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Der verkrüppelte Mann

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»Also, das wäre eure Arbeit, wenn ihr wollt«, sagte der verkrüppelte Mann. »Um die Fassade muss sich schon lange jemand kümmern. Ihr müsstet den Putz ausbessern.«

Die beiden Männer, die zu dem Gehöft gekommen waren, berieten sich miteinander, ohne zu reden, nickten und gestikulierten nur. Dann nannten sie einen Preis für den Anstrich der Außenwände, doch der verkrüppelte Mann meinte, das sei ihm zu teuer. Er nannte eine geringere Summe und sagte, so viel habe es beim letzten Mal gekostet. Die Männer, die auf Arbeitssuche waren, erwiderten nichts. Der Größere zog seine Hose hoch.

»Wenn das so ist, kommen wir uns auf halbem Wege entgegen«, sagte der verkrüppelte Mann.

Die beiden Männer sagten noch immer nichts, sondern schüttelten nur den Kopf.

»Dann schert euch davon«, sagte der verkrüppelte Mann.

Aber sie gingen nicht, so als hätten sie nicht verstanden. Das war eine Masche von ihnen: so zu tun, als würden sie nicht verstehen, die Stirn in Falten zu ziehen und Verwirrung vorzutäuschen, denn in jedem Gespräch war es manchmal vorteilhaft, ratlos zu wirken.

»Sprechen wir von zwei Anstrichen?«, erkundigte sich der verkrüppelte Mann.

Der Große bejahte. Er wirkte älter als sein Kollege, in seinem Haar zeigte sich das erste Grau, aber das war verfrüht: Beide waren noch jung, in ihren Zwanzigern.

»Kommen wir uns auf halbem Wege entgegen?«, schlug der verkrüppelte Mann erneut vor. »Zwei Anstriche, und wir treffen uns in der Mitte?«

Der jünger aussehende der Männer, mit einem runden Mondgesicht und einer Drahtbrille, nannte eine andere Summe. Er starrte auf die grauen, ziemlich rissigen Steinplatten des Küchenbodens und wartete auf eine Antwort. Der Große, der seine Arme herabhängen ließ, locker und schlaksig wie sein ganzer Körper, saugte an seinen Zähnen, das war eine seiner Angewohnheiten. Wenn es neunzehn Jahre her sei, dass das Haus gestrichen wurde, sagte er, wäre die Bezahlung niedriger, als dass es sich für sie noch lohnen würde. Dass es neunzehn Jahre her war, war ihnen gesagt worden.

»Seid ihr Polen?«, fragte der verkrüppelte Mann.

Sie bejahten. Manchmal gaben sie das zur Antwort, manchmal nicht, je nachdem, was sie vorher über die Anwesenheit anderer Polen in der Gegend in Erfahrung gebracht hatten. Sie waren Brüder, auch wenn sie nicht wie Brüder aussahen. Sie waren keine Polen.

Eine schwarze Katze schlich auf der Suche nach Insekten oder Mäusen in der Küche umher. Hin und wieder attackierte sie ein Stück Borke, das vom Brennholz abgefallen war, oder einen Schatten. Die Malerarbeiten würden vierzehn Tage in Anspruch nehmen, sagte der Jüngere, sie würden auch sonntags arbeiten; dann ging es wieder um den Lohn. Man einigte sich auf einen Preis.

»In Scheinen«, sagte der Große und rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »In bar.«

Auch darauf einigte man sich.

Martina fuhr langsam, wie immer auf dem Rückweg von Carragh. Mehr als einmal hatte der alte Dodge auf dieser Strecke versagt, und sie hatte zu Fuß zu Kirpatrick’s Garage gehen müssen, um Hilfe zu holen.

Jedes Mal sagte ihr derselbe Mechaniker, ihr Auto gehöre zur Oldtimerbrigade und hätte schon vor vierzig Jahren aus dem Verkehr gezogen werden müssen. Aber der uralte Dodge gehörte zu ihren Lebensumständen; weil er unerlässlich war, musste sie sich mit ihm abfinden. Und wenn sie langsam fuhr, brachte er sie meist ans Ziel.

Um das halbe Pfund voll zu machen, wie er sagte, hatte Costigan zwei Scheiben durchwachsenen statt mageren Speck dazugetan, dabei aber mageren berechnet. Sie hatte nichts erwidert; bei Costigan tat sie das nie. »Kommen Sie mit zum Schuppen, dann schauen wir mal«, hatte er früher immer gesagt, dann war sie mit ihm zum Schuppen gegangen, wo die Tiefkühltruhe stand, um sich ein gefrorenes Schweinesteak oder Geflügelkeulen auszusuchen, deren Anblick ihr zusagte, und er hatte sie begrapscht. Inzwischen forderte er sie nicht mehr auf, ihn zur Tiefkühltruhe zu begleiten, doch die Tage, als er sie noch dazu eingeladen hatte, standen immer zwischen ihnen, und nie aß sie ein Schweinesteak oder Hähnchenschlegel, ohne daran erinnert zu werden, wie er hinterher, wenn sie bezahlen wollte, das Geld zurückschob und sie es im Bauernhaus in einer Gold-Flake-Dose versteckte.

