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Die Geschichte der Eva Delektorskaja

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Schottland 1939

Eva Delektorskaja lief über federndes Gras auf den Talgrund und den dunklen Baumstreifen zu, der einen kleinen Fluss säumte. Jenseits des Glens begann die Sonne zu sinken, also wusste sie wenigstens, wo Westen war. Sie schaute nach Osten, ob der Lkw von Staff Sergeant Law noch zu sehen war, der zwischen den gewundenen Berghängen zurückfuhr, ins Tal des Tweed, wie sie vermutete, doch in der dunstigen Abendluft ließen sich Felswände und Nadelwälder nicht mehr auseinanderhalten, sodass es unmöglich wurde, den Zweitonner aus dieser Entfernung zu erkennen.

Sie marschierte drauflos, auf den Fluss zu, bei jedem Schritt stieß ihr der Rucksack ins Kreuz. Das ist eine »Übung«, sagte sie sich, sie muss mit dem richtigen Elan ausgeführt werden. Die Ausbilder hatten ihnen erklärt, das sei kein Wettkampf, eher ein Test, ob sie damit zurechtkamen, im Freien zu übernachten, ob sie Orientierungssinn zeigten und welche Initiativen sie in der Zeit entwickelten, die sie brauchten, um zurückzufinden, ohne zu wissen, wo sie sich befanden. Zu diesem Zweck hatte Law ihr die Augen verbunden und sie mindestens zwei Stunden lang umhergefahren, wie sie aus dem Stand der rötlichen Sonne schloss. Während der Fahrt war Law auffallend gesprächig gewesen – um sie am Zählen zu hindern, wie sie jetzt begriff –, und als er sie oberhalb des Glens absetzte, sagte er: »Es können zwei Meilen oder zwanzig Meilen Entfernung sein.« Er zeigte sein dünnes Lächeln. »Sie werden es nicht erraten. Also bis morgen, Miss Dalton.«

Das Flüsschen im Talgrund war seicht, das braune Wasser floss schnell dahin. Beide Ufer waren dicht bewachsen, hauptsächlich von kleinen, belaubten Bäumen mit blassgrauen, knorrigen Stämmen. Eva lief mit festem Schritt flussabwärts, die safranfarbene Sonne betupfte das Gras und Gesträuch mit goldenen Flecken. Über den Pfützen standen Mückenwolken, und während der schottische Tag zur Neige ging, wurde der Gesang der Vögel immer munterer.

Als die Sonne hinter dem Westrand des Glens verschwunden war und das Licht im Tal grau und gestaltlos wurde, beschloss Eva, ihr Nachtlager aufzuschlagen. Sie hatte bestimmt mehrere Meilen zurückgelegt, aber noch immer kein Haus oder irgendeine menschliche Bleibe entdeckt, keine Scheune oder Hütte, in der sie Unterschlupf gefunden hätte. Ihr Rucksack enthielt einen Regenmantel, ein Umhängetuch, eine Wasserflasche, eine Kerze, eine Schachtel Streichhölzer, ein kleines Päckchen Toilettenpapier und ein paar Käsesandwiches, eingewickelt in Butterbrotpapier.

Sie suchte sich eine bemooste Mulde zwischen den Wurzeln eines Baumes, zog den Regenmantel über und kroch in ihr provisorisches Bett. Ein Sandwich aß sie, die anderen hob sie auf. Bis jetzt machte ihr dieses Abenteuer ziemlichen Spaß, sie freute sich beinahe auf ihre Nacht unter freiem Himmel. Das Rauschen des Flusses, der flink über die runden Kiesel und Steine strömte, war beruhigend; sie fühlte sich nicht ganz so allein. Und sie spürte auch nicht das Bedürfnis, mit der Kerze gegen die Dunkelheit anzugehen – eigentlich war sie recht froh, dass sie einmal von ihren Kollegen und Ausbildern in Lyne Manor wegkam.

Nach der Ankunft in Edinburgh war Staff Sergeant Law mit ihr südwärts gefahren und dann am Tweed entlang, durch mehrere kleine und in ihren Augen fast identische Fabrikstädte. Nach der Überquerung des Flusses stießen sie in eine einsamere Landschaft vor. Hier und da sah man flache, massive Farmhäuser mit ihren Stallungen und blökenden Schafherden. Die Hügel ringsum, von Schafen bevölkert, wurden höher, die Wälder dichter und urwüchsiger. Dann, zu ihrer Überraschung, fuhren sie durch das schmiedeeiserne Tor eines Landguts mit hübschen Portalhäuschen zu beiden Seiten und weiter auf einem gewundenen Fahrweg, der von alten Buchen flankiert war und zu zwei großen weißen Gutshäusern führte, die von gepflegtem Rasen umgeben und so ausgerichtet waren, dass sie eine westwärts gelegene Schlucht überblickten.

»Wo sind wir?«, fragte sie Law, stieg aus dem Auto und betrachtete die kahlen, runden Bergrücken zu beiden Seiten.

»Lyne Manor«, sagte er, ohne weitere Erklärungen abzugeben.

