Читать книгу Hätschelkind - Wimmer Wilkenloh - Страница 6
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ОглавлениеSwensen erwacht wie immer kurz bevor der Wecker klingelt. Fünf vor halb sechs. Er kann sich auf seine innere Uhr verlassen. Vom Sturm und Regen draußen ist heute nichts mehr zu hören.
Vielleicht können wir ja endlich einen Hubschrauber einsetzen, denkt er und lässt die letzten beiden Tage noch einmal Revue passieren.
Am Samstagmittag war der Einsatzwagen im Watt vor St. Peter-Ording gewesen. Doch die Beamten konnten nichts Verdächtiges finden und auch kein Anlieger hatte etwas Ungewöhnliches gesehen. Obwohl das Wetter sich genauso mies wie am Vortag präsentierte, war er am Sonntag selbst noch einmal vor Ort gewesen. Sein Marsch durchs Watt förderte aber genauso wenige Erkenntnisse ans Licht wie der seiner Vorgänger. Trotzdem war er hinterher zufrieden. Er hatte immerhin zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: erstens überzeugte er sich, dass wirklich nichts übersehen worden war und zweitens konnte er die Suche nach der Leiche vorschieben, um nicht noch mal auf Annas Theodor-Storm-Symposium erscheinen zu müssen. Seinem schlechten Gewissen hatte er schon vor der Abfahrt zu der Wattermittlung vorgebeugt und sich mit ihr beim gemeinsamen Lieblings-Italiener zum Abendessen verabredet. Und um sie zusätzlich milde zu stimmen, hörte er dann auch geduldig alle ihre Geschichten von dem angeblichen Brief Fontanes an, mit dem Wraage die Existenz des Storm-Romans beweisen wollte. Allerdings war ihr Wunsch, die Nacht nicht mit ihm zu verbringen, eher ein Zeichen dafür, dass sie noch schmollte.
Nach der kalten Dusche am Montagmorgen ist Swensen hellwach. Im Wohnzimmer entzündet er ein Räucherstäbchen, legt eine CD mit Mantras vom Lama Gyurme auf, zieht das Meditationskissen in die Mitte des Raums und versucht darauf den Lotossitz einzunehmen. Die Kissenfüllung aus Buchweizenhülsen knirscht leise unter seinem Hintern. Swensen schließt die Augen. Die feinen Schwingungen des Obertongesangs wollen heute einfach nicht in ihn hineinfließen. Er merkt, wie sich seine Stirn allmählich in Furchen legt.
Alles noch mal zurück auf Los! Störende Gedanken liebevoll zur Seite schieben. Genau! Und jetzt beginnen sie sich langsam in einem orangenen Licht aufzulösen.
Bis auf die Fotos gibt es einfach nicht das geringste Anzeichen für eine Leiche.
Swensen etwas mehr Gelöstheit! Beobachte deine Gefühle!
Außerdem wird schließlich keine Frau im Husumer Umfeld vermisst.
Lass endlich los, Swensen!
Oder ob das Ganze mit den Fotos nur ein übler Scherz ist?
Nach einem kräftigen Fußtritt trudelt das Meditationskissen in die Zimmerecke zurück und der Anlage wird ärgerlich der Saft abgewürgt.
Zwanzig Minuten später steuert der Kommissar über den Flur der Polizeiinspektion auf sein Büro zu. Vor der Frühbesprechung um acht ist noch etwas Zeit. Nachdem er seine Regenjacke in den Schrank verstaut hat, schnappt er sich die Packung mit dem grünen Tee und geht gleich gegenüber in den Gemeinschaftsraum um sich eine Kanne aufzubrühen. Punkt acht sitzt er, die dampfende Tasse Tee vor sich, im Konferenzraum. Das anfängliche Gefeixe seiner Kaffeekollegen, warum er denn unbedingt heißes Wasser trinken muss oder weshalb er Haschisch nicht wie jeder normale Kiffer raucht, ist schon lange verstummt.
»Hat jemand Peter Hollmann gesehen? Warum ist er noch nicht da?«
Heinz Püchel knöpft sein tadellos sitzendes Galliano-Jackett auf und blickt demonstrativ in die Runde.
