Читать книгу BEGEGNUNGEN - Komische Vögel und Zeitfreundschaften - Wilma Franck - Страница 5

Оглавление

Geballte Zweisamkeit

(2)

Seeluft

Natürlich war er nicht ausgestiegen. Natürlich? Was ist natürlich daran, sich anders zu verhalten, als es einem gefühlsmäßig richtig erscheint? Was ist unnatürlich daran, sich so zu verhalten, wie die Vernunft es gebietet? Ist Vernunft widernatürlich? Darf Verhalten gefühlsmäßig geführt sein?

Dies Fragen gehen ihm durch den Kopf, als er die beiden Koffer in das Ferienhaus trägt. Gleichzeitig gibt der Magen einfach keine Ruhe. Herrje, flucht er im Innern, wann ist das endlich vorbei? So schwer der Stein im Magen! Immerhin kriegt er jetzt besser Luft, weil er sich bewegen kann, und die Luft von See weht erfrischend herüber. Ein bisschen kühl noch trotz der Spätsommersonne.

Wie immer, wenn sie dieses Ferienhaus nutzen, hat sie alle Fenster geöffnet und ihre Handtasche mit dem Beautycase auf das kleine Garderobenschränkchen gestellt. Er legt Autoschlüssel, Portemonnaie und sein Handy daneben. Gewohnte Ordnung seit Jahren.

Das Handy blinkt. Sie registriert das und erinnert sich nicht, ein Signal gehört zu haben, als ein Anruf oder eine Kurzmitteilung auf seinem Handy eingegangen ist. In ihrer Magengrube kribbelt es unangenehm. Obwohl sie nicht wissen kann, weiß sie doch. Sie weiß fast sicher, dass jene Frau ihm einen Gruß geschickt haben kann. Haben könnte? – Nein, sie ist sich ganz sicher: sie hat! Sie würde gern das Handy nehmen, nachschauen, was eine andere Frau ihm schreibt. Aber sie fürchtet, er könnte es sehen, sie erwischen. Noch mehr fürchtet sie, sich lächerlich u machen, weil doch nur irgendwer anstatt jener Frau ihm geschrieben haben könnte.

Mit einem tiefen Atemzug besänftigt sie das Kribbeln in der Magengrube und geht an ihm vorbei aus dem Haus. In dem Augenblick da sie in der schmalen Diele aneinander vorbei gehen, nehmen sie unbewusst so viel Abstand voneinander wie nur möglich. Zwischen ihnen: kalter Wind. Nicht die Seeluft. Kühle! Eisige Kühle einer Distanz, die immer unüberwindbarer wird.

Die frische Luft draußen tut ihr gut. Und da rührt sich in ihr wieder dieses klitzekleine Gefühlchen einer Hoffnung, dass hier an einem neutralen Ort, in der Stimmung einer Urlaubsentspannung eventuell doch etwas zum Positiven bewegt werden kann.

Was ist positiv, fragt sie sich im gleichen Moment. Sofort setzt das ekelhafte Magengrubenkribbeln wieder ein, und sie verdrängt die Antwort zur Frage auf später. Am liebsten viel später.

Sie hat geschrieben. Sein Herz setzt für Bruchteile einer Sekunde aus, um dann aufgeregt zu pochen. Einen schönen Urlaub wünscht sie ihm und viel Sonnenschein … wäre schön, wenn sie jetzt hier sein könnte, denkt er für einen kurzen Augenblick. – Doch gleich beißt ihn schon wieder das schlechte Gewissen. Sofort löscht er die Nachricht und legt das Handy wieder ab. Draußen wartet noch ein Korb zum Hereintragen.

Wieder gehen sie beide aneinander vorbei, Abstand wahrend so weit wie nur irgend möglich. Er hat es plötzlich ganz bewusst bemerkt. Die Kühle. Der große Abstand. Liegt vielleicht nur an der SMS, denkt er, und fühlt sich ein wenig erleichtert. Obwohl er sich gefreut hat, die Nachricht zu lesen, wünschte er in diesem Augenblick, sie hätte nicht geschrieben. Besser ist, sich hier am Urlaubsort auf sich selbst zu konzentrieren, sich gelassen und normal zu geben. Aushalten, die geballte Zweisamkeit. Nur er. Nur sie. Nur die frische Seeluft. Nur die Zeit.

Möge sie rasch vergehen …

Normal. Ein seltsames Wort, denkt er weiter, als er den Wagen abschließt und wieder in Haus geht. „Wir versuchen, Normalität zu leben“, hatte er ihr gesagt. Was ist Normalität? Tägliche Routinegespräche? Definiere Gespräch, fordert er sich selbst in Gedanken auf. Aber schon beim gedachten Ausrufezeichen in der Forderung bleibt er stecken.

