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Der Schüler der Klavierlehrerin

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»Der Brahms?«, fragte sie. »Wollen wir uns durch den Brahms kämpfen?«

Der Junge, der gerade seine erste Stunde bei Miss Nightingale nahm, sagte nichts. Doch als er auf das stumme Metronom schaute, lächelte er ein wenig, so als behage ihm dessen Stummheit. Dann berührten seine Finger die Klaviertasten, und sobald die ersten Töne erklangen, wusste Miss Nightingale, dass sie sich in der Gegenwart eines Genies befand.

Mittlerweile Anfang fünfzig, schlank, mit sanfter Stimme und von einer ruhigen Schönheit, die ihre Züge auszeichnete, fand Miss Elizabeth Nightingale, dass sie sich glücklich schätzen durfte. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie ein Haus geerbt und konnte, ohne geizen zu müssen, von ihren Einkünften als Klavierlehrerin leben. Sie hatte die Leidenschaft der Liebe kennengelernt.

Vielleicht hätte sie heiraten können, doch das hatten die Umstände nicht erlaubt: Stattdessen war sie sechzehn Jahre lang von einem Mann aufgesucht worden, der sich, wie sie glaubte, von der Ehefrau, die ihm nichts bedeutete, eines Tages befreien würde. Das war nicht geschehen, und als die Liebschaft endete, hatte Miss Nightingales dies zwar schmerzlich bedauert, doch nachgetragen hatte sie es ihrem Geliebten nicht, denn immerhin blieb ihr die Erinnerung an ein Glück.

Miss Nightingales Vater, ein Chocolatier, der gleich nach ihrer Geburt Witwer geworden war, hatte seine Tochter allein großgezogen. Sie wurden Gefährten und blieben es bis zu seinem Tod, wenn er auch von der Affäre, die sich während seiner täglichen Abwesenheit im Haus über so lange Zeit hingezogen hatte, nie etwas ahnte. Jene Liebe und die Aufopferung ihres Vaters waren Erinnerungen, die Miss Nightingales jetzige Einsamkeit aufhellten und ihrem Leben Kontur verliehen. Die Erregung jedoch, die sie empfand, als ihr neuer Schüler ihr vorspielte, gehörte der Gegenwart an, war frisch und neu und heftig: Nie zuvor hatte sie in einem Kind Genialität verspürt.

»Nur ein bisschen zu schnell.« Die Bemerkung machte sie erst, als das Stück, das sie vorgeschlagen hatte, zu Ende war. »Und denk an das Pianissimo.« Um zu verdeutlichen, welche Stelle sie meinte, berührte sie die Noten mit der Spitze ihres Bleistifts.

Der Junge antwortete nicht, sondern lächelte nur, genau wie zuvor. Sein dunkles, nicht allzu kurz geschnittenes Haar trug er in einer Ponyfrisur. Seine Haut war zart, makellos, weiß wie Papier. Auf die Brusttasche seines Blazers war ein Abzeichen aufgenäht, ein langschnabeliger Vogel, der seine Jungen fütterte. Der Blazer selbst war marineblau, das Abzeichen rot, in den Augen von Miss Nightingale alles eher hässlich.

»Du wirst es etwas langsamer einüben, nicht wahr?«, sagte sie.

Sie sah zu, wie der Junge aufstand und nach den Noten griff. Er ließ sie in seine Mappe fallen.

»Nächsten Freitag?«, fragte sie und erhob sich ebenfalls. »Zur gleichen Zeit?«

Er nickte mit einer Beflissenheit, die bloße Höflichkeit hätte sein können; doch sie spürte, dass dem nicht so war. Seine scheue Art war ihr eine Freude, ganz anders als das endlose Geplapper ihrer langweiligeren Schüler. Seine Mutter hatte gesagt, er habe bereits mehrere Klavierlehrer gehabt, und dabei selbst so schnell geplappert, dass Miss Nightingale kaum verstand, weshalb er von einem zum nächsten geschickt worden war. Sie hatte sich ganz professionell danach erkundigt, jedoch nichts in Erfahrung bringen können.

Sie ging voran aus dem Zimmer und reichte dem Jungen von der Garderobe seine Mütze, die das gleiche Vogelemblem aufwies. An der geöffneten Tür blieb sie einen Augenblick stehen und beobachtete, wie er die Gartenpforte hinter sich schloss. Sie fragte sich, ob ihm wohl kalt war in seiner kurzen Hose. Seine Knie über den grauen Wollsocken, an deren Saum sich das Blau und Rot seines Blazers und seiner Mütze wiederholte, wirkten verletzlich und zerbrechlich. Er winkte, und sie winkte zurück.