Wie immer einen Hauch zu dramatisch, denkt Swensen, der seinem zirka fünfzehn Jahre jüngeren, etwas klein geratenen Chef in solchen Situationen etwas mehr Gelassenheit wünscht.
»Hat wahrscheinlich Grippe!«
Susan Biehls Stimme schwebt wie ein gregorianischer Gesang durch den Raum. Die Blondine von der Anmeldung ist gerade einundzwanzig geworden und erst seit drei Monaten in der Inspektion.
»Er geht heute Morgen noch zum Arzt. Hörte sich am Telefon aber schon so an, dass wir ihn erst mal eine Zeitlang nicht sehen werden.«
Ob die allgemeine Heiterkeit, die plötzlich in der Runde herrscht, nun durch Susans Formulierung oder ihre Säuselstimme hervorgerufen wird, kann Swensen nicht entscheiden.
»Okay!«
Püchel schlägt mit dem Kugelschreiber auf den Tisch.
»Was ist mit der Leiche vor St. Peter, Jan?«
»Stephan hatte Dienst, ich bin nur dazugekommen. Erzähl du was passiert ist.«
Swensen guckt zu Mielke rüber.
»Am Samstag wurden uns in einem Umschlag mehrere Fotos einer Frauenleiche zugeschickt.«
Stephan Mielke öffnet eine Mappe und verteilt die Abzüge auf dem Tisch.
»Kein Absender auf dem Umschlag. Abgestempelt am Freitag in Hamburg. Nachforschung am mutmaßlichen Fundort hat bis jetzt nichts ergeben. Keine Leiche. Niemand hat etwas gesehen und gehört. Deshalb haben wir auch Flensburg noch nicht hinzugezogen.«
»Dazu kommt, dass keine Frau in unserem Umfeld vermisst wird«, ergänzt Swensen und Stephan Mielke fährt fort.
»Dann war das Wetter, wie ihr ja alle wisst, hundsmiserabel. Wir konnten noch nicht mal einen Hubschrauber zur Suche raufschicken.«
»Na, heute klappt das bestimmt!«
Heinz Püchel beugt sich mit den anderen über die Fotos und Swensen bemerkt: »Wir gehen erst einmal davon aus, dass die Bilder echt sind. Mit dem bloßen Auge sind zumindest keine Manipulationen zu erkennen, aber ich lasse sie noch einmal von einem Spezialisten überprüfen.«
Rudolf Jacobsen wiegt seinen Kopf hin und her.
Professionelle Abzüge! 20 x 30 in Schwarzweiß! Wer macht denn so was heutzutage noch?«
Stephan Mielke zuckt die Achseln.
»Wahrscheinlich privat abgezogen«, fährt Rudolf Jacobsen fort. »Oder in einem Spezialstudio. Ich bin zwar nicht der begnadete Fotoexperte wie unser kranker Kollege Hollmann, aber wenn jemand Schwarz-Weiß-Bilder hier in Husum in Auftrag gegeben hat, ist das bestimmt aufgefallen.«
»Vielleicht sollten wir sicherheitshalber in allen Fotoläden nachfragen!«
Püchel hebt den Kopf und blickt zu Silvia Haman, die mit ihren einmeterneunzig selbst im Sitzen die Männerrunde deutlich überragt.
»Wäre das nichts für dich, Silvia?«
Die dunkelblonde Beamtin grinst übers ganze Gesicht.
»Aber sicher Heinz! Eine verantwortungsvolle Aufgabe für eine Kommissarin im besten Alter.«
Püchel verzieht genervt seinen Mund und brummelt kaum hörbar.
»Einer muss es ja machen!«
»Du meinst eine muss es ja machen!«
Püchel blickt flehend nach oben.
