Читать книгу Als Oma noch mit Kohlen heizte - Willi Fahrmann - Страница 7

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Tillas Idee

Am nächsten Tag aber dachten die beiden nicht an das Meer. Mitten im Rhein erspähten sie die ersten Eisschollen. Sie glitzerten in der Sonne und waren so leicht, dass der Strom sie wie im Spiel auf den Wellenkämmen tanzen ließ.

Von Tag zu Tag wurden die Schollen dicker und größer und schwerer. Bald ächzte und knirschte es, wenn die Strömung ihre Last rheinabwärts schob. Längst standen Christian und Tilla nicht mehr allein auf dem Deich. Einige Kinder versuchten sogar, am Ufer auf besonders große Schollen zu springen und sich auf dem schwankenden Eis ein Stückchen übers Wasser tragen zu lassen. Das war streng verboten, aber die Kinder wagten es dennoch.

Sie glaubten Lehrer Pannbeckers’ Geschichte nicht so recht, die er in jedem Winter von Stina Basendongk erzählte.

Stina sollte, kaum vierzehn Jahre alt, vor langer Zeit auf einer Eisscholle sehr schnell abgetrieben worden sein. Niemand habe das Mädchen retten können. Noch lange habe man ihr Schreien gehört und immer noch sei es bis zum Ufer gedrungen, als das Kind schon längst von den Nebelbänken über dem Fluss verschluckt worden war.

Die Geschichte des Lehrers schloss stets mit den Worten:

„Manchmal in neblig kalten Nächten, dann kann man Stinas Hilferufe immer noch leise über dem Strom klingen hören. Sie kommt und kommt nicht zur Ruhe.“

Auch der Holzschuhmacher Theo Peters, der ganz allein in einer kleinen Kate am Ende der Dorfstraße hauste, auch der behauptete, er habe Stinas Stimme oft genug deutlich gehört.

Die Kinder wussten nicht, was sie davon halten sollten. Am Rheinufer aber waren die Warnungen des Lehrers und Stina Basendongk und ihre traurige Geschichte bald vergessen. Schließlich wollten die Kinder vorsichtig sein. Schließlich wollten sie nur auf eine ganz große Scholle springen. Schließlich wollten sie nur ein winziges Stück auf dem Eise fahren. Und überhaupt ...

Drei Tage später hatte das gefährliche Vergnügen ein Ende. Am Sonntag lief von Holland her die Nachricht den Fluss herauf: Der Rhein friert zu. Bald darauf begannen sich auch bei Alsum die schweren Eisschollen übereinanderzuschieben, ineinanderzuschachteln, niederzudrücken, aufzutürmen. Ein Eisgebirge mit unzähligen Spitzen und Spalten bildete sich binnen weniger Stunden. Endlich kam das Eis zur Ruhe. Das Poltern und Stöhnen, das Knirschen und Donnern wurde leiser und leiser und verstummte schließlich. Eine tiefe Stille breitete sich aus.

Fast jeder aus dem Dorf, der noch laufen konnte, hatte sich dieses Schauspiel vom Damm aus angesehen. Aber bald waren die Menschen vor der Eiseskälte in die Wärme ihrer Häuser geflohen.

Die Knechte kehrten in das Gasthaus „Zum Goldenen Schwan“ ein. Wegen dieses besonderen Tages und auch, weil sie bis auf die Knochen durchgefroren waren, genehmigten sie sich einen Kornschnaps und ein Bier. Es ging schon auf den Abend zu. Die Sonne stand tief und rot hinter den kahlen Bäumen. Auf dem Damm befanden sich nur noch Tilla und Christian.

„Christian“, sagte das Mädchen, „Christian, kennst du die Engelsbrücke in Rom?“

„Ne, kenne ich nicht“, antwortete der Knecht.

„Hast du denn schon mal ein Bild von der Karlsbrücke in Prag gesehen?“, bohrte Tilla weiter.

„Hab ich auch nicht“, gestand Christian ein.

Nach einer Weile fuhr er fort: „Steht sicher alles in dem schlauen Buch von Lehrer Pannbeckers, wie?“

„Schade, dass du die berühmten Brücken nicht kennst, Christian“, bedauerte Tilla. „Die sind nämlich wirklich sehr, sehr schön. Wenn es hier solch eine Brücke über den Rhein gäbe ...“

„Weißt du, Tilla“, sagte Christian, „ich habe überhaupt noch keine Rheinbrücke gesehen. In Köln soll es eine geben und irgendwo in Holland auch. Hat mir jedenfalls mein Onkel erzählt. Und der muss es wissen. Er fährt nämlich schon sein Leben lang als Matrose auf einem Rheinkahn.“

„Ich würde gern auf einer Brücke über den Rhein laufen“, schwärmte Tilla.

