine böse Sache. Höchstwahrscheinlich kommt der Halunke mit einer ganzen Schwadron von Desperados hier an. Wie ich ihn kenne, bringt er Vaqueros von der Grenze mit, Bravos aus dem ganzen Gebiet. Und darunter sind die größten Strolche, die es seit anderthalb Jahrzehnten hier an der Grenze gegeben hat.«

»Ich habe gewußt, daß es so kommen mußte«, fügte Jerry Collins aus Mescal hinzu. »Diese Hunde geben keine Ruhe, bis sie sich hochgeboxt haben und alles andere am Boden liegt.«

»Wird ein harter Kampf werden«, vermutete auch Norton.

Harrings, Norton und Collins blieben eine halbe Stunde und schoben dann ebenfalls ab.

Am Nachmittag sah Wyatt Fred Black und Clyde Harrings noch einmal auf der Mainstreet. Gegen Abend traf er Collins und Cass Larkin oben am Boot Hill; die beiden saßen auf ihren Pferden und blickten in die Savanne hinaus.

Als Larkin dem Marshal kommen sah, hob er den Arm.

Wyatt ritt auf die beiden zu.

»Irgend etwas bemerkt?«

Larkin schüttelte den Kopf. »Nein, schätze, daß der Tanz hier ohne uns stattfinden wird.«

Und Collins fügte hinzu: »Schade, hätte die tausend Bucks gut brauchen können.«

Eine steile Falte schob sich zwischen die schwarzen Brauen des Missouriers. »Die tausend Bucks –?«

»Ja«, erklärte jetzt Larkin, »John Clum hat jedem von uns tausend Dollar zugesagt.«

Wyatt wandte sich ab, ritt in die Stadt zurück und stieg vorm ›Tombstoner Epitaph‹ aus dem Sattel.

John Clum stand gerade neben einem der Setzer und korrigierte einen neuen Artikel, der sich mit der Lage in der Stadt befasste.

Als er den Marshal sah, verdüsterte sich sein Gesicht sofort. Was er die ganze Zeit befürchtet hatte, war also eingetreten: Wyatt Earp war dahintergekommen, daß er den Leuten, die er gerufen hatte, Geld versprochen hatte. Langsam kam er auf den Marshal zu und stand mit zerknirschtem Gesicht vor ihm.

»Tut mir leid, Wyatt, es gab keine andere Möglichkeit.«

»Ich weiß nicht«, entgegnete der Marshal, während er sich umwandte und durch die offene Tür in die gleißende Helle der Straße hinausblickte. »Mich würde nur interessieren, wie Sie die siebentausend Dollar auftreiben wollen.«

Clum wies mit dem linken Daumen über die Schultern zu seinem Kontorraum hinüber. »Ich habe sie schon.«

Wyatts Kopf flog herum. »Siebentausend Dollar? Ich hatte Sie bis heute nicht für einen so wohlhabenden Mann gehalten, Mr. Clum.«

»Glauben Sie, daß ein Mann mit siebentausend Dollar schon wohlhabend ist?«

Da tauchte Doc Holliday vor den beiden auf.

Wyatt sah in sein Gesicht und spürte sofort, daß auch der Doc etwas von der Sache mit dem Geld in Erfahrung gebracht haben mußte.

»Ich habe den Marshal gerade gefragt, ob ein Mann, der siebentausend Dollar besitzt, wohlhabend ist?« sagte der Mayor.

Der Gambler fuhr sich mit dem Mittelfinger der rechten Hand durch seinen blütenweißen Kragen und zog die Schultern hoch.

»Wenn man den ganzen Monat nur hundert Bucks verdient, John Clum, sieht man in einem Mann, der siebentausend Dollar zu verschenken hat, einen Millionär.«

Unbehaglich blickte der Mayor den Marshal von der Seite an.

»Well, ich bin kein Millionär. Wyatt Earp weiß es. Ich habe Geld bei Solomons aufgenommen.«

»Bei Solomons!« entfuhr es zu gleicher Zeit dem Marshal und Doc Holliday.

»Ja, wo sonst? Er allein ist in der Lage, sofort Geld zu geben.«

»Schade«, meinte der Spieler, »wären Sie zu mir gekommen, hätten Sie es ohne Zinsen gekriegt, das heißt, ich hätte Ihnen die Geschichte ausgeredet.«

Clum preßte seine Hände zusammen und blickte ratlos von einem zum anderen. »Aber Wyatt, was wollen Sie denn? Haben Sie allen Ernstes vor, allein gegen diese Horde anzukämpfen? Harrings, Norton, Larkin und Black sind schließlich Leute, die mit dem Eisen umgehen können. Vor allem Larkin ist ein Mann, der den Teufel nicht scheut. Sie wissen es doch selbst. Auch der rote Chesterton, Jack Milton und Jerry Collins sind kampferprobte Männer…«

»Für siebentausend Dollar«, preßte der Marshal durch die Zähne und ging langsam auf die Straße hinaus.

Holliday, der noch neben der Tür stand, meinte zu John Clum:

»Machen Sie sich keine Sorgen, Mayor, die Sache kriegen wir schon wieder hin.« Dann folgte er dem Marshal.

Stunde um Stunde kroch dahin. Immer wieder ritt der Missourier an den Westrand der Stadt, da er instinktiv von dorther die Annäherung der Galgenmänner vermutete.

Die Schatten wurden länger und länger, und schließlich legte der Abend sein rotviolettes Licht über die Häusergiebel.

Tombstone hatte einen vollen Tag lang den Atem angehalten. Und nichts war geschehen.

Immer wieder sah man einen der fremden Sheriffs auf der Mainstreet oder oben in der Fremont Street auftauchen. Aber es tat sich nichts.

Als die Dunkelheit hereingebrochen war, standen die beiden Dodger vorm Sheriffs Office und sahen Luke Short drüben vom Sägewerk die Allen Street heraufkommen. Als der Tex vorm Office aus dem Sattel sprang, knurrte er:

»Hols der Teufel, mir wäre lieber gewesen, Clum hätte die ganze Sheriffs-Crew gelassen, wo sie war. Die Boys machen mehr Lärm als sonst was. Ich hatte vorhin Collins fast am Kragen, als ich oben bei den Corrals einen Burschen herumstrolchen sah. Und dann traf ich beim Boot Hill Larkin, der auf seinem Gaul hinter einem Gebüsch Posten gefaßt hatte; fast hätte ich ihm den Schädel eingeschlagen. Ich weiß nicht recht, ob ihm meine Entschuldigung etwas gesagt hat. Und Milton habe ich unten bei Rozy Gingers Bar am Hoftor erwischt und so hart am Kragen gepackt, daß er fast das Atmen vergessen hätte.«

Der Tex sprach das aus, was Wyatt Earp und Doc Holliday schon den ganzen Tag über gedacht hatten. John Clums Eingreifen war gut gemeint. Er hatte Hilfe für den Marshal heranholen wollen, Hilfe, die er teuer bezahlen mußte. Aber würde es wirklich eine Hilfe sein?

Denn die sieben Sheriffs waren nur schwer unter einen Hut zu bringen. Wyatt hatte mehrmals versucht, sie alle zusammenzuholen, um mit ihnen die Lage zu besprechen und festzulegen, was zu tun und zu lassen war. Aber immer fehlten ein paar von ihnen. Larkin hing dauernd im Sattel und kutschierte oben am Boot Hill herum. Black trieb sich in der Schlangengasse umher. Norton hatte offensichtlich seine Vorliebe für den Alkohol entdeckt und war nicht mehr aus Jonny Millers Bar herauszubringen.

Als die Nacht vergangen war und Wyatt Earp von den Corrals herunter auf die Allen Street zuritt, sah er schon von weitem das große weiße Papierstück an der Tür des Sheriffs Office.

Er sprang vom Pferd gleich auf den Vorbau und zog den Zettel von der Tür: Groß und deutlich stand da:

Wyatt Earp!

Der Big Boß ist in der Stadt und gibt dir noch einen einzigen Tag Zeit.

Dir und Tombstone!

Darunter wieder das große schwarze Dreieck.

Der Missourier schob den Zettel in die Tasche und sah sich rasch nach allen Seiten um.

Es war noch zu früh, als daß ihn irgend jemand hier hätte beobachten können. Die Straße war noch still und menschenleer.

Rotgolden war die Sonne im Osten aufgegangen und warf ihre Strahlenbündel flammend in die breite Mainstreet der staubigen Westernstadt.

Der Marshal nahm den Hut ab, wischte durchs Schweißband und blickte den Strahlenbündeln der Sonne nach, die sich an den Vorbaubalken brachen. Wie die Sonne doch selbst das traurige Bild dieser Straße verschönern konnte!

Der Missourier mußte sich Mühe geben, diesen Gedanken nachzuhängen – um nicht an den Zettel zu denken, den er in seiner Tasche trug!

Er war also in der Stadt!

Kaltnervig hatte der Banditenschief Tombstone aufgesucht, obgleich er genau wissen mußte, daß sieben Sheriffs in Tombstone waren, um mit dem Marshal gegen ihn zu kämpfen.

Er war gekommen und hatte ihm noch einen Tag Frist eingeräumt.

Der Missourier zog sich in den Sattel und ritt weiter.

Der Crystal Palace war noch geschlossen.

Doc Hollidays Fenster oben im Grand Hotel waren heruntergeschoben. Ein sicheres Zeichen dafür, daß der Spieler nicht oben lag und schlief, denn er hatte es sich angewöhnt, wie der Marshal selbst nur noch bei offenem Fenster zu schlafen.

Wo mochte der Tex sich herumtreiben?

Wyatt ritt langsam an den Häusern vorbei, blickte in die Querstraßen und hielt an dem Abbieger zum Boot Hill an. Es war eine Gasse, die im sanften Bogen nach Nordosten hochzog.

Er hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, hierher zu reiten; ganz unbewußt hatte er diesen Weg genommen.

Er war also in der Stadt! Dieses Bewußtsein beherrschte das ganze Denken Wyatt Earps.

Hatte er etwa den Nerv gehabt, selbst den Zettel an die Officetür zu heften?

Der Gedanke war unvorstellbar – und dennoch nicht unmöglich, denn niemand kannte ihn ja.

Capucine konnte sich natürlich am helllichten Tag nirgends sehen lassen, da ihn jedermann in der Stadt kannte.

Und wieder einmal, wie schon so oft in den letzten Monaten, befaßte sich Wyatt intensiv mit dem Gedanken an den Desperado, der den ganzen grauen Clan ins Leben gerufen hatte, der die fürchterlichste Verbrecherorganisation aufgezogen hatte, die der weite Westen kannte.

Wer war dieser Mann?

Wer verbarg sich hinter seiner Maske?

Es mußte ein außergewöhnlicher Bursche sein, der diese Crew angeführt hatte. Der Missourier hatte schon von Anfang an gewußt, daß dieser Mann kein alltäglicher Verbrechertyp sein konnte. Nur ein großes Organisationstalent konnte das schattenhafte Auftauchen und Verschwinden der Graugesichter, ihr plötzliches Zupacken und das spurlose Verschwinden geplant und durchgesetzt haben. Dieser Mann ging nicht primitiv, sondern mit einer Schläue vor, die ein eiskalt berechnendes Verbrecherhirn voraussetzte.

Der Missourier hatte die letzten Häuser der kleinen Gasse hinter sich gebracht, als er den Blick hob und verblüfft seinen Hengst anhielt. Hier von seinem Platz aus konnte er bis zum Boot Hill sehen, der mit einem einfachen Holzzaun umgeben war.

Nur die östliche Seite des Hügels war mit den Gräbern bedeckt. Weshalb das so war, wußte niemand genau. Die Behauptung einiger Leute in der Stadt, daß der Boot Hill so angelegt worden sei, daß die Menschen von der Stadt aus die Gräber immer sehen können sollten, leuchtete dem Marshal nicht ein. Er neigte eher zu der Vermutung, daß man hier das indianische Prinzip nachgeahmt hatte, alle Gräber der aufgehenden Sonne zuzukehren. Der Mann, der vor einer ganzen Reihe von Jahren den Boot Hill angelegt hatte, war ein alter Apache gewesen, der noch bis vor kurzer Zeit unten am Südrand der Stadt in einer kleinen Hütte gehaust hatte, ehe man ihn selbst hierher tragen mußte.

So vermochte der Marshal jetzt vom Gassenende aus einen Blick über den ganzen Boot Hill zu werfen, und was er da sah, ließ ihn innehalten.

Mitten in den Gräberreihen stand ein Mann.

Er trug einen braunen breitrandigen Melbahut, ein verwaschenblaues Hemd und eine braune Levishose. Er war also unauffällig gekleidet, und doch fiel etwas bei ihm auf: er trug keine Waffe.

Der Marshal hätte ihn auch auf eine Meile Entfernung erkannt und auch noch nach einem halben Jahrhundert. Zu typisch war seine Gestalt und seine Haltung.

Es war Ike Clanton!

Den Mann, den er jetzt in Tombstone am allerwenigsten gebrauchen konnte.

Die Gedanken im Hirn des Missouriers jagten einander mit Blitzschnelle. Wer war dieser Isaac Joseph Clanton in Wirklichkeit? War er nur der einstige, ungebärdige Rindermann, der ein halbes Hundert Cowboys in die Sättel gebracht hatte, um hier im Cochise County auf seine Weise aufzuräumen, um den Herrscher von Arizona zu spielen? War er nur der harmlose Rancher, für den er sich seit dem Gefecht im O.K.-Corral ausgab? Oder verbarg sich hinter seinem verschlossenen Gesicht ein ganz anderer, nämlich der gefährlichste Desperado, den es je in den Staaten gegeben hatte: der Big Boß der Maskenmännerbande?

Wyatt fixierte den breiten Rücken des bewegungslos dastehenden Mannes, und dann nahm er die Zügelleinen auf.

Der Falbhengst trabte den Hügel hinan und hielt vorm Eingang des Friedhofs.

Ike Clanton drehte sich nicht um. Er stand auf dem gleichen Fleck, auf dem ihn der Marshal schon mehrmals angetroffen hatte: vor dem Grab seines Bruders Billy.

Wyatt lehnte sich an einen der Pfosten des Eingangs und wartete.

Was trieb diesen Mann hierher? Weshalb starrte er so lange unverwandt auf den längst eingefallenen Grabhügel? Hatte ihn der Tod des kleinen Bruders wirklich so furchtbar getroffen? Hatte dieses Ereignis ihn so aus der Bahn seines feurigen, triebhaften Lebens werfen können?

Plötzlich wandte sich Ike Clanton um, und seine bernsteinfarbenen Augen saugten sich an dem Gesicht des Marshals fest.

Nur etwa acht oder neun Yard trennten die beiden Männer von einander.

Wyatt blickte mit kalten Augen in dieses tiefbraune, kantige, harte Gesicht, das sich in all den Jahren nur wenig geändert zu haben schien.

Was spielte sich hinter dieser breiten, knochigen Stirn ab?

Ike kam langsam durch die Gräberreihen auf den Eingang zu, blieb neben Wyatt stehen und blickte auf die Stadt hinunter.

»Wir haben ein seltsames Talent, uns auf Stiefelhügeln zu begegnen, Marshal«, sagte er, ohne den Blick von den Dächern und Straßenzeilen zu wenden.

»Mich ziehts nicht her«, entgegnete Wyatt schroff.

Ike griff in die linke Westentasche und nahm eine Zigarre heraus. Während er nach einem Zündholz suchte, meinte er:

»Aber mich.«

Diese Worte schienen aus der Ecke zu kommen, aus einem unendlich tiefen Brunnen, so dumpf klangen sie.

Wyatt beobachtete das scharfgeschnittene Profil des einstigen Cowboys. Jetzt sah er, daß sich dieses Gesicht doch verändert hatte. Von den Augen weg zogen sich scharfe Krähenfüße wie Schnitte durch die braune Haut, und das Haar an den Schläfen begann grau zu werden.

Die Luft schien stillzustehen. Es war brütend heiß.

Wyatt stand jetzt nur noch anderthalb Yard von Ike Clanton entfernt. Plötzlich tat er etwas, was er gar nicht hatte tun wollen. Er warf die Rechte plötzlich nach vorn und legte die Hand auf den Unterarm des Ranchers.

»Ike, ich muß Sie mitnehmen!« brach es heiser aus seiner Kehle.

Langsam wandte der Rancher den Kopf. In seinen gelben Augen stand auf einmal wieder jenes heimliche Glimmen, das der Missourier früher so oft bei ihm beobachtet hatte.

»Weshalb –?« fragte Ike nur.

Dumpf stieß der Marshal hervor:

»Sie wissen, was sich in der Stadt tut!«

»Nein, das weiß ich nicht«, entgegnete der Rancher, »und es interessiert mich auch nicht mehr.«

»Aber mich interessiert es, Ike, und ich kann kein Risiko mehr eingehen. Der Chief der Galgenmännerbande hat seinen Besuch angekündigt, und er hat mir und der Stadt nur noch einen Tag gegeben.«

»Und –? Was habe ich damit zu tun?«

Der Marshal schluckte. Es kam ihn höllisch schwer an, die nächsten Worte über die Lippen zu bringen.

»Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie der Chief der Galgenmännerbande sind.«

Ike Clanton blickte ihn unverwandt an. Das Glimmen in seinen Augen war plötzlich erloschen, und nur eine unendliche Leere stand darin.

Es war still.

Wenn doch nur ein kleiner Zephir die Äste der beiden Bäume vorm Eingang des Boot Hills hätte bewegen wollen! Aber nicht der geringste Luftzug rührte sich, und da unten in der brütenden Mulde lag die Stadt. Irgend etwas von einer Dynamitladung hatte sie an sich, auf die über die Lunte der glühende Funke zukroch.

Endlich öffnete der Rancher die Lippen, ohne aber die weißen Zähne auseinanderzunehmen.

»Sie irren sich, Marshal.«

»Es tut mir leid, Ike, ich sagte es schon: ich kann kein Risiko mehr eingehen.«

Da nahm der Rancher den Kopf wieder nach vorn und blickte auf die Stadt hinunter.

»All right, gehen wir.«

Sie machten ein paar Schritte vorwärts. Da trabte hinter einem Gebüsch hervor ein schwarzer Hengst und blieb neben dem Rancher stehen.

Ike sah sich nach dem Marshal um.

»Kann ich aufsteigen?«

»Natürlich.«

Niemals zuvor in seinem Leben hatte der Missourier solche Sekunden durchgemacht.

Ike Clanton griff mit der Linken nach dem Sattelhorn und hielt in der Bewegung inne. Wyatt, der nur zwei Schritte hinter ihm stand, blickte auf seinen breiten Rücken. Da wandte der Rancher den Kopf, sah über die Schultern zurück. Seine Augen schimmerten unter dem Hutrand hervor.

»Sie irren sich, Wyatt«, sagte er noch einmal. »Es ist vertane Zeit…«

Da wandte sich der Missourier ab, ging zu seinem Pferd, zog sich wortlos in den Sattel und ritt im Trab in die Stadt zurück.

Als er die Allen Street erreicht hatte, blickte er sich noch einmal um. Er konnte den Rancher noch oben auf dem Hügel stehen sehen. Ike Clanton stand neben seinem Pferd und blickte zum Friedhof hinüber.

Vielleicht war es ein furchtbarer Fehler, den der Marshal da begangen hatte. Aber er hatte es einfach nicht über sich bringen können, diesen Mann jetzt hinunter ins Jail zu führen.

Gab es doch nicht den kleinsten wirklichen Beweis gegen Ike Clanton Der Verdacht, den der Marshal gegen ihn hatte, war ja nur ein persönliches Gefühl.

Natürlich, auch Doc Holliday und Luke Short hatten Clanton im Verdacht, der verkappte Bandenführer zu sein. Aber auch das war kein Beweis. Und ein Beweis mußte auf jeden Fall erst erbracht werden.

Der Missourier ritt langsam durch die Allen Street und hielt vorm Office an. Als er vom Pferd stieg, sah er Doc Holliday oben aus der Tür des Bureaus kommen.

Der Spieler blieb vorn an der Vorbaukante stehen, schob die Daumen in die Westenausschnitte und blinzelte die Straße hinunter.

»Sie haben einen Verfolger, Wyatt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Da hinten kommt ein alter Freund von Ihnen.«

Der Marshal wandte den Kopf – und sah zu seiner Verblüffung Ike Clanton die Allen Street herunterkommen.

Der Rancher ritt langsam, passierte die Querstraßen, blickte nicht rechts noch links und kam auf den Marshal zu. Als er ihn erreicht hatte, stützte er sich mit beiden Händen aufs Sattelhorn, tippte zu Doc Holliday hin grüßend an den Hutrand und sagte dann: »Vielen Dank, Wyatt, für das Vertrauen.«

Damit nahm er die Zügelleinen auf, setzte seinen Hengst in Trab und ritt aus der Stadt.

Der Marshal blickte hinter ihm her, bis er um eine Gassenbiegung verschwunden war.

»Was war denn das?« meinte der Spieler, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob.

»Das möchte ich auch wissen«, antwortete der Marshal. »Entweder war das jetzt die größte Frechheit des Chiefs der Galgenmännerbande, oder er hat es wirklich ernst gemeint.«

Die Befürchtung, daß Ike – wenn er wirklich der Big Boß war – einen Riesenspott vom Stapel gelassen hatte, machte auch Doc Holliday zu schaffen.

»Er spielt Katz und Maus mit uns«, knurrte er, während er sich in den Schaukelstuhl niederließ, der neben der Bürotür stand.

Wyatt blieb auf der Schwelle des Office stehen und blickte in den halbdunklen Raum.

»Der Bandenführer hat uns noch einen Tag zugegeben, und auch der geht jetzt zu Ende.«

Der Spieler sah den Freund fragend an.

Da nahm der Marshal die letzte Nachricht des grauen Chiefs aus der Tasche und reichte sie dem Freund.

Holliday warf einen kurzen Blick darauf und erwiderte ungerührt:

»Dann hat er noch fünf Stunden Zeit.«

Der Georgier wippte ein paarmal hin und her mit dem Schaukelstuhl, stand dann auf, sah noch einmal auf die Uhr und sagte leise: »Gut möglich, daß es ein anderer ist. Der, den ich jetzt meine, sitzt gerade im Crystal Palace.«

Wyatt wandte verwundert den Kopf.

Holliday erhob sich, winkte ihm mit der Hand und ging voran. Er überquerte die Gassenmündung, stieg die Vorbaustufen zu der Eckschenke hinauf und schob die Schwingarme der Pendeltür auseinander.

Wyatt, der hinter ihm stand, blickte über seine Schulter und konnte den ganzen Raum übersehen. Sofort fiel sein Blick auf den Mann, der hinten in dem grün ausgekleideten, mit Goldflimmer besetzten Spielsalon an einem der mit grünem Filz bezogenen Tische saß: es war Kirk McLowery!

Wyatt wandte sich um und preßte einen Fluch durch die Zähne.

»Der ist also auch da!«

»Ja. Und ich wette tausend Dollar, daß er bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr da sitzt.«

Holliday trat in die Schenke, grüßte den Keeper mit einem Augenzwinkern, durchmaß den langen Schankraum und ging in den anschließenden, nur durch eine rote Portiere abgetrennten Spielsalon.

McLowery blickte auf. In seinen Augen stand Verwunderung, als er den Georgier erkannte. »Hallo, Doc!«

»Hallo, Kirk!«

Der Mann aus dem San Pedro Valley, dessen Brüder im Kampf gegen Wyatt und Doc Holliday im O.K.-Corral ihr Leben gelassen hatten, zog die Mundwinkel nach unten und blickte wieder auf die Kartenblätter, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

Er hatte die Gewohnheit, sein schöngeschnittenes Gesicht auf eine unangenehme Weise zu verziehen, so daß es etwas Diabolisches annahm.

»Wollen wir eine Runde spielen, Doc?«

»Warum nicht.«

Sofort zog Holliday einen der Stühle zurück, ließ sich darauf nieder und blickte auf die weißen Hände des zwielichtigen Mannes.

Kirk zog die Karten wieder zusammen, ließ sie auseinanderfliegen, schnappte sie auf und schob sie ineinander.

Er versuchte damit einen der berühmten Tricks Doc Hollidays nachzuahmen und brachte ihn sogar einigermaßen zustande. Aber es reichte nicht an das heran, was der Gambler mit den Karten aufzustellen verstand.

Holliday griff nach dem Spiel, nahm es in die Linke und schnipste es in die etwa zwanzig Inches entfernt liegende offene rechte Hand hinüber. In hohem Bogen schienen die Kartenblätter über den Tisch zu fliegen, um von der rechten Hand magisch angezogen zu werden. Dann schienen die Spielkarten plötzlich auf der grünen Tafel zu tanzen. Ein wahres Feuerwerk von Tricks ließ der Spieler vor den Augen des verblüfften Zuschauers los.

Dann schnipste er ihm plötzlich einige Karten hin. Das Spiel hatte begonnen.

Um fünf Uhr hatte Kirk McLowery siebzig Dollar verloren. Um sechs waren es zweihundert und um halb acht tausend.

Der Mann aus dem San Pedro Valley, besaß nicht die Kaltnervigkeit des Georgiers. Nicht nur die schwere Ader an seiner Stirnseite, die unablässig pochte, verriet seine übergroße Erregung.

Jetzt warf er ein großes Bündel mit Geldscheinen auf den Tisch.

»Ich setze zweitausend gegen Ihren Tausender, Doc!«

Holliday nickte: »Wette angenommen, auch ich setze zweitausend.«

Kirk McLowery verlor. Er verlor auch die nächste Runde. Da zog er plötzlich die Brauen zusammen und knurrte: »Ich will Sie ja nicht beleidigen, Doc, aber eine solche Strähne habe ich noch nicht gesehen.«

Holliday nickte und antwortete mit gelangweilter Stimme:

»Ja, kann sein.«

Da warf der andere den Kopf hoch. »Wollen Sie damit etwa sagen, daß Sie…«

Auch Holliday hatte den Kopf hochgenommen, legte ihn jetzt etwas auf die Seite und fixierte seinen Spielpartner.

»Was wollten Sie sagen, Kirk? Sprechen Sie sich nur aus.«

Aber McLowery schluckte seinen wilden Zorn hinunter, griff in die Tasche und schrieb auf ein Stück Papier: »Ich schulde fünftausend.« Dann setzte er mit steilen Buchstaben seinen Namen darunter.

Ungerührt strich der Georgier den Schein ein.

Kirk McLowery verlor weiter. Das Spielerglück, das ihm so oft gelächelt hatte, hatte ihn an diesem Abend verlassen.

Er erhöhte den Einsatz in einem Anfall von Größenwahn auf zehntausend Dollar.

Und verlor.

Um neun Uhr hatte der einstige Cowboy aus dem San Pedro Valley sein ganzes Erbe verspielt. Zweiundvierzigtausend Dollar hatte er an den Georgier verloren. Die Schuldscheine lagen vor Doc Holliday.

Der strich sie gelassen ein, erhob sich und sah sich nach dem Keeper um.

»Billy, ich spendiere für Mr. McLowery einen Abschiedsdrink.«

Da schoß Kirk von seinem Platz hoch und preßte die Hände auf die Tischkante.

»Ich pfeife darauf!«

Holliday, der sich schon halb abgewandt hatte, blieb stehen und sah zu ihm hinüber.

»Haben Sie irgend etwas gesagt, Kirk?« Seine Stimme klirrte wie berstendes Glas.

Das diabolische Gesicht des San Pedro-Mannes wurde kalkweiß.

Mit einem Ruck stieß er den Stuhl zurück, zog seinen Hut tief ins Gesicht und stampfte quer durch den Schankraum davon.

»Ihre Zeche, Mr. McLowery!« rief ihm der Keeper nach.

»Laß nur, Billy«, meinte der Georgier, »die hat er bezahlt…«

Kirk McLowery verließ die Stadt. Er ritt nach Süden an den Miner-Camps vorbei in die Savanne.

Der Georgier, der ihm eine Weile vorsichtig gefolgt war, wußte es nach wenigen Minuten.

Es ereignete sich nichts mehr an diesem Tage. Auch die Nacht verging.

Am nächsten Vormittag gegen neun Uhr tauchten Clyde Harrings, Jerry Collins und Chris Chesterton vorm Sheriffs Office auf.

Als sie eintraten, saß der Marshal über einem Bericht. Doc Holliday, der erst vor wenigen Minuten gekommen war, lehnte zwischen Tür und Fenster an der Wand und rauchte.

Collins rieb sich das Kinn. »Yeah, Marshal, das ist nun so, wir können natürlich nicht ewig hierbleiben…«

»Wer verlangt das von Ihnen?«

»Nun, darum gehts nicht, ich meine, tausend Bucks sind tausend Bucks. Und…«

Eine jähe Röte flog über das Gesicht des Missouriers. Langsam stand er auf.

Da tippte Doc Holliday Harrings auf die Schulter.

»Komm, Junge, halt deine Hand auf, damit es schnell geht.« In der Linken hatte er ein Banknotenbündel und mit der Rechten zählte er dem verblüfften Sheriff das Geld vor. »Tausend Dollar. In Ordnung?«

Harrings nickte betreten und retirierte zur Tür.

Dann kam Collins an die Reihe, und am Schluß war der rote Chesterton dran. Der nahm den letzten Schein weg und legte ihn auf den Tisch.

»Das stifte ich für das Grabkreuz des Großen Chiefs«, meinte er mit galligem Humor und ging mit den anderen hinaus.

Eine Stunde später sah der Missourier oben in der Westpoint-Street Jack Milton, den Sheriff von Bowie. Er ritt aus der Stadt.

Wyatt holte ihn ein und hielt sein Pferd neben ihm an.

»Sie haben Ihren Lohn vergessen, Mr. Milton.«

Der Sheriff schüttelte den Kopf und knurrte:

»Nein, danke, ich brauche ihn nicht. Larkin und Norton haben schließlich auch darauf verzichtet.«

»Haben die beiden denn auch schon die Stadt verlassen?«

»Ja.«

Eine halbe Stunde später erfuhr der Marshal, daß sich der kleine Fred Balck bei John Clum sein Geld abgeholt hatte.

So war denn auch dieser Spuk vorüber. Mehr als die Hälfte der fremden Gesetzesmänner hatte sich den kurzen Trip nach Tombstone schwer bezahlen lassen. Drei von ihnen hatten sich grußlos davongemacht, weil sie sich geschämt hätten, die tausend Dollar zu nehmen.

Die Nacht ging still vorüber. Und der Mittwochmorgen kroch grau und bleischwer über den Horizont. Brutige Luft erfüllte die Straßen und machte das Atmen schwer.

Kurz nach sieben Uhr war es, als der Missourier, der nur wenige Stunden in der kleinen Schlafkammer neben dem Office verbracht hatte, durch das Fenster einen Reiter vorüberkommen sah, der seinen Blick fesselte.

Es war ein langer schlaksiger Mensch mit hängenden Schultern, scharfer langer Nase und fliehendem Kinn. Er hatte einen tückischen, verschlagenen Blick, der noch durch die über die Augen fallenden scharfen Lider verstärkt wurde.

»Jack Flanagan!« entfuhr es dem Marshal tonlos.

Dieses gefährlichste Mitglied der Banditenfamilie unten aus der Schlangengasse kam also ausgerechnet jetzt in die Stadt!

Wyatt blickte hinter ihm her und machte sich dann an sein Tagewerk.

Genau halb acht war es, als Luke Short, der schon auf Kontrollgang unterwegs gewesen war, das Office mit den Worten betrat:

»Haben Sie schon unseren alten Bekannten begrüßt, Wyatt?«

»Wen, Jack Flanagan?«

»Nein, diese Vogelscheuche habe ich auch gesehen. Ich meine unseren Freund Phin!«

Was denn! Phineas Clanton sollte in der Stadt sein?

Wyatt blickte den Hünen an.

»Wo haben Sie ihn gesehen?«

»Er ist im Occidental Saloon.«

»Seit wann?«

»Seit fünf Minuten. Die Kneipe hat ja eben erst aufgemacht.«

»Haben Sie ihn kommen sehen?«

»Ja, das heißt, ich habe der Schenke einen Besuch abgestattet, und als ich hinausging und mich in den Sattel zog, sah ich ihn aus der Dritten Straße kommen. Er blickte mich an, hielt einen Augenblick seinen Gaul zurück, rutschte aus dem Sattel, warf die Zügelleinen nebenan um den Querholm und schwang sich auf den Vorbau.«

Da war also auch er gekommen. Noch ein Clanton! In dieser Situation!

Hatte Ike hier auf ihn gewartet?

Weshalb war Phin ausgerechnet jetzt nach Tombstone gekommen, wo die Stadt auf dem Kopf stand?

Da stürzte ein kleiner Mann mit kahlem Schädel und grünem Marienglasschirm auf der Stirn in die offenstehende Bürotür.

»Marshal!« schrie er und schwenkte ein Stück Papier. »Hier, das habe ich bekommen!«

Wyatt nahm das Blatt und las:

Heute ist der letzte Tag von Tombstone. Heute nacht um zwölf Uhr geht die Stadt in Flammen auf. Ich habe den Rückzug der fremden Sternschlepper abgewartet, um nicht noch mehr Sternen den Garaus machen zu müssen. Tombstoner! Wenn Ihr in dieser Nacht nicht mit Petroleum übergossen als brennende Fackel durch die Straßen laufen und elend zugrunde gehen wollt, wahrt Eure Chance. Jagt meinen Feind in die Savanne hinaus! Dies ist mein Land, und Tombstone ist meine Stadt. Ich komme heute in der Abendstunde.

Der Big Boß.

Darunter stand wieder das Dreieckszeichen.

Ja, es stand tatsächlich da: Big Boß!