Er versucht, sich abzulenken. Dieses ständige Nachdenken führt doch schon so lange zu keinem Ergebnis. Die dazugehörenden Gefühle deckelt er sorgsam, denn wenn er ihnen Aufmerksamkeit schenkt, geht es ihm schlecht. Das Merkwürdige ist, dass es ihm in letzter Zeit immer schlecht geht. Ob er nun die Gefühle wahrnehmen will oder nicht. Das üble Unbehagen, der Magendruck, die Kopfschmerzen, die Enge in der Brust … sie sind auch dann vorhanden, wenn er sich nicht mit Gefühlen auseinandersetzt. Komisch, dass ihm das jetzt auffällt.

Erst jetzt? Jetzt erst recht?

Alle Ablenkungsversuche helfen ihm heute nicht. Koffer auspacken, die Polos in den Schrank verstauen, den Kulturbeutel ins Bad tragen, Rasierzeug, Eau de Toilette, Deo, Duschgel … alles hat seit Jahren den angestammten Platz. Dabei hat er sich nie bewusst gemerkt, in welcher Reihenfolge er die Sachen auf der Spiegelablage „seines“ Spiegels abstellte. Seine Frau hatte ihn mal drauf angesprochen. Ewige Jahre her … sie hatten damals darüber gelacht. Er macht es immer noch so, das sortierte Aufbauen seiner Badutensilien. Gelacht wird nicht mehr.

Sie schmunzelt innerlich, obwohl ihr beileibe nicht danach zumute ist. Er stellt noch immer seine Sachen in genau derselben Reihenfolge auf die Ablage wie seit Jahr und Tag. Manche Dinge verändern sich scheinbar doch nicht, überlegt sie. Könnte sie das mal über ihre Gefühle sagen. Doch da kennt sie sich gar nicht mehr aus. Im Augenblick ist ihr eher zum Weglaufen zumute. Vielleicht ist diese Reise doch keine gute Idee?

Während er schon fertig ist mit dem Einrichten für die nächsten zwei Wochen, geht sie in die Küche, packt die Lebensmittel in den Kühlschrank und bereitet die Kaffeemaschine vor fürs Kaffeetrinken. Ein Ritual. Alles mechanisch. Routine eben.

Dass man mit so wenigen Worten auskommen kann und sich trotzdem versteht, wundert sie sich Sie hatten während der Fahrt kaum miteinander geredet. Er war wie immer konzentriert aufs Fahren, sie hatte ihren eigenen Gedanken nachgehangen und die Landschaft betrachtet. Lustlos eigentlich. Aber es lenkte ab und machte eine aus dem Boden gestampfte Konversation überflüssig.

Die ganze Zeit während der Fahrt hatte sie den Eindruck, dass er jeden Moment rechts ran fährt und sich verabschiedet. Jetzt noch in der Erinnerung klopft ihr Herz erschrocken schneller bei der Vorstellung, wie sie dagestanden hätte. Ganz allein. Auf der Autobahn. Ohne ihn.

Ohne ihn. Ohne ihn? Ging das überhaupt? Seit über drei Jahren hat sie darüber wieder und wieder nachgedacht. Kann sie ohne ihn leben? Und wie wird das aussehen?

An diesem Punkt ihrer Überlegungen bricht sie ab – wie immer.

Wenn nur die Zeit schnell vergeht, denkt er, als er sich mit einem der vielen Bücher, mit denen er sich vor der Abreise noch eingedeckt hat, in einem Gartenstuhl unter dem Sonnenschirm niederlässt.

Zwei Wochen später.

Sie rollen zurück. Heimwärts. Sitzen wieder nebeneinander in ihrem Auto, fahren unter strahlend blauem Himmel und Sonnenschein. Schweigen.

Sie haben nicht geredet.

Während sie scheinbar interessiert in die vorbeiziehende Landschaft blickt, fragt sie sich, ob sie bedauert, dass es zu keinem klärenden Gespräch gekommen ist. Irgendwie hatte es sich einfach nicht ergeben, denkt sie und will damit ihre Angst rechtfertigen, die sie dann doch hatte. Dabei war sie so entschlossen, als sie im Strandhaus angekommen waren. Aber es ist immer eine so verflixte Sache mit dem richtigen Zeitpunkt, entschuldigt sie sich weiter, er ist einfach niemals wirklich da.