Sie fuhr an den Tinkern am Cross vorbei, wo die Kinder in ihren Lumpen umherliefen, barfüßig, kurzgeschoren. Die Frau, wie immer vom Motorgeräusch des Dodge herausgelockt, starrte wie versteinert und blieb so lange stehen, bis der Wagen vorbeigefahren war, ein regloses Bild im Rückspiegel. »Viereinhalb, weil Sie’s sind«, hatte der Mann bei Finnally’s gesagt, als sie sich nach dem Preis des Elektroherds erkundigte, der noch immer im Schaufenster stand. Keine Chance, hatte sie gedacht.

Früher einmal hatte Martina, die fast fünfzig war und stärker zunahm, als ihr lieb war, noch gewusst, was sie wollte, jetzt aber war sie sich nicht mehr so sicher. In ihrem früheren Leben war eine leichtsinnige Ehe zerbrochen, und sie hatte kein Dach über dem Kopf gehabt. Kinder hatte es keine gegeben, obwohl sie sich welche gewünscht hatte, und seither dachte sie oft, dass es ihr trotz der Verpflichtung, für sie zu sorgen, besser ergangen wäre, wenn Kinder ihrem Leben einen Mittelpunkt gegeben hätten.

Sie fuhr durchs Moor. An den Torfstichen stand eine Maschine von Bord na Móna, ein abgekoppelter Anhänger war mit einem Keil versehen, damit er nicht davonrollte. Niemand arbeitete, an den Torfstichen hatte sich seit gut neun Monaten nichts getan. Die mangelnde Aktivität konnte einem die Laune verderben, dachte sie jedes Mal, wenn sie sah, dass die Stelle noch genauso aussah wie beim letzten Mal.

Bei Laughil bog sie ab; die Straße war dunkel wegen der überhängenden Bäume. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie auf dieser Strecke zuletzt einem anderen Auto begegnet war. Sie versuchte es gar nicht erst. Es spielte auch keine Rolle.

Die beiden Männer fuhren davon, froh, Arbeit gefunden zu haben, und unterhielten sich über den Mann, der ihnen, als sie anklopften, zugerufen hatte, sie sollten eintreten. Die ganze Zeit über war er in seinem Sessel am Herdfeuer sitzen geblieben, und als man sich auf den Lohn geeinigt hatte, hatte er gesagt: Geht in die Spülküche und holt den Whiskey. Als sie nicht gleich verstanden, hatte er ungeduldig gestikuliert, die Faust an den Mund gehoben, den Kopf zurückgeworfen und die Faust dabei mitgeführt, bis sie begriffen, was er meinte.

Danach war er fröhlich; und sie bemerkten die Gläser auf der Anrichte und sahen ihm zu, wie er sie auf den Tisch stellte. Einen Moment lang waren sie unsicher, dann schraubte einer von ihnen den Verschluss der Flasche ab.

»Von Polen haben wir gehört«, sagte er. »Ein katholisches Volk. Trinken wir auf die Arbeit?«

Als er ihnen sein Glas hinhielt, schenkten sie ihm noch einen Whiskey ein. Auch sie tranken noch einen, bevor sie gingen.

»Wer war hier?«

Während sie sprach, stellte Martina die Einkaufstaschen auf den Tisch. Dort stand die Whiskey-Flasche, außerhalb seiner Reichweite, daneben zwei leere Gläser; sein eigenes, gleichfalls leer, hielt er in der Hand. Er streckte ihr das Glas entgegen, so bat er sie, ihm nachzuschenken. Jetzt würde er nicht mehr aufhören, dachte sie; er würde weitertrinken, bis die Flasche leer wäre, und sie dann fragen, ob sie noch eine volle hätten, und sie würde verneinen, obwohl sie durchaus noch eine hatten.

»Ein blauer Lieferwagen«, sagte sie und goss ihm ein, weil es keinen Sinn hatte, sich zu weigern.

»Weiß ich doch nicht, welche Farbe er hatte«, erwiderte er.

»Auf dem Feldweg war ein blauer Lieferwagen.«

»Hast du alles bekommen?«

»Ja.«

Er habe Besuch gehabt, sagte er, als ob er das Thema wechselte. »Brave Jungs, Martina.«

»Wer?«, fragte sie wieder.

Er wollte die Einkaufsliste zurückhaben und die Quittung. Mit seinem Bleistiftstummel, den er eigens zu diesem Zweck besaß, strich er die Artikel durch, die sie aus den Einkaufstaschen nahm. Früher, als Costigan noch munterer gewesen war, hatte sie diesen Moment der Täuschung genossen, hatte das genau abgezählte Wechselgeld auf den Tisch gelegt und das, was sie eingespart hatte, in ihrer Kleidung verborgen, bis sie nach oben gehen konnte, zu der Gold-Flake-Dose.

»Polnische Burschen«, sagte er. »Sie werden das Haus streichen.« Zwei Anstriche, fügte er hinzu, es werde vierzehn Tage dauern.

»Bist du wahnsinnig geworden?«

»Brave katholische Jungs. Wir haben darauf getrunken.«

Sie fragte, wo das Geld herkommen solle, und er fragte zurück, von welchem Geld sie spreche. Das war so seine Art, und ihre Art war es, ausnahmslos jede Geldquelle in Frage zu stellen: War das Thema erst einmal angeschnitten, blieb es meist dabei.