Die zwei Häuser waren, wie sie jetzt sah, Teile eines einzigen. Was wie ein zweites ausgesehen hatte, war tatsächlich der Seitenflügel, ebenfalls stuckverziert und weiß getüncht, aber offensichtlich jüngeren Datums als das ein Stockwerk höhere Haupthaus mit seinen dicken Festungsmauern und kleinen, unregelmäßigen Fenstern unter einem dunklen Schieferdach. Sie hörte das Rauschen eines Flusses und sah hinter Bäumen, die etwas weiter entfernt standen, die Lichter eines weiteren Gebäudes. Nicht ganz aus der Welt, dachte sie, aber fast.

Nun, da sie im Wurzelbett ihres Baumes lag, schläfrig vom beständig wechselnden Rauschen des Flusses, dachte sie an die zwei seltsamen Monate in Lyne Manor, an die Dinge, die sie dort gelernt hatte. Sie betrachtete das Ausbildungslager als eine Art exzentrische Internatsschule, und es war eine sonderbare Ausbildung, die sie dort erhielt: zuerst morsen, morsen ohne Ende, bis zur fortgeschrittensten Stufe, auch Stenografie und das Schießen mit diversen Handfeuerwaffen. Sie hatte Autofahren gelernt, sie konnte Karten lesen und den Kompass gebrauchen. Sie wusste, wie man Kaninchen und andere Nager fing, häutete und zubereitete, wie man Spuren verwischte und falsche Fährten legte. In weiteren Kursen hatte man ihr beigebracht, einfache Codes zu entwickeln und zu knacken. Sie hatte gelernt, wie man Dokumente fälschte, konnte Namen und Daten mit verschiedenen Spezialtinten und winzigen Schabwerkzeugen verändern und wusste, wie man mit einem zugeschnittenen Radiergummi amtliche Stempel nachmachte. Sie wurde mit der menschlichen Anatomie vertraut gemacht, lernte, wie der Körper funktionierte, worin sein Nahrungsbedarf und seine vielen Schwachstellen bestanden. In den ahnungslosen Fabrikstädtchen war sie zu belebter Stunde darauf trainiert worden, Verdächtige zu beschatten, allein, zu zweit oder zu mehreren. Sie wurde auch selbst verfolgt und allmählich vertraut gemacht mit den Anzeichen einer Beschattung sowie allen möglichen Methoden, ihr zu entgehen. Sie lernte, wie man unsichtbare Tinte herstellte und wie man sie sichtbar machte. All das war interessant, gelegentlich faszinierend, aber das »Scouting«, wie man diese Fähigkeiten in Lyne nannte, war nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen konnte: Sobald der Eindruck entstand, dass ihnen das Training gefiel oder gar Spaß machte, wurden Law und seine Ausbilderkollegen mürrisch und abweisend. Aber gewisse Besonderheiten ihrer Ausbildung gaben ihr Rätsel auf. Wenn die anderen, die mit ihr »studierten«, zum Flugplatz Turnhouse bei Edinburgh fuhren, um Fallschirmspringen zu lernen, durfte sie nicht mit.

»Warum nicht?«, fragte sie.

»Mr Romer sagt, das ist nicht nötig.«

Aber offenbar legte Mr Romer Wert auf andere Fähigkeiten. Zweimal in der Woche fuhr Eva allein mit dem Zug nach Edinburgh, wo sie bei einer schüchternen Frau in Barnton Sprechunterricht erhielt, bis langsam, aber sicher alle Spuren ihres russischen Akzents getilgt waren. Jetzt sprach sie wie die Schauspielerinnen in englischen Filmen, ein steifes, abgehacktes Englisch mit seltsamen Vokalen: Statt »man« sagte sie »men«, statt »hat« sagte sie »het«, ihre Konsonanten waren scharf und präzise, ihre R ein wenig rollend. Sie lernte sprechen wie eine junge Mittelstandsengländerin mit Privatschulbildung. Niemand fragte nach ihrem Französisch oder ihrem Russisch.

Dieselbe Spezialbehandlung wurde ihr zuteil, als die anderen zu einem dreitägigen Selbstverteidigungskurs nach Perth geschickt wurden. »Mr Romer sagt, das ist nicht nötig«, hieß es, als sie sich wunderte, weil sie keinen Marschbefehl erhielt. Dann kam ein seltsamer Mensch nach Lyne, der ihr Einzelunterricht erteilte. Er hieß Mr Dimarco, war ein kleiner, sehr gepflegter Herr mit scharf getrimmtem und pomadisiertem Schnurrbart, und er zeigte ihr seinen Vorrat an Gedächtnistricks – früher hatte er auf Jahrmärkten gearbeitet, wie er sagte. Eva lernte, Zahlen mit Farben zu verbinden, und bald zeigte sich, dass sie sich mühelos bis zu zwanzig Sequenzen fünfstelliger Zahlen merken konnte. Sie spielten komplizierte Varianten von Gedächtnisübungen mit über hundert Gegenständen, die auf einem langen Tisch versammelt waren – und nach zwei Tagen war sie zu ihrer eigenen Überraschung in der Lage, sich mehr als achtzig dieser Gegenstände zu merken. Man zeigte ihr einen Film und unterzog sie danach einer ausführlichen Befragung: Hatte der dritte Mann von links in der Kneipe einen Hut auf oder nicht? Wie lautete das Kennzeichen des Fluchtautos? Trug die Frau an der Hotelrezeption Ohrringe? Wie viele Stufen führten zur Haustür des Schurken? … Sie begriff, dass man ihr beibrachte, Augen und Verstand in völlig neuer Weise zu gebrauchen, sodass sie sich mit ihren Methoden des Beobachtens und Erinnerns gänzlich von der Masse der Menschen unterschied. Und anhand dieser neuen Fähigkeiten sollte sie die Welt mit einer Präzision und Systematik beobachten und analysieren, die nichts mehr mit gewöhnlicher Neugier zu tun hatten. Alles, aber auch wirklich alles sollte zum potenziellen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit werden. Niemand sonst bekam diese Ausbildung bei Mr Dimarco, nur Eva. Auch das sei eine von Mr Romers Spezialanforderungen, gab man ihr zu verstehen.

