Читать книгу Rätsel um Malipu - Wilma Burk - Страница 4
Wer ließ Pepe fliegen?
ОглавлениеEs machte den Eltern Sorgen, dass es zwischen den Schwestern Miriam, Annika und Josi zu oft Streit gab. Doch um Josi, die Jüngste, mussten sie sich besonders kümmern. Seit einer bösen Krankheit konnte sie nur mit einer stützenden Schiene an ihrem linken Bein laufen und war dadurch sehr behindert.
Annika, die mittlere der drei Schwestern, war feinfühlend, auch sie umsorgte die kleine Josi und gab darauf Acht, dass sie nicht zu kurz kam.
Nicht so Miriam, die Älteste. Sie suchte bei jeder Gelegenheit ihren Vorteil. Sie nervte das Getue um die kleine Schwester. Ja, sie verfolgte es sogar mit Eifersucht.
Oft waren die Eltern ratlos, wenn die drei sich zankten, weil Miriam wieder einmal schneller gewesen war und etwas nahm, was Josi auch gern gehabt hätte. Dann weinte Josi enttäuscht, während Annika erbost von Miriam forderte, es der kleinen Schwester zu geben.
Miriam aber dachte nicht daran. „Was kann ich dafür? Du hättest ja für Josi rennen können, du hast doch gesunde Beine“, lehnte sie es ab. Sie wollte nicht einsehen, dass sie Rücksicht nehmen musste. Und sie konnte nie genug bekommen. Wo es etwas gab, da war sie die Erste, die es sich holte. Wo sie auch hinkamen, sie setzte sich auf den besten Platz und langte vor allen andern nach dem größten Stück Kuchen auf dem Kuchenteller oder nahm das letzte Stück Schokolade, ohne zu überlegen, ob auch die andern etwas abbekommen hatten.
„Warum soll ich darüber nachdenken? Ihr denkt ja dauernd an Josi. Das reicht doch!“, meinte sie trotzig und steckte sich die ersten und zurzeit einzigen Erdbeeren in den Mund, die im Garten der Großmutter wuchsen. Wieder einmal war sie vorgerannt, um diese Erdbeeren zu bekommen, während Josi und Annika nur langsam folgen konnten.
„Oh, ich wusste nicht, dass ihr auch kommt“, bedauerte die Großmutter erschrocken.
„Natürlich, das hat Miriam dir nicht gesagt“, schimpfte Annika.
„Lass nur, die nächsten Erdbeeren reifen bestimmt. Die bekommst du dann, wenn du das nächste Mal kommst“, versuchte die Großmutter, Josi zu trösten.
„Josi hatte sich aber heute auf die Erdbeeren gefreut. Du hast es gewusst! Du bist gemein!“, fuhr Annika Miriam an.
„Josi, Josi! Immer dreht sich alles um Josi. Wenn du das gewollt hättest, dann hättet ihr früher hier sein müssen. Ist doch nicht meine Schuld“, verteidigte sich Miriam.
„Ich kann aber nicht schneller laufen“, wandte Josi leise ein.
„Das scheint Miriam zu vergessen. Diese ... diese ...“ Zornig suchte Annika nach einem bösen Wort.
„Kinder, hört auf zu streiten! Es waren nicht die letzten Erdbeeren, bald sind andere reif. Geht lieber zur Schaukel. Ich mache inzwischen Kaffee, habe gerade einen Kuchen gebacken“, sagte die Großmutter und ging ins Haus.
Sie hörte nicht mehr, wie Annika böse sagte: „Hoffentlich lässt Miriam uns davon überhaupt ein Stück übrig!“ Doch auch Miriam hörte das nicht mehr. Sie saß längst auf der Schaukel und schwebte zum Himmel, noch ehe Annika und Josi sich der Schaukel nähern konnten.
„Schaukelst du auch ein bisschen mit mir?“, fragte Josi bescheiden.
„Wenn es deine große Schwester gnädigerweise zulässt“, antwortete Annika bitter.
Miriam tat so, als hörte sie es nicht, und schaukelte weiter.
Da kam die Großmutter aus dem Haus und brachte für Josi einen kleinen künstlichen Vogel, den man aufziehen konnte und der dann ein Lied trällerte. „Schau, was ich für dich gefunden habe zum Trost für die entgangenen Erdbeeren“, sagte sie.
Kaum hatte Miriam gesehen, dass die Großmutter etwas brachte, war sie einfach von der Schaukel gesprungen, wäre fast hingefallen, und rannte zu ihr. Diesmal musste sie allerdings zusehen, wie die Großmutter Josi das kleine Spielzeug gab. „Dafür bist du schon zu groß“, meinte sie zu Miriam.
Miriam aber sah nur neidisch, dass Josi wieder etwas geschenkt bekommen hatte und sie nichts.
Josi freute sich sehr und ließ den kleinen Vogel sein Liedchen trällern. „Wenn der lebendig wäre, ach, wäre das schön!“, rief sie begeistert aus.
Das erzählte Annika zu Hause den Eltern. So dauerte es nicht lange und in Josis Zimmer trällerte ein kleiner Kanarienvogel sein Lied. Josi nannte ihn Pepe und war glücklich.
Nicht so Miriam. Wie sehr hatte sie sich einen Hund gewünscht. Aber nein, der war ihr abgelehnt worden! Sie hatte ja auch kein schlimmes Bein und wurde deshalb vorgezogen, dachte sie böse. Ungerecht war das, ganz einfach ungerecht! Und je glücklicher Josi mit ihrem Kanarienvogel war, umso neidischer wurde Miriam.
*
Wie es dann geschah, wusste später niemand zu sagen. Als Josi ihren kleinen Vogel im Zimmer umherfliegen ließ, öffnete Miriam, ohne zu überlegen, ein Fenster. Sofort flog der kleine Vogel zielsicher darauf zu und hinaus in eine verlockende Freiheit.
Plopp, da sprang ein Eisluchs näher, der schon seit einiger Zeit bei Miriam auf der Lauer lag. Denn wer weiß, vielleicht würde sie noch so böse Gedanken haben, dass sie für ihn zur Beute werden konnte. So hoffte er.
Josi schrie auf, als sie ihren Pepe davonfliegen sah. Annika ging wütend auf Miriam los. Doch Miriam wehrte sich und schlug zurück. Die beiden Mädchen prügelten sich und Josi weinte und jammerte um ihren kleinen Pepe.
Entsetzt kamen die Eltern dazu und brachten die beiden Mädchen auseinander.
„Das hat sie mit Absicht getan!“, rief zornig Annika.
„Habe ich nicht! Wusste gar nicht, dass der Vogel aus dem Bauer war“, stritt Miriam es ab.
„Und doch hast du es getan, du hast ihr den Vogel nicht gegönnt“, beharrte Annika.
„Das reicht jetzt, Miriam! Bis auf Weiteres hast du Hausarrest und das neue Fahrrad kannst du dir auch aus dem Kopf schlagen“, entschied der Vater erzürnt.
„Aber ich habe ihn nicht wegfliegen lassen!“, bockte Miriam. Doch wenn sie ehrlich zu sich gewesen wäre, dann hätte sie zugeben müssen, dass sie selbst dies nicht so genau wusste.
„Du hättest besser aufpassen müssen!“, wies auch die Mutter sie zurecht und nahm tröstend Josi in den Arm.
„Das ist ungerecht, mich so zu bestrafen!“, machte Miriam einen letzten Versuch, die Eltern umzustimmen.
Doch der Vater sagte nur: „Es reicht, Miriam!“
*
Miriam grollte, fühlte sich zu Unrecht bestraft. Sie musste zusehen, wie Annika und Josi aus dem Haus gingen, musste hören, wie schön es bei der Großmutter gewesen war, dass nun alle Erdbeeren abgeerntet waren und sie keine mehr abbekommen konnte. Annika sparte nicht mit Triumph und Hohn dabei.