»Wie viel haben sie dir abgeknöpft?«, fragte sie.

Mit gespielter Geduld erklärte er ihr, er sei nur für das Material aufgekommen. Wenn die Arbeit zufriedenstellend ausfalle, werde er nach Erledigung des Auftrags zahlen, was er schuldig sei.

Martina kommentierte dies nicht. Ärgerlich zog sie eine der beiden Schubladen der Anrichte auf, fasste nach hinten und holte ein Bündel Euroscheine hervor, Fünfer und Zehner in getrennten Gummibändern, Zwanziger, Fünfziger, einen Hunderter. Sie wusste sofort, wie viel er gezahlt hatte. Sie wusste, dass er die Anstreicher aufgefordert haben musste, sich das Geld selbst zu nehmen, da er nicht hinlangen könne. Sie wusste, dass sie den dort verwahrten Betrag gesehen hatten.

»Wozu sollten sie ein Haus anstreichen, wenn sie nur hereinzukommen und sich zu bedienen brauchen?«

Er schüttelte den Kopf. Erneut sagte er, die Anstreicher seien anständige katholische Jungs. In einem noch immer Geduld heuchelnden Tonfall wiederholte er, die Arbeit werde binnen vierzehn Tagen erledigt sein. Im ganzen Land rede man über die Fertigkeiten, die polnische Jungs nach Irland brächten. Eine göttliche Fügung, sagte er. Sie werde ihre Anwesenheit nicht einmal bemerken.

Sie kauften die Farbe in Carragh, wo sie sich erkundigten, was das Beste für Hauswände sei. »Kalkfarbe«, sagte der Mann und zeigte auf das Wort auf einer Dose. »Bei Außenarbeiten nehmt ihr am besten Kalkfarbe.«

Sie verstanden. Sie erklärten, das Geld für Material hätten sie vorab bekommen, und zahlten die Summe, die er ihnen aufschrieb.

»Seid ihr Polen?«, fragte der Mann.

Ihre Geschichte war ungewöhnlich. Hineingeboren in eine Gemeinschaft staatenloser Überlebender in den Bergen Kärntens, wurden sie oft für Zigeuner gehalten. Ihre Muttersprache war ein Dialekt, der mit Wörtern aus einem Dutzend anderer Dialekte versetzt war. Sie erinnerten sich einer Kindheit, in der sie durch namenlose Orte zogen, ein Dasein in Zelten und stumme nächtliche Grenzüberquerungen, stets auf der Suche nach etwas Besserem. Ohne es je zu bedauern, hatten sie sich mit, wie sie vermuteten, dreizehn und vierzehn Jahren von ihrer Familie getrennt. Seither bestand ihr Leben darin, was aus ihnen geworden war: wissen, was man tut, wie man’s am besten anstellt, sich beschaffen, was beschafft werden muss, über die Runden kommen. Wo immer sie sich aufhielten, machten sie einen großen Bogen um das System. So nannten sie es zwar nicht, da sie das Wort nicht kannten; aber was es bedeutete, wussten sie und wussten, dass sie, wenn sie erst einmal in seine Fänge gerieten oder es auch nur zeitweise akzeptierten, ihrer Freiheit beraubt würden. Ihr unmittelbares Ziel war das nackte Überleben, in der Hoffnung, irgendwo könnte es ein Leben geben, das besser wäre als das, welches sie bisher gekannt hatten.

Auch Pinsel und Terpentinersatz kauften sie, weil der Mann gesagt hätte, dass sie das alles benötigten, und Spachtelmasse, weil ihnen gesagt worden war, dass sie sich um den Putz kümmern müssten. Sie hatten noch nie ein Haus gestrichen und wussten nicht, was Putz war.

Ihr Lieferwagen war verbeult, ein helles Blau, das in einem dunkleren Farbton leicht nachgebessert worden war, unversteuert und unversichert, obschon die üblichen Plaketten an der Windschutzscheibe klebten. In diesem Lieferwagen schliefen sie auch, zwischen Werkzeugen aller Art, die sie sich organisiert hatten, zwischen Bechern, Tellern, Spüle, Kasserolle, Bratpfanne, Lebensmitteln.

In dem Dialekt, der ihre Sprache war, fragte der ältere Bruder, ob sie genügend Sprit hätten, um zu den Ruinen zu fahren, wo sie sich gerade eine Behausung bauten. Der jüngere Bruder, der am Steuer saß, nickte, und sie fuhren hin.

In ihrem Schlafzimmer schloss Martina den Deckel der Gold-Flake-Dose und sicherte ihn mit einem Gummiband. Sie trat vom Schrankspiegel zurück und musterte sich kritisch. Sie war beschämt, wie sehr sie sich hatte gehen lassen; zwar war sie nicht ganz fettleibig, aber doch fast, ihre hellblauen Augen – früher ihr bestechendstes Merkmal – lagen halb verborgen in fleischigen Wülsten. Als sie das erste Mal auf das Gehöft kam, war sie in ihren Dreißigern gewesen; damals hatte sie noch auf Aussehen und Kleidung geachtet. Sie wischte sich den Lippenstift ab, der von Costigans grober Umarmung verschmiert war, als sie sich für ein paar Minuten allein mit ihm im Laden aufgehalten hatte. Sie richtete ihre Unterwäsche, die er in Unordnung gebracht hatte. Der Geruch des Ladens – eine Mischung aus Speck, Fliegenspray und den Hähnchen, die Costigan am Spieß briet – war schon vor Jahren von seiner Kleidung auf ihre übergegangen. »Ach, das ist nur der Laden«, pflegte sie zu sagen, wenn sie in der Küche danach gefragt wurde, ohne mehr preiszugeben.