Als es schließlich dunkel war am Fluss, so dunkel, wie eine schottische Sommernacht nur sein konnte, knöpfte sie ihren Regenmantel zu und faltete das Umhängetuch zum Kissen. Das Licht des Halbmonds hatte die Farben des Tages in die Monochromie der Nacht überführt und verwandelte den Fluss mit den knorrigen Bäumen in eine Szenerie von geisterhafter Schönheit.

Nur zwei andere »Gäste« waren schon so lange in Lyne wie sie: ein junger, hagerer Pole, genannt Jerzy, und eine Frau Mitte vierzig, Mrs Diana Terme. Es gab nie mehr als acht oder zehn Gäste zur selben Zeit, auch das Personal wechselte regelmäßig. Sergeant Law schien zum festen Inventar zu gehören, aber selbst er wurde für zwei Wochen von einem wortkargen Waliser namens Evans abgelöst. Die Gäste bekamen täglich drei Mahlzeiten in der Kantine des Haupthauses, von der man einen weiten Blick über das Tal und den Fluss hatte, und bedient wurden sie von jungen Rekruten, die kaum ein Wort sagten. Untergebracht waren die Gäste im neueren Flügel; Frauen in der einen Etage, Männer in der anderen, jeder hatte sein eigenes Zimmer. Es gab sogar einen Clubraum mit Radio, Teebereiter, Zeitungen und ein paar Illustrierten – aber Eva hielt sich selten dort auf. Ihre Tage waren ausgefüllt: Das Kommen und Gehen und der niemals artikulierte, aber allen bekannte Grund ihres Hierseins sorgten dafür, dass gesellige Kontakte riskant erschienen und irgendwie nicht gediehen. Aber es gab noch andere Gründe, private Beziehungen zu vermeiden oder mit Vorsicht zu genießen.

Am Tag nach ihrer Ankunft führte ein freundlicher Mann mit Tweedanzug und sandfarbenem Schnurrbart im Dachgeschoss des Haupthauses ein Gespräch mit ihr. Er nannte weder seinen Namen noch gab es irgendwelche Hinweise auf seinen Dienstrang. Sie konnte nur vermuten, dass es sich um jenen »Laird« handelte, den Law und andere Ausbilder gelegentlich erwähnten. Wir mögen keine Freundschaften hier in Lyne, erklärte der Laird, sehen Sie die anderen als Reisebekanntschaften – es gibt keinen Grund, sich näher kennenzulernen, weil Sie sich nicht wiedersehen werden. Seien Sie freundlich, plaudern Sie miteinander, aber je weniger andere über Sie wissen, desto besser. Bleiben Sie lieber für sich und machen Sie das Beste aus Ihrer Ausbildung, denn dafür sind Sie schließlich hier.

Nachdem er sie schon entlassen hatte, rief er sie zurück: »Ich möchte Sie noch warnen, Miss Dalton. Nicht alle unsere Gäste sind das, was sie scheinen. Es könnte sein, dass der eine oder andere für uns arbeitet – nur um sicherzustellen, dass die Regeln eingehalten werden.«

Also misstrauten alle Gäste von Lyne Manor einander und waren so diskret, höflich und verschlossen, wie es sich der Laird nicht besser hätte wünschen können. Mrs Terme fragte Eva einmal, ob sie Paris kenne, und Eva, die sofort Verdacht schöpfte, antwortete: »Nur sehr flüchtig.« Dann sprach Jerzy sie einmal auf Russisch an und entschuldigte sich sofort. Im Verlauf der Wochen kam sie zu der Überzeugung, dass diese beiden die »Gespenster« von Lyne waren, wie man die Doppelagenten nannte. Die Lyne-Schüler wurden dazu angehalten, das in Lyne übliche Vokabular zu verwenden. Man redete nicht von der »Firma«, sondern sagte »Zentrale«. Agenten waren »Krähen«, »Schatten« waren die, die einen verfolgten – solche Bezeichnungen galten, wie sie später erfuhr, als linguistische Erkennungszeichen oder als eine Art Freimaurer-Gruß, mit dem sich Lyne-Absolventen einander zu erkennen gaben.

Das eine oder andere Mal meinte sie bemerkt zu haben, dass Law mit einem Neuankömmling einen wissenden Blick wechselte, und ihre Vermutungen setzten von Neuem ein: Waren das die wirklichen Informanten, und hatten Mrs Terme und Jerzy einfach nur aus Neugier gefragt? Nach kurzer Zeit begriff sie, dass all das genau so beabsichtigt war – die Warnung allein reichte schon aus, um die Gäste zu Vorsicht und Wachsamkeit zu veranlassen: Ständiges Misstrauen war ein wirksames Instrument der inneren Sicherheit. Eva war überzeugt, dass sie den anderen genauso verdächtig vorkam wie ihr diejenigen, die sie glaubte, entlarvt zu haben.