Das vertrug Miriam am allerwenigsten. Sie hatte Zeit, viel Zeit, sich Schikanen gegen die beiden auszudenken, in denen sie die Schuldigen für ihre Bestrafung sah. Als Erstes ging der kleine Spielzeugvogel aus unerklärlichem Grund kaputt. Dann verschwanden wichtige Schulhefte. Und jedes Mal leugnete sie, damit etwas zu tun zu haben.
Das ließ den Eisluchs näher an sie heranrücken. Seine Hoffnung stieg, sie ganz für sich gewinnen zu können. Jede Bosheit von ihr erfreute ihn. Er rechnete sich bereits eine Chance aus, sie am Ende zu erbeuten. Wenn ihm das gelang, dass sie keinem guten Gedanken mehr zugänglich war, würde ihre Seele am Ende ihres Lebens zu einem grauen Eistropfen gefrieren und er könnte sie mitnehmen in sein eisiges Reich. Dann würde sie nicht, wie die Seelen anderer Menschen, als kleiner Nebel zum Herrn des Lebens am ewigen, unendlichen See des Lebens schweben und noch nach ihren Lieben auf der Erde sehen können. Sie würde nur ewig ein Eistropfen mehr in dem eisigen Reich der Eisluchse sein. Alles könnte sie mit ansehen, doch niemand würde sich um sie kümmern.
Lediglich die Magihexer könnten ihr dieses Schicksal noch ersparen, wenn es ihnen gelänge, rechtzeitig einzugreifen. Das wusste der Eisluchs. Doch sie sollten nur kommen, diese wolkigen Gebilde, so leicht würde er nicht aufgeben.
*
Was auch geschah, alles traute Annika Miriam inzwischen zu. „Mir kannst du nichts erzählen!“, erklärte sie drohend, wenn Miriam wieder leugnete, an etwas schuld zu sein.
Josi trauerte sehr um ihren Pepe. Nichts konnte sie trösten. Immer wieder stellte sie das Vogelbauer ans Fenster und hoffte, dass er zurückkäme.
Das hatte die Magihexer, Pontulux, den Zwicker, Jojotu, den Tröster, und einen Koboldiner zu Josi gerufen.
Der Eisluchs schlug wütend mit seinem Schwanz auf, als sie herangeschwebt kamen. Er ärgerte sich, dass er noch nicht näher an Miriam herangekommen war, um die Magihexer erst gar nicht an sie heranzulassen.
Die taten zunächst so, als sähen sie ihn nicht. Sie brauchten sich nicht lange zu beraten, was zu tun war. Jojotu schickte sofort den Koboldiner los, um Pepe zu suchen. „Wie sonst soll ich Josi trösten, wenn der Vogel nicht wiederkommt“, sagte er. Dann glitt er zu der weinenden Josi hin und blies ihr mit seiner Gedankenkraft viel Hoffnung ins Ohr.
Der Koboldiner zögerte nicht lange. „Ich werde ihn finden, wenn er die Zeit bisher gut überstanden hat und die andern Vögel ihm nichts getan haben. Hoffentlich ist er nicht zu weit weggeflogen, dann wird es schwierig werden, ihn zurückzubringen“, vermutete er und brummte davon.
Pontulux, der Zwicker, glitt derweil vorsichtig an Miriam heran. Er wusste noch nicht, was er machen könnte, damit die Schwestern sich besser verstehen. Zunächst einmal wollte er ergründen, wie weit er überhaupt an sie herankam, ob der Eisluchs ihn bald bedrohen würde. Doch noch hielt der sich abwartend zurück, verfolgte nur misstrauisch, was die Magihexer taten und fauchte warnend. Pontulux war sich aber sicher, es fehlten nur noch ein paar böse Taten oder Gedanken von Miriam und der Eisluchs würde so dicht an sie heranrücken, dass er es schwer hätte, noch an ihr Ohr zu gelangen, um sie zu beeinflussen.
„Was willst du tun?“, fragte Jojotu.
„Noch nichts! Erst einmal warte ich ab. Vielleicht fängt sich Miriam wieder und der Eisluchs muss sich verziehen“, antwortete Pontulux.
„Und wenn nicht?“, wollte Jojotu wissen.
„Dann wird es die Gelegenheit bringen. Das war bei allen Plänen bisher noch immer am besten, wenn man etwas erreichen wollte. Doch was hast du inzwischen Annika eingegeben, was macht sie da?“, fragte Pontulux, schwebte zu Annika und sah ihr neugierig über die Schulter.
Annika schrieb viele Zettel, die sie an Bäume anheften wollte, auf denen stand: „Gelber Kanarienvogel mit weißer Feder auf dem Kopf entflogen. Bitte, bringt ihn zurück! Adresse ...“
„Das wird bestimmt helfen!“, sagte Josi so hoffnungsfroh, wie Jojotu es ihr eingegeben hatte. Sie saß am offenen Fenster beim Vogelbauer. Die Tränen waren versiegt; sie wartete nur noch auf ihren Pepe. „Er kommt zurück, ich weiß es!“, flüsterte sie vor sich hin. Ihren Glauben daran konnte so leicht nichts mehr erschüttern. Bei jedem Vogel, der in den Zweigen des Baumes, der vor dem Haus stand, landete, hielt sie die Luft an. War es Pepe? Aber nein, es war nur ein Spatz, eine Meise oder eine Amsel.
*
Sie konnte nicht wissen, dass der Koboldiner den kleinen Pepe suchte. Er musste weit dahinbrummen durch Straßen und Parkanlagen, denn einmal in Freiheit fand Pepe es so herrlich ohne jede Wand vor sich durch die Luft gleiten zu können, dass er gar nicht aufhören konnte über Bäume, Büsche und Dächer hinweg immer weiter zu fliegen. Erst in einem weit entfernten Park, als er einen Fink sein Lied trällern hörte und glaubte, das könne ein anderer Kanarienvogel sein, flog er hinunter zu ihm in einen Baum und wollte sich zu ihm setzen. Der aber machte entsetzt einen Satz zur Seite, sah ihn mit gesträubtem Gefieder an und warnte seine Umgebung: „Taktaktak!“ Dann flog er auf und davon.
‚Nanu, was hatte er denn?’, wunderte sich Pepe. Jetzt merkte er erst, wie müde und erschöpft er vom ungewohnt weiten Flug war. ‚Na gut’, dachte er, ‚dann mache ich erstmal ein Nickerchen.’ Kaum war er eingeschlafen, weckte ihn gleich wieder ein aufgeregtes Gezwitscher. Ein Spatzenvolk war gekommen, hatte den Baum bevölkert und ihn sogleich entdeckt. Sie regten sich über den Fremdling furchtbar auf, umsprangen ihn laut schimpfend und flatterten über ihm, als wollten sie sich auf ihn stürzen.
Pepe war entsetzt! Was war das, konnte man hier nicht einmal am Tage ein Nickerchen machen? Hastig verließ er seinen Platz und segelte hinunter in einen Busch, dicht bei einem Springbrunnen. Hechelnd mit offenem Schnabel saß er da, jetzt erst merkte er, wie durstig und hungrig er inzwischen geworden war. Doch hier gab es keinen Napf mit Futterkörnern.