Eine Frau betrat atemlos das Office. Sie hatte den gleichen Schrieb bekommen. Wenige Minuten später erschien der Schneider Donegan, dann der Sohn des Sattlers Ferrington. Im Laufe der nächsten Stunde kamen noch zehn weitere Leute mit dem Aufruf der Graugesichter.

Die Wühlarbeit der Ratten ging also weiter.

Als die beiden Deputies um halb zehn noch nicht im Office waren, wollte Luke Short das Haus der Hunters aufsuchen, um nach ihnen zu sehen.

Da aber kam der Alte schon heran und nahm den Hut ab. Er ging an dem Texaner vorbei, blickte auch Doc Holliday an, der in der Tür stand, und trat auf den Marshal zu.

»Mr. Earp, es tut mir leid, ich kann sie nicht aus dem Haus bringen. Sie… sie haben Angst.« Es fiel dem Alten unendlich schwer, dem Marshal diese Worte zu sagen. »Aber auf mich können Sie rechnen, Mr. Earp. Ich werde bleiben.«

»Ist etwas geschehen?«

»Ja, wir haben auch diesen Wisch gekriegt, und gestern nacht war ein Mann bei uns im Hof, der Jeff er­wischte und schwer zusammendrosch. Der Junge hat zwei Zähne verloren und scheußliche Kopfschmerzen. Vielleicht verstehen Sie ja…«

Der Marshal nickte müde. »Ja, Hunter, ich verstehe.«

Kurz vor elf kam John Clum. Er war über den Hof gegangen und stand hinten in der Tür des Bureaus.

»Wyatt«, meinte er, während er sich den Schweiß mit einem großen Taschentuch von der Stirn rieb, »ich habe eine Idee! Ihr kommt alle zu mir ’rüber.«

Der Marshal blickte befremdet in das schweißnasse Gesicht des Bürgermeisters. »Wie soll ich das verstehen, John?«

»Nun ja, da drüben sucht euch keiner.«

»Haben Sie geglaubt, daß wir uns verstecken wollen?«

»Nein, nein, das nicht. Aber vielleicht ist es ganz gut, wenn die Bande nicht gleich weiß, wo Sie zu suchen sind.«

Der Marshal winkte ab. »Nein, John, vielen Dank, mein Platz ist hier.«

»Aber ich habe etwas gehört, Wyatt –«

Da drängte der Texaner den Bürgermeister ungeduldig:

»Nun spucken Sie doch endlich aus, Mr. Clum! Was gibts denn?«

Der Mayor kam langsam an den Tisch heran, stützte seine mit braunen Punkten besetzte Linke auf die Kante auf, während er sich mit der Rechten immer wieder den Schweiß von der Stirn und aus dem Kragen wischte.

»Ich weiß natürlich nicht, ob es stimmt. Aber ich habe heute nacht gehört, daß es siebzehn Reiter sein sollen…«

»Siebzehn? Wer hat sie denn gesehen?«

»Der kleine Asmußen hat es mir gesagt.«

»Der Bursche von dem Schafzüchter?« knurrte der Tex.

Der alte Henry Asmußen war in der Stadt nicht sehr beliebt, da er auf seinem Anwesen Schafe hielt. Schafe waren im Westen einfach verpönt. Ein Mann, der auf den Gedanken gekommen wäre, sich Ratten zu halten, wäre auch nicht schlechter angesehen gewesen als ein Schafshalter.

»Wo will er die Reiter denn gesehen haben?« erkundigte sich der Marshal.

»Ich weiß es nicht. Ich habe es nicht aus ihm herausgekriegt.«

Wyatt erhob sich sofort, stülpte seinen Hut auf und verließ, gefolgt von Luke Short, das Office.

John Clum wollte ihnen nachgehen, blieb aber auf der Türschwelle stehen und sah sich nach dem Spieler um.

»Übrigens, Doc, ich habe heute morgen siebentausend Dollar bekommen. Wenn auch nicht dabeistand, so weiß ich doch genau, von wem sie sind. Sie werden nicht annehmen, daß ich sie behalten kann.«

»Aber selbstverständlich nehme ich das an, Mayor«, entgegnete der Gambler mit einem gleichgültigen Lächeln, das um seine Mundwinkel huschte. »Was glauben Sie denn, weshalb ich die Bucks ausgespuckt habe? Ihretwegen? Für einen Mann, der sein Geld verschenkt, habe ich nichts übrig. Aber ich will nicht auf die einzige lesbare Zeitung dieses Nestes verzichten…« Damit stieß er sich von der Wand ab, schob sich an dem verblüfften Graukopf vorbei und trat auf den Vorbau hinaus.

Wyatt Earp hatte das kleine Anwesen der Asmußens erreicht.

Es lag am Nordrand der Stadt oben hinter den Stoffdepots von Meyers. Es war ein armseliges Haus, das der irische Auswanderer Henry Asmußen mit seiner Frau und seinen sieben Kindern bewohnte. Den Hof hatte er nur notdürftig mit einem Bretterzaun umgeben. Und schon auf der Gasse drang einem der starke, beizende Geruch von Schafen entgegen. Obgleich es an und für sich nicht einmal ein übler Geruch war, so stach er doch für die Menschen des Westens von dem gewohnten Pferde- und Rindergeruch so scharf ab, daß sich viele Menschen direkt ekelten. Das ist zwar schwer vorstellbar, wenn man an die Rauheit dieser Menschen und dieser Zeit denkt, aber es war nun einmal so.

Wyatt öffnete das Gatter und trat in den Hof.

Drüben in der Tür des niedrigen breiten Schafstalles stand ein gebeugter Mann mit zerfurchtem Gesicht, das von silbergrauen Bartstoppeln besetzt war. Er blickte den Marshal aus zu nahe beieinanderstehenden, ängstlichen, wasserhellen Augen an.

»Good Morning«, grüßte der Marshal zurück, und dann stellte er dem Iren seine Fragen.

Der zog nur die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Der Junge redet ja nicht.«

»Wo ist er?«

»Kid ist drüben hinter der Scheune.«

Als der Marshal um die Scheunenecke bog, sah er einen etwa dreizehnjährigen Jungen am Boden knien und ein Werkzeug reparieren.

Wyatt blieb hinter ihm stehen und beobachtete eine Weile, wie er versuchte, einen Sichelstiel mit einem Draht zu umwickeln, da die Spitze des Messers immer wieder herausrutschte.

»So wird das nichts, Kid. Du mußt oben einen Keil hineinziehen und den Draht höher setzen.«

Der Bursche schrak zusammen, wandte sich um und sprang dann auf.

»Marshal!« entfuhr es ihm.

»Ich habe nur eine Frage an dich, Kid. Ich möchte gern wissen, wo du heute früh die Reiter gesehen hast.«

Der Junge schluckte. »Ich… ich kann es nicht sagen, Mr. Earp.«

»Schade, Kid. Ich hatte dich für einen anständigen Jungen gehalten, dessen sich niemand in der Stadt zu schämen braucht.«

»Zu schämen… meinetwegen? Nein, Mr. Earp, meiner hat sich noch niemand schämen müssen.«

»Na, dann wirst du mir jetzt wohl sagen, wo du die Männer gesehen hast?«

»Ich würde es Ihnen gern sagen, Mr. Earp, aber ich kenne die Gegend nicht genau.«

»Wo kamst du denn her?«

»Wir hatten gestern Schafe nach Liptontown gebracht. Und heute morgen stellte Vater fest, daß wir ein Tier zu wenig abgeliefert haben. Ich fand es zwischen den Miner-Camps und den großen Kakteenfeldern…«

Also ganz in der Nähe der Clanton-Ranch! zuckte es durch das Hirn des Marshals.

»Und du hast siebzehn Reiter gezählt?« forschte er.

»Ja, ich habe sie genau gezählt.«

»Konnten sie dich denn nicht sehen?«

»Nein; ich steckte ja mitten in den Kakteen, während sie von Südwesten kamen und daran vorbeiritten.«

»Hast du einen von ihnen erkannt?«

»Nein, das konnte ich ja nicht…«

»Nein?«

Der Junge hatte sich jäh unterbrochen und senkte den Kopf auf seine schmale eingesunkene Brust. »Ich… kann es nicht sagen, Mr. Earp!«

»Du mußt es mir sagen, Kid. Du weißt, daß es wichtig für die Stadt ist.«

»Die Männer trugen graue Gesichtsmasken!« brach es jetzt aus dem Burschen heraus.

Der Marshal tauschte einen kurzen Blick mit dem Texaner und fragte dann weiter: »Hast du das wirklich genau gesehen?«

»Ja, genau!«

»Hast du keinen von ihnen am Pferd oder an der Kleidung erkennen können?«

»Nein, dazu war es noch zu dämmrig. Aber die Gesichtstücher, die habe ich genau gesehen. Und es waren siebzehn Männer. Voran ritt ein Mann auf einem weißen Pferd…«

*

Hatte sich am vergangenen Tag das Leben schon wieder etwas normalisieren wollen, so schien es an diesem grauen Mittwochmorgen völlig erstickt zu sein.

Es hatte sich längst in der Stadt herumgesprochen, daß die sieben Sheriffs Tombstone wieder verlassen hatten. Dazu kamen die siebzehn Flugblätter, die der Big Boß in der Stadt hatte verteilen lassen.

»Wer um Teufel hat diese Wische bloß unter die Türen geschoben! Dazu bedurfte es doch einer ganzen Reihe von Kerlen«, meinte der Tex wütend. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Chief und Capucine so eine Arbeit selbst gemacht hätten.«

»Natürlich nicht. Sie haben wieder eine Crew, und wenn man Kid Asmußen glauben kann, dann hat die Bande wieder eine ganz hübsche Stärke.«

Der Marshal zeigte jedoch nicht, wie bedrückt er davon war, daß es dem gefährlichen Desperado, tatsächlich wieder gelungen sein mußte, so viele Leute in die Sättel zu bringen. Wyatt hatte schon gehofft, daß der Verbrecher hier im Alleingang mit Capucine seine letzten Kräfte in einem wilden Furioso verschleudern und verpuffen würde.

Die Lage schien doch erheblich ernster zu sein. Capucine war zurückgekehrt. Und seine Energie hatte den Chief wohl aufgeputscht und ihm einen Großteil seiner eigenen Kraft zurückgegeben. Nur den beiden Outlaws zusammen konnte es gelungen sein, tatsächlich so viele Männer in die Sättel zu bringen; Männer, die bereit waren, ihr Leben für den offenbar unausrottbaren Grauen Clan aufs Spiel zu setzen.

Und todsicher wußten die Banditen auch längst, daß die sieben Helfer, die Mayor Clum gerufen hatte, die Stadt bereits wieder verlassen hatten.

Es war viertel vor zwölf, und immer noch war der Himmel mit bleigrauen Wolken verhangen. Die Schwüle waberte in den Gassen und trieb den Menschen selbst bei Bewegungslosigkeit den Schweiß aus allen Poren. Wyatt Earp stand mitten auf der Kreuzung Allen Street – Fifth Street und blickte hinunter zum Russian House, in dessen breitem Eingang er die lichte Gestalt einer jungen Frau stehen sah.

Ein seltsames Gefühl griff nach seinem Herzen, als er plötzlich daran dachte, daß er ja vielleicht den Abend dieses Tages nicht mehr erleben würde, daß Tombstone in Flammen aufgehen und er irgendwo unter den Toten hier am Rand der Straße liegen könnte.

Wie viele Kämpfe hatte er hier bestanden! Hier hatte er die gefährlichen Clantons bezwungen und die McLowerys. Aber keiner seiner vielen Gegner war mit diesem grauen Gespenst zu vergleichen, das da seit neun Monaten durch die Prärie streifte, die Städte terrorisierte, mordete und raubte.

Plötzlich hatte der Marshal den Eindruck, daß die Frau ihm zuwinkte.

Er hob langsam die Hand bis in Brusthöhe, um zurückzuwinken, hakte dann aber den Daumen hinter einen Hemdknopf und zog die Unterlippe unschlüssig zwischen die Zähne.

Dann aber setzte er sich doch in Bewegung und schlenderte die Straße hinunter, blieb vor Nellie Cashman stehen und sah in ihre dunklen, wunderschön geschnittenen Augen.

»Hallo, Miss Nellie…« Es kam rauh aus seiner Kehle, und er hatte das Gefühl, daß ein ganz anderer diese Worte eben gesprochen hatte.

»Hallo, Wyatt«, sagte die Frau und nahm den Blick nicht von seinem Gesicht. »Wollen Sie nicht essen?«

Wyatt schluckte und schüttelte den Kopf.

»Nein, danke; ich habe keinen Hunger.«

»Sie warten, nicht wahr?« fragte sie stockend.

»Ja«, entgegnete er lakonisch.

»Müssen Sie warten?«

Da stand plötzlich ein Lächeln in den Augenwinkeln des Missouriers. »Ja, Miss Nellie, ich muß warten. Es geht nicht anders.«

»Schade«, sagte sie. »Aber wenn es vorbei ist, vielleicht kommen Sie dann? Ihr Zimmer steht schon so lange leer. Und heute abend gibts bei uns etwas besonders Gutes zu essen.

Er nickte, und als sie plötzlich seine Hand ergriff und sie drückte, spürte der Mann einen siedendheißen Blutstrom zu seinem Herzen schießen.

Er wandte sich um und stampfte wieder in die Mainstreet hinauf.

Es war halb eins, als der Marshal in den Hof des Offices ging. Er zog das Hemd aus, steckte den Kopf in einen Eimer mit kühlem Wasser, wusch sich den Oberkörper, zog ein frisches Hemd an und ging in den Stall hinüber, um nach den Pferden zu sehen. Die Tiere mußten ja jetzt von ihm und Luke Short selbst versorgt werden, da die Deputies sich nicht mehr sehen ließen; der Marshal hatte auch den alten Vater der beiden nach Hause geschickt, um ihm keine allzu schweren Belastungen zumuten zu müssen.

Die Luft wurde immer drückender und schien in dem kleinen Hof nicht mehr die geringste Spur von Sauerstoff zurückgelassen zu haben. Als der Marshal der Treppe zum Office zuging, spürte er, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

Er suchte die Schlafkammer auf, in der sein Bruder Virgil, der hier viele Jahre lang Deputy-Marshal gewesen war, gewohnt hatte, setzte sich auf die Kante der Pritsche nieder und starrte auf die staubigen Fußbodendielen.

Irgendwo im Haus zirpte ein Heimchen seine unbekümmerte Melodie.

Sonst war es still.

Der Marshal stand auf, durchquerte das jetzt auch von glühendheißer Luft erfüllte Office, trat ans Fenster, in das der große Stern eingelassen worden war, und blickte zum Grand Hotel hinüber.

In Doc Hollidays Zimmer war das Fenster hochgeschoben.

Der Georgier lag also wohl auf seinem Bett.

Luke Short, der kurz nach dem Besuch bei den Asmußens die Stadt verlassen hatte, um trotz der glühenden Mittagshitze in die Savanne hinauszureiten und die Gegend mit dem Fernglas abzusuchen, war noch immer nicht zurückgekehrt.

Wyatt wandte sich um und ließ sich in den Holzstuhl hinter dem breiten Schreibtisch nieder.

Er fühlte sich hundeelend und schlapp.

Aber ganz genau spürte er, daß der Tag der Entscheidung gekommen war.

Niemals bisher hatte er sich in diesem Gefühl getäuscht. Am Montag war es ihm nicht eine Sekunde so gewesen wie heute. Aber jetzt war es soweit! Der große Fight stand bevor!

Pulverrauch würde die Straßen Tombstones erfüllen und beizend in die Augen der Menschen dringen. Glühende Bleigeschosse würden ihre Wege in Bruchteilen von Sekunden zurücklegen und daumengroße Löcher reißen – ganz einerlei, wo sie aufschlugen.

Wyatt erhob sich und ging auf den Gewehrständer zu, neben dem ein großer Kalender hing, den der Mayor besorgt hatte.

Es war Mittwoch, der 9. Juli 1884.

Da stieß der Marshal die Linke vor, preßte sie auf das Blatt, wo sie sofort feuchte Flecken zurückließ, krampfte sie zusammen und riß die große schwarze Neun herunter, um sie zusammengeknüllt in den Papierkorb zu werfen.

Siebzehn Reiter hatte er in die Sättel gebracht! Eine Horde wie in seinen besten Tagen.

Und sie waren hier ganze drei Mann. Drei Mann, um eine Stadt und das Gesetz zu verteidigen!

War das nicht schon Wahnsinn? War das überhaupt noch etwas, was zu verteidigen sich lohnte, ein Gesetz, das doch überhaupt nicht mehr zu existieren schien, für das sich sonst niemand mehr in den Sattel und in den Kampf begeben wollte?

Der Marshal, der das Hemd über seiner breiten Brust noch nicht zugeknöpft hatte, ging wieder in den Hof hinaus, zog es aus und kippte sich den Inhalt des Eimers über den Kopf, unbekümmert darum, ob es ihm in das Hemd, die Hosen und die Stiefel rann.