Zehn Tage hatte sich ein junger Mann namens Dennis Trelawny in Lyne aufgehalten. Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn, und am Hals hatte er eine frische Brandnarbe. Bei ihren wenigen Begegnungen – in der Kantine, beim Morsetraining – merkte sie, dass er sie beobachtete, auf die gewisse Art. Er machte nur die unverfänglichsten Bemerkungen – »sieht ganz nach Regen aus«, »ich bin ein bisschen taub vom Schießstand« –, aber sie spürte, dass er sich von ihr angezogen fühlte. Dann eines Tages, als sie sich am Buffet Nachtisch holten, kamen sie ins Gespräch und setzten sich nebeneinander an den Mannschaftstisch. Sie fragte ihn – ohne zu wissen, warum –, ob er bei der Air Force sei, er sehe aus wie der typische RAF-Mann. Nein, sagte er spontan, bei der Navy, und in seine Augen trat ein merkwürdiger Ausdruck der Angst. Er verdächtigte sie, wurde ihr klar. Und er sprach sie nicht mehr an.

Nach einem Monat Aufenthalt wurde sie eines Abends aus ihrem Zimmer ins Hauptgebäude gerufen. Man brachte sie zu einer Tür, wieder unter dem Dach, sie klopfte an und trat ein. Romer saß am Schreibtisch, eine Zigarette in der Hand, vor sich eine Flasche Whisky und zwei Gläser.

»Hallo, Eva«, sagte er, ohne sich von seinem Platz zu erheben. »Ich wollte mich erkundigen, wie Sie vorankommen. Einen Drink?« Er zeigte auf einen Stuhl, und sie setzte sich. Romer redete sie immer mit Eva an, auch im Beisein von Leuten, die sie Eve nannten. Anscheinend sahen die anderen darin eine Art Kosenamen; sie vermutete jedoch, dass es für Romer eine kleine Machtdemonstration war, eine sanfte Erinnerung daran, dass er im Unterschied zu allen anderen ihren wahren Hintergrund kannte.

»Nein, danke«, sagte sie zu der Flasche, die er ihr hinhielt.

Romer schenkte ihr trotzdem ein und schob ihr das Glas hin.

»Unsinn … Ich bin beeindruckt, aber ich kann nicht allein trinken.« Er prostete ihr zu. »Ich höre, Sie kommen gut zurecht.«

»Wie geht es meinem Vater?«

»Ein bisschen besser. Die neuen Tabletten scheinen zu helfen.«

Ist das wahr, oder ist das eine Lüge?, fragte sich Eva. Ihre Ausbildung zeigte allmählich Wirkung. Dann wieder dachte sie: Nein, eine solche Lüge würde mir Romer nicht auftischen, weil ich das herausbekommen könnte. Also beruhigte sie sich ein wenig.

»Warum durfte ich nicht zum Fallschirmspringen?«

»Solange Sie für mich arbeiten, brauchen Sie das nicht, das schwöre ich Ihnen … Ihr Akzent ist wirklich gut. Hat sich sehr verbessert.«

»Und Selbstverteidigung?«

»Zeitverschwendung.« Er trank und schenkte sich nach. »Stellen Sie sich vor, Sie kämpfen um Ihr Leben: Sie haben Klauen und Zähne – Ihre Instinkte nützen Ihnen mehr als jedes Training.«

»Muss ich um mein Leben kämpfen, wenn ich für Sie arbeite?«

»Sehr, sehr unwahrscheinlich.«

»Was muss ich also für Sie tun, Mr Romer?«

»Bitte nennen Sie mich Lucas.«

»Was muss ich also für Sie tun, Lucas?«

»Was müssen wir tun, Eva. Am Ende Ihrer Ausbildung wird sich das alles zeigen.«

»Und wann wird das sein?«

»Wenn ich den Eindruck habe, dass Sie hinreichend ausgebildet sind.«

Er stellte noch ein paar allgemeine Fragen, manche hatten mit den Verhältnissen in Lyne zu tun – war jemand zu freundlich oder neugierig gewesen, hatte jemand Fragen nach ihrer Anwerbung gestellt, hatte das Personal sie auffällig behandelt und so weiter. Sie lieferte ihm wahrheitsgemäße Antworten, und er hörte zu, nachdenklich, an seinem Whisky nippend, an seiner Zigarette ziehend, fast wie ein Vater, der sich überzeugen will, ob Lyne die passende Schule für sein begabtes Kind ist. Dann drückte er die Zigarette aus, stand auf, ließ die Whiskyflasche in die Jackentasche gleiten und ging zur Tür.

»War sehr schön, Sie wiederzusehen, Eva«, sagte er. »Machen Sie weiter so.« Und damit verließ er den Raum.

