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Brustmigration
ОглавлениеFrau Wilson, die gemeinsame Tochter und ich waren eingeladen. Die Schlacht um das Abendessen – leger und unverkrampft, jeder bedient sich am Küchenbuffet – war geschlagen. Alle saßen in netter Runde zusammen und unterhielten sich angeregt.
Alle? Nicht alle.
Einsam pilgerte ein Mann noch immer mehr oder weniger unauffällig in der Küche umher und naschte – ein Häppchen hiervon, ein Häppchen davon – die Reste vom Buffet.
Als ich noch immer kauend in die Runde zurückkehrte, war ein großes Palaver um BH-Größen in vollem Gange. Mit der gleichen Leidenschaft, mit der sich die Kerle vor dem Essen über Fußball unterhalten hatten, widmeten sich die Damen in der Runde der Diskussion um BH-Größen.
Die meisten Männer wissen die weibliche Oberweite lediglich wie folgt zu klassifizieren:
Platt wie ein Brett, zwei gute Hände voll und Boah ey!
Wahre Größe zeigt sich oft auf vielfältige Weise.
Unsere Frauen warfen sich gegenseitig – nein, keine BHs, sondern Zahlen- und Buchstabenkombinationen an die Köpfe. Wir Kerle saßen staunend und wortkarg daneben und ließen den genannten Zahlen- und Buchstabencodes nicht etwa abschätzige, sondern abschätzende Blicke auf die Dekolletés der angesprochenen Weiblichkeit folgen. Der Name einer Internetseite mit dem gleichermaßen frag-, merk- und denkwürdigen Namen „Busenfreundinnen“ fiel, woraufhin sich der Gleichstellungsbeauftragte unserer Runde nach der Existenz des männlichen Pendants erkundigte.
Weitestgehend ahnungslos und unbedarft besuchte ich am nächsten Tag die Busenfreundinnen auf ihrer Website. Große Mythen und Mysterien ranken sich offensichtlich rund um die weiblichen Rundungen. Es scheint, so man nicht Dessous-Fachberater, Wäschedesigner oder Frau ist, eine Wissenschaft zu sein.
Ein Blick in die Themenauswahl der Busenfreundinnen verdeutlichte mir, dass Frauen den Kauf ihres Büstenhalters eben nicht nach dem Motto „Husch husch ins Körbchen“ über die Bühne bringen, sondern dass ein mitunter bedeutsamer Entscheidungsprozess im weiblichen Gehirn in Gang gesetzt wird, der weit über die gängigen Miederwarenklischees hinausgeht. Es soll sogar Frauen geben, die ihren Brüsten Namen geben. Harte Schale(n), weicher Kern.
Ich staunte über nie zuvor gehörte und womöglich inhaltsschwere Begriffe wie Bra-Fitting, Balconette und Minimizer und erfuhr, dass Brötchen nicht immer etwas mit Backwaren gemein haben müssen.
Die Busenfreundinnen diskutierten Fragen, von denen ich niemals ahnte, dass sie sich überhaupt stellen könnten.
Das philosophische Potential der Frage „Wo ist meine Brust zu Ende?“ offenbarte sich mir anfänglich nur sehr zögerlich, dann aber umso gewaltiger. Letztendlich kam ich dann doch nicht über die Plattitüde hinaus, dass jedem Anfang auch ein Ende inne wohnen müsse.
Wenn Sie nicht schon alles über die weibliche Brust zu wissen glauben und nicht ohnehin regelmäßig als Brustexperte zu TV-Diskussionsrunden bei deutschen Spartensendern eingeladen werden, möchte ich Ihnen ein Ereignis ans Herz legen, welches Ihr Leben möglicherweise maßgeblich beeinflussen, wenn nicht gar umkrempeln wird, so Ihnen dessen Existenz bislang verborgen blieb: das sagenumwobene Phänomen der Brustmigration.
Der und vor allem dem geneigten, aber dennoch Brustunkundigen drängen sich mindestens drei Fragen auf:
Was mag eine Brust bewegen, ihre Heimat zu verlassen, um ihren Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort zu verlegen, wo ist dieser Ort und was soll der Unsinn?
Lassen Sie uns der mysteriösen Brustmigration unwissenschaftlich, unbedarft und dilettantisch nähern:
Die Brüste wandern weder aus freien Stücken noch in einem Stück am Körper umher. Zu klein gewählte Büstenhalter und Körbchen verdrängen die Brüste von dem ihnen biologisch zugewiesenen Ort und so pilgert Brustgewebe in die Achselhöhle und bisweilen sogar auf den Rücken. Erschwerend kommt hinzu, dass anscheinend nicht immer von einer Synchron-Migration ausgegangen werden kann. Spätestens, wenn die Brustbesitzerin ihre Brüste nur mittels Blick über ihre Schulter betrachten kann, ist es angeraten, der Umtriebigkeit der ausgebüxten Schlawiner entgegenzuwirken, was indes nicht allein durch gutes Zureden gelingen wird. Nur mit der Aussicht auf einen gut sitzenden und geräumigen BH können die Brüste überzeugt werden, handstreichartig aus ihrem Exil an ihren ihnen zugedachten Platz, der sich üblicherweise in einer Zone irgendwo zwischen Hals und Bauchnabel befindet, zurückzukehren, um dort fortan formschön, prachtvoll und mitunter größer denn je bis an ihr Lebensende prangen – Brüste mit Migrationshintergrund.
Was nach mindestens einem Migrationsbeauftragten geradezu schreit und den einen oder anderen Filou einen Migrationsgipfel unter Berücksichtigung der von der EU noch festzusetzenden Frauenquote fordern lässt, ist letztendlich nichts anderes als das Fazit meines Ausflugs in die geheimnisvolle Welt der Oberweiten:
Nicht jeder BH vermag zu halten, was er augenscheinlich verspricht.