Der Wassernapf allerdings war riesengroß, viel größer als sein Badehäuschen am Bauer. Nur gab es keine Stange davor, auf die man sich setzen konnte. In diesem Wassernapf konnte man ja ertrinken, befürchtete er. Wie sollte er das nur schaffen, dort Wasser zu trinken? Da sah er, wie andere Vögel sich vorsichtig auf den Rand setzten, vorreckten und tranken. Wenn sie dann abzurutschen drohten, flogen sie flink auf und begannen damit von Neuem. ‚Das kann nicht so schwer sein’, überlegte er, und schon flog er hinunter. Laut schimpfend wichen die andern Vögel vor ihm zurück. Er achtete nicht mehr darauf, er war zu durstig. Es war gar nicht so schwer, auf dem Rand zu sitzen, und er trank und trank. Was schmeckte das Wasser gut! Da huschte ein dunkler Schatten über das Wasser. „Krahkrah!“ erschallte ein Ruf über dem Springbrunnen. Wusch-wusch-wusch, in Panik flatterten die andern Vögel auf und davon. Pepe hob den Kopf, da schoss der schwarze Schatten herunter, fast hatte er Pepe erreicht. Pepe begriff: Gefahr! Er breitete die Flügel aus und ließ sich vom Rand des Springbrunnens hinabgleiten. Schon sah er die Krallen über sich: Hilfe! Blindlings schoss er von Panik getrieben davon, ab ins Gebüsch und immer tiefer hinein, bis er ermattet mit gesträubtem Gefieder auf einem Ast sitzen blieb.
„Herr des Lebens! War das die Freiheit? Sollte sie wirklich so aussehen, angefeindet und gejagt, immer in Gefahr?“, fragte sich Pepe und er begann sich nach seinem sicheren Vogelbauer und nach der schützenden Hand von Josi zu sehnen. Doch wohin müsste er fliegen, um dahin zurückzukehren? Wenn er nur wenigstens etwas zu fressen hätte! Der Hunger plagte ihn immer mehr. Da sah er, wie kleine Vögel an Blättern zupften, sollte man diese fressen können? Er versuchte es. Pfui Teufel! Bei allem Hunger, das schmeckte ja eklig, bäääh! In diesem Augenblick kam eine Frau den Weg im Park entlang und blieb genau vor dem Busch stehen, in dem Pepe saß. Sie griff in einen Beutel und – Pepe traute seinen Augen nicht – sie streute Körnerfutter, richtiges Körnerfutter auf den Weg. Hui! Da war er unten, an keine Gefahr mehr denkend, sofort pickte er und pickte. Doch schon war die freche Spatzenschar wieder da. Er hatte nicht Zeit, viel zu fressen, denn jetzt begnügten sie sich nicht damit, ihm zu drohen. Wütend gingen sie auf ihn los, „Zwitsch, zwitsch, zwitsch“, schimpfen sie dabei und hackten nach ihm, zogen ihn an den Federn, stießen unbarmherzig ihre Schnäbel auf seinen Kopf. Pepe wusste nicht, wie ihm geschah. Er flatterte hoch, sie flatterten auch hoch und hackten weiter nach ihm. Da setzte er sich abseits nieder; nun ließen sie ihn in Ruhe. Das schöne Futter! Ob sie davon etwas übrig ließen? Es tat ihm weh zuzusehen, wie es in ihren nimmersatten Schnäbeln verschwand.
Doch was war das, plötzlich stoben alle auseinander, flogen hoch und weg. Sie ließen das schöne Futter liegen. Pepe überlegte nicht lange. Nun pickte er so schnell er konnte Korn um Korn in sein Kröpfchen. Er war so vertieft darin, dass er nicht die Katze bemerkte, die sich im Gebüsch anschlich. Darum waren die Spatzen davongeflogen.
Fast hatte die Katze ihn erreicht, fuhr schon ihre Krallen aus, da endlich hatte der Koboldiner Pepe gefunden. Im letzten Moment ging er dazwischen. Die Katze sprang hoch und wollte sich auf Pepe stürzen. Sie sprang aber gegen eine unsichtbare Wand, stieß sich den Kopf, fiel auf den Rücken und saß verdattert am Boden. Was war das? Kopfschüttelnd ließ sie den kleinen Kanarienvogel in Ruhe und trottete davon.
Pepe hatte von alldem nichts gemerkt. Nun kamen die Spatzen zurück. Doch was staunten sie, auch sie konnten nicht mehr an Pepe herankommen, um nach ihm zu hacken. Der Koboldiner hatte einen undurchdringlichen Kreis um ihn gezogen. So konnte Pepe sich endlich satt fressen.
Danach war es für den Koboldiner nicht schwer, ihm einzugeben, den Park zu verlassen, ehe es dunkel wurde. Als er ihn bei den Häusern hatte, lenkte er ihn auf ein offenes Fenster zu. Pepe sah es, es war ihm vertraut, und schon flog er hinein. Er war in Sicherheit. Sogar ein Vogelbauer mit einem anderen Kanarienvogel gab es dort. Als die Menschen ihn fanden setzten sie ihn dazu. Diesem Vogel erzählte Pepe nun, wie es ihm in der Freiheit ergangen war und dass er sich danach nie mehr sehnen werde. Dabei quälte ihn ein bisschen Sehnsucht nach Josi und seinem Zuhause.
Der Koboldiner aber machte sich auf den Weg zurück zu Pontulux und Jojotu. „Ich habe ihn, er ist in Sicherheit. Doch es ist sehr weit weg von hier. Wie wollen wir ihn hierher zurückbekommen?“, fragte er.
„Das ist nicht schwer, das mache ich. Komm, zeig mir, wo Pepe jetzt ist“, antwortete Jojotu. Er schwebte zu den Bäumen, an denen die Suchzettel hingen, nahm ein paar davon ab und ließ sie über Dächer, Straßen und Bäume schweben, bis dahin, wo der Koboldiner ihm zeigte, dass Pepe war. Ganz zufällig ließ er auch einen Zettel davon auf den Balkon fallen, hinter dessen Balkontür das Vogelbauer mit Pepe und dem anderen Kanarienvogel stand.
*
So konnten die Menschen in dem Haus erfahren, wo Pepe zu Hause war und dass er sehr vermisst wurde. Schon bald danach brachten sie ihn zu Josi zurück. Was war sie selig, dass sie ihren Pepe wiederhatte.
Doch nicht so Miriam. Was war das für ein Tamtam um diesen kleinen Vogel?! Erst war es nicht mit anzusehen, wie alle noch mehr um Josi herum waren und sie bedauerten, nur weil so ein alberner Vogel weggeflogen war, und nun freute sich jeder auch noch überschwänglich mit ihr, dass dieses blöde Tier zurück war. Und was war mit ihr? Wofür eigentlich war sie bestraft worden, wo dieser piepsende Schreihals wieder da war? So grollte sie.
Doch bald waren die Eltern mit ihr nachsichtig. Da Josi wieder glücklich war, hoben sie den Hausarrest für Miriam auf. Großzügig erließen sie ihr die Strafe. Die Art allerdings, wie sie es ihr verkündeten, so gnädig, so herablassend, weil ja nun Josi nicht mehr ihretwegen um Pepe trauern musste, das stachelte in Miriam nur den eifersüchtigen Hass auf Josi an. Sie fühlte sich zu Unrecht bestraft. Eigene Zweifel daran, verdrängte sie. Nein, darüber wollte sie nicht nachdenken, sie war unschuldig und damit basta! Es war allein Josis Schuld, dass man sie so ungerecht behandelte.
Tief saß der Groll in ihr. Als sie wieder zusammen im Garten der Großmutter waren, gab sie im Rennen Josi einen Schubs, weil sie ihr beim Laufen zur Schaukel im Wege war. Josi schwankte, balancierte auf ihrem kranken Bein und fiel am Ende hin. Hilflos, unfähig allein aufzustehen, saß sie an der Erde. Miriam aber sprang unbekümmert auf die Schaukel.