Eva schlief sehr unruhig in ihrem Schlupfloch am Fluss, alle zwanzig Minuten etwa wurde sie wach. Der kleine Wald um sie war voller Geräusche – Rascheln, Knacken, melancholische Eulenschreie –, aber sie hatte keine Angst; sie war nur eines von vielen Nachtwesen, das seine Ruhe wollte. Noch vor Morgengrauen wachte sie auf, weil sie sich erleichtern musste. Sie ging zum Fluss, ließ die Hosen herunter und kackte in das schnell dahinströmende Wasser. Jetzt konnte sie das Toilettenpapier benutzen und anschließend sorgfältig verscharren. Auf dem Rückweg zu ihrem Schlafbaum blieb sie stehen und schaute sich um, durchforschte den mondbeschienenen Wald mit den krummen grauen Baumstämmen, die einen losen Kreis um sie bildeten wie ein halb verfallener, löchriger Palisadenzaun; die Blätter über ihr raschelten trocken im Nachtwind. Sie kam sich vor wie in einer anderen Welt, wie in einem Traumzustand, einsam und verloren in der schottischen Landschaft. Niemand wusste, wo sie war, nicht einmal sie selbst. Aus irgendeinem Grund dachte sie an Kolja, ihren lustigen, launischen, ernsten kleinen Bruder, und für einen Augenblick befiel sie tiefe Traurigkeit. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie all das für ihn tat, und machte eine kleine Trotzgeste, wie um zu zeigen, dass sein Tod nicht umsonst gewesen war. Auch empfand sie eine gewisse widerstrebende Dankbarkeit für Romer, dass er sie dazu gedrängt hatte. Vielleicht, dachte sie, als sie sich wieder in die Mulde legte, hatte Kolja mit Romer über sie gesprochen – vielleicht hatte Kolja ihn auf die Idee gebracht, sie eines Tages anzuwerben.

Sie würde wohl kaum wieder einschlafen, dazu war sie viel zu munter, aber während sie so dalag, wurde ihr bewusst, dass sie noch nie so allein gewesen war, und sie fragte sich, ob auch das Teil der Übung war – so völlig allein gelassen zu werden, nachts in einem fremden Wald an einem fremden Fluss, und zu sehen, wie sie damit zurechtkam –, denn das hatte ja nichts mit Pfadfinderei und Orientierungskunst zu tun, es war nur eine Methode, jemanden für ein paar Stunden ganz auf sich selbst zurückzuwerfen. Sie lag da, bildete sich ein, dass es schon heller wurde, dass die Morgendämmerung bevorstand, und ihr wurde bewusst, dass sie die ganze Nacht ohne Angst überstanden hatte. Vielleicht, dachte sie, ist das der eigentliche Ertrag dieses Spiels, das Sergeant Law mit mir veranstaltet.

Die Morgendämmerung kam überraschend schnell – Eva hatte keine Ahnung, wie spät es war; die Uhr hatte man ihr abgenommen, aber es kam ihr absurd vor, nicht auf den Beinen zu sein, während die Welt um sie erwachte, also ging sie zum Fluss, wo sie pinkelte, Gesicht und Hände wusch, Wasser trank, ihre Feldflasche füllte und das restliche Käsesandwich aß. Sie saß am Ufer, kauend, trinkend, und kam sich wie ein tierisches Wesen vor, ein menschliches Tier voller Instinkte und Reflexe, so wie sie es nie zuvor empfunden hatte. Es war lächerlich, wenn sie es bedachte: Sie hatte nur eine Nacht im Freien verbracht, eine balsamisch milde Nacht zudem, ausreichend gekleidet und mit Proviant versorgt, aber zum ersten Mal in den zwei Monaten ihres Aufenthalts in Lyne empfand sie so etwas wie Dankbarkeit für die seltsame Prozedur, der man sie aussetzte. Sie machte sich auf den Weg, flussabwärts, mit stetigem gemessenem Schritt und im Herzen ein Gefühl der Erhebung und Befreiung, das sie niemals für möglich gehalten hätte.

Nach einer Stunde etwa kam sie zu einem befestigten Weg, der sie aus dem Tal herausführte. Zehn Minuten später nahm sie ein Farmer in seiner Ponykutsche mit und brachte sie bis zur Straße nach Selkirk. Von dort waren es noch zwei Meilen bis zur Stadt, und wenn sie erst in Selkirk war, konnte sie herausfinden, wie weit sie von Lyne entfernt war.

Ein Touristenpaar aus Durham nahm sie bis nach Innerleithen mit, und dort nahm sie ein Taxi, um die letzten paar Meilen bis Lyne zurückzulegen. Sie ließ das Taxi eine halbe Meile vor der Einfahrt halten, bezahlte den Fahrer und umrundete den Berg, der dem Haus gegenüberlag, um sich von den Wiesen her zu nähern, als hätte sie nur einen kurzen Vormittagsbummel gemacht.

Beim Näherkommen sah sie Sergeant Law und den Laird auf dem Rasen vor dem Gutshaus stehen und nach ihr Ausschau halten. Sie öffnete die Pforte zur Brücke über den Fluss und schritt ihnen entgegen.