Sie waren entfernte Verwandte, lebten schon, seit seine Mutter vor zwölf Jahren gestorben war und sein Vater im Winter darauf, zusammen auf dem Gehöft. Ein anderer Verwandter hatte zu dieser Verbindung geraten, da Martina alleinstehend war und nur gelegentlich Arbeit fand. Andernfalls wäre ihr Cousin – denn sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie Cousins waren – in ein Heim gebracht worden; und sie selbst hatte nur wenig zu verlieren, wenn sie auf einen Bauernhof käme, dessen Weideland aufgeteilt worden war und gegen jährliche Zahlungen verpachtet wurde und wo man hin und wieder ein weiteres Feld verkaufen konnte. Martinas Cousin, der schon von Geburt an behindert war, hatte für Martina den Vorzug einer vertraglichen Vereinbarung: Irgendwann würde sie erben, was ihm noch geblieben war. Oft vermuteten die Leute, er sei längst gestorben, die Leute in Carragh und die Leute aus der weiteren Umgebung, die den Bauernhof nie besuchten; wenn man mit ihnen redete, konnte man es geradezu spüren. Martina selbst erwähnte ihn nie von selbst, es sei denn, sie wurde auf ihn angesprochen. Es gab einfach nichts zu sagen, weil nichts sich verändert hatte, nichts, wozu sie sich hätte äußern können.

Als sie nach unten kam, war er vor lauter Whiskey eingeschlafen, und er schlief durch, bis ihn um sechs Uhr Geschirrgeklapper und das Brutzeln des Pfannenfrühstücks weckte. Sie wollte, dass er sich an bestimmte Zeiten hielt, und richtete sich auch selbst danach. Den Wecker auf der Anrichte zog sie immer wieder auf; morgens und abends nach dem Radio gestellt, ging er auf die Minute genau. Als Erstes sammelte sie die Eier ein, die in der Nacht gelegt worden waren. Sobald sie den Frühstückstisch gedeckt hatte, holte sie ihren Cousin aus dem hinteren Zimmer in die Küche. Wenn er gefrühstückt und sie das Geschirr gespült hatte, machte sie die beiden Betten. An Tagen, an denen sie nach Carragh fuhr, verließ sie das Haus um Viertel nach zwei; das hatte sie sich so angewöhnt. Normalerweise war er um diese Zeit vor dem Herd eingeschlafen, es sei denn, er hatte einen Streit vom Zaun gebrochen. War das der Fall, konnte es den ganzen Tag so weitergehen.

»Die Polen werden uns lästig fallen.« Weil in der Pfanne Leberscheiben brutzelten, musste sie die Stimme heben. Beim geringsten Geräusch – Geschirrklirren oder Kochgeräusche, das Klappern des Kesseldeckels – behauptete er, sie nicht hören zu können. Doch sie wusste, dass er es konnte.

Auch jetzt sagte er, er könne sie nicht hören, aber sie ignorierte ihn. Er sagte, er wolle noch einen Schluck Whiskey, und auch das ignorierte sie.

»Die werden uns schon nicht lästig fallen«, sagte er, »Jungs wie die.«

Er sagte, sie seien sauber, man brauche sie nur anzuschauen. Er sagte, sie würden ihr Gesellschaft leisten.

»Du bekommst doch kaum mal jemanden zu Gesicht, Martina. Das weiß ich, Mädel. Weiß ich das nicht schon die ganze Zeit?«

Sie schlug das erste Ei in die Fettlache, die sich beim Kippen der Pfanne gebildet hatte. Sie konnte mit einer Hand ein Ei aufschlagen und den Inhalt in die Pfanne geben. Jeder bekam zwei.

»Es braucht einen Anstrich«, sagte er.

Sie ließ den Satz unkommentiert. Sie sagte nicht, dass er das gar nicht wissen könne; wie sollte er, da sie es nicht mehr schaffte, ihn nach draußen auf den Hof zu bringen? Das hatte sie schon seit Jahren nicht mehr geschafft.

»Er tut mir gut«, sagte er. »Der alte Tropfen Whiskey.«

Sie stellte das Radio an, und es erklang Musik aus früheren Zeiten.

»Furchtbares Zeug«, bemerkte er.

Auch diesen Satz ließ Martina unkommentiert. Als die Leberscheiben gebräunt waren, hob sie sie aus der Pfanne und tat sie zusammen mit den Eiern auf die Teller. Sie brachte ihn zum Tisch. Er habe schon genug Whiskey getrunken, sagte sie, als er um mehr bat, und in der Küche wurde kein Wort mehr über das Thema verloren.