Plopp, da sprang der Eisluchs ebenfalls zur Schaukel. Jetzt war er schon näher bei ihr. Drohend schwang er vor Pontulux und Jojotu seinen Eispickel und fauchte: „Kommt ihr nicht zu nah!“
„Was kannst du jetzt noch tun, Pontulux?“, jammerte Jojotu und der Koboldiner zog sich zurück, sah nur noch aus der Ferne zu. Er hatte, wie alle Koboldiner, mit Eisluchsen zwar nichts zu tun, aber wusste man, was sie taten, wenn man ihnen zu nahe kam? Seine Aufgabe hier war erledigt: Pepe war wieder glücklich bei Josi. Wie Jojotu, warteten auch er nur noch darauf, dass Pontulux etwas unternahm, damit Miriam nicht zur Beute für den Eisluchs wurde, um dann zurück nach Magihexanien fliegen zu können.
„Seid nicht so ungeduldig! Passt auf, gleich bekomme ich die Gelegenheit, etwas zu tun. Der Eisluchs ist zwar ziemlich dicht bei Miriam, aber kann er mit ihr mitschaukeln? – Nein, das kann er nicht! Er kann sich zwar mit seinem magischen, langen Schwanz abstoßen und springen von einem Punkt der Erde zu einem beliebig weit entfernten anderen Punkt, doch sonst klebt er mit seinen zotteligen Beinen am Boden und kann nicht schweben wie wir.“ Aufmerksam verfolgte er, was weiter geschah und wartete ab. Er lachte höhnisch, als der Eisluchs unruhig wurde und ihn nicht aus den Augen ließ.
Miriam zögerte einen Moment auf der Schaukel. Fast sah es aus, als wollte sie Josi helfen. Da kam bereits Annika angerannt und schrie sie an: „Was hast du wieder getan?“ Dann wandte sie sich liebevoll Josi zu. „Komm, ich helfe dir!“ Doch es war nicht so leicht, die weinende Josi mit der steifen Schiene am Bein wieder auf die Füße zu stellen.
Trotzig gab Miriam der Schaukel einen Schwung, dass sie hoch in die Luft flog und rief störrisch zurück: „Was willst du, ihr ist doch nichts passiert!“
Der Eisluchs feixte sich eins und vergaß darüber einen Moment lang, Pontulux zu beobachten. Das war die Gelegenheit. Blitzschnell glitt Pontulux hoch, an ihm vorbei und gab Miriam einen so heftigen Stoß, dass die Schaukel sich fast überschlug. Der Eisluchs wollte noch reagieren, schlug schon mit dem Schwanz zum Sprung auf. Doch wohin sollte er springen? Die Schaukel schwang mit Miriam schlingernd hin und her. Pontulux war längst wieder zur Seite geschwebt und beobachtete, was nun geschah. Miriam konnte sich nicht mehr halten, wollte den Schwung abbremsen, kam aber so unglücklich auf der Erde mit ihren Beinen auf, dass sie heftig umknickte und hinfiel. Gellend schrie sie auf, so weh tat das. Sie versuchte aufzustehen, es ging nicht.
„So hilf mir doch! Siehst du nicht, was passiert ist?“, rief sie Annika zu.
Doch Annika wandte sich ab.
Josi blieb stehen. „Schau, sie kann wirklich nicht aufstehen!“, sagte sie zu Annika.
„Sag bloß, ich soll ihr helfen! Hat sie dir etwa geholfen?“
In diesem Augenblick kam die Großmutter dazu. „Was ist das hier für ein Geschrei, man hört euch ja meilenweit. Könnt ihr euch nicht wenigstens für kurze Zeit vertragen?“ Sie war verärgert.
„Miriam hat Josi umgestoßen!“, petzte Annika.
„Sooo?“ Mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß, sah sich die Großmutter nach Miriam um.
„Jetzt ist sie selbst hingefallen und kann nicht mehr aufstehen“, erklärte Josi.
Doch das war nicht mehr nötig. Die Großmutter erkannte die Hilflosigkeit von Miriam und war schon bei ihr. „Ich schaffe das nicht allein. Los, hilf mir!“, befahl sie Annika. So musste Annika, wenn auch widerwillig, ihrer großen Schwester aufhelfen. Aber damit nicht genug, sie musste sie auch noch stützen, denn laufen konnte Miriam nicht mehr, nur noch auf einem Bein hüpfen.
„Geschieht dir recht!“, zischte Annika ihr boshaft zu, doch so, dass es die Großmutter nicht hören konnte.
*
Miriam hatte sich so verletzt, dass der Fuß für einige Zeit in einen festen Verband musste. Nur mit Hilfe von zwei Krücken konnte sie sich mühsam fortbewegen. Nun hatte sie Gelegenheit, am eigenen Leib zu erleben, wie es war, wenn alle andern schneller sind und an ihr vorbeirennen.
Zuerst nutzte das Annika noch hämisch grinsend aus. Doch Josi, die es aus eigener Erfahrung kannte, hatte Mitleid mit Miriam, ausgerechnet sie bemühte sich, ihr zu helfen. Ja, sie brachte sogar Annika dazu, ihren Groll gegen Miriam zu vergessen.
Das alles machte Miriam sehr nachdenklich und sie besann sich.
Daraufhin musste sich der Eisluchs grollend zurückziehen. Er hatte vergebens gehofft. Die Magihexer hatten ihn wieder überlistet. Triumphierend lachten sie ihn aus, als er sie anfauchte. Dann aber schlug er mit seinem Schwanz auf den Boden und verschwand wie ins Nichts.
„So gut haben sich die Schwestern ja seit langem nicht vertragen“, stellte die Mutter nach kurzer Zeit fest.
„Na hoffentlich hält der Denkzettel bei Miriam eine Weile vor“, meinte der Vater skeptisch dazu.
***********
Die Magihexer aber ließen den Koboldiner allein nach Magihexanien heimfliegen. Neugierig wie sie waren, mussten sie noch nach Oma Berta und den Kindern sehen. Vielleicht erzählte sie ja gerade eine Geschichte von ihnen. Ob sie das wirklich konnte, davon wollten sie sich zu gerne überzeugen.
Doch Oma Berta erzählte keine Geschichte. Sie fanden sie mit den Kindern in einem Park, in den sie oft bei schönem Wetter gingen.
Oma Berta saß an einem kleinen See auf einer Bank und las in einer Zeitschrift. Pauline hockte davor am Ufer und fütterte die Fische. Paul aber war ein Stück abseits von ihnen auf einem Platz mit Sport und Spielgeräten. Hier gab es Schaukeln, Wippen, sogar ein Bolzplatz war dabei. Nur ein paar Kinder spielten dort als Paul dazukam. Er konnte dies und das von den Geräten ausprobieren. Gerade balancierte er auf einem Schwebebalken herum, da kam ein wesentlich größerer Junge als er, zischte drohend: „Verschwinde!“ und stieß ihn hinunter.
„Warum?“ Paul stieg unbeeindruckt wieder auf den Balken.
„Hörst du schwer?“ Erneut stieß der Junge Paul hinunter.
Paul wollte sich aber nicht verjagen lassen. So taumelte er zunächst zwar etwas, stieß den andern dann aber zur Seite, als der sich auf den Balken setzen wollte.
Die Magihexer kamen gerade dazu und sahen das. „Sollten wir nicht eingreifen?“, überlegte Jojotu.
„Warte!“, meinte Pontulux und verfolgte aufmerksam, was geschah.
„Du willst es wohl nicht anders?“, knurrte der fremde Junge, packte Paul am Kragen und zog ihn weg, ob er nun wollte oder nicht.
Paul zappelte, versuchte sich zu befreien, es gelang ihm nicht. Fest hatte der Junge ihn im Griff.
Gerade da kam Pauline, um Paul zu holen. „He! Lass meinen Bruder in Ruh!“ schrie sie sofort und rannte auf die beiden zu.
„Wer ist denn das?“, fragte der Junge und lachte höhnisch.
„Lass ihn los! Lass ihn sofort los!“, rief Pauline und ballte ihre Fäuste.