»Noch gibt es bei der Kriminalpolizei keine Frauenquote für die Befragungen in Fotogeschäften, liebe Kollegin Haman.«
»Dafür gab es hier schon immer eine Männerquote für dumme Sprüche!«
»Wie wär’s, wenn ihr beide einfach wahrnehmt, dass ihr Mann und Frau seid!«
Jan Swensen Stimme hat mit einem Mal eine sanfte Bestimmtheit. Doch als die beiden ihn daraufhin verständnislos ansehen, knurrt er: »Leute, könnt ihr euer Mann-Frau-Gerangel nicht nach Feierabend austragen?«
»Genau meine Rede!«
Heinz Püchel füllt seine Brust hörbar mit Luft.
»Wir müssen die mutmaßliche Leiche finden und dazu dürfen wir noch eine unerledigte Brandstiftung, zwei Körperverletzungen und Einbrüche aufklären! Swensen übernimmt vorerst die Fotoleiche, Mielke und Haman bleiben mit dran. Ich kümmere mich um den Hubschrauber. Der Rest weiß was er zu tun hat. Also, an die Arbeit, Kollegen und liebe Kollegin!«
In dem jetzt einsetzenden Gemurmel und Stühlerücken gibt Swensen per Handzeichen Stephan Mielke zu verstehen, dass er noch warten soll.
»Sag’ mal, Stephan, wie heißt noch der junge Neue bei den Streifenkollegen, dieser Computerfreak?”
»Jan-Erik Metz!«
»Gibt es Irgendetwas, wovon ich nichts wissen soll?«
Silvia Haman hat sich von hinten an die beiden Männer herangepirscht. Stephan zuckt erschreckt zusammen und dreht sich ärgerlich um.
»Nein, liebste Silvia!«, zischt er aufbrausend. »Wir arbeiten hier nicht beim Geheimdienst.”
»Und warum dann dieses konspirative Treffen, null null Mielke?«
»Silvia!« Mielkes Augen blitzen zwischen den leicht zusammengekniffenen Lidern. »Ich gebe ja zu, dass vor 6000 Jahren der Ackerbau von den Männern übernommen wurde und die Frauen sich deshalb mucksch hinter den Herd zurückzogen haben. Aber heute ist heute. Frauen dürften in der Zwischenzeit immerhin so qualifiziert sein, dass sie die Stelle einer Kriminalbeamtin auch ohne Komplexe ausfüllen können, oder?«
Silvia Haman starrt Mielke fassungslos an, ringt angestrengt nach einer Antwort, doch ihre sprichwörtliche Schlagfertigkeit scheint wie weggeblasen.
»Und noch eins, Silvia, und das gilt ein für alle Mal. Selbst wenn ich noch nicht lange dabei bin, sehe ich den IQ-Quantensprung ins kriminaltechnische Zeitalter für Frauen als abgeschlossen an.«
»Das versteh’ ich nicht.«
Silvia dreht sich Hilfe suchend zu Swensen. Der zuckt nur stumm mit den Achseln und es entsteht ein drückendes Schweigen. Er ist über Mielkes unvermittelten Ausbruch irritiert. Er hatte ihn in der kurzen Zeit ihrer Zusammenarbeit immer als eher unsicher erlebt. Warum plötzlich dieser vehemente Angriff gegen Silvia? Wie ist Mielkes Beziehung zu Frauen eigentlich, hat er überhaupt eine Beziehung? Im Grunde wissen wir nichts voneinander. Obwohl wir so viel Zeit miteinander verbringen, arbeiten wir meistens nur nebeneinander her.
Einsamkeit ist der Wassertropfen im Meer. Der Satz seines Meisters Lama Rhinto Rinpoche fällt Swensen ein und sein Blick verliert sich im Leeren. Er sieht sich, wie er vor über 30 Jahren mitten in einem buddhistischen Tempel eines kleinen Schweizer Dörfchens meditiert. In Hamburg hatte er kurz zuvor ein Philosophiestudium begonnen und war gerade im dritten Semester, als einige Kommilitonen ihn mit dem Spruchband ›Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren‹ aus seinem Studentenschlendrian befreiten. Ab da schaffte er nur noch weitere drei Semester und die 68er hatten ihm seine drohende spießige Karriere ausgeredet. Er schmiss sein Studium, wollte unbedingt seinem bürgerlichen Trott entfliehen um sich dann für drei Jahre in einer noch festeren Norm wieder zu finden. Vor Tagesanbruch aufstehen, waschen, zwei Stunden meditieren, Frühstück, wieder meditieren, Mittagessen und so weiter, Tag für Tag, Woche für Woche.