Als sie gegessen hatten, brachte sie ihn zu seinem Bett, aber eine Stunde später schrie er, und sie ging zu ihm. Sie dachte, es sei ein Traum, aber er sagte, es seien seine Beine. Sie verabreichte ihm Aspirin und Whiskey, denn wenn er beides bekam, ließen die Schmerzen nach. »Komm ins Bett und wärme mich«, flüsterte er, und sie sagte nein. Sie fragte sich oft, ob die Schmerzen ihn verrückt gemacht hatten, ob sein Gehirn angegriffen war, wie so viele andere Körperteile auch.

»Weshalb haben sie dich Martina genannt?«, fragte er immer noch flüsternd. Der Name eines Mannes, sagte er; weshalb haben sie das getan?

»Ich hab dir davon erzählt.«

»Du hast mir viel erzählt.«

»Jetzt schlaf.«

»Ist die Pacht für das Weideland schon eingegangen?«

»Jetzt schlaf weiter.«

Die Malerarbeiten begannen an einem Dienstag, denn am Montag hatte es unablässig geregnet. Der Dienstag war schön, sonnig, mit einer sanften Brise, die die Farbe trocknen würde. In Carragh liehen die Anstreicher zwei Leitern aus und verbrachten den Tag damit, die Stellen zu spachteln, wo der Putz abgebröckelt war.

Am Vormittag brachte die Frau des Hauses, von der sie annahmen, dass sie die Frau des verkrüppelten Mannes war, Scones und Tee nach draußen, und als sie sie fragte, was für sie – morgens und nachmittags – der beste Zeitpunkt sei, zeigten sie auf die Uhr des älteren Bruders: elf und halb vier. Punkt halb vier brachte sie ihnen Kekse und Tee. Sie blieb eine Weile und unterhielt sich mit ihnen. Sie erklärte ihnen, wo sie in Carragh Dinge für den täglichen Bedarf kaufen könnten, und stellte ihnen Fragen. Ihr Lächeln war müde, aber sie hatte Geduld mit ihnen, wenn sie etwas nicht verstanden. Als sie wieder an die Arbeit gingen, sah sie ihnen zu, und als sie fragten, was sie von ihnen halte, antwortete sie, sie seien so gut wie nur irgendwer. Am Abend hatten sie die Ausbesserung des Putzes abgeschlossen.

Für Mittwoch war Regen vorhergesagt, und tatsächlich fiel am Nachmittag ein starker Regenguss, aus dem Westen herbeigeweht von einem bedrohlichen Sturm. Die Arbeit konnte nicht fortgesetzt werden, und die Anstreicher setzten sich in ihren Lieferwagen und warteten auf besseres Wetter. Zuvor, als sie noch arbeiten konnten, hatten sie im Haus laute Stimmen gehört, ein heftiger Streit, der von Schweigen unterbrochen wurde, bevor er wieder von neuem begann. Der ältere, dessen Englisch besser war, erklärte seinem Bruder, es gehe um Geld und um den Zustand der Ländereien. »Für meine Rente bin ich gut genug«, wiederholte der verkrüppelte Mann beharrlich. »Bin ich nicht nur wegen der paar Kröten hier, die ich einbringe?« Bald drehte sich der ganze erhitzte Wortwechsel um die Rente: Sie werde für Dinge ausgegeben, für die sie nicht ausgegeben werden sollte, dem verkrüppelten Mann bleibe gar nichts für sich. Die Anstreicher verloren das Interesse, aber die Stimmen sprachen immer weiter und waren sogar dann noch zu hören, wenn einer von ihnen den Lieferwagen verließ, um den Himmel zu betrachten.

Am späten Nachmittag gaben sie die Warterei auf und fuhren nach Carragh. Im Farbengeschäft fragten sie, wie lang das schlechte Wetter anhalten werde, und erhielten die Auskunft, dass die Vorhersage für etliche Tage nicht gut sei. Sie brachten die Leitern zurück und zahlten die Leihgebühr nur widerwillig, da sie keinen Gebrauch von ihnen hatten machen können. Es war ein Rückschlag, aber Rückschläge waren sie gewohnt, und als sie sich, abermals im Farbengeschäft, nach Arbeit erkundigten, erfuhren sie, dass ein Bauunternehmer, der im Stich gelassen worden war, für den Umbau einer stillgelegten Mühle – eine nur wenige Meilen entfernte, überdachte Baustelle – Leute einstellte. Schließlich sagte der Vorarbeiter zu, sie auf dem Bau zu beschäftigen.

Regen zeigte Wirkung auf den verkrüppelten Mann. Wenn es regnete, wollte er einfach nicht aufhören zu reden, denn dann war auch sie ans Haus gefesselt, und wenn sie das Thema Rente erschöpft hatten, fing er wieder mit der Heiligen an, nach der sie benannt war. »Erzähl’s mir.« Diese seine häufigste Bitte wiederholte er immer wieder, und wenn es Abend war und er schon ganz benebelt vom Whiskey, antwortete sie nicht; tagsüber jedoch beschwatzte er sie, und jede Minute zog sich zäher in die Länge als die Minuten davor.

An dem Morgen, als die Anstreicher mit ihren Leitern davonfuhren, versuchte er es erneut. Sie rüttelte gerade die Schlacken aus dem Herd, damit das Feuer glühte. Sie kniete vor ihm und konnte spüren, wie er sie auf seine übliche Art musterte. Du wirst dich besser fühlen, wenn du mir von deiner Heiligen erzählst, sagte er, du wirst den Trost der Heiligkeit verspüren. »Erzähl’s mir«, sagte er.