„Oh, da habe ich aber Angst!“, amüsierte sich der Junge und packte den zappelnden Paul nur umso fester.
Noch zwei Schritte, dann hatte Pauline sie erreicht. Wütend hob sie ihre Fäuste und schlug so kräftig sie konnte auf den Jungen ein.
Der wankte nicht und lachte nur weiter.
„Lass das, Pauline! Lass das!“, rief jetzt Paul und konnte doch nichts tun, nicht mal nach dem Jungen treten, er traf ihn nicht.
„Du sollst ihn loslassen!“ Pauline gab nicht auf.
Doch der Junge ließ Paul nicht los, trat aber einen Schritt zurück. Nun stand er dicht am Schwebebalken.
„Jetzt ist es Zeit“, murmelte Pontulux, schwebte auf ihn zu und gab ihm einen so heftigen Stoß, dass er Paul losließ, und rückwärts über den Balken fiel.
Sofort rannten Paul und Pauline davon.
Verblüfft saß der Junge noch am Boden und hielt sich eine schmerzende Schulter, als seine Freunde kamen. Sie hatten noch mitbekommen, was geschehen war. „Konntest du nicht mehr auf deinen Beinen stehen oder haben dich die Kleinen umgeschmissen?“, spotteten sie.
„Die sollen mir noch mal über den Weg laufen. Denen werde ich es zeigen!“ knurrte der Junge und stand auf.
Paul aber, noch atemlos vom Rennen, machte Pauline Vorwürfe, als sie außer Sicht waren. „Mach das nicht noch mal und erzähl das bloß niemanden. Es war völlig unnötig, dass du dich eingemischt hast.“
„Spinnst du? Hätte ich zusehen sollen, was der mit dir macht?“, fragte Pauline sichtlich betroffen.
„Ich hätte mich schon alleine befreit, wenn du nicht dazugekommen wärst.“
„Danach sah es aber nicht aus.“
„Egal! Das nächste Mal hältst du dich da raus. Was sollen denn meine Freunde denken, wenn sie glauben, dass ich von einem Mädchen befreit werden musste.“
Fassungslos blickte Pauline Paul an und wollte beleidigt noch etwas erwidern. Doch Oma Berta kam ihnen entgegen. „Wo bleibt ihr? Wir müssen nach Hause gehen“, mahnte sie.
Auf dem Heimweg wunderte sie sich, wie ruhig die beiden waren. „Habt ihr euch gezankt?“ fragte sie.
„Nein“, antworteten beide wie aus einem Mund.
„Na, dann ist es ja gut“, meinte Oma Berta und sah lächelnd auf sie hinunter, als wüsste sie alles.
Jetzt trennten sich die Magihexer von ihnen.
„Das hast du gut gemacht, den Jungen umzustoßen. Ich hätte nicht gewusst, was ich tun soll“, lobte Jojotu.
„Du hast ja auch nicht meine Möglichkeiten“, erwiderte Pontolux sichtlich geschmeichelt.
Dann verließen sie die Erde und flogen durchs Universum heim nach Magihexanien.
*
Kaum waren sie hinter dem schwarzen Loch in Magihexanien angekommen, hatte sie einer entdeckt und alle andern mit seiner Gedankenkraft zum Erzählplatz am Lebensfluss zusammengerufen.
Das war wieder ein Gedränge um den besten Platz, bis sie den beiden Heimkehrern erwartungsvoll entgegensahen. Die plusterten sich auf und ließen sich gemächlich in den Kreis herab.
„Nun redet schon, was habt ihr erlebt?“, drängte Babahu und quoll gespannt vor Erwartung hin und her.
„Sitz still!“, ermahnte ihn Zufido, in dessen Wolkenkörper er jedes Mal hineinstieß.
Da lachte er und stieß übermütig noch einmal in ihn hinein. Sofort sah Malipu ihn warnend an. „Gib Ruh!“, wies er ihn zurecht. Schon duckte sich Babahu, zog seinen Zipfelhut tiefer und saß still.
Dann begann Pontulux: „Das war diesmal nicht so einfach mit diesen drei Schwestern, zu denen wir gerufen wurden. Trotzdem sind wir sogar noch mit einem Eisluchs fertig geworden. Schaut her, wir haben nicht einen einzigen Kratzer abbekommen, obgleich der bereits heftig auf uns losging. Jojotu wich bereits zurück und sogar der Koboldiner wollte fliehen. Ich aber blieb standhaft. Gegen mich konnte der nichts ausrichten.“ Er warf sich dabei mächtig in die Brust.
Jojotu sah verlegen weg und sagte nichts dazu.
„Oh!“, bewunderten alle Pontulux. Na ja, und dass Jojotu vor den Eisluchsen Angst hatte, das wusste jeder. Genauso wussten sie aber auch, wie gern Pontulux aufschnitt. So flüsterte irgendwo einer dem andern leise zu: „Glaubst du das? Er allein gegen einen angriffslustigen Eisluchs, nur mit Jojotu im Rücken? Das kann er mir nicht erzählen! Da hat der Eisluchs wohl bloß zugeschaut und auf der Lauer gelegen, falls es etwas für ihn zu holen gab.“
Der andere kicherte zustimmend.
„Pscht!“, zischten die anderen Magihexer. „Seid endlich ruhig, damit Pontulux und Jojotu erzählen können.“
Dann war es still, und alle hörten die Geschichte von den drei Schwestern.
*
„Na, wie habe ich das gemacht“, beendete Pontulux die Erzählung und sah sich Beifall heischend im Kreis der Magihexer um, besonders aber zu Malipu.
Doch der schien nicht darauf zu achten. Hatte er überhaupt zugehört? Erst als alle unruhig wurden, weil sie ein Wort von ihm dazu erwarteten, richtete er sich auf und sagte anerkennend: „Das war eine gute Lösung, Pontulux! Auch wenn du mit der Verletzung des Beines wieder fast zu weit gegangen bist ...“
„Es war nicht mal gebrochen“, verteidigte sich Pontulux sofort.
„Dennoch, das war mehr als ein Missgeschick, was eigentlich nur Satano erlaubt ist.“
Trotzig kniff Pontulux die Lippen zusammen. Er neidete Satano, dem Quäler, das und versuchte nur zu oft, es ihm gleichzutun.
Gespannt sahen die andern zu Malipu. Das war bestimmt nicht alles, was er dazu zu sagen hatte. Sie wussten doch, dass er sich darum sorgte und wie sehr es ihm nicht gefiel, wenn Pontulux das überschritt, was ihm als Magihexer bei den Menschen erlaubt war.
Malipu aber sagte nichts mehr dazu. Er sank in sich zusammen und hörte nur zu, was die andern noch fragten oder zu der Geschichte sagten. Müde fuhr er sich dabei manchmal über die Stirn.
So saßen sie zusammen, bis einer bemerkte, dass sich der gelbe Gipfel des Berges mit der Quelle rot färbte. „Der Berg wird rot!“, rief er sofort und schoss in die Höhe. Jetzt gab es kein Halten mehr. Aufgeregt strecken sich alle, um so schnell wie möglich zur Quelle zu schweben. Jeder wollte der Erste dort sein. Das war ein Schubsen und Schimpfen. Wie ein Schwarm auffliegender Tauben auf der Erde stoben sie davon.
Wenn der gelbe Gipfel des höchsten Berges rot wurde, dann sprudelte statt des üblichen Quellsaftes für kurze Zeit ein süßer Trank daraus hervor. Wer von ihnen wollte den versäumen? Egal, was sie gerade taten, dafür ließen sie alles stehen und liegen.
Doch nicht nur die Magihexer hatten es eilig hinzukommen, sondern auch die Elflinge, die auf der Erde für alle Pflanzen zuständig waren. Mit ihren zarten Flügeln schlagend flogen sie heran. Ebenso beeilten sich die Koboldiner, ihre Gleitwolken auszufahren und damit so schnell wie möglich angebrummt zu kommen. Denn alle Geistwesen in Magihexanien ernährten sich von dieser Quelle.