An diesem Abend kam kein weiteres Kind mehr, und Miss Nightingale war froh. Sie räumte das Wohnzimmer auf, nahm es nach all den Besuchern unter der Woche wieder in Besitz. Bis Montagmorgen um zehn Uhr, wenn die begriffsstutzige Francine Morphew kommen würde, wäre es wieder ihr Eigen. Klavier, Sofa und Sessel drängten sich in dem kleinen Raum. Auf dem Kaminsims paradierten zu beiden Seiten einer Reiseuhr Soldatenfiguren aus Staffordshire-Porzellan. Zwischen Aquarellen und Fotografien zierten Gefäßdeckel und gerahmte Gießformen für Pralinen, die ihr Vater gesammelt hatte, die Wände. Auf dem Couchtisch und auf dem Eckregal bei der Tür standen Vasen mit Osterglocken.

Nachdem sie aufgeräumt hatte, schenkte sich Miss Nightingale ein Glas Sherry ein. Falls die Mutter anrief, um sich nach den Fortschritten des Jungen zu erkundigen, würde sie ihr nichts verraten. Es war ein Geheimnis, das sie mit niemandem als dem Jungen selbst teilen wollte, eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen beiden, etwas, das nicht an die große Glocke gehängt werden durfte. Die Mutter war eine einfältige Frau.

Nachdem Miss Nightingale eine Weile dagesessen hatte, schaltete sie den elektrischen Heizofen ein, denn der Aprilabend war kühl geworden. Sie fühlte sich warm und glücklich, es schien, als wären Jahre der Ermunterung und der Unterweisung – meist Kindern ohne Talent oder Interesse offeriert – endlich von Erfolg gekrönt. So bescheiden sein Auftreten war, in diesem Jungen steckten ungeschriebene Symphonien, Suiten, Konzerte und Oratorien. Sie wusste es; sie brauchte nicht einmal nachzudenken.

Während es dunkler wurde, ihr zweites Glas Sherry war fast gänzlich zur Neige gegangen, blieb Miss Nightingale noch ein paar Minuten länger sitzen. Ihr ganzes Leben, so dachte sie oft, hatte sich in diesem Zimmer abgespielt, wo ihr Vater sie als Kleinkind verhätschelt, sie durch die Stürme der Adoleszenz geleitet hatte, wohin er ihr aus seinen Küchen allabendlich eine eigens für sie kreierte neue Praline mitgebracht hatte. Hier hatte sich ihr Geliebter auf sie gepresst und geflüstert, wie schön sie sei, hatte geschworen, ohne sie nicht leben zu können. Und nun war, in ebendiesem Zimmer, ein Wunder geschehen.

Durch das Halbdunkel tastete sie sich zum Lichtschalter an der Tür. Gewiss würde das Zimmer, so reich an Echos und Erinnerungen, auch von diesem Nachmittag beeinflusst werden. Wie könnte es das alte bleiben?

Doch als Miss Nightingale das Licht anknipste, hatte sich nichts verändert. Erst als sie die Vorhänge zuzog, bemerkte sie einen Unterschied. Auf dem Tisch am Fenster fehlte die kleine Schnupftabakdose mit dem fremden Wappen.

Am nächsten Freitag verschwand ein Porzellanschwan, danach der Gefäßdeckel mit einer Szene aus Große Erwartungen und schließlich ein Ohrring, den sie abgenommen hatte, da der Verschluss beschädigt war. Ein Schal, zu dünn, um für einen Jungen von Nutzen zu sein, hing, als sie eines Samstagmorgens nach ihm suchte, nicht mehr an seinem Garderobenhaken. Zwei der Soldaten aus Staffordshire-Porzellan waren fort.

Sie wusste nicht, wie er es anstellte. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, sah aber nichts. Sie sagte auch nichts, und der Junge selbst war so ungerührt von dem, was vor sich ging, so unbeeindruckt von seinem eigenen Verhalten, dass sie sich zu fragen begann, ob sie sich womöglich täuschte, ob nicht einer ihrer weniger reizvollen Schüler der Langfinger sein könnte; oder gar, ob sie erst jetzt das Fehlen von Dingen bemerkt hatte, die ihr über einen längeren Zeitraum entwendet worden waren. Doch nichts davon ergab Sinn, und ihre halbherzigen Ausflüchte zerfielen. Als er die Préludes von Chopin zu spielen begann, war der Briefbeschwerer mit dem Rosenblütenblatt noch da. Nachdem sie ihn an der Tür verabschiedet hatte, war er verschwunden.

Mit ihm zusammen war sie keine Lehrerin, denn es gab so wenig, was sie ihn lehren konnte, und doch wusste sie, dass er ihre Gegenwart schätzte, dass sie ihm als Ein-Personen-Publikum mehr bedeutete als die Kommentare, die sie abgab. Sie fragte sich sogar, ob er sich womöglich zu Dingen verhalf, weil er sie als Honorar für seine Darbietung ansah? Derart kindische Phantasien waren nichts Ungewöhnliches, hatte sie doch selbst zu Vorspiegelung und Verstellung geneigt. Doch auch das schloss sie aus, weil sie spürte, dass es nicht zutraf.