Sie trug den Aschekasten auf den Hof, ohne zuvor etwas gesagt zu haben. Der Regen durchnässte ihre Schultern und tropfte ihr über Gesicht und Hals, strömte über ihre Arme und den schwarz-grauen Stoff ihres Kleides, lief zwischen ihren Brüsten hinab. Als sie wieder in der Küche war, kam sie seinem Wunsch nach, erzählte ihm, was er längst wusste: dass in den Adern der heiligen Martina von Rom kein Blut, sondern heilige Milch geflossen war, dass Papst Urban ihr zu Ehren eine Kirche hatte erbauen lassen, dass er die Hymnen komponiert hatte, die während ihres Offiziums im Römischen Brevier gesungen wurden, und dass sie durchs Schwert umgekommen war.

Als sie ausgeredet hatte, machte er ihr ein Kompliment. Dabei stand sie hinter ihm, da sie ihn nicht anschauen wollte. Der Regen, den sie mit hereingebracht hatte, tropfte auf die zerbrochenen Steinplatten.

Die Anstreicher waren länger als gedacht mit dem Umbau der Mühle beschäftigt, obwohl das Wetter schöner geworden war. Die Bezahlung war besser, und ihnen wurde weitere Arbeit in Aussicht gestellt; alles in allem vergingen neun Tage, bevor sie zum Gehöft zurückkehrten.

Sie trafen früh ein, sprachen leise und arbeiteten zügig, um die verlorene Zeit aufzuholen, besorgt, man werde sich beschweren, weil sie nicht schon früher zurückgekehrt waren. Um acht Uhr war fast die gesamte Stirnwand grundiert.

Im Haus war es still und blieb es auch, doch aus einem der Schornsteine stieg eine Rauchfahne auf. Die Anstreicher erinnerten sich, dass sie auch schon während der anderthalb Tage, die sie zuvor mit dem Haus verbracht hatten, Rauch gesehen hatten. Der Wagen stand da, zu lang für den Schuppen, das Heck ragte heraus, und auch daran erinnerten sie sich. Während sie an der Vorderseite des Hauses arbeiteten, lauschten sie nach Schritten im Hof, rechneten sie doch mit dem Tee, der ihnen vormittags serviert worden war, doch es kam kein Tee.

Als der ältere Bruder am Nachmittag zum Lieferwagen ging, um die Pinsel auszutauschen, stand das Tablett mit dem Tee auf der Motorhaube, und er trug es zu den Leitern.

In den darauffolgenden Tagen wurde dies zur Routine. Die Stille, die sich im Haus ausgebreitet hatte, wurde weder von einem Radio noch von Stimmen durchbrochen. Der Tee kam ohne Beilagen und zu unterschiedlichen Zeiten, ganz so, als sei die Absprache, elf Uhr und halb vier, vergessen worden. Als sie die Leitern in den Hof trugen, wurde das Tablett auf der Schwelle einer Tür an der Seitenwand des Hauses abgestellt.

Manchmal, nicht oft, erhaschten die Anstreicher, wenn sie durch die Fenster schauten, einen flüchtigen Blick auf die Frau, von der sie annahmen, dass sie die Frau des verkrüppelten Mannes war, mit dem sie Whiskey getrunken und die Vereinbarung über die Malerarbeiten per Handschlag besiegelt hatten. Zuerst fragten sie sich, ob die Frau, die sie dort sahen, eine andere sein könnte, obwohl sie ähnlich gekleidet war. Darüber unterhielten sie sich; sie waren bestürzt, wie fremd das Haus wirkte, zu dem sie zurückgekehrt waren, und rätselten, ob eine so jähe Veränderung in diesem Land üblich war und oft vorkam.

Durch die schmutzigen Scheiben eines Fensters im Obergeschoss sah der jüngere Bruder die Frau zusammengekrümmt vor einer Frisierkommode sitzen, den Kopf auf die Arme gelegt, als schlafe oder weine sie. Während er sie noch mit hemmungsloser Neugier beobachtete, schaute sie auf und starrte ihn an, ohne den Blick abzuwenden.

Noch am selben Tag, kurz bevor sie ihre Arbeit beendeten, sahen die Anstreicher, während sie von den Fensterrahmen in der Küche die letzten Reste alter Farbe abkratzten, dass der verkrüppelte Mann nicht mehr in seinem Sessel am Herd saß, und es wurde ihnen bewusst, dass sie, seit sie nach dem Regenguss zurückgekehrt waren, seine Stimme nicht mehr gehört hatten.

Martina wusch die zwei Tassen und Untertassen sowie die Teelöffel ab, an denen Spuren von Zucker klebten, weil sie, noch nass vom Tee, in die Zuckerdose getaucht worden waren. Sie wischte über das Tablett, trocknete es ab und hängte das feuchte Geschirrtuch auf die Leine in der Spülküche. Sie wollte nicht denken, nicht einmal wissen, dass sie da waren, dass sie gekommen waren. Sie wollte sie nicht sehen, so wie sie sie schon gestern den ganzen Tag gemieden hatte. Sie hängte die Tassen an die Haken, stellte die Untertassen zu den anderen und verstaute die Zuckerdose im Schränkchen unter der Spüle.