Sie fährt mit ihrer Hand über ihr Kinn, wie sie es immer tut, wenn sie tief in Gedanken versunken ist und sich im Stillen ärgert. Ja, sie ärgert sich. Ärgern über sich selbst. Ärgern aber auch und ganz besonders über ihren Mann.

Gelassen, so scheint es, lenkt er den Wagen über die fast schnurgerade Autobahn. Die Klimaanlage würde er gern noch kühler einstellen, ihm ist furchtbar heiß. Innerlich verdreht er die Augen und unterdrückt einen Seufzer, denn er weiß genau, dass es nicht die Hitze im Wagen ist, die ihm zu schaffen macht. Vielmehr ist es sein unter Hochdruck arbeitendes Inneres. Das Herz klopft zum Zerspringen und wenn er nicht sehr aufpasst, wird der Klumpen in seinem Magen wieder für gehörigen Druck sorgen.

Sie hatten nicht geredet. Irgendwie war es ihm gelungen, dem aus dem Wege zu gehen. Er staunt gerade, wie sehr es ihm zur Gewohnheit geworden ist, genau zu erspüren, wann die Gefahr einer ernsthaften Unterhaltung droht. Kopfschütteln ist jetzt nicht möglich, obwohl er es gern tun würde. Aber vielleicht fällt es ihr dann auf? Womöglich könnte er dann ein Gespräch nicht abbiegen.

Hätte ihm noch gefehlt – ausgerechnet jetzt eine endlose Diskussion während der Autofahrt.

So fährt er rasch dahin, der dunkelrote Wagen, auf dem der feine Staub des Strandsandes haftet. Gemeinsam mit der schönen Bräune seiner Haut sind das die einzigen Spuren, die der Urlaub sichtbar hinterlassen hat. – In seinem Innern jedoch sind tiefe Eindrücke eingegraben. Eindrücke, die schmerzen, und die ein Unbehagen hinterlassen, das seit den letzten drei, vier Tagen nicht mehr weichen will.

Aber der redet ja nicht mit mir, denkt sie mit leichter Verzweiflung und starrt auf die weite Ebene hinaus. Es klopft ein arger Kopfschmerz in ihren Schläfen. Er breitet sich aus in die Gegend gleich über den Augen. Poch. Poch. Poch. Sie hätte vorsichtshalber doch ein Aspirin nehmen sollen. Diese Hitze … aber da stellt sie fest – wie er soeben auch – dass es nicht an der Hitze liegt. Wie in ihm so tobt auch in ihr ein Aufruhr.

Sie hätten besser reden sollen! Den richtigen Augenblick gibt es nicht. Also ist jeder Moment so gut und richtig wie jeder andere. Verdammt, flucht sie, und würde das gern laut hinausschreien.

Zwei Wochen geballte Zweisamkeit … jetzt seufzt er doch leicht, aber für sie unhörbar. Die Zeit erschien ihm wie eine Ewigkeit. Der Rückweg kann ihm gar nicht schnell genug gehen. 160 km/h zeigt der Tacho. Recht so! Nix wie zurück in den Alltag! Wohltuender Alltag. Beruhigende Monotonie. Zurück auch zu ihr. Zu der Frau, die sehnsüchtig auf ihn wartet, die genau wie er es nicht erwarten kann, dann sich bei ihr anzulehnen, sich ihren Armen anzuvertrauen. Die Augen schließen und aufatmen will er! Sie riechen, aufsaugen und nie mehr loslassen …

Er riskiert einen Seitenblick und ist entsetzt über die Anspannung ihres Gesichts. Schockiert! Was mag in ihr vorgehen? Aber fragen? Oh no! Das ist jetzt ganz einfach nicht drin. Er fürchtet die Antwort, die Reaktion. Hier, ausweglos eingesperrt im dahinrasenden Auto.

Also gibt er sich Mühe, wieder auf die Straße zu achten, über der die Hitze der Sonne flirrt.

Die Tage zogen zwei Wochen lang träge dahin. Das Wetter war schön und sie haben das Übliche getan: Strandspaziergänge, Lesestunden im Liegestuhl, Lesestunden auf der Terrasse im Liegestuhl, Radtouren, Essen … geredet haben sie – aber nur das Übliche eben.

Ihm wird die Kluft zwischen ihnen deutlicher denn je. Diese Kühle, die immer frostiger wird, je länger dieser Schwebezustand anhält. Was soll er tun? Was will er überhaupt? Ja, nach Hause. Ja, und vor allen Dingen zu ihr, in ihre Nähe. Sich entspannen, Energie tanken, lachen, reden und ganz besonders: lieben. Sich anvertrauen, hingeben, gemeinsam fallen.