Als er auf die Stiefel hinunterblickte, sah er, wie das Wasser schwarze Bäche durch die weißgelbe Puderschicht des Staubes gezogen hatte. Er bückte sich und zerstörte mit der Hand das Gefüge dieser Rinnsale.

Drinnen im Stall stampfte eines der Pferde auf den harten Lehmboden auf.

Wyatt schlenderte mit müden Schritten auf das Stalltor zu und zog die oberen Türhälften wieder auf, um einen Blick auf die Pferde zu werfen, die er ja erst vor ein paar Minuten verlassen hatte.

Nicht ganz einen Yard von ihm entfernt an der dunklen Außenwand lehnte ein Mann, fast so groß wie er selbst. Er hatte ein langes, hartes, dunkelbraunes Gesicht, aus dem ein schräggestelltes helles Augenpaar tückisch hervorblitzte. Die Nase war kurz, stumpf und aufgeworfen. Aufgeworfen waren auch die Lippen. Überlang das breite, in der Mitte gespaltene Kinn, das mehr als die Hälfte des Gesichtes ausmachte. Der Mann trug ein graues kragenloses Kattunhemd, das am Rücken, unter den Armen und vorn auf der Brust völlig durchgeschwitzt war. Er hatte die Arme und den Kopf gegen die Wand gepreßt, um nicht gesehen zu werden.

Jetzt, als der Marshal plötzlich in der Tür auftauchte, fuhr er herum, riß die Rechte, in der er einen schweren Gegenstand hielt, nach vorn und hieb auf den Überraschten ein.

Aber der Schlag wurde durch das reaktionsschnelle Zurückgehen des Missouriers gebrochen.

Dennoch traf das Hufeisen, das der Bandit in der rechten Hand gehalten hatte, die Kopfseite des Marshals so schwer, daß der in den Hof zurücktaumelte und in das linke Knie einbrach.

Da war der Eindringling schon bei ihm und riß das Eisen noch einmal hoch.

Noch im Unterbewußtsein nahm der Missourier den Kopf zur Seite, und abermals streifte der Schlag ihn nur.

Aber schwer betäubt fiel er jetzt nach vorn, mit dem Gesicht in den Staub des Hofes.

Der Bandit stand breitbeinig da, starrte eine Sekunde auf ihn nieder, wischte sich dann mit dem stark behaarten Unterarm den Schweiß aus der Stirn, lief zum Hoftor hinüber und stahl sich hinaus auf die Gasse.

»Einen hätte ich ausgelöscht«, stieß er mit anstoßender Zunge durch die Zähne. »Die Belohnung wäre fällig.«

Als er den Vorbau des Crystal Palaces erreicht hatte, sah er noch einmal zu dem Tor des Sheriffs Offices hinüber, das in die Gasse hinausführte. Der kleine Hof des Sheriffs Office hatte auch vorn zur Mainstreet hin ein kleines Tor, meistens aber benutzten die Bewohner dieses Anwesens das größere Tor zur Fünften Straße hinaus.

Der Mann mit den aufgeworfenen Lippen und den Fischaugen ging mit schnellen Schritten auf den Eingang der Schenke zu, stieß die Tür auf, sah sich noch einmal nach allen Seiten um, ehe er in die Schenke trat.

Verschlafen hatte der Keeper Billy hinter der Theke gesessen. Jetzt blickte er auf und sah den Mann eintreten.

Damned, wo hatte er dieses Gesicht schon gesehen?

Der Fremde trat an die Theke, fegte mit der Linken ein paar Gläser, die ihm im Weg standen, zur Seite und krächzte:

»Eine Flasche Firepoint.«

Der Keeper beeilte sich, die vierkantige dickglasige Flasche vom Bord zu nehmen, und wollte ein Glas heranziehen.

Aber der Fischäugige hieb ihm das Glas mit der ausgestreckten Hand aus den Fingern, packte die Flasche, schlug den Korken mit dem Messerheft ab und setztet sich das Mundstück an die Lippen.

Glucksend rann der rubinrote Firepoint in seine Kehle. Auf einen Zug hatte er die Flasche bereits zu einem Viertel geleert, setzte sie ab und prustete schwer.

»Damned, das war gut. Übrigens, einer ist bereits erledigt.«

Der Keeper nickte. »Yes, Sir.«

»Was heißt hier ›Yes, Sir‹! Was willst du denn schon wissen, du kleiner dreckiger Whiskyverdünner!«

Der Keeper wich einen Schritt zurück, um in die Nähe des Perlschnürenvorhanges zu kommen, der vor dem Flur hing.

Da hatte der Fremde plötzlich in seiner rechten Faust einen Revolver.

»Hiergeblieben, Boy! Ich unterhalte mich mit dir.«

»All right, Mister.«

»Quatsch nicht so dumm, Mensch, sieh lieber zu, daß ich eine anständige Zigarre bekomme.«

Mit einem schnellen Griff nahm der Keeper den Zinnbecher mit den Virginias heran und schob ihn vor den Fischäugigen hin.

Der fegte den Becher so hart vom Tisch, daß er bis zur Fensterfront hinübergeschleudert wurde und eine Scheibe zertrümmerte.

Dieses Geräusch weckte den Georgier oben in seinem Zimmer auf.

Der Fischäugige röhrte: »Zigarre, habe ich gesagt, und wenn ich Zigarre sage, dann meine ich eine große schwarze, wie sie euer ausgelöschter Marshal geraucht hat!«

Ausgelöschter Marshal? dachte Billy entsetzt, während er sich nach der Kiste bückte und einen stechenden Schmerz in seinem Schädel verspürte. Damned, was war geschehen?

Mit zitternder Hand brachte er die Kiste auf das Thekenblech und schob sie dem anderen hin.

Der nahm sie und hieb sie dem Keeper auf den Schädel, daß er die Augen verdrehte.

»Na, Junge, jetzt ist sie wenigstens auf.« Durch das zertrümmerte untere Brettchen zerrte er eine Zigarre, die natürlich zerquetscht wurde. Da riß er die Endstücke des Brettchens weiter heraus und nahm eine zweite Zigarre.

»Du kennst mich noch nicht, stimmts? All right, dann sollst du meinen Namen erfahren. Und ich schätze, er wird dir nicht ganz unbekannt sein. Mein Name ist Behan. Firpo Behan. Jahahaha«, lachte er röhrend, »ich bin gekommen, um unseren Namen wieder zu Ehren zu bringen. Mein Vetter Jonny schickt mich. Er kommt nach, um den Stern wieder zu nehmen. Schätze, daß dich das freuen wird, Schnapspanscher.«

Der Keeper rang nach Atem. »Ja, natürlich, Mister…«

Sofort wurde das Gesicht Firpo Behans wieder vom Zorn entstellt.

»Mensch, verstell dich nicht! Ich weiß genau, daß du mich nicht leiden kannst. Aber das wird sich ändern, verlaß dich drauf. Und wir wollen gleich damit anfangen.« Rasch nahm er wieder die schon halb zertrümmerte Zigarrenkiste und hieb sie dem verstörten Mann erneut auf den Kopf.

Der Keeper mußte sich jetzt mit beiden Händen an der Thekenkante festhalten, um nicht hinten gegen das Flaschenbord zu torkeln.

»Ja, ich bin gekommen, ich, Firpo Behan, um frischen Wind in dieses Drecksnest zu bringen!«

Der Keeper war gar nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, als das leise quietschende Geräusch der Schwingarme der Pendeltür die lastende Stille nach den Worten des Rowdy zerschnitt.

Firpo Behans Kopf flog herum.

In der Tür sah er gegen die Helle der Straße die Silhouette eines Mannes.

Er trug das Hemd über der Hose, hatte die Ärmel hochgekrempelt und blickte zu dem Banditen hinüber.

Es war Wyatt Earp!

Firpos Rechte flog zum Revolver.

Da sah er in der linken Hand des Marshals einen Colt blinken.

Wyatt kam mit raschen Schritten in die Schenke, blieb vor Firpo stehen, stieß ihm mit dem Revolverlauf die Hand vom Colt und riß ihm die Waffe aus dem Halfter.

Dann ließ er seinen eigenen Revolver zurück in den Lederschuh fliegen und blickte den Rowdy aus schmalen Augen an.

»Ich glaube, ich muß einen schlechten Traum vorhin gehabt haben, Brother.«

Ebensowenig wie Summerfield und Sandy Bob kannte Firpo Behan den Missourier richtig; jedenfalls hatte er ihn erheblich unterschätzt. Als er jetzt die Zähne fletschte, und mit beiden vorgestreckten Fäusten auf den Marshal zustürmte, durchbrach eine krachende Rechte wie ein Geschoß die Deckung des Tramps und landete genau auf seiner Nase.

Seine Wut wurde noch gesteigert. Er begnügte sich jetzt nicht mehr damit, seine Arme zu gebrauchen, sondern riß jetzt auch das rechte Bein hoch.

Wyatt steppte sofort zur Seite und schmetterte einen linken Haken über den rechten Oberarm des Banditen, der auf dem Kinnwinkel detonierte.

Einen so fürchterlichen Schlag hatte der Bandit Firpo Behan noch niemals einstecken müssen. Er sackte an der Bordwand der Theke mit einem röchelnden Laut in sich zusammen.

Der Missourier packte ihn am Kragen und schleppte ihn hinaus auf die Straße.

Vorm Eingang sah er Doc Holliday, der den Transport beobachtete, sich dann abwandte und auf den Occidental Saloon zuhielt.

Als Behan über die Stufen auf die Straße hinausgeschleppt wurde, kam er zu sich und ging auf taumelnden Beinen weiter. Wyatt führte ihn ins Office und sperrte ihn ins Jail.

Unterdessen hatte der Gambler den Occidental Saloon erreicht.

Er stieß die schwere geschnitzte Pendeltür auf und sah am Stirnende der Theke Phin Clanton stehen.

Er war also tatsächlich zurückgekehrt, der mittlere der Clanton-Brothers. Später hat einmal ein Chronist von ihm gesagt: Eigentlich hatte er den Namen Clanton gar nicht verdient… Und das war treffend ausgedrückt. Phineas Clanton war zweifellos die blasseste Gestalt in dem Brüdertrio. Er hatte weder etwas von den Fähigkeiten, die seinen Bruder Ike auszeichneten, noch verfügte er über den feurigen Mut, den sein jüngerer Bruder Bill besessen hatte. Er war ein Trinker, ein Spieler, ein Frauenheld, und wenn es brenzlig wurde, hatte er meist das Hasenpanier ergriffen. Aber er war auch tückisch, dieser Phineas Clanton.

Wenn er ausgerechnet jetzt nach Tombstone zurückkehrte, so hatte das einen besonderen Grund. Er wußte ja, daß Wyatt hier war, und er wußte auch, daß er sich dann normalerweise nicht in der Stadt hätte sehen lassen können. Aber die Situation war ja nicht normal, und so war er gekommen und stand jetzt hier mit ausdruckslosem Gesicht am Stirnende der Theke im Occiental Saloon.

Doc Holliday maß ihn mit einem kurzen Blick und ging dann auf die Theke zu.

Es galt, nicht das geringste Risiko einzugehen; keiner dieser Tramps durfte in dieser gespannten Situation irgendeinen Punkt in der Stadt bedrohen.

Holliday blieb an der Theke stehen und stützte sich mit beiden Händen auf die Blechkante auf. Ohne Phin anzusehen, sagte er zu dem Salooner: »Hier stinkts nach Schafen.«

Der hagere Mann hinter der Theke war blaß geworden.

Holliday nahm sein goldenes Etui aus der Tasche, zog eine Zigarette daraus hervor und schob sie zwischen die Lippen.

Phineas Clanton, der ihn keine Sekunde aus den Augen ließ, beobachtete genau, daß Doc Holliday dies alles mit der linken Hand tat. So nahm der Gambler jetzt ein Zündholz hervor und riß es ebenfalls mit der Linken unter der Thekenkante an.

»Doch, Keeper, es stinkt nach Schafen; und da Sie ja nichts mit Schafen zu tun haben, muß das woanders herkommen. Ich habe etwas gegen Schafsgestank. Das muß abgestellt werden. Augenblicklich.«

Auf der Stirn des Clanton-Brothers stand der Schweiß. Sein immer etwas aufgeschwemmtes Gesicht war dunkelrot geworden.

Er hatte es niemals verstanden, sich zu beherrschen und eine Situation richtig zu beurteilen. So machte er auch jetzt einen großen Fehler, indem er krächzte:

»Ich an Ihrer Stelle würde den Hals nicht so voll nehmen, Doc! Ihre Zeit ist vorbei. Es geht zu Ende…«

Da flog der Kopf des Spielers herum. Seine eisblauen Augen sprühten Blitze.

»Damned, da kläfft mich doch irgend so ein Schafsköter an!«

Phin stieß sich einen Schritt von der Theke ab.

Himmel! Rechnete sich dieser geistesarme Bursche vielleicht gar eine Chance im Solo gegen Doc Holliday aus?

Der Keeper hatte den Atem angehalten.

Holliday stand völlig reglos da.

»Hol mich der Teufel: Phineas Clanton! Ich hätte gedacht, Sie wären längst irgendwo in einem Gefängnishof verendet? Ganz sicher wäre es das beste gewesen.«

Phin fletschte die Zähne und gurgelte heiser:

»Ich habe gesagt, Ihre Zeit ist vorbei, Holliday! Ihre und auch die von Wyatt Earp! Verlaßt euch drauf, es geht zu Ende, und für diese Stunde bin ich nach Tombstone zurückgekommen. Ich habe mir Zeit gelassen, ich war oben in Colorado…«

»Jaja, Ike sagte so etwas.«

»Ike? Well, dann wissen Sie ja Bescheid, Holliday. Und jetzt wissen Sie auch, was es geschlagen hat!«

»Ja, ich weiß, was es geschlagen hat: Es schlägt gleich dreizehn, Phin, und zwar für Sie! Los, raus auf die Straße!«

Die flammende Röte wich urplötzlich aus dem Gesicht des Desperados. Schlaff hingen seine Arme an seinem nach vorn gebeugten Körper herunter. Auch der Haß, der in seinen Augen gelodert hatte, schien plötzlich erstorben und der Angst gewichen zu sein.

»Auf die Straße…?« stotterte er.

»Ja, auf die Straße habe ich gesagt!« beharrte der Spieler.

»Ich wüßte nicht, was ich dort sollte.«

»Das wirst du erfahren, Phin. Los, hinaus!«

Aber der Outlaw rührte sich nicht von der Stelle. Er starrte den Spieler nur aus glasigen Augen an.

Da trat Doc Holliday auf ihn zu, urplötzlich hob er die Rechte und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Los, raus«, kam es klirrend über seine Lippen.

Der Schlag brannte auf der blassen Wange des ehemaligen Cowboys. Er wandte sich ab und ging mit langsamen Schritten vorwärts, ohne den Blick jedoch von Holliday zu nehmen.

Als er die Tür erreicht hatte, krächzte er:

»Du fährst zur Hölle, Holliday!«

Der Spieler wirbelte herum und folgte ihm mit schnellen Schritten.

Phin hatte die Tür aufgestoßen, rannte brüllend hinaus, stolperte vom Vorbau, stürzte auf der Straße, richtete sich auf und hetzte weiter. Sein Pferd hatte er vorm Occidental Saloon stehen lassen. Mit weiten Sprüngen tigerte er zwischen den Häusern hindurch, erreichte einen Hof, jumpte über den Fenz und verkroch sich im Nachbaranwesen in einem Wagenschuppen.

Der Spieler hatte ihn in die Flucht geschlagen, und er konnte sicher sein, daß Phin sich nicht mehr zeigen würde.

Wyatt Earp kam gerade aus dem Zellengang und Schloß die Bohlentür hinter sich, als er einen alten gebeugten Mann das Office betreten ah.

Es war der frühere Stadtschreiber Joe Palmer. Vor sieben Jahren gehörte er zu den Männern, die den Marshal im Kampf gegen die Clanton-Gang unterstützt hatten. Er war dafür gewesen, daß Tombstone eine Bürgerwehr aufstellte. Aber die Stadtversammlung hatte seinen Antrag abgelehnt. Seitdem hatte er sich aus dem politischen Geschehen – wenn man es einmal so nennen will – völlig herausgehalten. Was führte ihn jetzt hierher ins Sheriffs Office?

Wyatt blickte dem alten Mann forschend entgegen.

»Hallo, Mr. Palmer.«

Der Alte hatte seinen Hut abgenommen und drehte ihn in der Hand.

»Hallo, Marshal! Ich habe den Weg hierher nicht gescheut, obgleich er wirklich nicht ungefährlich ist. Ich muß mit Ihnen sprechen.«

»Bitte, nehmen Sie Platz.« Wyatt wies auf einen der Hocker, die vorm Schreibtisch standen.