Wie immer, wenn der süße Trank floss, gab es ein großes Gedränge. Jeder wollte so viel wie möglich von diesem köstlichen Trank mit seinem Bescher schöpfen und trinken. So stießen und knufften sie sich um die wenigen Plätze und versuchten, einander wegzuschubsen oder sich vorzudrängen. Zwischen den Magihexern fanden die flinken, kleinen Elflinge keine Gelegenheit, ihre Becher zu füllen. Sie flatterten mit ihren zarten Flügeln hoch, bis dahin, wo die Quelle am üppigsten sprudelte, um sich zu laben. Doch die schwerfälligen Koboldiner mussten sich unten am Ende der Quelle damit begnügen, was von dem süßen Trank gerade noch bis zu ihnen herabfloss, ehe der Rest wieder im Berg versickerte. Das war nicht viel.
Es reichte auch nie für alle, weil sich viel zu schnell der Gipfel wieder gelb färbte, der süße Trank versiegte und nur noch der übliche Quellsaft floss.
So gab es auch diesmal einige, die nichts abbekamen und enttäuscht zu ihren Höhlen zurückkehrten. Sogar Babahu gehörte dazu. Er, der sonst nur allzu gewitzt war und mit seinen Streichen den andern auf die Nerven ging, war diesmal nicht schnell genug gewesen, Das sollte ihm nicht noch einmal passieren! Besonders Pontulux hatte sich vor ihm an der Quelle breitgemacht. Wie Babahu es auch versuchte, er war an ihm nicht vorbeigekommen. Sogar weggezwickt hatte er ihn. So konnte er den köstlichen Trank zwar riechen, doch nur zusehen, wie er in die Kehlen der anderen floss. Das ärgerte ihn. Pontulux würde sich noch wundern, dem wollte er es bald mit einem Streich heimzahlen. Enttäuscht steckte er seinen Becher in seinen Wolkenkörper zurück – in dem sie alles hineinstecken können, was sie mit sich tragen wollen - und schwebte zu seiner Höhle.
Gelangweilt saß er davor und schaute, was die andern machten. Einige unterhielten sich, einige schwebten in den Bergen umher. Andere wiederum holten ihre bunten, funkelnden Steine, mit denen sie ihre Höhlen ausschmückten, heraus und putzen sie. Das waren für sie Schätze, die sie eifersüchtig hüteten. Jeder hoffte darauf, einmal einen so großen, funkelnden Stein bei den bunten Gipfeln zu finden, dass ihn alle anderen darum beneideten. Deshalb war es auch eine ihrer liebsten Beschäftigungen, durch die Berge zu ziehen und nach bunten Steinen zu suchen.
‚Als Rache müsste ich mal einen von Pontulux Steinen verstecken, wenn er sie putzt’, überlegte Babahu. Wie verzweifelt er dann danach suchen würde, das wäre ein Spaß. Doch noch hatte er dazu keine Gelegenheit.
Unten am Lebensfluss sah er Magifa sitzen. Was machte er da? Warum schaute er so angestrengt in das goldfarbene Wasser? Schon wollte er sich strecken um zu ihm zu schweben, da sah er, wie sich gerade Malipu zu ihm gesellte. Dem jetzt zu begegnen, hatte er keine Lust. Ein Elfling, den er jagen, ein Koboldiner, den er necken könnte müsste mal vorbeikommen, das wäre gut. Er sah aber nur die beiden Magihexer dort unten, die nun gemeinsam in den Lebensfluss schauten. Was sie da wohl suchten? Das würde er zu gern wissen.
Doch als er daneben, nur ein Stück entfernt von den beiden, einen Koboldiner entdeckte, der gemütlich seines Weges brummte, da vergaß er es. Hei, das war es! Schon schwebte er geschwind hinunter.
*
Noch saßen Magifa und Malipu ahnungslos nebeneinander und schauten den goldenen Lebenstropfen zu, die leise klingelnd mit dem Fluss auf dem Weg zum schwarzen Loch und weiter zur Erde waren.
„Wie klein und unschuldig sie hier noch aussehen. Kaum zu glauben, dass mitunter auf der Erde ein Mensch daraus werden kann, mit dem wir unsere liebe Not haben, um ihn nicht den Eisluchsen zu überlassen“, überlegte Magifa.
„Was grämst du dich? Wenn alle Menschen so wären, wie es dem Herrn des Lebens gefällt, dann hätten wir nichts zu tun“, antwortete Malipu.
Kaum hatte Malipu das ausgesprochen, schoss Babahu in seinem Eifer so dicht über ihre Köpfe hinweg, dass sie sich duckten. Erschrocken hielten sie ihre Zipfelhüte fest.
„Verdreibelt noch mal! Kannst du nicht aufpassen?“, rief Malipu ihm nach.
„Wo will der so eilig hin?“, wunderte sich Magifa.
„Der? Der hat nichts als Unsinn im Sinn“, murrte Malipu, und rückte seinen Zipfelhut zurrecht. „Da, habe ich es nicht gesagt!“ Und er wies auf den Koboldiner in ihrer Nähe, der gerade vergeblich versuchte, an Babahu vorbeizukommen.
Der tanzte vor seiner Nase herum, verstellte ihm den Weg, plusterte sich auf und streckte sich wieder. Dabei lachte er vor Vergnügen.
„Hast du nichts Besseres zu tun!“, rief Malipu ihm zu.
„Warum? Ich tu ihm ja nichts. das ist nur ein Spiel“, rief er zurück und ließ für einen Moment von dem Koboldiner ab. Der nutzte den Augenblick, um ihm zu entkommen. Doch schon war Babahu ihm wieder hinterher, griff nach seinem Schwanz und versuchte ihn festzuhalten. Er wusste, das mochte der gar nicht. Nein, dem Koboldiner machte dieses Spiel keinen Spaß. Babahu aber kümmerte das nicht. Dennoch so unbeeindruckt blieb er von Malipus Worten nicht. Bald verlor er die Lust daran und verschwand.
Danach saßen Malipu und Magifa zunächst schweigend nebeneinander. Bis von fern aus den Bergen verhaltenes Hämmern und Sägen klang.
„Hörst du das?“, fragte Magifa. „Das kommt aus der Höhle von Larifax. Seit Magitagen geht das so. Was treibt er da? So viel Lärm kann es doch nicht machen, seine Schätze, die bunten Steine, an den Wänden neu zu sortieren oder die Mooskissen umzuordnen.“
„Hast du versucht, ihn danach zu fragen?“
„Ja. Er sagt, er baue nur etwas um, hat mir aber jeden Blick in seine Höhle verwehrt. Ich traue ihm nicht. Wer weiß, was er wieder ausheckt.“
„Hoffentlich gibt das keinen Ärger. Den Menschen mit List zu helfen, ist seine Aufgabe, aber bei uns sollte er es lieber lassen“, meinte Malipu.
„Ist er überhaupt beim süßen Trank dabei gewesen?“, überlegte Magifa.
„Und eben in der Runde? Ich meine, ihn da auch nicht gesehen zu haben“, stimmte Malipu zu.
Wo war Larifax, der Listige? Seltsam, wer von ihnen kam nicht zur Quelle, wenn der süße Trank sprudelte, und wer wollte versäumen, was einer von der Erde zu erzählen hatte? Was war für ihn so wichtig, dass er darauf verzichtete? Das würden sie zu gerne wissen.
*
Doch Larifax tat alles, um gerade das vor ihnen geheim zu halten. Seit Magitagen hämmerte er in seiner Höhle und war kaum einmal davor zu sehen.
Näherte sich einer neugierig, so glitt er schnell aus seiner Höhle, versperrte ihm den Blick und sagte beiläufig, er baue darin etwas um.