Bleib achtsam, sagt eine innere Stimme. Intuitiv bemerkt er im Augenwinkel, wie Mielke Luft holt, um zu einer wahrscheinlich neuen Attacke gegen Silvia anzusetzen. Mit ruhiger Stimme kommt Swensen ihm zuvor.
»Ich würde mich freuen, wenn wir in Zukunft bei der Arbeit alle ein wenig mehr in uns ruhen könnten.«
Um die Wirkung seiner Worte zu unterstützen setzt er eine gezielte Pause.
»Momentan haben wir genug andere Dinge zu tun, als die Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu ergründen.«
Dann dreht er sich zu Silvia.
»Außerdem können wir uns die abtörnende Klappertour durch die Fotoläden der Provinz ja teilen. Du fährst nach Heide rüber und ich mache Husum.«
»Und was wolltest du jetzt von Metz?« fragte Stephan Mielke sichtlich entspannter.
»Mir ist die Idee gekommen, das Foto von der Leiche im Computer so weit bearbeiten zu lassen, dass wir ein brauchbares Fahndungsfoto veröffentlichen können.«
»Klar, selbst wenn wir die fehlenden Augen nicht 100%ig rekonstruieren, reicht es vielleicht aus, dass jemand die Frau erkennt! Ich schätze, der Metz kriegt das ziemlich schnell hin.«
Mielke stürmt los, Swensen und Silvia Haman hasten hinterher. In der Flurmitte werden sie von Heinz Püchel gestoppt.
»Übrigens, das mit dem Hubschrauber wird auch heute nichts! In Flensburg ist der Hund los, aber das habt ihr sicher schon selber im Fernsehen mitbekommen. Es geht um die kleine Beatrix aus Glücksburg, die seit drei Tagen vermisst wird. Im Moment brauchen die da oben alle Dinger, die sie kriegen können.«
Bei dem Namen Beatrix durchzuckt das Fernsehbild der Eltern Swensens Kopf. Tagesthemen, Sonntagabend 23 Uhr 15. Das Ehepaar steht benommen hinter einem Mikrofonwall.
»Wenn du uns hörst, Beatrix, Bleib stark! Wir suchen so lange, bis wir dich finden!«
Nach dem Essen mit Anna hatte Swensen den Fernseher wegen der Nachrichten angeschaltet. Wie aus dem Nichts sprang ihn das geballte Leid an. Bei dem Fall Beatrix waren seine Augen feucht geworden und er ertappte sich dabei froh zu sein nichts mit dem Fall zu tun zu haben. Zuständigkeitsbereich Flensburg.
»Na, Hauptsache sie finden die Kleine.«
Swensen spürt, wie ihm bei den Gedanken an die Zuständigkeit der Flensburger Kollegen das schlechte Gewissen in den Nacken schleicht.
»Ja, und nun?« fragt Püchel etwas irritiert. »Wir können hier doch nicht einfach abwarten und Tee trinken!«
»Was sollen wir denn machen? Die Kollegen vom Wasserschutz kommen nicht weit genug ins flache Watt. Außerdem kann man eine im Wasser schwimmende Leiche von einem Boot aus sowieso kaum sehen.«
Swensens Ausführungen machen Püchel sichtlich nervös. Er zieht hastig seine Zigaretten aus der Jackentasche und zündet sich eine davon an.
»Dazu kommt, dass es nicht klar ist, wohin sie durch die Gezeitenströmung und bei dem Unwetter am Wochenende getrieben worden ist. Vielleicht müssen wir einfach solange warten, bis die Frau irgendwo angeschwemmt wird. Aber diesbezüglich kennen sich die Kollegen vom Wasserschutz bestimmt aus. Die ›Sylt‹ liegt im Husumer Hafen. Ich ruf da einfach mal an. Es wird sowieso höchste Zeit, dass wir mal langsam die Küstenpolizei informieren!«
»Ja, Jan mach das!« Keine 10 Sekunden und Püchel ist schon von einer großen Wolke umgeben. Swensen weicht automatisch zurück, näher an Silvia Haman und Stephan Mielke heran, die sich auch schon auf Distanz begeben haben.