Der Alte blieb jedoch stehen und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich kann stehen. Ich habe eine Bitte an Sie, Mr. Earp.«

»Ja –?«

Der Alte sog die Luft tief und geräuschvoll ein, um dann mit zittriger Greisenstimme zu erklären: »Ich bin ein alter Mann, Sie wissen es. Mehr als sieben Jahrzehnte schleppe ich mit mir herum. Wenn das an den Küsten unseres Landes auch nichts bedeuten würde, so bedeutet es hier doch eine ganze Menge. Ich habe viel gesehen und vieles überstanden. Was heute auf die Stadt zukommt, ist nicht mehr zu überstehen.«

Er machte eine Pause, um zu Atem zu kommen, denn die hastig hervorgestoßenen Worte hatten ihn schon fast erschöpft. Vielleicht erschöpfte ihn auch der ganze Auftrag, den er sich selbst gegeben hatte.

Wyatt wußte schon, was der alte Mann ihm da vorzutragen gedachte.

»Sparen Sie sich Ihre Worte, Mr. Palmer. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber es ist nutzlos.«

Der Alte schüttelte den Kopf. Hektische Flecken brannten auf seinen eingefallenen, ausgemergelten Wangen.

»Nein, Mr. Earp. Es darf nicht zwecklos sein! Sie müssen mir zuhören. Tombstones letzter Tag hat begonnen. Jeder in der Stadt weiß es. Die Angst bringt die Leute noch um. Unten in der Fremont Street hat eine alte Frau einen Anfall bekommen. In der Toughnut Straße ist ein Mann mit einem Herzschlag umgefallen und kämpft mit dem Tod. Die Angst würgt ganz Tombstone. Und in Ihren Händen liegt es, zu verhindern, daß das Furchtbare geschieht! Sie müssen die Stadt verlassen, Wyatt Earp. Es gibt keine andere Wahl. Die Galgenmänner würden Sie sonst überrollen und Tombstone dabei in Schutt und Asche legen.«

»Sie werden Tombstone in Schutt und Asche legen, wenn sie keinen Widerstand finden«, entgegnete der Marshal mit eisiger Ruhe.

»Darauf müssen wir es ankommen lassen«, meinte der Alte mit zahnlosem Mund. »Jedenfalls ist das Risiko größer, wenn Sie bleiben.«

»Irrtum, Mr. Palmer. Ich bin sogar überzeugt, daß die Graugesichter die Stadt längst dem Erdboden gleichgemacht hätten, wenn ich ihnen keinen Widerstand geboten hätte.«

»Weshalb das alles aber«, keuchte der Alte asthmatisch, »weshalb?«

»Ich will es Ihnen sagen, Mr. Palmer, weil die Stadt dem Grauen Clan ein Dorn im Auge ist. Weil er nirgends so wie hier wirklich Widerstand verspürt hat. Weil er in Tombstone das Zentrum des Feindes sieht.«

»Aber Sie haben doch mit den Galgenmännern in Nogales, in Tucson, in Naco, sogar in Santa Fé und in anderen Städten gekämpft und sie dort geschlagen. Weshalb saugt sich der Clan so an unserer Stadt fest? Doch nur, weil Sie hier sind!«

»Wenn ich nicht hier wäre, wäre es nicht anders.«

»Nein, es geht dem Clan doch um Sie. Wenn Sie weg sind, ist es gut.«

»Nein. Er will Tombstone vernichten! Ich weiß es. Ich weiß es ganz genau.«

»Aber das kann ich nicht verstehen!«

»Es ist vielleicht auch nicht ganz einfach zu verstehen, Mr. Palmer. Tombstone ist für den Chief dieser Bande etwas Besonderes. Es ist für ihn ein Symbol des Gesetzes, und da er alles haßt, was mit dem Gesetz zu tun hat, trachtet er danach, alles zu zerstören, wo auch nur noch ein Funke des Gesetzes glüht. Sehen Sie, Mr. Palmer«, fuhr der Marshal ruhig fort, während er ans Fenster trat, die Hände in den Rücken stützte und auf die Straße hinausblickte. »Es hätte gar keinen Zweck, wenn ich die Stadt verlassen würde. Der Clan kommt auf jeden Fall, und er wird seine Absicht auf jeden Fall verfolgen. Er will Tombstone vernichten.«

Schweigend stand der Alte da und starrte auf seinen zusammengerollten Filz. Sein Kopf bewegte sich langsam hin und her, so, als könne er das alles nicht begreifen.

Endlich murmelte er: »Ja, vielleicht haben Sie recht. Ich glaube wirklich, daß Sie recht haben. Die Ratten wollen die Stadt zerstören, und es gibt kein Mittel gegen sie. Aber vielleicht sollten Sie sich selbst retten, indem Sie das sinkende Schiff verlassen.«

Wyatt wandte sich um und blickte in das faltenzersägte Gesicht des alten Stadtschreibers.

»Ich wundere mich, Mr. Palmer, daß Sie mir diese Worte sagen. Sie wissen doch genau, daß ich nicht wegreiten kann.«

Der Alte nickte, wandte sich schweigend um und verließ das Sheriffs Office.

*

Mochte der Teufel wissen, wie es dem gefürchteten Desperado gelungen war, den nächsten Schock in die Bevölkerung zu jagen.

Als Doc Holliday den Occidental Saloon verlassen hatte, ging er ein Stück die Allen Street hinunter, bog an der Dritten Straße ein, schlenderte an Rozy Gingers Bar vorbei und musterte aus den Augenwinkeln unauffällig das düstere Haus der Flanagans.

Als er Wongs China Bar erreicht hatte, blieb er verblüfft stehen und sah zum Cochise Court House hinüber. Denn davor stand ein hoher Galgen aufgerichtet, an dem ein Körper baumelte.

Holliday sah sofort, daß es eine Strohpuppe war. Sie trug einen schwarzen Hut, ein graues Hemd, eine schwarze Hose und schwarze Stiefel. Und links auf der Brust blinkte ein Sheriffs-Stern. An den Stiefeln hing ein Zettel.

Nachdem Holliday die Umgebung rasch mit den Augen abgesucht hatte, ging er um das Court House herum, um sich gegen einen Überfall abzusichern. Dann erst trat er an den Galgen heran und las den Zettel, der an den Stiefeln der Puppe angebracht war. Es waren nur zwei kleine Worte, die darauf standen.

»Wyatt Earp«!

Der Gambler nahm die Strohpuppe von dem Galgen herunter und brachte sie zum Sheriffs Office.

Der Marshal war nicht da. Aber Luke Short hatte sich inzwischen eingefunden. Als er die Puppe sah, und von dem Georgier Näheres erfahren hatte, fauchte er:

»Die Halunken scheuen aber auch gar nichts.«

Luke ging hinaus, stieg wieder auf sein Pferd und preschte in die Toughnut Street hinunter. Vorm Court House schwang er seinen Pferdelasso hoch um den Galgen, zog die Schlingen fest, band das andere Ende ums Sattelhorn und gab seinem schwarzen Hengst die Sporen.

Das Galgengerüst wurde umgerissen und von dem zur Allen Street hinaufpreschenden Gaul nachgeschleppt.

Doc Holliday stand vorm Office und sah den Texaner kommen.

Der Riese stieg vom Pferd und deutete auf den Balken.

»Feuerholz für den Winter. Ich habe schon eine ganze Menge davon gesammelt.«

Er brachte den Balken in den Hof.

Dann standen die beiden im Office und blickten auf die Straße hinaus.

Es war eine ganze Weile still.

Endlich meinte der Goliath: »Glauben Sie, daß es heute noch losgeht?«

Der Spieler nickte. »Es sieht so aus.«

»Dann wirds Zeit!«

Holliday nahm seine Uhr aus der Tasche, ließ den Deckel springen, und das kleine Läutwerk gab die ersten Töne des Liedes von Treu und Redlichkeit von sich.

»Er kommt nicht vor der Dämmerung…«

*

Wyatt Earp saß im Sattel seines Falbhengstes, hielt oben neben dem Boot Hill und blickte in die Savanne hinaus.

»Siebzehn Reiter«, flüsterte er tonlos vor sich hin.

Wo hielt sich die Bande verborgen? Gab es keine Möglichkeit, den Clan von der Stadt abzuhalten? Konnte man die Bande denn nicht ausfindig machen und vorher stellen? Das graue Gesindel durfte Tombstone erst gar nicht erreichen!

Da sah er von Westen her zwei Reiter auf die Stadt zuhalten. Er stieg rasch aus dem Sattel, führte den Falben hinter einen der Büsche und blieb selbst so stehen, daß er von der Straße aus nicht gesehen werden konnte.

Er hatte aber das Fernglas kaum ans Auge gesetzt, als ihm ein Ausruf der Verblüffung entfuhr.

Die beiden Männer, die da unten kamen, kannte er. Es waren Jeff und Adi Flanagan. Zwei Mitglieder der Tombstoner Banditen.

Woher kamen die beiden jetzt? Soweit sich der Marshal erinnern konnte, war Adi vor zwei Jahren in Tucson wegen Raubüberfalls zu fünf Jahren Straflagerhaft verurteilt worden, die er höchstwahrscheinlich in Fort Worth abzusitzen hatte.

Kaum hatten die beiden Outlaws den Hügel passiert, als der Marshal in der Ferne einen dritten Reiter auftauchen sah. Er setzte das Glas an, konnte ihn aber noch nicht erkennen. Näher und näher kam der Mann. Und jetzt kristallisierte sich sein Gesicht deutlicher heraus.

»Ed Flaherty!« Wyatt setzte das Glas ab und schob es zusammen. Damned! Tauchte denn da die ganze alte Garde der Tombstoner Outlaws auf, um sich ausgerechnet an diesem Tag in der Stadt ein Stelldichein zu geben?

Sollte das ein Zufall sein? Oder war es dem Grauen Chief gelungen, alle alten Gegner Wyatt Earps hierher zu beordern? Der Gedanke verursachte dem Marshal ein würgendes Gefühl in der Kehle.

Er zog sich in den Sattel, nahm die Zügelleinen auf und preschte vom Stiefelhügel hinunter nach Süden in die Savanne.

Als die Dämmerung über die Stadt heraufkroch, tauchten die ersten zweibeinigen Ratten auf.

Der Big Boß hatte Plakate in die Stadt schaffen und die Strohpuppe vorm Court House aufbaumeln lassen; aber dazu hatte er nur Leute benutzt, die unauffällig waren. Jetzt aber ließ er jede Rücksicht fahren und fuhr schwerstes Geschütz auf…

In einer der letzten Hütten am Südwestrand der Stadt, in den Miner-Camps, hauste seit einiger Zeit ein Mann namens Lorraine. Mat Lorraine stammte aus Louisiana, wo er vor sieben Jahren wegen Totschlages zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Er war nach Fort Worth gebracht worden, und von dort hatte man ihn vor vier Jahren in das kleinere Lager bei Lubbock gebracht. Dort war der siebenundzwanzigjährige, blatternarbige Bursche vor drei Jahren ausgebrochen und auf vielfachen Umwegen hierher in die Slums der Savannenstadt Tombstone gekommen.

Hier gab es kaum jemanden, der sich für sein Vorleben interessiert hätte. Die Leute in der Stadt hatten mit sich selbst zu tun. Vor allem hier unten in dem Elendsviertel Miner-Camps.

Vor sieben Monaten hatte Lorraine geheiratet. Die blondhaarige, langaufgeschossene hübsche Easter Braddock hatte ihm die Hand gereicht, ohne nach seiner Vergangenheit zu fragen. Sie arbeitete oben in der Stadt in Rozy Gingers Bar, und abends hatte sie noch Möglichkeiten für die Leute in den Miner-Camps Näharbeiten zu machen. Das brachte zwar alles nicht viel Geld ein, erhielt die Familie Lorraine jedoch.

Der Mann schlief tagsüber und verließ nachts das Haus. Wohin er ging, wußte niemand. Nicht einmal seine Frau. Er hatte ihr erzählt, daß er in Dallas bei einer Schießerei am Kopf verletzt worden sei und deshalb tagsüber schlafen müsse. Daß er nachts indessen oben durch die Stadt stromerte, am Sheriffs Office nachsah, ob nicht sein Steckbrief ausgehängt worden war, das wußte sie nicht. Er trieb sich oft an den Wells Fargo Depots herum und an den Corrals, wo er sich zuweilen mit einem Cowboy unterhielt, trank dann in der Indian Bar am Stadtrand einen scharfen Schnaps und kehrte wieder heim. Das war sein Leben.

Seit ein paar Stunden hatte ihn eine unerklärliche Unruhe erfaßt. Er hatte einen Nachbarjungen hinaus in die Schlangengasse geschickt zu seiner Frau. Sie solle sofort heimkommen.

Aufgeregt war die hübsche Easter Lorraine in der Behausung erschienen. Lorraine hatte mit strähnigem Haar, unrasiert wie immer, zerzaust und nach Alkohol riechend, in der Stubenmitte gestanden und ihr entgegengebrüllt:

»Los, pack das Bündel, wir verschwinden!«

»Wohin?«

»Einerlei! Hier gehts rund.«

»Ich weiß nicht, was du willst, Mat. Wir können doch jetzt nicht weg. Ich bekomme von verschiedenen Leuten noch Geld.«

»Einerlei, wir verschwinden! Du gehst jetzt hinauf zu Rozy Ginger und läßt dir das Geld geben. Und was wir hier noch zu bekommen haben, hole ich schon.«

So wurde es gemacht. Und als die Frau mit den wenigen Dollars zurückkam und der Mann das zählte, was er zusammengetrieben hatte, wurden die notwendigsten Dinge in zwei Bündel zusammengeschnürt.

Während dieser Arbeit hielt die von Schweiß überströmte Frau plötzlich inne und griff mit verkrampfter Hand nach ihrer linken Brustseite. Lorraine sah sich nach ihr um.

»Was ist los?« hechelte er.

»Ich weiß nicht. Mir ist übel!«

»Unsinn, pack weiter. Da, die beiden Winterhemden müssen wir noch mitschleppen und auch die dicke Jacke…«

Er brach jäh ab, denn die Frau sank plötzlich hintenüber und lag mitten im Raum.

Hilflos blickte der Mann auf sie nieder. Dann kniete er neben ihr. »Easter, steh doch auf, was ist denn los?«

Sie kam erst wieder zu sich, als er ihr Wasser eingeflößt hatte.

»Ich weiß nicht, was ich habe. Vielleicht bekomme ich ein Kind. Mir ist nicht gut!«

Der Mann griff sich an die schweißnasse Stirn.

»Aber wir müssen doch jetzt weg, Easter. Wir können nicht hierbleiben. Die Horde jagt die ganze Stadt in die Luft, verlaß dich darauf. Heute nacht brennt Tombstone. Morgen früh wird kein Balken mehr stehen. Glaubst du, ich möchte in diesem Flammenherd ersticken? Nein, wir müssen weg!«

Die Frau richtete sich in sitzende Stellung auf und nickte müde, während ihr die blonden Locken in das blasse Gesicht fielen.

Da wurde plötzlich die Tür geöffnet, und in ihrem Rahmen stand ein Man. Entgeistert starrten die beiden ihn an.

Er war groß, breitschultrig und hatte ein kantiges dunkles Gesicht, aus dem ein braunes Augenpaar hervorstach. Er trug einen grauen Hut, ein graues Halstuch, ein graues Hemd und eine graue Hose. An jeder Seite seines patronengespickten Waffengurtes hing ein schwerer fünfundvierziger Revolver.

Es ging etwas Bedrohliches von diesem Manne aus. Aber die Lorraines wußten ohnehin, wer da vor ihnen stand. Es war der Galgenmann Lazzaro Capucine. Der geflüchtete Sträfling aus Camp Masadona! Die beiden hatten ihn damals gesehen, als er von Wyatt Earp ergriffen und abgeführt worden war. Sie hatten in der Menschenmenge gestanden, die den Kampf beobachtet hatte.

Und jetzt stand der gleiche Mann leibhaftig und in voller Größe hier auf ihrer Türschwelle und starrte sie mit seinen Schlangenaugen hypnotisierend an.

Ein Schreckensruf der Frau zerriß die lähmende Stille.

Da machte Capucine einen Schritt vorwärts und warf die Tür so hart hinter sich ins Schloß, daß die Fensterscheiben klirrten.

Die kleine Behausung hatte nur zwei winzige Räume, und keinen Vorbau. Zwar war die Dämmerung schon hereingebrochen, aber es war doch noch hell genug, daß der Mann von draußen gesehen werden könnte. Das schien er nicht im geringsten zu fürchten.

Jedenfalls stand er jetzt da und blickte die beiden tödlich Erschrockenen aus kieselharten Augen an.

»Was… wollen Sie?« stieß Lorraine endlich hervor.

Capucine hatte beide Hände auf die blanken Revolverkolben gelegt, federte in den Knien und wippte auf den Zehenspitzen.

»Du bist Mat Lorraine, nicht wahr?«

Der Mann wollte den Kopf schütteln, nickte dann aber.

»Ja, mein Name ist Lorraine.«

»Ich habe von einem Lorraine gehört, der drüben in Louisiana einen Mord verübt hat.«

»Ich habe keinen Mord verübt!« schrie Mat.