Im Hof klapperten die Leitern, die für die Nacht weggeräumt wurden, um nicht die Tinker in Versuchung zu führen. Sie konnte keine Stimmen hören und bezweifelte, dass sie sich unterhielten. Als sie einige Abende zuvor aufgebrochen waren, hatten sie an die Hintertür geklopft, aber sie hatte nicht reagiert.

Sie lauschte auf Schritte, die zur Tür kämen, doch es kamen keine. Sie hörte, wie der Lieferwagen wegfuhr. Sie hörte die Gänse, die von den Gewässern bei Dole über sie hinwegflogen: Es war ihre Aufbruchszeit. Einmal war der Lieferwagen zurückgekommen, weil sie etwas vergessen hatten, und sie hatte die Eier für den Abend eingesammelt und war auf die Felder gegangen, bis er wieder wegfuhr. Sie wartete noch eine Viertelstunde in der Küche, den Blick auf die Zeiger der Uhr auf der Anrichte gerichtet. Dann öffnete sie die Vorder- und die Hintertür sowie die Küchenfenster, um frische Luft ins Haus zu lassen.

Die Behausung in den Ruinen war fertig. Sie hatten herabgefallene Steine und die wenigen Holzbalken verwendet, die noch in gutem Zustand waren, einen Türrahmen, der erhalten geblieben war. Für das Dach hatten sie alte Wellbleche erstanden und auf einer Müllhalde Tragbalken aufgetrieben. Nicht übel, sagten sie zueinander; andernorts hatten sie es schlechter gehabt.

In der abendlichen Dunkelheit unterhielten sie sich über den verkrüppelten Mann; sie waren besorgt – und umso besorgter, je länger sie sich unterhielten –, weil die Abmachung über die Bezahlung mit diesem getroffen worden war und die Frau, wenn die Malerarbeiten erst einmal abgeschlossen wären, mühelos behaupten konnte, von der Vereinbarung nichts zu wissen und dass die Summe, die sie verlangten, überhöht sei. Sie fragten sich, ob der verkrüppelte Mann aus dem Haus geschafft, in einem Heim untergebracht worden war. Sie fragten sich, weshalb die Frau sich nicht mehr so verhielt wie zu Beginn.

Sie fuhr den Dodge rückwärts in die Mitte des Hofes, öffnete die hintere rechte Tür und ließ den Motor laufen, während sie wie jeden Donnerstag die Eierkartons aus dem Haus trug und sie im Fußbereich übereinanderstapelte. Sie beeilte sich, weil sie abfahren wollte, bevor die Männer eintrafen, verschloss das Haus und schlug die Wagentür zu, die sie offen gelassen hatte. Doch der Motor, der gerade noch so schön gelaufen war, ging aus, kaum dass sie sich auf den Fahrersitz gesetzt hatte. Und dann war auch schon der blaue Lieferwagen da.

Sie kamen sofort zu ihr gelaufen, wobei der mit der Brille Gesten machte, die sie zunächst nicht verstand, bis sie sah, worum es ihm ging. Einer der Hinterreifen hatte etwas Luft verloren; er schien zu sagen, er wolle ihn für sie aufpumpen. Sie sagte, sie wisse Bescheid; es sei nicht so schlimm. Ihr graute davor, was jetzt geschehen würde: Der Dodge würde sie im Stich lassen. Doch als sie die Zündung aus- und wieder einschaltete und mit herausgezogenem Choke den Anlasser probierte, sprang der Motor sofort an.

»Guten Morgen.« Da er so groß war, musste der ältere Mann sich am Autofenster bücken. »Guten Morgen«, sagte er noch einmal, als sie das Fenster herunterkurbelte, obwohl sie es gar nicht gewollt hatte. Sie konnte hören, wie die Leitern aufgestellt wurden. »Entschuldigen Sie«, sagte der Mann, der sie aufhielt, und obwohl er dagegen lehnte, ließ sie den Wagen langsam vorwärtsrollen.

»Er ist in einem anderen Zimmer«, sagte sie. »In einem Zimmer, das besser für ihn ist.«

Sie sagte nicht, dass sie Eier abliefern musste, weil sie das nicht verstehen würden. Sie sagte nicht, dass man, wenn man einen so alten Wagen erst einmal in Gang gesetzt hatte, kein Risiko eingehen durfte, weil sie auch das nicht verstehen würden.

»Dort hat er es ruhig«, sagte sie.

Langsam fuhr sie aus dem Hof und würgte schon wieder den Motor ab.

Die Anstreicher warteten, bis sie den Wagen nicht mehr hören konnten. Dann schoben sie die Leitern von einem Fenster im Obergeschoss zum nächsten, bis sie das ganze Haus einmal umrundet hatten. Sie sprachen nicht, schauten einander nur hin und wieder an und verständigten sich auf diese Weise. Als sie fertig waren, zündeten sie sich Zigaretten an. Fast drei Viertel der Arbeit war erledigt: Darüber unterhielten sie sich und berechneten, wie viel Farbe übrig bleiben würde und wie viel sie dafür erstattet bekämen. Noch hatten sie die Arbeit nicht wieder aufgenommen.