In Wahrheit aber hämmerte er sich aus einem Stein einen Krug, in den er sich heimlich süßen Trank schöpfen wollte. Dann hätte er immer noch einen Vorrat davon, wenn sich die andern längst mit dem üblichen Quellsaft begnügen müssten. Er war auf der Hut, dass niemand erraten konnte, was er tat. Denn er wusste, darüber würden sich alle sehr aufregen und das als einen unberechtigten Vorteil ansehen, den er sich damit verschaffen wollte.
Allein das Geheimnis, was er daraus machte, ärgerte die Magihexer bereits. Warum sollte es nicht möglich sein, zu erfahren, weshalb er sich so zurückzog? Was war so wichtig, dass er es vor ihnen verbarg?
Sie steckten ihre Zipfelhüte zusammen und berieten sich. „Man könnte ja, wenn der Berg wieder rot wird und Larifax zur Quelle schwebt ...“, wollte einer vorschlagen. Doch sofort lehnten die andern es ab. Bei aller Neugier, wer wollte freiwillig zurückbleiben und auf den süßen Trank verzichten, um in der Höhle von Larifax heimlich nachzusehen?
Ratlos sahen sie sich an, bis Imada, der Eifrige, aufgeregt hin und her rutschte und rief: „Ich weiß, wie wir Larifax aus seiner Höhle locken können, ohne selbst einen süßen Trank zu versäumen.“
„Ach, du!“, winkten alle ab. Was sollte diesem Tollpatsch schon einfallen? Nein, sie einigten sich darauf, zu warten. Vielleicht wurde ja Larifax bald zur Erde gerufen, dann konnten sie ungehindert in seine Höhle gelangen, um nachzusehen. Damit streckte sich einer nach dem andern und schwebte davon.
„So wartet doch!“, rief Imada ihnen enttäuscht nach. Aber keiner hörte auf ihn. „Und ich werde es euch beweisen“, murmelte er trotzig vor sich hin. Dann wartete er eine Weile, bis kein Magihexer mehr zu sehen war und rief so laut er konnte: „Der Berg wird rot!“
Das wirkte! Aufgescheucht kamen alle wieder hervor und schwebten so schnell sie konnten zur Quelle. Jeder wollte der Erste sein. Nur Imada und Larifax blieben zurück. Doch Imada hatte vergeblich darauf gehofft, Larifax würde auch zur Quelle schweben und er könnte ungestört in seiner Höhle nachsehen. Nur einen Moment lang sah es so aus, als wollte er den andern folgen, dann verharrte er unentschlossen und kehrte in seine Höhle zurück.
Pech für Imada! Bald hatten die andern gemerkt, dass der Berg gar nicht rot wurde, dass es keinen süßen Trank gab. Da drehten sie um und kamen wütend zu ihm zurück. „Konnte dir nichts Besseres einfallen, als uns zum Narren zu halten?!“
„Lasst ihn in Ruhe! Ohne eure Neugierde wäre er gar nicht darauf gekommen.“ Malipu gefiel die übertriebene Neugier seiner Magihexer nicht.
„Na ja, aber ...“, brummte noch dieser oder jener vor sich hin. Doch sie glitten auseinander, allen voran Imada. Froh darüber, dass sie nicht schlimmer mit ihm geschimpft hatten, wollte er sich schnell aus dem Staub machen.
Nur in seinem Eifer, sich blitzschnell umzudrehen und wegzuschweben, verdrehte er sich so, dass er aus Versehen mit Kopf und Zipfelhut in seinen Wolkenkörper geriet und fast schon zum Rücken wieder herauskam. Hilflos hampelte er herum, weil er nichts mehr sehen konnte.
Die andern vergaßen sofort den Verweis von Malipu, lachten und ergötzten sich an dem Bild, das sich ihnen bot. „Seht euch den Tollpatsch an, der wird es nie lernen, wie man mit einem Wolkenkörper umgeht“, riefen sie. Bis sich Jojotu erbarmte und Imada half, seinen Wolkenkörper wieder zu strecken.
Alle hatten vor Vergnügen über Imadas Tollpatschigkeit besonders laut gelacht und gerufen. Insgeheim hatten sie gehofften, damit die Neugierde von Larifax anzustacheln und ihn aus seiner Höhle zu locken, um hineinsehen zu können.
Aber, nein, Larifax kümmerte es nicht, was draußen geschah. Er hämmerte und feilte weiter in seiner Höhle. Er war froh, nicht auf Imadas Ruf gehört zu haben und den andern zur Quelle gefolgt zu sein. Denn wenn da einer in seine Höhle geschaut hätte ... Nicht auszudenken! Sein ganzer Plan wäre zunichte gewesen.
Als der Krug fertig war, besah er sich zufrieden sein Werk und rieb sich vergnügt die Hände. Weit hinten in seiner Höhle unter vielen Mooskissen verbarg er ihn. Nun brauchte nur noch der Berg rot zu werden. So packte er sein Werkzeug weg, klopfte sich den Staub von den Händen und gesellte sich gelangweilt zu den andern.
Sofort prasselten die Fragen auf ihn ein: „Bist du endlich fertig?“ – „Sag, was hast du gemacht?“ – „Jetzt kannst du es uns aber zeigen!“
„Sicher, gerne, seht es euch an! Ich habe nur meine Wände etwas erweitert und meine bunten Steine neu angeordnet“, antwortete er und feixte sich dabei eins.
Neugierig schwebten alle zu seiner Höhle und drängten sich davor. „Ja“, rief einer, „das sieht wirklich besser aus.“ Ein anderer aber meinte: „Eigentlich sehe ich keinen Unterschied. Darum hättest du nicht so ein Geheimnis machen müssen.“
„Ich habe gar kein Geheimnis daraus machen wollen. Ich habe mich nur zurückgezogen, um mit der Arbeit schnell fertig zu werden“, erklärte Larifax listig. Dabei blickte er alle unschuldig an. Sie errieten es nicht, das war gut!
*
Als der Berg wieder rot wurde, dachte längst kein Magihexer mehr darüber nach, was Larifax in seiner Höhle Geheimnisvolles getan hatte. Doch dass Imada sie an der Nase herumgeführt hatte, daran erinnerten sie sich. So kamen sie zuerst nur zögernd aus ihren Höhlen, als einer rief: „Der Berg wird rot!“ Misstrauisch blickten sie zum Gipfel hoch. Als der sich aber wirklich langsam von der Spitze her rot färbte, nahm jeder seinen Becher und schwebte, so schnell er konnte, zum süßen Trank der Quelle.
Larifax nahm seinen Krug und schob ihn behutsam in seinen Wolkenkörper. So konnte er ihn mitnehmen, ohne dass ihn jemand sah.
Er war fast der Erste, der den sprudelnden, köstlichen, Trank aus dem Berg in seinen Becher fließen ließ. Doch er trank nur etwas davon ab und goss den Rest vorsichtig in seinen Krug im Wolkenkörper. Ihm zitterten vor Aufregung die Hände dabei, denn er konnte ja nicht sehen, was er tat. Zuerst hätte er beinahe alles daneben geschüttet. Oh, das wäre böse für ihn ausgegangen! Denn da er den Quellsaft nicht getrunken, sondern dabei in seinen Wolkenkörper geschüttet hätte, wäre er ihm unten wieder herausgelaufen. Nicht auszudenken, wenn das geschehen wäre! Was hätten die andern gedacht und getan? Schließlich ist bisher niemand auf den Gedanken gekommen, sich mehr süßen Trank zu nehmen, als er trinken konnte.
Dass die andern auf sein seltsames Tun aufmerksam werden könnten, brauchte er nicht zu befürchten, weil jeder selbst damit beschäftigt war, so viel wie möglich von dem süßen Trank zu schöpfen. So konnte er seinen Krug füllen bis obenhin und sich sogar noch satt trinken, während einige vergebens hofften, an die Quelle zu gelangen.