Und damit hatte er sich verraten.

Der Galgenmann hatte eine zynische Lache angeschlagen, die aber in seinen Zähnen hängenblieb.

»Du bist Mat Lorraine. Du bist aus Camp Lubbock geflüchtet.«

Ja, so war es, und die Angst schlug über Lorraine zusammen. Er sah, daß seine Frau besinnungslos auf den Boden zurücksank. Und nicht für den Bruchteil einer Sekunde dachte er daran, daß der Mann, der da vor ihm stand, wirklich ein Mörder war, ein aus dem Camp der Lebenslänglichen geflüchteter Verbrecher.

Lorraine hatte damals den neunundzwanzigjährigen Schwellenleger Joseph Leclerc im Streit getötet, ohne es gewollt zu haben. Er hatte auf ihn eingeschlagen, und Leclerc war so unglücklich mit dem Schädel auf eine Fenstersimskante aufgeschlagen, daß er sofort tot gewesen war. Damit war er des Totschlags schuldig geworden. Der Mann aber, der da jetzt vor ihm stand, war ein Mensch, der bewußt und kaltblütig gemordet hatte. Er war der Führer einer gefährlichen Verbrecherbande, der Stellvertreter des Grauen Chiefs, eines Desperados, der in sieben Staaten auf einem blinden Steckbrief gesucht wurde.

Capucine nutzte die Verstörtheit Lorraines, indem er sofort nachsetzte: »Hör genau zu, was ich dir zu sagen habe. Kurz, ehe die Dunkelheit hereinbricht, gehst du hinauf in die Mainstreet zum Sheriffs Office…«

Lorraine ballte die Fäuste: »Nein, das werde ich nicht tun. Ich bin nicht wahnsinnig. Ich weiß, daß Wyatt Earp mir nicht ins Gesicht sehen darf. Ich habe sieben Jahre Angst geschwitzt, daß ich ihm irgendwo begegnen könnte. Sieben Jahre habe ich es vermieden, ihm in die Quere zu kommen…«

»Schweig!« herrschte ihn der Verbrecher an. »Du wirst tun, was ich dir sage. Du gehst hinauf in die Mainstreet zum Sheriffs Office. Du wirst über den Vorbau gehen. Und wenn der Marshal im Office ist, schießt du. Mit dem ersten Schuß zertrümmerst du die Scheibe. Die beiden nächsten Kugeln müssen ihn tödlich treffen.«

Lorraine wankte einen Schritt zurück.

»Nein, das kann ich nicht!«

»Wer einmal gemordet hat, kann es auch ein zweites Mal.«

»Ich habe nicht gemordet! Es war ein Unglück, Mr. Capucine, das müssen Sie…«

Da trat der Bandit auf ihn zu, streckte den Arm aus und preßte seine riesige Pranke um den Hals des geflohenen Sträflings aus Lubbock.

»Hör genau zu, Bursche: Du tust was ich dir sage, oder ich zerquetsche dich!«

Erst im allerletzten Augenblick gab die Hand des Verbrechers nach. Lorraine, der schon blau angelaufen war, schöpfte keuchend Atem wie ein Fisch, der aufs Trockene geraten war.

Capucine blickte mitleidlos auf den taumelnd dastehenden Mann, wandte sich um, ging zur Tür und schlug sie hinter sich zu.

Sein Schritt draußen war nicht zu hören. Wie betäubt stand Lorraine in der Mitte der Stube und starrte auf die Tür. Dann blickte er auf seine Frau nieder, die immer noch besinnungslos war.

Jetzt handelte er wie in Trance. Er stieg auf den Schemel und suchte auf dem Schrank nach seinem Revolver. Da lag die alte Waffe. Es war ein Peacemaker-Colt, den er damals, als er von Lubbock an den Rand des Llanos geflüchtet war, von Fred McIntosh für lumpige sieben Dollar gekauft hatte.

Er ließ die Trommel rotieren, und prüfte die Kammern. Sie waren alle gefüllt.

Da nahm er den Hut vom Bord, warf noch einen Blick auf seine wie tot daliegende Frau und verließ die Hütte.

Draußen war alles still. Die große zweibeinige Ratte, die eben noch hiergewesen war, schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Seit Jahren war die Angst der ständige Begleiter des Mat Lorraine gewesen. Die Angst vor den Verfolgern aus Lubbock, die Angst vor dem Marshal, die Angst vor dem Entdecktwerden! Heute war es die Angst vor der Vernichtung, vor dem großen Brand der Stadt gewesen. Aber nun war eine neue Angst hinzugekommen: die Angst vor Capucine! Die Angst hatte sich in dem geflohenen Sträfling zu einer Panik verdichtet, die ihn nicht mehr klar denken ließ. Er lief die Gasse hinauf und blieb an der Ecke der Mainstreet stehen, um keuchend innezuhalten. Aus glasigen Augen starrte er zum Sheriffs Office hinüber.

Hinter der großen Scheibe brannte Licht. Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit.

Lorraine sah sich nach allen Seiten um.

Die Straße war leer. Langsam ging er vorwärts auf den Oriental Saloon zu, stieg die wenigen Stufen hinauf und blickte über die Schwingarme der Pendeltür in die Schenke.

Den Revolver hatte er im Hosenbund stecken, verdeckt durch seine zerfetzte Jacke.

Dann schob er die Schwingarme der Pendeltür auseinander und ging mit unsicheren Schritten in den Schankraum.

Der Oriental Saloon war leer.

Lorraine blickte auf den Perlschnürenvorhang im Hintergrund der Theke und sah eine Hand, die die Schnüre zurückzog. Dann sah er den Kopf des alten Salooners: Lorraine kam rasch näher und schnarrte:

»Einen Drink!«

Der Wirt nickte, zog eine Flasche heran, goß rasch ein und schob das Glas dem Mann hin, um dann wieder hinter den Perlschnüren zu verschwinden. Nur seine Hand, die die Schnüre etwas auseinanderschob, war noch zu sehen.

Lorraine kippte den beißenden Drink in die Kehle und keuchte: »Ich… ich… habe kein Geld bei mir, Mister –«

»Macht nichts«, meinte der Salooner, »gehen Sie nur, Lorraine.«

Der Mann blieb einen Augenblick stehen und lauschte den Worten des Mannes nach. Der kannte ihn also ganz genau. Nun ja, weshalb auch nicht?

Mat wandte sich um, ging rasch hinaus und blieb im Dämmer des Vorbaues stehen.

Gleich hinter dem Oriental Saloon lag das Hoftor des Sheriffs Offices, und dann kam das Haus.

Lorraine ging langsam vorwärts, zwar dicht an dem Vorbaurand entlang. Vorm Hoftor brach der Vorbau ab. Lorraine stieg hinunter, um drüben wieder hinaufzusteigen.

Das war die Tür des Office und daneben das Fenster. Durch den großen Stern, den der geschickte Glaser Owen in das Fenster eingelassen hatte, konnte man die Gestalt eines Mannes hinter dem Schreibtisch erkennen.

»Wyatt Earp!« flüsterte Lorraine mit belegter Stimme.

Er handelte wie in Hypnose, zog den Revolver aus dem Halfter und stieß ihn nach vorn. Der erste Schuß zerriß die Fensterscheibe in tausend Scherben. Die beiden nächsten Kugeln stießen den Körper drinnen vom Sitz.

Lorraine stand noch fünf Sekunden auf der Stelle und wandte sich dann um.

Mitten auf dem Vorbau stand ein Mann.

Obwohl Lorraine ihn bislang nur immer aus der Ferne gesehen hatte, erkannte er ihn doch sofort.

Es war Doc Holliday!

Lorraine hatte das Gefühl, daß er an den Planken des Gehsteigs festgenagelt wäre. Er vermochte sich einfach nicht zu bewegen.

Da kam Leben in die Gestalt des Georgiers. Er trat auf Lorraine zu; in seiner rechten Faust blinkte ein Revolver.

Lorraine öffnete die Hand und ließ seine eigene Waffe fallen.

Holliday packte ihn am Arm und stieß die Tür zum Office auf.

Während er den Schlüsselbund vom Bord nahm, streifte Lorraines Blick den dunklen Körper, der hinterm Schreibtisch am Boden lag.

Holliday zerrte den Festgenommmenen vorwärts und schob ihn in den Zellengang. Zwei Minuten später saß Mat Lorraine hinter Gittern.

Als Doc Holliday die Bohlentür öffnete und ins Office zurückkam, stürmte ein Mann über den Vorbau, stieß die Office-Tür auf und stand mit beiden Revolvern im Anschlag auf der Türschwelle.

Es war Luke Short. Verblüfft blickte er den Spieler an.

»Wer hat geschossen?«

Dann sah er den dunklen Körper hintern Schreibtisch am Boden liegen.

»Wyatt!« schrie er und rannte vorwärts.

Holliday versperrte ihm den Weg.

»Vorsicht, Luke, vielleicht brauchen wir die Puppe noch.«

»Die Puppe –?«

»Ja.«

Es war die bekleidete Strohpuppe, die der Spieler vorhin beim Court House vom Galgen heruntergenommen hatte. Durch die Milchglasscheibe hatte Lorraine sie für den Marshal gehalten.

Der Texaner ließ seine Revolver in die Halfter zurückfliegen, schob den Hut aus der Stirn und wischte sich über die Augen.

»Wer war es?«

»Irgendein Bursche aus den Miner.Camps.«

»Wo ist der Marshal?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, er ist zum Boot Hill hinaufgeritten. Wenn ich mich nicht irre, möchte er das Versteck der Bande ausfindig machen, um den Chief daran zu hindern, mit all den Leuten in die Stadt zu kommen.«

Der Texaner nahm die blaumaillierte Kaffeekanne vom Ofen und goß sich etwas von dem kalten Getränk in einen Becher.

»Die Luft in der Stadt ist zum Schneiden dick«, sagte er mit rauher Stimme.

Holliday stand in der Tür und blickte auf die Straße hinaus.

»Es wird dunkel.«

Unbehaglich setzte der Riese den Becher ab, kippte den Rest durch die offene Hoftür und nahm dann seine Winchester aus dem Gewehrständer. Als er die Waffe durchladen wollte, hielt er inne und blickte auf die anderen Gewehre.

Da klaffte eine Lücke zwischen den anderen vier Büchsen.

»Wyatts Gewehr ist weg!«

Holliday wandte sich um. »Ja, ich habe es schon bemerkt.«

Luke nahm die Winchester in die Linke, schob den rechten Revolver nach vorn und ging hinaus, um sich wieder in den Sattel zu ziehen.

»Ich werde nach ihm sehen.«

»Vergessen Sie das Zurückkommen nicht, Luke. Ich mache mich schlecht im Sheriffs Office.«

Der Texaner nahm die Zügelleinen hoch und preschte in voller Karriere davon.

Der harte Hufschlag dröhnte durch die menschenleere Straße.

*

Nicht ganz neun Meilen südlich von der Stadt entfernt lag die verlassene Pferdewechselstation Silver City.

Es war ein langer flachgestreckter Bau, der schon zu verfallen begann. Der Hof wurde flankiert von einem Stallbau und einem Schuppen. Das Gebäude wurde von Reitern, die nachts über die alte Overlandstreet nach Bisbee ritten, gern im weiten Bogen umkreist, da es mit seinem eingefallenen Dach und seiner teilweise eingestürzten Rückwand einen unheimlichen Eindruck machte.

Jetzt aber schien es vom heimlichen Leben erfüllt zu sein. Auf dem Hof der alten Station standen ein Dutzend Pferde eng nebeneinander vor dem Stallhaus.

An der Rückwand des Hauses standen die Besitzer dieser Pferde nebeneinander und blickten auf einen Reiter, der drüben vor dem Schwarzgrau des Schuppens auf einem weißen Pferd saß. Es war ein hochgewachsener Mensch, dessen Konturen in der Dämmerung jedoch nur schlecht zu erkennen waren. Auf dem Kopf trug er eine graue Zipfelmaske, deren Spitze schwarz gefärbt war.

Der Big Boß!

Ja, der Große Desperado saß im Sattel und hatte wieder eine Mannschaft vor sich stehen. Der Junge, der die Banditen in der frühen Morgenstunde gesichtet hatte, hatte sich allerdings verzählt. Nicht siebzehn, sondern nur zwölf Männer hatte der Große Chief in die Sättel gebracht.

Und es war wie zu den stärksten Zeiten des Grauen Clans: der Boß hielt vor seiner Crew und blickte schweigend aus schwarzen Augenhöhlen einen nach dem anderen an.

Als fern von der Overlandstreet Hufschlag in den Hof drang, hob der Chief die rechte Hand.

Einer der Männer ging ins Haus, um vom Eingang her auf die Straße zu blicken. Es dauerte eine halbe Minute, und dann kam er zurück.

»Es ist Capucine!« sagte er.

Der Chief nickte.

Gleich darauf preschte der Italo-Amerikaner auf schwarzem Pferd um das Stallhaus in den Hof und hielt vor dem Chief an.

»Erledigt, Boß.«

Und jetzt sprach der Große Chief. Er verstellte seine Stimme nicht mehr, wie er es bisher getan hatte. Die Männer lauschten ihrem Klang nach, und einige von ihnen erschraken bis ins Mark, als sie sie erkannten.

»Ich bin zwar nicht sicher, daß Lorraine trifft, aber die moralische Wirkung wird nicht auf sich warten lassen. So, und jetzt kommen Hegger, Boyad, Martinson und Cirby mit!«

Owen Hegger war der Mayor von Bisbee; er hatte, was niemand in der Stadt gewußt hatte, eine Menge Dreck am Stecken. Der Große Chief mußte es herausgebracht haben; jedenfalls war Capucine vor zwei Tagen bei Hegger aufgetaucht und hatte ihn aufgefordert, mitzukommen. So war der äußerlich so ehrenwerte Mayor von Bisbee in der letzten Crew des Großen Chiefs.

Ric Martinson war ein ehemaliger Landstreicher, der in der Ortschaft Felbert einen Posten in der Wells Fargo-Station bekommen hatte. Er war auf eine ähnliche Weise zur Crew gebracht worden.

Charlton Cirby stammte aus Nevada. Er war ein ehemaliger Pferdejäger, der durch eine dunkle Geschichte in den Süden getrieben worden war; von dieser Geschichte mußte der Große Chief Wind bekommen haben. Jedenfalls hatte er sie jetzt gegen Cirby ausgenutzt und ihn zu seiner Crew gezwungen. Cirby war ein unberechenbarer Bursche, gefährlich mit dem Revolver, wie nur irgendeiner.

Ein Typ besonderer Art war der Bandit Joe Boyad. Er war ein Messerheld und stammte aus dem Südosten. Es hieß, daß er mehr Menschen mit der Klinge in die Ewigen Jagdgründe befördert hatte, als sonst irgendwer. Er war ein verschlagener, hinterlistiger Vagabund, der in Douglas eine Schenke eröffnet hatte. Als Capucine in der vergangenen Nacht vor ihm gestanden hatte, war er erblaßt und sofort mitgekommen.

Hegger, Martinson, Boyad und Cirby waren von dem Chief selbst für den Ritt nach Tombstone ausgewählt worden; sie sollten die Garde des Bandenführers bilden.

Den acht übrigen Reitern gebot der Desperado:

»Ihr wißt, um was es geht, Männer! Ihr seid der Kern der Organisation. Es ist bedauerlich, daß ihr erst so spät zu uns gestoßen seid. Jetzt liegt es in eurer Hand, das Schicksal des Bundes zu wenden. Wir kämpfen um unser Recht und um unsere Freiheit. Wir wollen nicht von irgendwelchen Advokatenkniffen, die sich Gesetze nennen, beherrscht und bedrückt werden. Wir sind Rebellen der Freiheit!«

Diesen Worten ließ der gefährliche Bandit eine volle Minute der Stille folgen.

Wahrscheinlich war sich keiner der Männer, die da in dem dunklen Hof der alten Pferdewechselstation standen, bewußt, welch ein Irrsinn in diesen Worten lag.

Der Mann auf dem weißen Pferd sprach wie ein Geisteskranker. Aber der Ton in dem er sprach, war der eines gesunden, markigen Mannes, der keinen Widerspruch duldete und seinen Worten notfalls mit der Peitsche oder gar dem Revolver Nachdruck verlieh.

»Es ist der entscheidende Fight unseres Bundes. Und wir werden ihn siegreich beenden! Der Wolf in Tombstone wird ausgeräuchert werden! Dann zünden wir dieses dreckige Nest an, damit nur noch ein schwarzer Fleck übrigbleibt, den der Sand der Savanne in wenigen Wochen überspült und zugedeckt haben wird. Tombstone soll in der Savanne versinken. Es soll ersticken mit der ganzen Brut, die es hervorgebracht hat!«

Wieder ließ der Bandenführer eine längere Pause eintreten, um die Worte auf die Männer wirken zu lassen.