Noch ein Seitenblick … hab ich diese Frau je wirklich geliebt, fragt er sich und ist überrascht, dass ihm ausgerechnet jetzt diese Frage durch den Kopf schießt. Ja, natürlich habe ich sie geliebt. Und ich liebe sie noch, aber … was, zum Teufel, habe ich denn gegen sie? Was ist nicht in Ordnung mit ihr? Mit mir? Mit uns! Und wird denn mit einer anderen Frau alles anders? Anders auf jeden Fall. Besser? Aber wird er wirklich glücklicher, und verschwinden seine Beschwerden, die ihn so plagen, wenn er mit einer anderen Frau ein neues Leben beginnt? Fängt dann nicht alles von vorne an?

Diese letzte Frage hat er sich jeden Tag gestellt, wenn er scheinbar in seine Lektüre vertieft war. Er kriegt einfach keine Ordnung in das Gefühlschaos, das da in ihm gärt. Überhaupt will er all diese Gefühle lieber nicht ansehen. Wenn er ihnen auch nur den kleinsten Raum gibt, fallen sie regelrecht über ihn her und bringen alles durcheinander.

Einige Zeit nach dem Urlaub.

Es ist schrecklich! Ihre Stimmung wird immer bedrückender. Nach außen die zufriedene Ehefrau zu spielen, fällt täglich schwerer. Der Kummer wächst in ihr unermesslich und würgt ihre Kehle.

Warum hört das nicht auf, fragt sie sich. Warum hört er nicht auf damit? Vor ein paar Wochen noch dachte ich, es sei wie eine Erkältung – vorübergehend.

Damals, da war es doch auch so …

Aber er hört nicht auf. Woche für Woche fährt er zu dieser Frau. Glaubt er denn, sie merkt das nicht? Sogar den Freunden und Nachbarn ist seine Veränderung nicht entgangen. Sie schließt einen Moment die Augen, lehnt am Fensterrahmen und blickt in den Garten.

Er strahlt richtig. Seine Augen sind wach und glänzen freundlich. Seine Art hat eine Leichtigkeit bekommen, wie sie sie schon seit längerem nicht mehr sah. Zumindest, wenn er bei ihr war. Doch kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen und sie sind allein in diesem schönen Haus, dann hüllt er sich wieder in dieses tiefe Schweigen und in einen unsichtbaren Mantel aus Unbestimmtheit.

Dieses wunderbare Haus, aus dem das Leben ausgezogen zu sein scheint. Die Ruhe – so sehr von beiden geschätzt – wirkt wie ein dunkles Tuch und erstickt die Lebendigkeit, die meistens anwesend war, solange das einzige Kind noch bei ihnen lebte. Jetzt ist es fort und Stille liegt in jedem Winkel, hängt im Raum bedrohlich schwer.

Sie seufzt. Warum hört er nicht auf? Eine vorübergehende Affäre hätte sie vielleicht doch noch einmal verzeihen können. Aber es nimmt kein Ende. Sie hatte im Urlaub mit ihm reden wollen. Fernab von zu Hause würde die Atmosphäre entspannt genug sein, einmal ganz ehrlich über alles zu reden. Dachte sie. Aber die Gelegenheit ergab sich nicht. Beide waren erfolgreich darin, keine Gelegenheit entstehen zu lassen, um miteinander zu reden.

Als sie wieder zu Hause waren, dachte sie, es wäre vielleicht eine Möglichkeit, die Existenz einer Geliebten im Leben ihres Mannes einfach zu akzeptieren. Einfach sicher nicht, denkt sie, aber mit der Zeit könnte sie sich vielleicht daran gewöhnen. Letztlich sitze ich am längeren Hebel, so überlegte sie wenige Tage nach der Rückkehr. Verheiratet und abgesichert fühlt sie sich. Außerdem muss ja niemand von dieser blöden Geschichte etwas wissen. Und ein Hasenfuß ist er ja sowieso. Niemals würde er am Gefüge seines bequem eingerichteten Lebens rütteln. Viel zu viel wäre zu regeln. Unannehmlichkeiten ohne Ende! Und in seinem Alter … Nein, sie war sich einige Tage ganz sicher, dass er es nicht wagen würde, sich von ihr zu trennen. Alles viel zu kompliziert, zu peinlich und beschwerlich.

Aber das lag nun schon ein paar Wochen zurück.