»Sie sind die Letzte, Miss Dalton«, sagte Law. »Trotzdem ein Lob. Sie waren am weitesten entfernt.«

»Allerdings hatten wir nicht gedacht, dass Sie um den Cammlesmuir herumgehen«, sagte der Laird augenzwinkernd. »Oder, Sergeant?«

»Wohl wahr, Sir. Miss Dalton ist immer für Überraschungen gut.«

Sie ging in die Kantine, wo man ihr eine kalte Mahlzeit aufgehoben hatte – Büchsenschinken und Kartoffelsalat. Aus einer Karaffe schenkte sie sich Wasser ein und stürzte es hinunter, dann noch ein Glas. Sie saß allein da und zwang sich, langsam zu essen und nicht zu schlingen, obwohl sie einen Bärenhunger hatte. Sie war hochzufrieden mit sich. Kolja hätte sich gefreut, dachte sie und lachte innerlich. Sie wusste nicht genau, warum, aber sie hatte das Gefühl, dass sie sich in einem kleinen, aber ganz entscheidenden Punkt geändert hatte.

Princes Street, Edinburgh, ein normaler Wochentag Anfang Juli, der kalte böige Wind trieb regenschwere Wolkenberge vor sich her. Die Edinburgher, Feriengäste, Einkaufende gingen an diesem Morgen ihren Geschäften nach, bevölkerten die Gehsteige und stauten sich an Kreuzungen und Haltestellen. Eva Delektorskaja kam vom St. Andrews Square herunter und bog rechts in die Princes Street ein. Sie lief schnell, zielstrebig, ohne sich umzusehen, aber sie war erfüllt von der Gewissheit, dass mindestens sechs Leute sie beschatteten: zwei vor ihr, die ihr entgegenkamen, und vier hinter ihr, vielleicht auch ein siebenter, ein Irrläufer, der Instruktionen von den anderen empfing, nur um sie zu verwirren.

Sie blieb vor gewissen Schaufenstern stehen und prüfte im Spiegelbild, ob sie jemanden wiedererkannte, ob Leute ihr Gesicht verdeckten, mit dem Hut, einer Zeitung oder einem Reiseführer – aber sie sah nichts Auffälliges. Und wieder die Richtung wechseln: Sie lief über die breite Straße zum Waverley Garden hinüber, huschte zwischen einer Straßenbahn und einem Bierwagen hindurch, rannte zwischen zwei Autos zum Sir-Walter-Scott-Denkmal, hinter dem sie auf dem Absatz kehrtmachte, um dann mit beschleunigtem Schritt in Richtung Carlton Hill zu laufen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schlüpfte sie ins North British Hotel, und das so flink, dass der Portier keine Zeit hatte, den Hut zu lüften. An der Rezeption verlangte sie ein Zimmer und wurde in den vierten Stock gebracht. Ohne Zögern fragte sie nach den Preisen und nach dem Weg zur Toilette. Draußen, so viel wusste sie, herrschte momentane Verblüffung, aber zumindest einer hatte sicher gesehen, wie sie im Hotel verschwand. Man würde sich absprechen, und binnen fünf Minuten wäre jeder Ausgang bewacht. »Gehen Sie hinaus, wie Sie hineingekommen sind«, sagte Law immer, »das ist der Ausgang, der am wenigsten bewacht wird.« Ein guter Rat – nur dass ihn alle ihre Verfolger ebenfalls kannten.

Wieder in der Lobby, nahm sie ein rotes Kopftuch aus der Tasche und band es um. Sie zog den Mantel aus und hängte ihn über den Arm. Als sich eine Reisegruppe, die den draußen wartenden Omnibus besteigen wollte, an der Drehtür staute, mischte sie sich unter die Leute und fragte einen Mann mit viel Emphase nach dem Weg zur Royal Mile, um dann hinter dem Bus erneut über die Princes Street zu laufen. Langsam schlenderte sie westwärts und blieb immer wieder vor Schaufenstern stehen, um sie als Spiegel zu benutzen. Da war ein Mann mit grüner Jacke – hatte sie den nicht schon auf der anderen Straßenseite gesehen? Er hielt Abstand zu ihr und drehte ihr ab und zu den Rücken zu, um zur Burg hinaufzusehen.

Sie rannte ins Jenners, hinauf in die dritte Etage, durch den Herrenausstatter in Richtung Damenhüte. Die grüne Jacke hatte es bestimmt gesehen und den anderen mitgeteilt, dass sie im Kaufhaus war. Sie betrat die Damentoilette und lief an den Abteilen vorbei bis zum hinteren Ende. Dort befand sich ein Personaleingang, der ihrer Erfahrung nach nie verschlossen war. Sie drehte den Knauf, die Tür gab nach, und sie schlüpfte hindurch.

»Verzeihung, Miss, hier ist kein Durchgang.« Zwei Verkäuferinnen saßen auf einer Bank und rauchten.

»Ich suche Jenny, Jenny Kinloch. Ich bin ihre Schwester. Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben.«

»Hier gibt es keine Jenny Kinloch, Miss.«

»Aber man hat mir gesagt, ich soll in die Personalabteilung gehen.«

Also wurde sie durch Korridore und über Hintertreppen, die nach Linoleum und Bohnerwachs rochen, zur Personalabteilung geführt. Auch dort kannte man keine Jenny Kinloch. Eva sagte, sie müsse telefonieren, vielleicht habe sie irgendetwas falsch verstanden, vielleicht sei es nicht das Jenners, sondern ein anderes Kaufhaus, das Binns. Ungeduldig zeigte man ihr eine Telefonkabine. Sie ging hinein, nahm das Kopftuch ab, löste ihr langes Haar, wendete den Mantel von innen nach außen und verließ das Kaufhaus durch den Personaleingang in der Rose Street. Sie wusste, jetzt hatte sie alle Verfolger abgeschüttelt. Das hatte sie immer geschafft, aber diesmal waren sechs Mann auf sie angesetzt gewesen …

»Eva!« Hinter ihr kam jemand gerannt.