Die zwölf Männer verharrten atemlos auf ihren Plätzen und starrten zu dem Schimmelreiter hinüber, der seine Worte mit so dämonischer Vitalität in den düsteren Hof geschleudert hatte.

»Wir reiten jetzt, Männer, um den Kampf zu beginnen. Wyatt Earp wird ausgelöscht werden, mit ihm Doc Holliday und Luke Short. Ihr habt eine Stunde Zeit, dann brecht ihr auf. »Gordon!« wandte sich der Boß an den buckeligen Vormann der Hoister-Ranch, den er ebenfalls mit einer Erpressung zu der Crew gezwungen hatte. »Du wirst die Männer anführen. Wenn ihr genau in einer Stunde aufbrecht und scharf reitet, seid ihr genau zum vereinbarten Zeitpunkt in der Stadt. Jeder von euch weiß, was er zu tun hat. Ich verlasse mich darauf! Und wenn einer auf den Gedanken kommen sollte, zum Verräter zu werden, baumelt er im Morgengrauen neben dem Marshal vorm Tombstoner Court House am Galgen!«

Der Desperado nahm sein weißes Pferd herum und preschte aus dem Hof. Capucine hielt noch einen Augenblick und sah einen nach dem anderen an; dann folgte er dem Boß.

Wie Gipsfiguren standen die Männer da. Endlich raffte sich der Messerstecher Boyard auf, ging zu seinem Pferd, zog sich in den Sattel, riß das Tier auf der Hinterhand herum und folgte Capucine. Hegger, Martinson und Cirby stiegen ebenfalls auf ihre Pferde und verließen wortlos den Hof.

Als der harte Hufschlag auf der Overlandstreet nach Tombstone verklungen war, herrschte auf der alten Pferdewechselstation wieder Totenstille.

*

Nachdem die Galgenmänner in der Dämmerung nicht gekommen waren, wußte der Marshal, daß sie an diesem Tage nicht mehr angreifen würden. Schon ein Fight in der Dämmerung verlangte eine Geschicklichkeit, die nicht jedermanns Sache war. In der Nacht aber bedeutete Kampf ein Risiko, das so leicht niemand auf sich nehmen würde.

Entweder also hatte der Große Chief seinen Angriff noch um einen Tag verschoben, oder aber er hatte ihn aufgegeben. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, daß er seinen Nervenkrieg noch eine Weile hinauszögern wollte, um die Bevölkerung der Stadt noch mürber zu machen. Oder sollte er in der Morgendämmerung angreifen wollen? Der Marshal konnte sich nicht vorstellen, daß sich der Bravo dazu entschließen würde. Es war die schwierigste Angriffszeit, wenn die Dunkelheit der Nacht die Winkel und Nischen noch nicht verlassen hatte und das erste Licht die Gegenstände unwirklich in zwielichtigem Grau schimmern ließ.

Nur die Apachen griffen um diese Stunde an!

Sollte der fanatische Gangster etwa den Nerv haben, diese Stunde zum Angriff zu wählen?

Diese Gedanken beschäftigten den Missourier, als er vom Boot Hill nach Süden hinaus in die Savanne ritt, um die Stechpalmenhaine abzusuchen, hinter denen die Crew vielleicht ihr Versteck haben konnte. In rasender Geschwindigkeit fegte der Falbhengst dahin.

Nach einer Dreiviertelstunde hatte der Missourier einen weiten Bogen um die beiden Stechpalmenwaldungen gezogen, die im Südwesten der Stadt lagen. Er war vom Pferd gestiegen, hatte sich den Waldkulissen genähert und wußte schon nach kurzer Zeit, daß der Ritt dorthin vergeblich gewesen war.

Wieder stieg er in den Sattel und hielt jetzt in voller Karriere nach Südosten hinüber.

Als er etwa eine Dreiviertelstunde westlich vor der Pferdewechselstation Silver City aus dem Sattel stieg, hatte der Große Chief mit Capucine und den vier gezwungenen Helfern Hegger, Martinson, Boyad und Cirby die Station bereits seit einer Viertelstunde verlassen.

Wyatt führte den Hengst noch ein Stück hinter sich her und ließ ihn dann hinter einem Mesquitegebüsch zurück.

Tief an den Boden geduckt, jede Deckung ausnutzend, näherte er sich der Overlandstreet.

Düster und unheimlich lag der alte Bau jenseits der Straße. Er schien völlig tot und verlassen zu sein.

Wie ein Indianer bewegte sich der Missourier vorwärts, schlich da, wo eine Kakteengruppe einen Schatten gegen das Mondlicht über die Straße warf, hinüber, und näherte sich lautlos in Bodenrinnen und an Gebüschen der Nordseite der Station.

Da! Ein Geräusch drang an sein Ohr, das er genau kannte. Es war das harte, ungeduldige Aufstampfen einer Hufspitze auf einen Stein, der fest im Boden saß.

Drüben im Hof der Station hatte man einen Steinbesatz angelegt, wie es damals vor zwei, drei Jahrzehnten üblich war.

Im Hof stand also ein Pferd!

Wyatt wartete eine Weile und bewegte sich dann lautlos weiter vorwärts.

Vor ihm lag der Stallbau. Und nun hörte er auch das Schnauben eines Pferdes, das vom Wiehern eines zweiten Tieres übertönt wurde.

Noch vorsichtiger schob sich der Missourier jetzt an der Stallrückwand entlang, bis er ihre Ostflanke erreicht hatte. Hier war es besonders gefährlich, da das Licht des zunehmenden Mondes einen fahlen Schimmer auf die deckungslose Hausseite warf. Wyatt beschloß, diese Passage schneller hinter sich zu bringen.

Als er das Ende der Stallflanke erreicht hatte, konnte er unter einem Wagen hindurch in den Hof sehen.

Verblüfft blickte er auf die Pferdekette, die da am Zügelholm stand.

Und dann sah er auch die Männer, die auf Hauklötzen, Gatterlatten, umgekippten Whiskyfässern und Kisten herumsaßen, auf der Türschwelle hockten oder sich in die leeren Fensterrahmen lehnten.

Bis jetzt hatte er fünf Figuren gezählt. Da saß noch einer, und da drüben ein anderer. Also schon sieben. Vermutlich noch mehr.

Der Missourier war überzeugt, daß er die ganze Bande vor sich hatte. Aber war es die ganze Graue Crew? Hatte der kleine Asmußen nicht von siebzehn Reitern gesprochen?

Das bedeutete also, daß sich die Bande geteilt hatte. Der Marshal hatte nun keine Zeit zu verlieren, da er damit rechnen mußte, daß der andere Teil der Bande bereits unterwegs nach Tombstone war!

Er kroch bis dicht an den Wagenkasten heran, verschanzte sich so dahinter, daß er volle Deckung nach allen Seiten hatte, und spannte dann plötzlich beide Revolverhähne.

»Hände hoch, Männer, hier steht Wyatt Earp! Ihr seid umzingelt. Wer sich wehrt, wird erschossen. Los, nehmt die Hände hoch, Boys. Es hat keinen Zweck. Wer sterben will, der greife zum Revolver.«

Geisterhafte Stille herrschte auf dem Stationshof. Nicht einmal die Pferde rührten sich.

Drei endlose Sekunden tropften in die Ewigkeit.

Da brüllte der bucklige Vormann: »Wyatt Earp? Das glauben wir nicht. Zeigen Sie sich, Marshal!«

Er müßte nicht Wyatt Earp gewesen sein, wenn er lange überlegt oder gar gekniffen hätte. Sofort verließ er die Deckung, richtete sich auf und trat in den hell vom Mondschein erleuchteten Flecken zwischen dem Wagenkasten und dem Brunnen.

»Heavens!« brach es von den Lippen des Vormanns. »Es ist wirklich der Marshal!«

»Der Marshal!« kam es jetzt heiser aus mehreren Kehlen.

»Hoch die Hände, Boys! Noch höher! So ist’s gut.« Entschlossen ging Wyatt auf den Vormann zu, zog ihm die Waffen aus dem Halfter, entwaffnete seinen Nachbarn, einen Stockhändler aus Douglas, den dritten, den vierten, den fünften und den sechsten Mann.

Der siebte rührte sich nicht von der Stelle. Wyatt ging auf ihn zu und sah sich dann um.

»Es fehlen noch Leute!«

Da kreischte der Bucklige: »Los, komm raus, Crake!«

Aus dem Hausgang kam ein Mann mit erhobenen Händen. Wyatt packte ihn, riß ihm die Waffen aus dem Gurt und schleuderte sie in den Hof zu den anderen.

Der Missourier stand jetzt im Dunkel des Stallhauses und befahl dem buckligen Vormann:

»Los, du bindest jetzt einen nach dem anderen auf seinen Gaul!«

Als der Cowboy den letzten gebunden hatte, sah er sich nach dem Marshal um. Der kam auf den Maskenmann zu, führte ihn zu seinem Wallach und band auch ihm die Hände auf den Rücken und die Füße unterm Pferdeleib zusammen.

Dann wurde ein Pferd mit der verlängerten Zügelleine an das andere gebunden.

Der Marshal stieß einen Pfiff aus, worauf der Falbhengst von seinem Platz hinter dem Mesquitegebüsch hervorgetrabt kam, auf die Overlandstreet zuhielt und neben dem Missourier an der Hofseite stehenblieb.

Wyatt zog sich in den Sattel, ergriff die andere Zügelhälfte des buckligen Kuhtreibers und wickelte sie um sein Sattelhorn.

Dann setzte sich der stumme Treck in Bewegung.

Wie verblüfft waren die acht Männer, als sie feststellen mußten, daß sie von einem einzigen Gegner überrumpelt worden waren.

Der Mehlhändler Van Mills stieß einen Fluch durch die zusammengebissenen Zähne, und der krummbeinige Kreole Jordan Racovicz knurrte heiser:

»Der Teufel soll diesen Big Boß holen, der uns das alles eingebrockt hat!«

Im scharfen Galopp ging es nordwärts der Stadt entgegen. Schon nach drei Meilen bog der Missourier von der Overlandstreet ab und hielt nach Nordosten auf das große Tombstoner Sägewerk zu.

Hier brachte er die Gefangenen in einem großen Schuppen unter, der stark war und gut verriegelt werden konnte.

Der letzte Mann, der vom Pferd geholt wurde, war der Mehlhändler. Wyatt nahm ihn zur Seite, und als er sich versichert hatte, daß die anderen ihn nicht mehr hören konnte, herrschte er ihn an:

»Wo ist der Chief?«

Der Marshal senkte den Kopf. »Was weiß ich?«

Eine harte Ohrfeige ließ Van Mills bis an das Tor des Lagerschuppens zurücktaumeln.

»Mach den Mund auf, Bursche, sonst wirds ärger!«

»Ich kann nichts sagen, er bringt mich um.«

»Er wird niemanden mehr umbringen. Rede, sonst gehts dir schlecht, Mann!«

Der Mehlhändler krächzte: »All right. Er ist mit Capucine und den anderen in die Stadt geritten.«

»Wie viele Männer hat er mitgenommen?«

»Ich glaube, es waren vier.«

»Kennst du sie?«

»Nicht alle.«

»Wen kennst du von ihnen?«

»Ich glaube, Mayor Hegger aus Bisbee war dabei und Joe Boyad. Die beiden anderen kannte ich nicht.«

»Und der Chief, kennst du ihn?«

Der Mehlhändler schüttelte den Kopf. »Nein. Ich schwöre es, Marshal!«

Der Missourier sperrte auch Van Mills ein, verriegelte den Lagerschuppen und setzte sich wieder in den Sattel.

Im gestreckten Galopp ging es dem Office entgegen. Als er das Hoftor mit dem Stiefel vom Sattel aus aufstoßen wollte, sah er oben auf dem Vorbau die Gestalt eines Mannes auftauchen. Die weiße Hemdbrust, die aus der Dunkelheit schimmerte, verriet den Spieler.

»Wie stehts, Doc?«

»Alles in Ordnung, Marshal.«

Wyatt war vom Pferd gestiegen und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die vom Vorbaudach halbverschattete Hausfront.

»Die Scheibe ist zertrümmert –«

»Ich konnte es nicht verhindern. Ich kam zu spät. Ein struppiger Bursche unten aus den Miner-Camps hat sie zerschossen.«

Wyatt nahm die kleine Kerosinlampe und ging in den Zellengang. Als der Lichtschein auf die Gestalt des geflüchteten Sträflings fiel, nickte er.

»Habe ich mir’s doch gedacht, unser Freund Lorraine. All right. Wir sprechen uns noch.«

Die beiden Dodger verließen den Zellengang und blieben vorn im Office stehen.

Wyatt hatte die Lampe gelöscht.

»Wo ist Luke?«

»Er ist noch einmal weggeritten, weil er nach Ihnen sehen wollte.«

Da drang Hufschlag aus der Fünften Straße herauf.

»Es ist der Tex!«

Luke brachte seinen Hengst in den Hof, nahm den Falben, der noch im Tor stand, gleich mit, ließ die beiden Pferde aber gesattelt stehen.

Wyatt berichtete kurz, was er auf der Pferdewechselstation Silver City erlebt hatte.

»Hölle!« stieß der Texaner durch die zusammengebissenen Zähne. »Hat der Halunke doch tatsächlich so viele Leute zusammengestampft. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Und jetzt soll er noch mit vier weiteren Kerlen unterwegs sein?«

»Es sieht so aus. Und dabei können wir nicht einmal sicher sein, ob es nicht noch mehr Leute sind.«

Nachdem hier oben alles in Ordnung war, setzte sich Wyatt wieder in den Sattel, ritt zum Sägewerk hinunter und holte den Mehlhändler aus dem Schuppen, um ihn mit hinauf zum Office zu nehmen.

Innerhalb weniger Minuten hatte der schwitzende Jan Van Mills dem Marshal gesagt, was es zu sagen gab: Er und die anderen hatten eine Stunde nach dem Abritt des Großen Chiefs die Station verlassen sollen, um in die Miner-Camps hinaufzureiten, die vier von ihnen im Norden und vier im Süden abzuriegeln hatten. Der Chief befürchtete also, daß sogar in den Slums Leute stecken konnten, die dem Marshal beistehen würden.

Mehr wußte der Mehlhändler auch nicht. Wyatt brachte ihn ins Jail.

»Glauben Sie, daß er noch in der Nacht angreift?« meinte der Tex.

Der Marshal schüttelte den Kopf.

»Also wird die Show auf den Vormittag verschoben?«

»Das ist nicht gesagt. Es gibt noch die Möglichkeit, die die Apachen bevorzugen.«

Der Texaner warf den Kopf herum. »Sie glauben doch nicht –«

»Möglich ist bei diesem Mann alles, Luke. Leider.«

Obgleich sie in der Nacht nicht mit einem Angriff rechneten, patrouillierten sie unablässig durch die Straßen.

Gegen zwei Uhr überkam den Marshal eine lähmende Müdigkeit. Er hockte sich in die Toreinfahrt von Myers Shop auf eine umgekippte Kiste und stützte den Kopf in die Hände. Seit Jahren hatte er nicht mehr so gegen den Schlaf ankämpfen müssen.

Plötzlich zuckt er zusammen. Hinter ihm war ein Geräusch gewesen. Wie ein Phantom fuhr er herum und hatte den schon gespannten schweren Buntline Colt in der Linken.

Aber es war nichts zu sehen. Im Hof war alles wieder ganz still.

Dann sah er links an der hellgetünchten Mauer den Körper einer großen schwarzen Katze. Das Tier kam langsam näher, blieb vorn vor der Ecke stehen und blinzelte ihn an.

Aber der große schwarze Kater war nicht gekommen, um dem Manne Gesellschaft zu leisten. Der Missourier beobachtete, daß das Tier vor einem Loch unten an der Mauerkante reglos verharrte.

Fast eine Viertelstunde war vergangen. Da hob die Katze, die auf dem Hinterteil saß und sich auf beide Vorderpfoten gestützt hatte, die rechte Pfote langsam an bis über Kopfeshöhe, wo sie sie verharren ließ.

Im schwachen Mondschein sah der Mann, wie jetzt unten aus dem Loch ein großer Nager seinen grauen Schädel schob.

Reglos wie aus Stein verharrte das Katzentier. Jetzt spreizte er lautlos seine Krallen zu einer Tatzenschaufel.

Da schob die Ratte ihren Kopf weiter vor – und gedankenschnell wie ein Blitzschlag zuckte die Tatze der Katze nieder und zerschmetterte den Schädel des Nagers.

Der Missourier erhob sich und ging auf die Gasse hinaus, dem Office zu.

Drinnen neben der Tür lehnte der eiserne Holliday an der Wand. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und den Kopf gesenkt. Er schien im Stehen zu schlafen. Aber das schien nur so. Denn die glimmende Zigarette zwischen seinen Lippen bewies, daß er wachte.

Der Texaner hatte sich auf eine Munitionskiste gesetzt und seine langen Beine von sich gestreckt.

»Halb drei«, meinte er, als er den Marshal in der Tür auftauchen sah.