Draußen beginnt es zu regnen. Novemberwetter! „Das passt ja zur Stimmung“, flüstert sie und versucht erneut, den Kloß im Hals hinunter zu würgen. Ihre Augen sind feucht. Eine Träne kullert unerlaubt befreit über ihre Wange. Dabei will sie gar nicht mehr weinen. Wozu? Es ändert doch nichts. Immer noch fährt er zu dieser Frau, und sie erinnert sich an den Tag, als sie zum ersten Mal selbst dorthin gefahren war.

An einem warmen Sommertag war sie aufgebrochen und zielgerichtet dorthin gefahren. Als sie abfuhr hatte sie keine Ahnung, was sie dort wollte. Unterwegs erst entschied sie sich, mit dieser Frau zu reden. Sie war wild entschlossen, ihr gegenüberzutreten, ihr in die Augen zu sehen, wollte wissen, wer sie ist. Doch als sie in die Straße einbog, wo die Frau wohnt, verkrümelte sich der spärliche Mut und machte ängstlichem Unbehagen Platz.

So parkte sie ihren kleinen Wagen am Straßenrand in einigem Abstand von dem Haus, in dem ihr Mann mindestens einmal pro Woche für Stunden verschwand und danach seltsam beschwingt zu seinem Auto lief, um nach Hause oder in die Firma zu fahren. Sie überlegte noch, dass die Frau ja vielleicht gar nicht zu Hause war. Aber genau in der Sekunde öffnete sich die Tür und heraus trat eine sportliche Frau mit kurzem Haar und fröhlichen Augen. Sie trug den Abfall zur Mülltonne und schaute anschließend in den Briefkasten.

Eine hübsche Frau, das musste sie gestehen. Jünger? Das war auf diese Entfernung nicht einzuschätzen. Aber eine sympathische Person mit einer starken positiven Ausstrahlung.

Sie startete ihren Wagen und fuhr langsam an der Frau vorbei, die für einen ganz kurzen Moment von ihren Briefumschlägen aufsah und einen flüchtigen Blick mit ihr wechselte. Sekunden nur, aber gefühlt wie eine kleine Ewigkeit. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich enorm und sie fühlte sich, als wäre sie bei einer verbotenen Tat erwischt worden. Einige Meter hinter der Einfahrt zu jenem Haus trat sie auf das Gaspedal und verließ eiligst die kleine Straße im Wald.

Wieder zu Hause angelangt ging es ihr schlecht. Übelkeit lastete auf ihrem Magen und der Schädel schien explodieren zu wollen unter dem Druck tausender Gedanken. Diese Heimlichkeiten auf allen Seiten taten grauenvoll weh.

Warum hört er nicht auf damit? Sie selbst ist am Rande des Erträglichen angelangt. Nein, es muss endlich Schluss sein damit. Und sie fühlt plötzlich Hass in sich aufsteigen. Seit über einem Jahr macht er mir nun etwas vor, denkt sie zornig. Heuchelt den Treusorgenden, Pflichtbewussten, macht allen etwas vor und scheint nicht eine Sekunde daran zu denken, wie weh mir das tut. Glaubt er denn, ich bin blöd? Und was soll ich mit einem Mann, der aus bloßem Pflichtbewusstsein an meiner Seite lebt? Der nicht den Mut zur Aufrichtigkeit hat?

Liebe suche ich, brauche ich. Nähe, Zärtlichkeit und Geborgenheit will ich. Und was bekomme ich? Einen Mann, der nur noch bei mir ist, weil er meint, er muss.

Allmählich wird sie ruhiger. Das Herz schlägt friedlich, der Druck in ihrem Kopf lässt nach. Eine gefährliche Ruhe ergreift mehr und mehr Besitz von ihr. Oh, sie kennt diese Stimmung, in der sie – selten zwar in ihrem Leben, aber doch unvergessen – die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens traf.

Das Leben ist vorübergehend, denkt sie. Das ist normal. Krisen kommen und gehen und sind dazu da, Menschen daran wachsen zu lassen.

Affären können geschehen, wenn eine Ehe in Schieflage gerät. Seitensprünge tun dem Partner weh. Wenn eine Beziehung stark genug ist, ist eine Affäre, einen Seitensprung – sofern er vorübergehen und im Idealfall einmalig ist – vielleicht sogar heilsam.

Langsam richtet sie sich auf, nachdem sie geraume Zeit auf dem Sofa gelegen hat. Sie geht in die Küche, bereitet das Abendessen, wie gewohnt. Aber heute ist es doch anders. Heute wird sie dieses Ritual zum letzten Mal durchführen.

Plötzlich lächelt sie und stellt fest, dass ihre Ehe heute vorüber gegangen ist.

ENDE

BEGEGNUNGEN  - Komische Vögel und Zeitfreundschaften

Подняться наверх