»Macht das mit dem Foto bitte schon mal allein, ich geh’ erst mal telefonieren und komm dann gleich nach.«
»Danke, Jan! Ich sehe, die Sache ist bei dir gut aufgehoben.«
Im selben Moment ist Püchel wieder in seinem Büro verschwunden, nur sein Zigarettenrauch steht noch im Raum und schwebt in feinen Spiralen langsam zur Decke.
* * *
Es ist zehn Uhr vorbei. Feierabend. Gerade hat er die Eingangstür seiner Videothek verschlossen, die Kasse geöffnet und begonnen, die Einnahmen zu prüfen. In dem Moment, als er das Kassenbuch aus der Schublade nehmen will, dringt ein leises Stöhnen an sein Ohr.
Der Laden besteht aus drei ehemaligen Zimmern, die er durch das Aushängen der großen Durchgangstüren zu einer Gesamtfläche vereint hat.
Das absonderliche Geräusch kommt eindeutig aus dem hintersten Raum. Er merkt, wie die Angst ihn unwillkürlich im Nacken packt und spürt dabei gleichzeitig den zwanghaften Drang nachzusehen. Irgendetwas treibt ihn voran, Schritt für Schritt. Im schummrigen Licht schweben die grellbunten Kassettencover in den Regalen an seinen Augen vorbei, erst die üblichen Hollywoodstars in ihren Heldenposen, dann die unbekannten Mädchen mit den gespreizten Schenkeln. Hier hinten ist das Geräusch mit einem Mal verstummt. Dafür bemerkt er eine Tür in der Wand, die ihm bis heute noch nie aufgefallen war. Mit den Händen fegt er die Pornokassetten vom Regal, die wild durcheinander zu Boden poltern. Ein Griff wird sichtbar. Doch bevor er ihn herunterdrücken kann, springt die Tür auf. Wie besessen reißt er einige Regalbretter aus der Verankerung und zwängt sich mühsam durch die entstandene Lücke. Eine schmale Treppe führt nach oben ins Dunkle. Das Holz knarrt unter seinem Gewicht. Er ertastet ein Loch in der Decke. Vorsichtig hebt er seinen Kopf über die Kante und blickt in einen großen Saal. Ganz am anderen Ende dringt ein schwaches, flackerndes Licht durch die Ritzen eines mächtigen Samtvorhangs.
Ein Kino, durchzuckt es ihn. Nein, ein Marionettentheater, genau, das kann nur das Marionettentheater aus Storms ›Pole Poppenspäler‹ sein.
Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er kann die purpurrote Farbe des Stoffes erkennen.
»Komm herbei, Hajo Peters, komm herbei!«, krächzt eine unwirkliche Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Trotzdem wird er von ihr willenlos angezogen.
»Ja, Peters, hierher! Hierher du erbärmlicher Feigling!«
Schrecken und Neugier kämpfen in ihm. Jetzt steht er direkt vor dem Vorhang, genau in der Mitte, wo sich beide Hälften treffen. Seine Hände dringen durch den Spalt und teilen ihn. Vor ihm, auf Augenhöhe, baumelt an feinen Schnüren aufgehängt eine Holzfigur. Sie trägt einen gelben Nankinganzug und ihr Kopf ist vornüber gesunken. Die Nase, die groß wie eine Wurst ist, liegt auf der Brust.
»Der Kasperl!«, stammelt er. Da hebt sich ruckartig der Kopf der Marionette.
»Freili, der is allimal dabei!«
Die Figur klappt ihren hölzernen Mund auf und zu und das Holz knackt dabei wie eine alte Eule mit ihren Kinnbackenknochen.