»Ja, vielleicht wäre es richtig, wenn wir der Reihe nach eine Stunde schlafen würden.«

»Nicht nötig von mir aus«, versetzte der Tex.

Auch Doc Holliday winkte ab.

Die Nervenbelastung der letzten Tage machte sich gerade jetzt in diesen entscheidenden Stunden bleiern bemerkbar. Der Schlaf zerrte mit Zentnergewichten an jedem der Männer.

Und Tombstone schien zu schlafen.

Aber es gab nur wenige Menschen, die in diesen Stunden wirklich schliefen.

Unendlich langsam kroch der große Zeiger über das vergilbte Zifferblatt der Uhr hinter dem Schreibtischstuhl. Er schien sich vorgenommen zu haben, seine Reise über die römischen Ziffern im Schneckentempo zurückzulegen.

Endlich wurde es drei. Und Stunden schien es zu dauern, bis weitere fünfzehn Minuten verstrichen waren.

Unmerklich hatte sich der erste fahle silbergraue Schimmer im fernen Osten über den Horizont geschoben und warf ein dämmeriges, diffuses Licht auf die Stadt.

Wyatt, der neben der offenen Hoftür gestanden hatte, ging hinaus in den Hof, nahm den Hut ab und warf sich ein paar Hände eiskalten Brunnenwassers ins Gesicht.

Luke Short folgte augenblicklich seinem Beispiel.

Als sie ins Office zurückkamen, sahen sie, daß Doc Holliday draußen auf der Vorbaukante stand. Seine linke Seite war vordem ersten fahlen Tageslicht seltsam unwirklich beleuchtet.

»Sie haben recht, Wyatt«, hörte der Marshal, der jetzt die Türschwelle erreicht hatte, den Gefährten sagen. »Er hält es mit den Apachen.«

Luke, der eben sein Schrotgewehr geprüft hatte, lauschte den Worten des Georgiers nach und raunte:

»Was soll das heißen, Doc?«

»Sie kommen«, entgegnete der Spieler mit eisiger Ruhe, während er die wenigen Vorbaustufen hinunter auf die Straße ging.

Und da brüllte auch schon der erste Schuß auf und zerriß die Stille der verblichenen Nacht wie ein Kanonenschlag. Das Geschoß klatschte dicht neben Holliday auf eine eiserne Krampe im Dachbalken und jaulte als Querschläger davon.

Man sah es gar nicht, wie die beiden schweren vernickelten Sixguns in die Hände des Spielers flogen; nur die yardhoch aufzuckenden blaßblauen Mündungsflammen sah man, und dann spien seine beiden Sixguns Schuß um Schuß aus.

Irgendwo drüben beim Crystal Palace schrie ein Mann auf.

Ein anderer rannte quer über die Straße, ließ sich fallen und schoß. Eine Kugel des Spielers streckte ihn in den Straßenstaub.

Der Große Chief hatte zum Angriff geblasen.

Einer seiner Paladine hatte bereits verspielt. Es war Charlton Cirby, der mit einem Oberschenkelschuß vor der Treppe des Crystal Palace zusammengebrochen war.

Da brüllte aus dem Hintergrund der Straße ein Gewehrschuß auf, dem sofort zwei weitere folgten. Die erste Kugel riß ein daumengroßes Stück aus der Treppenkante, und die beiden anderen pfiffen vorbei.

»Zielwasser haben die Boys nicht gerade getrunken«, kam es spöttisch von den Lippen des Spielers.

Wyatt Earp und Luke Short blickten gebannt auf die hochaufgerichtete Gestalt des Mannes aus Georgia, der mit einer geradezu fatalen Todesverachtung auf der Straßenmitte stand. Gerade schickte er wieder einen tödlichen Feuerstoß aus seinen Revolvern los.

Als der Riese den Marshal ansah, deutete der mit dem gezogenen Revolver ins Office.

»Laufen Sie durch den Hof in die Gasse, Luke! Einer muß am Ende des Saloons oder am Eingang von Myers Shop stehen.«

Während der Tex lostigerte, ging der Marshal ebenfalls auf die Straße, überquerte sie, und betrat drüben vor Cohans Store den Vorbau.

Ein wütendes Geknatter von Schüssen zerschmetterte drüben die Fensterscheiben.

Holliday wandte den Kopf. Als er den Marshal noch stehen sah, ging er langsam vorwärts, der Straßenkreuzung zu. Mit einer Geschwindigkeit, die unnachahmlich war, hatte er seine Revolver neu aufgeladen.

Als er die Straßenkreuzung fast erreicht hatte, entdeckte er auf dem Vorbau des Grand Hotels die kauernde Gestalt eines Mannes, der ein Gewehr schußbereit hielt. Er war noch zu weit entfernt, als daß ihn eine Kugel hätte erreichen können.

Da rannte Wyatt, der ihn ebenfalls entdeckt hatte, mit weiten Sätzen vorwärts, bis an die Ecke der Fünften Straße, stieß den Buntline vor und feuerte im gleichen Augenblick, in dem der Gewehrschütze abgedrückt hatte.

Die Gewehrkugel zischte auf drei Inches Entfernung an Doc Hollidays linker Schulter vorbei, als das schwere fünfundvierziger Geschoß aus dem Colt des Marshals den Gewehrschützen vom Vorbau stieß.

Ric Martinson war nicht lebensgefährlich, aber doch am rechten Oberarm schwer verletzt. Er biß die Zähne zusammen, kroch unter den Vorbau und zog seine beiden Revolver, um ein sinnloses Trommelfeuer loszulassen.

Luke Short stand im Hoftor und beobachtete die dunkle Häuserfront gegenüber. Da entdeckte er im Eingang von Myers Shop die Gestalt eines Mannes, der ein Gewehr in der Hand hatte.

Etwa sieben Yard breit war die Gasse. Luke bückte sich, tastete nach einem großen Stein und warf ihn auf das Vorbauende des Crystal Palace.

Der Bluff glückte. Der Mann sprang aus der Torfahrt heraus und riß das Gewehr hoch.

Da fegte der Tex mit wahren Panthersätzen in die Straße und riß den Gegner wie ein Kugelblitz nieder.

Der verräterische Mayor von Bisbee kam wieder auf die Beine und wollte zum Revolver greifen. Aber ein fürchterlicher Haken auf die kurzen Rippen ließ den bärenstarken Mann betäubt umfallen. Luke packte ihn am Kragen und schleppte ihn über die Straße.

Martinson, der den Texaner ausgemacht hatte, feuerte wütend zu ihm hinüber und streifte den weißen Hut des Riesen mit einer Kugel.

»Warte, Junge, den Deckel bezahlst du mir!« brüllte Luke grimmig und brachte Hegger dann ins Jail.

Wyatt Earp hatte den verletzten Cirby hinter der Treppe von Lees Store entdeckt, rannte quer über die Straßenkreuzung, packte den Mann, zerrte ihn hoch und zog ihn hinter die Hausecke.

Cirby wurde mit seinen eigenen Curten so gefesselt, daß er sich nicht von der Stelle zu rühren vermochte.

Wyatt duckte sich nieder und kroch unter den Vorbau.

»Los, komm raus, Tramp!« zischte er Martinson zu.

Der ließ die Revolver fallen und kam mit erhobenen Händen am ganzen Leib zitternd auf die Straße.

»Vorwärts!« befahl ihm der Marshal.

Martinson ging weiter und blieb mehrere Yards vor Doc Holliday stehen.

»Komm nur, Junge, da drüben gehts ins Loch«, mahnte ihn der Spieler und hielt ihn mit vorgestrecktem Colt in Schach.

Luke Short nahm den Galgenmann in Empfang.

Drei Mann von den Kumpanen des Großen Chiefs waren gestellt.

Da glaubte der Missourier drüben vorm Occidental Saloon eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Er sprang auf den Vorbau und kroch auf allen vieren vorwärts an der Hausfront des Grand Hotels vorbei. Fast hatte er den Eingang erreicht, als drüben eine Schrotladung explodierte.

Die Bleistücke wurden bis über die Straßen gestreut. Wyatt hatte sich auf die Planken gepreßt. Sofort sprang er hoch und feuerte aus beiden Revolvern auf den Eingang der Bar.

Auch Doc Holliday war vorwärtsgelaufen. Er stieß mit dem Fuß das Hoftor des Crystal Palace auf und sah einen Mann über die Mauer zum Nachbarhof hinüberjumpen.

Sofort verließ der Spieler den Hof und ging über die Stepwalks weiter. Vielleicht hatte sich der Chief – wenn er wirklich dabei war – im Occidental Saloon festgesetzt?

Wyatt hatte die Straße jetzt auch überquert und unter dem Vorbau Deckung genommen.

Da riß eine schwere Gewehrsalve die Stepwalkplanken an einer Ritze auf.

Der Schütze mußte im Torwinkel stehen.

Wyatt entschloß sich, alles auf eine Karte zu setzen. Er warf seinen Hut hoch und sprang dann nach.

Der Mann im Tor ließ sich irritieren und feuerte auf den Hut.

Mit katzenhafter Behendigkeit setzte der Marshal auf den Vorbau und hechtete dem Schützen im Torwinkel entgegen.

Der flog herum. Im fahlen Morgenlicht erkannte ihn der Marshal: es war Capucine!

Er stieß dem Marshal das Gewehr entgegen. Der Lauf traf den Missourier rechts an der Brust. Blitzschnell riß der Bandit den Ladebügel durch.

Da hatte der Marshal das Gewehr schon hochgestoßen, und der Schuß entlud sich in die Luft.

Capucine riß das rechte Knie zu einem tückischen Stoß hoch, aber zu spät. Ein schwerer Uppercut traf seine Kinnlade und schüttelte ihn schwer durch.

Noch aber stand er, wenn auch schwer angeschlagen da, und zog instinktiv den Revolver.

Aber der erste Paladin des Big Boß stand in seinem entscheidenden Kampf vor einem besseren Mann. Es war ein gedankenschneller rechter Cross, der ihn links oben am Jochbein traf und von den Beinen riß.

Wyatt hörte ein Geräusch hinter sich und sah den Spieler auf dem Vorbau auftauchen.

»Capucine?«

»Ja.«

»All right!«

Holliday lief vorwärts in den Hof, blieb aber plötzlich stehen, weil ein leises sirrendes Zischen an sein Ohr gedrungen war.

Sofort ließ er sich fallen.

Keine Sekunde zu früh; ein Messer blieb federnd in Kopfeshöhe in der Fenz zum Nachbarhof stecken. Der hinterhältige Joe Boyad hatte es nach der weißen Hemdbrust des Spielers geschleudert.

Holliday schnellte hoch und feuerte aus der halben Drehung heraus zum Scheunenbau hinüber.

Boyad war in die Brust getroffen, warf beide Arme hoch und stürzte schreiend in den Hof.

Wieder war ein Mann des Großen Chiefs erledigt.

Wyatt Earp hatte Capucine gefesselt und schleppte ihn auf den Vorbau zum Crystal Palace. Da sah er, wie sich hinter ihm die Schankhaustür öffnete, riß den Revolver herum und erkannte das bleiche Gesicht des Keepers Bill.

»Marshal, ich bins!«

»Los, schaff den Kerl hier ins Haus. Aber paß mir auf ihn auf! Du haftest mit deinem Leben für ihn!«

»All right, Marshal!« Der Barmann packte den schweren Körper des gefangenen Galgenmannes und zerrte ihn ins Innere des Schankraumes.

War der Kampf zu Ende? War er doch nicht mitgekommen? War es ihm wieder geglückt, die anderen für sich ins Feuer zu schicken? Hatte er sogar seinen besten Fighter, den harten Capucine, allein in den Tod schicken wollen?

Nachdem Luke Short den verletzten Boyad ebenfalls weggebracht hatte, standen die beiden Dodger am Ende des Crystal Palace und lauschten in die Straße.

Da schien es dem Marshal, als ob unten aus der Fifth Street ein Geräusch heraufgekommen wäre.

Er lief vorwärts. Holliday folgte ihm.

Als sie die Gasse erreicht hatten, blieben sie wieder stehen und lauschten.

»Es muß aus dem Russian House kommen«, flüsterte Holliday heiser.

Wyatt rannte auf den Zehenspitzen vorwärts, riß instinktiv die Fensterläden seines eigenen Zimmers auf, jumpte in den Raum, rannte hindurch und hetzte durch den langen Korridor zur Tür des Innenhofes.

Da sah er ihn!

Nur etwa sechs oder sieben Yard entfernt stand er und hatte ein Gewehr in der Hand.

Es gab keinen Zweifel: es war Ike Clanton!

Gebannt starrte der Marshal auf ihn, die Rechte um den Buntline Revolver gekrallt.

»Ike!«

Ohne sich umzuwenden, röhrte die Stimme des Ranchers über den Hof: »Augenblick, Marshal! – Komm raus!« schrie er dann über den Hof. Und sein Gewehr brüllte auf.

Da wurde unten, dicht vor der Privatwohnung Nellie Cashmans, im Türwinkel eine Gestalt sichtbar. Sie sprang vorwärts und wollte den Eingang von Nellie Cashmans Wohnung erreichen.

»Stehenbleiben!« schrie der Marshal.

Und Ike Clanton feuerte.

Aber auch der andere hatte geschossen. Der Körper des Ranchers bekam einen Stoß.

Da jagte der Marshal eine Kugel über den Hof.

Der Mann, der die Tür Nellie Cashmans fast erreicht hatte, wurde von den beiden Kugeln wie im Fluge abgefangen und blieb stehen.

Fasziniert starrte Wyatt auf die Gestalt, die jetzt wie eine fadenlos gewordene Marionette quälend langsam in sich zusammenbrach.

Im gleichen Augenblick wurde hinten das Hoftor aufgestoßen. Der Georgier stürmte mit beiden Revolvern herein und blieb ebenfalls gebannt stehen.

Der Spieler blickte auf die zusammengebrochene Gestalt vor Nellie Cashmans Wohntrakt. Dann sah er zu dem Marshal hinüber und maß den Rancher mit einem verblüfften Blick.

Wyatt Earp ging vorwärts, den Colt noch in der Faust, blieb vor dem Gestürzten stehen und sah die graue Zipfelmaske mit der schwarzen Spitze. Als er sich bückte und sie dem Leblosen vom Kopf zog, wich er vor Schrecken einen Schritt zurück.

Vor ihm am Boden lag Cass Larkin, der Sheriff von Naco!

Er trug links auf der Brust unter seiner grauen Weste noch seinen Sheriffsstern. Und am Mittelfinger seiner rechten Hand blinkte im Morgenlicht ein schwerer goldener Ring, auf dessen abgeplatteter Siegelseite ein großes Dreieck eingraviert war.

Auch der Texaner war jetzt hinten im Hoftor erschienen und blickte gebannt auf die gespenstische Szene.

Doc Holliday kniete neben Larkin nieder und zerrte ihm das Hemd über der Brust hoch.

Eine Kugel hatte Larkin genau ins Herz getroffen, ein zweiter Schuß saß dicht daneben.

Der Big Boß war tot.

Sekundenlang herrschte eisige Stille auf dem Hof.

Wyatt Earp wandte sich um und sah zu Ike Clanton hinüber.

Der stand mit blutverschrammtem Gesicht da und hatte das Gewehr noch in der rechten Hand. Jetzt schleuderte er es von sich und griff sich an den linken Oberarm, der von einer Kugel Larkins sengend gestreift worden war.

Wyatt ging bis in die Hofmitte und blickte den Rancher an.

»Woher wußten Sie –?«

Der Rancher spie aus und verzog das Gesicht vor Schmerz.

»Gar nichts wußte ich. Ich hatte nur gehört, daß der Big Boß in Sasabe von Doc Holliday schwer am Fuß verletzt war. Und dann fiel mir auf, daß Larkin nicht ein einziges Mal aus dem Sattel stieg, als er neulich mit den anderen Sternschleppern hier in der Stadt war. Und außerdem war es merkwürdig, daß er sich dauernd oben am Boot Hill herumtrieb. Aber das ist es nicht allein. Meine Mutter… sie glaubte, ihn im Feuerschein erkannt zu haben, als unsere Ranch angezündet wurde…

Ich suchte Phin, weil ich fürchtete, daß er sich ihm anschließen würde. Und Phin ist um zwei Uhr losgeritten, ich bin ihm gefolgt. Ich glaubte, daß er hierher wollte. Aber er ist weitergeritten, nach Gleason hinüber. Da sah ich unten von der Overlandstreet aus plötzlich das weiße Pferd hier hinterm Russian House stehen. Das wars eigentlich, Marshal…«

Der Big Boß war tot! Wer hätte gedacht, daß sich hinter der glatten Maske eines Sheriffs der größte Verbrecher verborgen hielte, den es jemals in diesem Lande gegeben hatte! Und welche Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet jener Mann, den der Marshal solange selbst im Verdacht gehabt hatte, nämlich der verfemte Ike Clanton, mitgeholfen hatte, ihn zur Strecke zu bringen!

Wyatt Earp 15 – Western

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