Der jüngere Bruder verließ den Hof, passierte eine Einfahrt, deren Tor, weil ein Scharnier nachgegeben hatte, von ihrem eigenen Gewicht offen gehalten wurde. Der ältere blieb zurück, sah sich um, öffnete Schuppentüren und schloss sie wieder, horchte, ob der Dodge zurückkam. Er lehnte sich an eine der Leitern und rauchte seine Zigarette zu Ende.

Nach anfänglicher Bewölkung war der Himmel aufgeklart. Als der jüngere Bruder ums Haus bog, fiel helles Sonnenlicht auf seine Brille, weshalb er sie abnahm und sie putzte, als er wieder das Tor passierte. Sein Erkundungsgang hatte ihn durch ein Gemüsebeet geführt, das dem Unkraut überlassen worden war, in einen früheren Garten, dessen einziges verbliebenes Blumenbeet mit Samentüten markiert war, die anzeigten, was die verschiedenen Reihen enthielten. Als er den Hof betrat, drückt er sich jedes Mal, wenn er an einem Fenster vorbeikam, so dicht wie möglich an die Hauswand, und zwar noch vorsichtiger, als er es eigentlich für nötig hielt. Die Zimmer im Erdgeschoss gaben auch nicht mehr preis als die darüber, und als er horchte, vernahm er nichts. Hunde wurden hier nicht gehalten. Katzen beobachteten ihn ohne Neugier.

Im Hof gab er seine fruchtlosen Bemühungen kopfschüttelnd auf. Es sei da eine sonnenbeschienene Weide, sagte er, und sie setzten sich hin, mampften ihre trockenen Sandwiches und tranken jeder eine Dose Pepsi-Cola.

»Der verkrüppelte Mann ist tot.« Der ältere Bruder sprach leise und auf Englisch, und bei jedem Wort nickte er zur Bestätigung, wie um die Bedeutung seiner Äußerung zu unterstreichen, falls er sich nicht klar genug ausgedrückt hatte.

»Die Frau hat Angst.« Auch zu diesem Satz nickte er.

Weder bestritt noch kommentierte der andere seine Vermutungen. Die beiden blieben schweigend in der Sonne sitzen, dann gingen sie durch die vernachlässigten Felder in den Garten. Sie blickten auf das einzige Blumenbeet hinunter, auf die farbenfrohen, auf Stöckchen gespießten Samentüten, die die leeren Reihen markierten. Sie sagten nicht, dies sei ein Grab, und äußerten sich auch nicht darüber, dass das Gras, das den breiten, geraden Weg vom Tor überwucherte, zertrampelt worden war und sich wieder aufgerichtet hatte. Sie fuhren nicht mit dem Finger durch das Erdreich auf der Suche nach Saatgut, wo Saatgut hätte sein müssen, wo Blumen verheißen waren.

»Sie trägt keinen Ring.« Der ältere Bruder tat das Detail mit einem Achselzucken ab, sprach ihm jedes Interesse ab, das es gehabt haben könnte. Es war längst unerheblich.

Wieder lauschten sie auf das Tuckern des unzuverlässigen Automotors, aber nichts war zu hören. Da die Malerarbeiten es erforderlich gemacht hatten, die Schieberahmen zu entriegeln, hätten sie sich durch jedes der Fenster Zutritt zum Haus verschaffen können. Diesen Vorteil machten sie sich nicht zunutze, genauso wenig wie schon am Vortag und an diesem Morgen. Stattdessen wandten sie sich ohne Diskussionen wieder ihrer Arbeit zu.

Sie arbeiteten unbehelligt, bis das Licht schwand. »Morgen wird sie hier sein«, sagte der ältere Bruder. »Sie wird Mut geschöpft haben und wissen, dass wir keine Bedrohung darstellen.«

Im Lieferwagen, auf der Rückfahrt zu ihrer Behausung, unterhielten sie sich erneut über die Frau, die nicht mehr so war wie vorher, und über den Mann, der gar nicht mehr da war. Sie rieten und rätselten, mutmaßten und argwöhnten. Sie bereiteten ihr Abendessen zu und verzehrten es in unbehaglicher Beengtheit, wobei die Schnipsel und Krümel des Unwirklichen dem Abend Gestalt gaben. Ungeduld und Zorn hatten es einer Frau, die zu lange schon gewartet hatte, nicht gestattet, noch länger zu warten, bis sie endlich allein wäre: Darin, so ahnten sie, lag genügend Wahrheit. Langsam rauchten sie ihre Zigaretten, ließen sich von ihrem Instinkt leiten. Die Geschichte der Frau war ihnen nicht zugänglich, obwohl sie selbst inzwischen ein Teil davon waren. Dazu hatten die Umstände sie gemacht, so wie die der Frau sie zu dem gemacht hatten, was sie geworden war. Sie saß am längeren Hebel, denn sie brauchte nur nach ihm zu greifen. Sie würde dafür sorgen, dass die Rente weitergezahlt wurde. Den verkrüppelten Mann würde niemand vermissen, es besuchte ja niemand ein einsames Haus. Morgen würde die Frau sie für den Hausanstrich bezahlen. Morgen würden sie weiterziehen.

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