»Bist also kommen um auch noch deinen alten Freund zu bestehlen? Peters du elender Dieb!«
In Panik schließt er den Spalt. Sein einziger Gedanke ist Flucht. Doch bevor er sich umdrehen kann, geht ein helles Licht an. Im selben Moment öffnet sich der Vorhang und die Vorstellung beginnt mit einem Gong. Der Kasperle auf der Bühne wirkt auf einmal noch größer und lebendiger. Unter seinem rechten Arm klemmen die Pappdeckel mit den Romanblättern des Theodor Storms.
»Wie kommst du Wicht an mein Eigentum!?«, schreit er zornig und stürzt sich auf die Holzfigur, um ihr die Schriftstücke zu entreißen. Doch Kasperles Arm ist hart wie Eisen. Er zerrt aus Leibeskräften an der Umklammerung. Auf einmal tut es einen leisen Krach im Innern der Figur.
»Mörder!«, kreischt eine Frauenstimme hinter ihm. Entsetzt fährt er herum. Vor ihm steht Edda und hält ihm eine Pistole unter die Nase.
»Woher hast du die Waffe?«
»Aus deiner Schublade, unten im Laden!«
»Edda, so lass dir doch alles erklären!«
»Was willst du noch erklären, Hajo? Einmal Mörder, immer Mörder!«
»Nein, das ist doch alles so nicht wahr! Neiiiin!!!«
Schweißgebadet schießt er im Bett hoch. Seine Augen tasten durch den dunklen Raum. Keine Edda, kein Kasper, kein Theater, nur sein Schlafzimmer. Benommen sieht er auf die Leuchtanzeige des Weckers, drei Uhr fünfzehn. Der Sekundenzeiger scheint zu stehen. Langsam dämmert es ihm, dass er nur einem Albtraum entkommen ist. Die nächste halbe Stunde verbringt er mit dem Versuch, wieder einzuschlafen. Er wirft sich ärgerlich von einer Seite auf die andere. Es nützt nichts, er ist und bleibt hellwach.
Wo ist sie bloß geblieben, die Edda, denkt er und macht für diese Ungewissheit seine Dämonen in der Nacht verantwortlich. Tag für Tag hatte er in der letzten Woche jede Zeitung, die ihm unter die Finger kam, nach einer Nachricht über einen Leichenfund im Watt durchgeforstet, ohne Erfolg. Edda bleibt wie vom Erdboden verschwunden.
Das unerwartete Vakuum verunsichert ihn zutiefst. Manchmal hat er das Gefühl, als fiebere er der Entdeckung förmlich entgegen.
»Höchste Zeit, dass der Trubel endlich losgeht«, murmelt er und steigt aus dem Bett. Nachtwandlerisch tappt er durch die Dunkelheit bis in die Küche, öffnet den Kühlschrank und greift sich eine Flasche ›Flens‹. Mit dem rechten Daumen schnippt er den Bügelverschluss auf und nimmt einen kräftigen Schluck. Der Alkohol wirkt sofort. Er lässt sich rückwärts auf das Sofa fallen. Ohne abzusetzen fließt der Rest der Flasche durch seine Kehle. Eine wohlige Wärme breitet sich im Körper aus und er starrt grübelnd durch das Fenster in die Nacht hinaus. Nur die feine Mondsichel blitzt einmal kurz hinter pechschwarzen Wolken hervor.
Bald ist Neumond, denkt er beiläufig, während eine düstere Ahnung in ihm aufsteigt.
Eins ist sicher, irgendwann werden sie vor der Tür stehen!
In der ersten Zeit war er bei jedem Geräusch zusammengezuckt und dachte, dass die Polizei an seiner Wohnungstür klingeln würde. Doch nichts passierte.
Dabei fühlt er sich bestens präpariert. Er hat sich seine Antworten genau überlegt, ist sie sorgfältig immer wieder durchgegangen.