Sie drehte sich um: Es war Romer, ein wenig außer Atem, sein drahtiges Haar zerzaust. Er bremste ab, fuhr sich übers Haar.

»Sehr gut«, sagte er. »Das mit dem roten Kopftuch war ein Meisterstück. Sich mit Absicht auffallend verhalten – großartig!«

Ihre Enttäuschung war wie ein bitterer Geschmack in der Kehle. »Aber wie haben Sie …«

»Ich habe gemogelt. Ich war dicht dran. Immer. Niemand hat es gemerkt.« Jetzt stand er vor ihr. »Ich zeige Ihnen, wie man eine Nah-Beschattung durchführt. Man braucht mehr Requisiten – Brillen, einen falschen Bart.« Er holte einen aus der Tasche, aus der anderen eine flache Tweedmütze. »Aber Sie sind sehr gut, Eva. Hätten mich beinahe abgeschüttelt.« Wieder sein strahlendes Lächeln. »Hat Ihnen das Zimmer im North British nicht gefallen? Aber Ihr Trick im Jenners war raffiniert. Die Damentoilette, nicht schlecht. Nur haben Sie Ärger mit ein paar Verkäuferinnen gekriegt, fürchte ich. Aber ich wusste, dass es dort einen Hinterausgang gibt, sonst wären Sie nicht hineingegangen.«

»Verstehe.«

Er schaute auf die Uhr. »Gehen wir hier rein. Ich habe Lunch bestellt. Sie mögen doch Austern, oder?«

Sie aßen Lunch in einer dekorativ gekachelten Austernbar, die zu einem Restaurant gehörte. Austern, dachte sie, das Symbol unserer Beziehung. Vielleicht hält er Austern für ein Aphrodisiakum und glaubt, mich damit ködern zu können? Beim Gespräch ertappte Eva sich dabei, dass sie ihn so objektiv wie möglich betrachtete und sich vorzustellen versuchte, wie sie ihn gefunden hätte, wären sie einander nicht unter diesen seltsamen und schrecklichen Umständen begegnet – wäre Kolja nicht ermordet worden. Er hatte durchaus etwas Attraktives an sich, stellte sie fest, diese entschiedene, knappe Art und zugleich die Aura des Geheimnisvollen – schließlich war er so etwas wie ein Spion –, dann das Lächeln, das ihn manchmal geradezu verwandelte, und diese unerschütterliche Selbstsicherheit. Sie zwang sich zum Zuhören: Er lobte sie schon wieder. Alle in Lyne seien beeindruckt von ihrem Einsatz, ihren Fähigkeiten.

»Aber wozu soll das alles gut sein?«, platzte sie heraus.

»Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie fertig sind«, sagte er. »Sie kommen nach London zu meiner Einheit, meinem Team.«

»Sie haben eine eigene Einheit?«

»Sagen wir, eine kleine Untergruppe einer beigeordneten Nebenstelle, die lose mit der Zentrale verbunden ist.«

»Und womit befasst sich Ihre Einheit?«

»Das wollte ich Ihnen geben«, überging er ihre Frage und zog einen Umschlag aus seiner Brusttasche, der zwei Pässe enthielt. Sie schlug die Pässe auf: in beiden ihr Foto mit den umschatteten Augen, steif und förmlich, ein wenig unscharf, aber die Namen waren andere. Jetzt hieß sie Marjory Allerdice und Lily Fitzroy.

»Wozu das? Ich dachte, ich heiße Eve Dalton.«

Er klärte sie auf. Alle, die für ihn arbeiteten, die zu seiner Einheit gehörten, erhielten drei Identitäten. Das sei ein Vorzug, eine Vergünstigung, die jeder nach Gutdünken einsetzen könne. Etwa so wie ein extra Fallschirm, sagte er, oder zwei Fluchtautos, die immer in der Nähe parken, für den Fall, dass man sie eines Tages braucht. Manchmal ist das sehr nützlich, sagte er, und wir sparen eine Menge Zeit, wenn Sie die jetzt schon bekommen.

Eva steckte die neuen Pässe in ihre Handtasche, und zum ersten Mal verspürte sie eine schleichende Angst, die ihr den Rücken hinaufkroch. Verfolgungsjagden in Edinburgh mochten ja noch angehen, aber das, womit sich Romers Einheit befasste, war eindeutig mit Gefahren verbunden. Sie ließ ihre Handtasche zuschnappen.

»Sind Sie befugt, mir mehr über Ihre Einheit zu erzählen?«

»O ja. Ein wenig. Sie heißt AAS«, sagte er. »Fast schon ein bisschen peinlich, diese Abkürzung, ich weiß. Aber sie steht für Assekuranz- und Abrechnungsservice.«

»Wie langweilig.«

»Genau.«

Und plötzlich wusste sie, dass sie Romer mochte – seine Art von Cleverness, seine Art, alles zu durchschauen. Er bestellte sich einen Brandy. Eva wollte nichts.