„Das ist ein teures Vergnügen, Kind. Mein Onkel sagt, jeder, der über die Brücke in Köln gehen will, der muss Brückengeld bezahlen.“

„Ich habe etwas gespart, Christian. Ich würde all mein Geld geben, wenn ich über eine Brücke laufen dürfte.“

Christian lachte. „Du bist doch sonst so sparsam“, neckte er sie.

„Ganz, ganz langsam würde ich gehen, Christian. Das Wasser fließt unter mir her. Herrlich muss das sein.“

Christian sah, wie Tilla sich tiefer in ihren Mantel kuschelte. „Kalt?“, fragte er besorgt.

„Ja“, antwortete Tilla. „Aber Christian, könntet ihr nicht ...“

„Was könnten wir, Kind?“

„Ich meine, alle Männer aus dem Dorf, ihr könntet doch?“

Christian verstand das Mädchen nicht. Er schaute sie erwartungsvoll an.

„Ihr könntet doch eine Brücke quer über das Eis bauen, Christian.“

„Wie stellst du dir das denn vor, Tilla?“ Um Christians Mund zogen sich kleine Spottfalten. „Das ist unmöglich.“

„Ist nicht unmöglich“, behauptete Tilla. „Ihr schlagt die Eisspitzen mit dem schweren Hammer und mit der Hacke ab, füllt mit den Eisstücken die Spalten aus, bis alles eben ist, und baut so eine Straße von Ufer zu Ufer, breit genug, dass gerade ein Pferdewagen darüberfahren kann.“

Christian lachte laut auf. Tilla aber redete sich in Begeisterung. Sie malte ihm aus, wie die Straße Meter um Meter zum anderen Ufer hin wachsen würde.

„Zum Schluss“, sagte sie, „hackt ihr ein Loch in das Eis, holt mit einem Eimer Wasser empor und gießt es über die Eisstraße. Die wird dann glatt und fest. Und da, wo die Brücke anfängt, da baut ihr aus Eisblöcken links und rechts einen Pfeiler und ...“

„Hör auf, hör auf“, sagte Christian. „Mir wird schon ganz schwindlig bei all deinen Hirngespinsten.“

„Warum nennst du das Hirngespinste, Christian? Eine Brücke ist eine Brücke. Und jede Brücke war zuerst in irgendeinem Kopf da, ehe sie gebaut wurde.“

Christian zündete sich eine Pfeife an. Er musste mehrmals ein Streichholz anreißen, bis der Tabak endlich glühte. Hart pfiff der Wind. Die blauen Tabakswolken wurden ihm vom Munde weggerissen.

„Meinst du wirklich, das geht?“, fragte er nachdenklich.

„Ja, Christian, das meine ich wirklich.“

„Selbst wenn ich es wollte, Tilla, ich werde keinen Menschen finden, der mir dabei hilft. Das ganze Jahr über müssen alle hier im Dorf hart arbeiten. Im Sommer geht es schon in aller Frühe aus den Federn, und ins Bett kommen wir mit den Hühnern. Und die verschwinden bekanntlich erst im Stall, wenn es anfängt, dunkel zu werden. Nur im Winter, da haben wir es etwas besser, da gibt es auf den Höfen nicht viel Arbeit. Jeder Mensch braucht auch mal eine ruhigere Zeit. Und so eine Eisbrücke zu bauen, Tilla, das kostet viel, viel Schweiß.“

„Wär aber schön, wenn die Leute trockenen Fußes übers Wasser gehen könnten. Wär wie bei Moses und den Israeliten.“

„Lass Moses aus dem Spiel, Kind.“ Christian starrte eine Weile auf das Eisfeld und gab zu: „Schön wär’s wahrhaftig.“

„Von weit her würden die Leute kommen“, spann Tilla den Faden weiter.

„Schon möglich“, sagte Christian.

„Und jeder würde das Brückengeld bezahlen, Christian.“

Christian horchte auf. „Brückengeld?“

„Hast du selber gesagt, Christian. In Köln muss jeder, der über die Brücke will, Brückengeld bezahlen.“

„Ja, das stimmt. Aber hier in Alsum? Und über eine Eisstraße? Die Leute werden uns was husten.“

„Werden sie nicht, Christian. In Lehrer Pannbeckers’ Buch steht ...“

„Hör auf mit deinem Buch!“, unterbrach Christian sie. „Das Buch macht dich noch ganz verrückt.“

„Ihr könntet eine Menge Geld verdienen“, beharrte Tilla.