Nachts lag sie wach; war sie endlich eingeschlafen, nährten ihre Bestürzung und ihre Fassungslosigkeit unbarmherzig lebhafte Träume. In diesen war der Junge unglücklich, und sie wollte ihn trösten, ihn, wenn er seine Stücke zu Ende gespielt hatte, dazu bringen, mit ihr zu reden. In endloser Wiederholung versuchte sie ihm anzuvertrauen, dass sie der besonderen Schachtel ihres Vaters einmal eine Praline entnommen hatte, vermochte es aber nicht; und wenn sie, wieder wach, in der Dunkelheit dalag, merkte sie, dass sie nie gekannten Gedanken anheimfiel. Sie fragte sich, ob ihr Vater wirklich so gewesen war, wie er nach außen gewirkt hatte, ob der Mann, den sie so lange bewundert und geliebt hatte, ihre Zuneigung ausgenutzt hatte. Waren die Pralinen ihres Vaters ein Anreiz gewesen, bei ihm im Haus zu bleiben, war es verkappter Eigennutz? Hatte der Mann, der seine Frau betrogen hatte, auch seine Geliebte betrogen, weil Betrug zu seinem Wesen gehörte? Waren in die Leidenschaft, die es zweifellos gegeben hatte, Lügen eingestreut gewesen?

In der Dunkelheit schob sie all dies von sich, ohne zu wissen, woher es kam oder weshalb es mit den jetzigen Vorfällen verknüpft schien; und doch kehrte es immer wieder zurück, so als werfe eine Wahrheit, die sie nicht begriff, ihr Licht auf Schatten, die sie früher getäuscht hatten. War Diebstahl belanglos? Die entwendeten Gegenstände waren so klein, und es blieb so viel zurück. Falls sie es ansprach, würde ihr Schüler nicht mehr wiederkommen, selbst wenn sie sogleich hinzufügte, dass sie ein so geringfügiges Vergehen verzeihe. So wenig sie auch sonst wusste, dessen war sie sich sicher; und oft schaute sie gar nicht erst nach, um herauszufinden, was fehlte.

Der Frühling jenes Jahres wich dem Sommer, einer Hitzewelle staubtrockener Tage, die bis zu den Regenfällen im Oktober anhielt. Die ganze Zeit hindurch klingelte es freitagnachmittags an der Tür, und dann stand er da, der stumme Junge, der seine Mütze auf die Garderobe legte, sich an ihr Klavier setzte und sie mitnahm ins Paradies.

Auch Miss Nightingales andere Schüler kamen und gingen, doch nur der Junge bat nie um einen anderen Tag, eine andere Uhrzeit. Nie hatte er einen Brief dabei, nie brachte er eine Ausrede vor, nie stellte er Unfug an, den sie ohnehin gleich durchschaut hätte. Graham erzählte von seinen Haustieren, um das Vorspielen eines Stückes hinauszuzögern, das er nicht geübt hatte, Diana weinte, Corins Finger schmerzten, Angela gab auf. Und dann kam, im gleichmäßigen Verlauf der Zeit, ein weiterer Freitag und nahm als glückseliger Nachmittag seinen Platz im Zentrum ihres Lebens ein. Doch jedes Mal, wenn der Junge gegangen war, lag eine Art Spott in der leise nachhallenden Musik.

Die Jahreszeiten wechselten, dann wechselten sie ein weiteres Mal, bis der Junge eines Tages nicht mehr wiederkam. Den Klavierstunden und seiner Schule war er entwachsen und wohnte inzwischen woanders.

Sein Ausbleiben bescherte Miss Nightingale Gelassenheit; und auch das Fortschreiten der Zeit besänftigte ihre Unruhe. Falls ein einsamer Vater ein selbstsüchtiger Mann gewesen war, so wog der Gedanke mittlerweile weniger schwer als früher, als er noch roh gewesen war. Falls ein geliebter Liebhaber die Liebe missachtet hatte, so wog im tröstlichen Rückblick auch dies weniger schwer. Auch ein Opfer des Jungen war sie gewesen, der ihr eine andere Art Fingerfertigkeit vorgeführt hatte. Sie war ein Opfer ihrer selbst gewesen, ihrer fahrlässigen Gutgläubigkeit, ihres Wunsches, dem Augenschein zu trauen. All dies, spürte sie, traf zu. Irgendetwas aber quälte sie noch immer. Fast glaubte sie ein Anrecht darauf zu haben, es besser zu begreifen.

Lange danach kehrte der Junge zurück – grober, größer, ruppiger, in ungelenker Adoleszenz. Er kam nicht, um ihr ihr Eigentum zurückzugeben, sondern stiefelte geradewegs herein, setzte sich hin und spielte ihr vor. Das Mysterium der Musik lag auch in seinem Lächeln, als er endete und auf ihre Billigung wartete. Und als sie ihn anschaute, begriff Miss Nightingale, was sie zuvor nicht begriffen hatte: Dieses Mysterium war ein Wunder in sich selbst. Sie hatte kein Recht darauf. Als sie zu begreifen versuchte, wie sich menschliche Hinfälligkeit mit Liebe verband oder mit jener Schönheit, die den Begabten innewohnte, hatte sie zu viel angestrebt. Jetzt war ein Ausgleich gefunden; das war genug.

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