Als der Berg wieder gelb wurde, der süße Trank versiegte, und alle, die nichts oder zu wenig abbekommen hatten, enttäuscht umkehrten, glitt er vorsichtig mit seinem Krug zurück zu seiner Höhle und versteckte ihn tief hinter einem Stein und vielen Mooskissen.
Kaum hatte er das getan, wurde er zur Erde gerufen. Larifax warf noch einen prüfenden Blick zurück, ob auch von seinem köstlichen Trank nichts zu sehen war, schwebte zum schwarzen Loch, glitt hindurch und flog weiter hinunter zur Erde.
*
Einer aber hatte doch etwas gemerkt, es war Babahu. Als Larifax durch das schwarze Loch verschwunden war, vergewisserte er sich, dass ihn niemand sah, schlich sich zu dessen Höhle und glitt hinein. Hier brauchte er nicht lange zu suchen, bis er den köstlichen Trank fand. Er, den sie beim letzten Mal wieder weggedrängt hatten und der darum nichts abbekommen konnte, nahm, ohne lange zu überlegen, den Steinkrug und trank ihn gierig bis zum letzen Tropfen leer. Das war ein Jux! Er freute sich auf das dumme Gesicht von Larifax,
wenn er bei seiner Rückkehr den Krug leer vorfinden würde.
*
Doch Larifax machte kein dummes Gesicht, als er sich nach seiner Rückkehr heimlich aus dem Krug am süßen Trank laben wollte. Er vertrug es nicht, wenn ihm eine List misslang. Wütend über den Verlust schrie er zornig: „Wer war in meiner Höhle?“
Alle schwebten zusammen, nur Babahu hielt sich zurück. Da wusste Larifax, wer es gewesen war, und er klagte ihn vor allen andern an, ihm seinen köstliche Trank gestohlen zu haben. Dabei dachte er nicht daran, dass er sich damit selbst verriet.
„Du hast dir mehr süßen Quellsaft genommen, als du trinken konntest?“, fragte sofort Ermano, der Ermahner.
Kaum war das gesagt, sahen alle Larifax fragend an.
Der erschrak, wand sich schuldbewusst und wurde rot.
Verärgert stieß Satano, der Quäler, mit seinem Dreizack auf. „Es geschieht dir recht, dass dir der Trank gestohlen wurde. Was verschaffst du dir einen Vorteil vor uns!“
Pontulux forderte wütend: „Gebt es ihm, er hat uns alle betrogen. Wer von euch hat nichts von dem süßen Trank abbekommen? Er hat euch darum gebracht. Schaut nach, ob er in seiner Höhle nicht noch mehr versteckt hat.“
Alle drängten empört vor und schrieen durcheinander. Sie schubsten Larifax unsanft hin und her, stießen ihn, beschimpften ihn, zwickten ihn und drangen in seine Höhle ein. Sie warfen seinen ganzen Stolz, die bunten Steine heraus. Sie griffen nach seinen Mooskissen und zerrupften sie.
„Was macht ihr?“, rief Larifax verzweifelt. „Ihr zerstört ja alles. Ich hatte doch nur einen ganz kleinen Krug.“
Sie ließen nicht ab und schlugen nicht nur den Krug entzwei, sondern auch die Wände, bis seine Höhle keine Höhle mehr war. Sie fanden kein Ende.
Vergebens hatte Malipu versucht, sie zurückzuhalten. Endlich gelang es ihm, sich Gehör zu verschaffen. Laut hallte seine Stimme wider von den Bergen: „Haltet ein! Verdreibelt noch einmal! Was ist in euch gefahren? Was wütet ihr so? Schämt euch! Niemals gibt es ein Recht, einem andern alles zu zerstören, egal was er getan hat. Hört auf damit!“
Da ließ einer nach dem andern ab von seinem zornigen Tun. Beschämt glitten sie auseinander, keiner widersprach und jeder senkte seinen Blick. Bedrückt zogen sie sich in ihre Höhlen zurück. Malipu hatte wieder einmal recht gehabt, auch sie waren nun schuldig geworden, nicht nur Larifax und Babahu.
Allein und unglücklich weinend blieb Larifax zurück. Das hatte er nicht gewollt, dass sie so böse auf ihn waren. Seine schöne Höhle, was hatten sie daraus gemacht. Verzweifelt sah er den andern hinterher. Wie sollte er ihnen je wieder begegnen können? Ach, wenn doch wenigstens einer ...
*
Und einer hatte Mitleid mit ihm. Es war Jojotu. Als er die unglückliche Gestalt vor seiner zerstörten Höhle weinend sitzen sah, schwebte er zu ihm hin und legte seinen Arm um ihn. „Komm, morgen ist ein neuer Magitag. Bald haben alle vergessen, dass du dir einen Vorteil verschaffen wolltest“, sprach er tröstend auf ihn ein.
„Glaubst du wirklich?“, fragte Larifax zögernd. „Sie waren so böse; so habe ich sie noch nie gesehen.“
„Du hast es gehört, was Malipu gesagt hat: Das war auch nicht recht, was sie getan haben“, antwortete Jojotu. Er hatte dem Treiben entsetzt zugesehen, doch auch seine mahnende Stimme war ungehört verhallt.
„Ich hatte doch nur ...“, wollte sich Larifax verteidigen.
„Und doch war es falsch“, fiel Jojotu ihm ins Wort. „Komm, grüble nicht! Es ist geschehen, nun muss es weitergehen. Du wirst sehen, bald denkt keiner mehr daran.“
„Aber meine Höhle, schau, was sie daraus gemacht haben.“
„Das sieht sicher schlimmer aus, als es ist. Wenn du erst anfängst aufzuräumen und alles neu machst, dann wird deine Höhle bald wieder so schön sein, wie sie war“, versuchte Jojotu ihm Mut zu machen.
„Und wo soll ich anfangen? Wie soll ich das schaffen?“
„Warte nur, bis sich alle beruhigt haben, dann wird dir sicher jemand helfen, vielleicht kommt morgen schon einer. Du wirst sehen, es wird auch ihnen bald leid tun, was sie mit deiner Höhle getan haben“, gab Jojotu nicht auf.
Da lächelte Larifax wieder und wischte sich die letzte Träne aus dem Gesicht. „Glaubst du wirklich?“
„Ja, bestimmt!“, versicherte Jojotu. Dann sah er Babahu, der sich zögernd näherte und wies auf ihn: „Schau mal, wer da bereits kommt!“
Doch ein Stück von ihnen entfernt hielt Babahu im Schweben inne, als fürchte er, Larifax und Jojotu könnten ihn wegjagen?
Erst als Jojotu ihn zu sich heranwinkte, kam er näher, plusterte sich auf und ließ sich neben ihnen nieder.
*
Und Jojotu hatte recht, bald sprach niemand mehr von dem Raub des süßen Tranks. Wohl selbst schuldbewusst, wollten sie gar nichts mehr davon wissen. Erst brachte einer Larifax ein neues Mooskissen, dann ein anderer einen schönen bunten Stein und schließlich kam sogar dieser oder jener und half Larifax, seine Höhle wieder in Ordnung zu bringen. Bald war es, als wäre alles nicht geschehen.
Malipu verfolgte es mit Erleichterung. Er hatte sich Sorgen darum gemacht, dass sich seine Magihexer verfeinden könnten. Aber das wäre ja lächerlich, wenn sie, die stets auf der Erde verstanden, für die Menschen regelnd einzugreifen, für sich selbst keinen Rat gewusst hätten.
Ja, alles würde gut sein, wenn ihm nur nicht manchmal so seltsam zumute wäre und er endlich wieder in seinem klugen
Buch lesen könnte.