„Möglich wäre es“, überlegte Christian halblaut. Er zog sich die Schirmmütze tief in die Stirn und schaute hinüber zum anderen Ufer. „Ist breit, der Rhein“, wandte er ein. „Und dann kommt das Tauwetter, und aus ist es mit unserer Brücke.“

„Kann sein“, gab Tilla zu. „Aber wenn der Frost nur ein paar Tage anhält, dann könnt ihr viel Geld kassieren.“

„Brauchen könnten wir’s schon“, sagte Christian. Sie schwiegen eine Weile. Der Wind wurde schärfer. Er wehte vom Strom her auf das Dorf zu.

Tilla spürte die Kälte am ganzen Körper.

„Ich friere, Christian“, sagte sie. Doch der war in die Brückengedanken so eingesponnen, dass er sie nicht hörte. Er brummte vor sich hin: „Mensch, Tilla, der Lehrer hatte Recht:

... unter ihrem blonden Zopf

in dem klugen, hellen Kopf

wohl tausend und mehr Ideen sind.“

Er packte das Mädchen, drehte sie zweimal, dreimal schnell im Kreise und rief: „Kalt wie ein Eisberg bist du, Kind. Aber ich versuch’s. Ich gehe in den ‚Goldenen Schwan‘. Ich versuch’s. Ich rede mit den Knechten.“

Sie rannten den Deich hinab. Christian betrat die Gaststube und Tilla ging nach Hause. Sie war durchgefroren bis aufs Mark. Selbst als sie neben ihrer Schwester im Bett lag, konnte sie vor Kälte lange nicht einschlafen.

Der Christian aber hat sich im Gasthaus „Zum Goldenen Schwan“ an den langen Tisch zu den Knechten gesetzt und hat eifrig von dem Brückenbau geredet. Erst haben die Knechte gedacht, der Christian ist übergeschnappt. Aber als vom Bauerntisch der Bauer Drevenaar und der Lehrer aufstanden, zu den Knechten an den Tisch traten und gespannt zuhörten, was der Christian ihnen lang und breit vortrug, da merkten sie, dass an dem Plan doch etwas dran war.

„Und dann machen wir es wie bei der Engelsbrücke in Rom“, rief Christian. „Und auch wie bei der Rheinbrücke in Köln. Wir verlangen von jedem, der auf die andere Rheinseite will, ein Brückengeld.“

„Eine Silbermark fordern wir von jedem“, schrie Hein Kaldewitt, ein kleiner blonder Knecht vom Leyschen Gut.

„Unsinn“, widersprach Christian. „Wenn wir so viel Geld haben wollen, dann kommen nur wenige. Ich denke, einen Groschen hin und einen weiteren für den Rückweg verlangen wir. Das ist nicht zu teuer und wird viele Menschen locken, über die Brücke zu gehen.“

„Und für Kinder zwei Pfennig“, schlug Peter Basner vor. „Kleinvieh macht auch Mist.“

„Wenn’s aber schiefgeht?“, wandte Hein ein. „Ich meine, wenn’s Tauwetter gibt oder wenn gar keiner rüberwill? Dann haben wir uns den Buckel krumm geschuftet und alles war für die Katz.“

„Wenn, wenn, wenn“, sagte Christian ungeduldig. „Mit so vielen Wenn und Aber wäre die Karlsbrücke in Prag niemals fertig geworden.“

„Ich finde den Plan nicht schlecht“, mischte sich Lehrer Pannbeckers ein. „Ich habe da ein Buch ...“

Der Bauer Drevenaar unterbrach ihn und sagte: „Ihre Bücher in Ehren, Herr Lehrer. Aber was die Männer hier brauchen, das sind keine Bücher. Sie müssen Hacken und Hämmer, Schaufeln und Schiebkarren, Meißel und Tragekörbe haben. Und die will ich wohl für den Brückenbau ausleihen. Auch ein Pferdegespann kann ich zur Verfügung stellen. Es ist gut, wenn die Pferde nicht steif im Stall stehen. Sie müssen bewegt werden. Ich biete euch an, alles das sollt ihr bekommen, wenn ich an dem Brückengeld beteiligt werde. Nur ein Pfennig soll mir gehören. Dann werde ich ausleihen, was immer ihr für die Brücke braucht.“

„Abgemacht“, rief Christian und hielt dem Bauern die Hand hin. Bauer Drevenaar schlug ein. Damit war die Sache fest vereinbart.

Als Oma noch mit Kohlen heizte

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