»Ich gebe Ihnen noch einen Rat«, sagte er. »Und das werde ich auch in Zukunft tun – Ihnen von Zeit zu Zeit Tipps geben. Die sollten Sie beherzigen.«

Schon fand sie ihn wieder unsympathisch: Diese Selbstgefälligkeit, diese amour propre, das ging ihr manchmal einfach zu weit. Ich bin allen haushoch überlegen und hab es nur mit armseligen Trotteln zu tun.

»Suchen Sie sich einen sicheren Unterschlupf. Wo auch immer. Überall, wo Sie sich für eine gewisse Zeit aufhalten, brauchen Sie Ihren persönlichen Zufluchtsort. Den dürfen Sie nicht mir, den dürfen Sie keinem verraten. Einfach ein Ort, zu dem Sie immer Zugang haben, wo Sie anonym bleiben, wo Sie sich, wenn nötig, verstecken können.«

»Romers Regeln«, sagte sie. »Haben Sie noch mehr davon?«

»Oh, jede Menge«, erwiderte er, ohne auf ihre Ironie einzugehen, »aber da wir schon beim Thema sind, nenne ich Ihnen die wichtigste Regel, Regel Nummer eins, die man nie vergessen darf.«

»Welche wäre?«

»Traue niemandem«, sagte er ohne jedes Pathos, eher mit einer beiläufigen Gewissheit, als würde er sagen: Heute ist Freitag. »Trauen Sie niemandem. Niemals«, wiederholte er, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an, nachdenklich, mit einem Gesicht, als wäre er von seinem eigenen Scharfsinn überrascht. »Vielleicht ist das die einzige Regel, die Sie brauchen. Vielleicht sind die anderen, die ich Ihnen noch nennen werde, nur Varianten dieser einen. Die Regel der Regeln. Trauen Sie keinem, nicht mal dem Menschen, dem Sie am allermeisten trauen würden. Der Verdacht, das Misstrauen muss immer bleiben.« Er lächelte, aber es war nicht sein warmes Lächeln. »Dann sind Sie immer auf der sicheren Seite.«

»Ich werd’s mir merken.«

Seinen restlichen Brandy kippte er mit einem Schluck. Er trank viel – das war ihr bei den wenigen Treffen schon aufgefallen.

»Dann sehen wir mal zu, wie wir Sie zurück nach Lyne bekommen«, sagte er und verlangte die Rechnung.

An der Tür gaben sie sich die Hand. Sie könne ganz bequem mit dem Bus fahren, sagte Eva. Sie hatte den Eindruck, dass er sie intensiver musterte als sonst, und ihr fiel ein, dass sie ihr Haar gelöst hatte – wahrscheinlich hat er mich nie mit offenem Haar gesehen, dachte sie.

»Ja … Eva Delektorskaja«, sagte er versonnen, als wäre er mit den Gedanken woanders. »Wer hätte das gedacht.« Er machte eine Handbewegung, wie um ihr auf die Schulter zu klopfen, dann entschied er sich anders. »Alle sind sehr beeindruckt von Ihnen. Wirklich.« Er blickte in den Nachmittagshimmel, wo sich bedrohliche graue Wolkentürme zusammenschoben. »Nächsten Monat gibt’s Krieg«, sagte er im gleichen beiläufigen Ton, »oder übernächsten. Der große europäische Krieg.« Er lächelte ihr zu. »Wir werden das Unsere tun. Keine Sorge.«

»Im Assekuranz- und Abrechnungsservice.«

»Ja … Waren Sie schon mal in Belgien?«, fragte er unvermittelt.

»Ja. Einmal in Brüssel. Warum?«

»Es könnte Ihnen dort gefallen. Bye, Eva.« Er hob die Hand, halb salutierend, halb winkend, und schlenderte davon. Eva hörte ihn pfeifen. Sie drehte sich um und ging gedankenverloren zum Busbahnhof.

Wenig später, als sie auf den Bus nach Galashiels wartete, ertappte sie sich dabei, dass sie alle, die in dem kleinen Warteraum saßen, Männer, Frauen, ein paar Kinder, einer Einschätzung unterzog. Sie musterte, verglich, ordnete ein. Und sie dachte: Wenn ihr nur wüsstet, wer ich bin und was ich hier mache. Mit einem Schreck kam es ihr zu Bewusstsein, und beinahe hätte sie aufgeschrien, denn plötzlich war ihr klar, dass sie sich tatsächlich geändert hatte, dass sie die Welt mit anderen Augen sah. Als hätten sich die Nervenbahnen in ihrem Gehirn neu verschaltet, und sie wusste nun, dass ihr Lunch mit Romer das Ende ihrer alten Existenz und den Beginn einer neuen markierte. Jetzt begriff sie mit fast enttäuschender Klarheit, dass die Welt und die Menschen für einen Spion nicht dasselbe waren wie für andere Menschen. Mit einem kleinen Schock – und auch, das musste sie zugeben, mit einer gewissen Erregung – stellte sie in diesem Edinburgher Warteraum fest, dass sie ihre Umgebung mit den Augen eines Spions betrachtete. Sie dachte an Romers Worte, an die Regel aller Regeln. War dies das besondere, das einzigartige Schicksal des Spions? In einer Welt ohne Vertrauen zu leben? Würde sie jemals wieder fähig sein, einem Menschen zu vertrauen?

Ruhelos

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