»Edda, natürlich kenn’ ich Edda Herbst! Die arbeitet schließlich bei mir in der Videothek.«
»Wann ich sie das letzte Mal gesehen hab? Lassen Sie mich nachdenken. Das muss vorige Woche Montag gewesen sein. Genau, das war Montag, der 13. November.«
»Woher ich das so genau weiß? Weil sie am nächsten Tag für drei Wochen in Urlaub gehen wollte. Warum fragen Sie denn das alles?«
»Was, sie ist tot? Das ist ja entsetzlich! Ich kann das gar nicht glauben, die arme Edda. Was ist denn passiert?«
»Ertrunken im Watt. Furchtbar. Sie war so ein fröhlicher Mensch. Was für ein schrecklicher Unfall!«
Edda, Edda, Edda! Scheiße, kriege ich dieses dämliche Weibsbild denn überhaupt nicht mehr aus dem Kopf, denkt er. Während er sich eine zweite Flasche holt, fühlt er Zorn auf die tote Frau. Er setzt die Flasche an den Mund und leert auch sie in einem Zug. Doch die quälenden Bilder der Mordnacht wollen einfach nicht verschwinden.
Da liegt sie wieder deutlich vor ihm, in ihren klitschnassen Klamotten auf dem Bauch in der Wanne, nachdem er das Wasser abgelassen hatte. Über eine halbe Stunde saß er regungslos auf dem Wannenrand und sah auf den toten Körper, aus Angst, Edda könne plötzlich doch noch aufstehen. Dann gab er sich einen Ruck, bewegte langsam seine Hände, dann seine Füße. Er schwankte in die Küche und setzte sich bewusst auf den Stuhl, auf dem er schon vor der Tat gesessen hatte. Wie von selbst entwarf etwas in seinem Hirn einen Plan. Eddas Haus war ein kleines, heruntergekommenes Ziegelsteinhaus, das dicht an dicht mit anderen Häusern an einer Durchfahrtsstraße lag. Glücklicherweise gab es auf der rechten Seite einen kleinen kopfsteingepflasterten Innenhof. Da sah er seine Chance. Er räumte sein Besteck und Geschirr vom Tisch, wusch es ab, verstaute alles im Küchenschrank und verließ das Haus durch den Nebeneingang zum Hof um ihn gründlich zu inspizieren. Ein Auto hatte hier bequem Platz. Die Wand vom Nebenhaus hatte keine Fenster. Ein großes Holztor versperrte den Blick zur Straße. Das müsste klappen. Er wusste, dass Edda allein lebte, von ihrem Freund hatte sie sich vor zirka einem halben Jahr getrennt. Ihr Beziehungsstress war häufig Thema am Arbeitsplatz gewesen. Danach hatte sie nie von einer neuen Affäre gesprochen. Ihre Eltern waren schon vor Jahren bei einem Unfall umgekommen, weshalb sie auch dieses Haus besaß. Bis auf ein paar entfernte Bekannte würde sie nach seiner Überzeugung erst mal niemand vermissen.
Beste Voraussetzungen also, dachte er, um sie bis heute Nacht einfach hier liegen zulassen.
Dass Edda durch irgendeinen blöden Zufall gefunden werden könnte, blieb sein Restrisiko, ein Risiko, dass allerdings nicht sehr groß war. Jetzt brauchte er nur noch den Tag wie immer ablaufen zu lassen. Pünktlich öffnete er seine Videothek. Nachdem er den ganzen Tag seinen Job so unauffällig wie möglich durchgezogen hatte, fuhr er nach Hause. Dort wartete er bis es drei Uhr war. Um diese Zeit, das wusste er genau, sind Husums Straßen so gut wie ausgestorben. Nur das Mondlicht verursachte ihm ein mulmiges Gefühl im Magen. Es überzog die ganze Stadt mit einem weißlich hellen Schein.
Wie ein Leichentuch, dachte er und geriet in der Kurve zum Binnenhafen sogar einige Sekunden in Panik, dass man ihn heimlich beobachten könnte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Er bog rechts in die Deichstraße, stoppte und schaute sich um. In der gesamten Häuserreihe waren alle Fenster dunkel. Niemand war weit und breit in Sicht. Er stieg aus, öffnete das Holztor und bugsierte seinen alten Bundeswehr-Jeep rückwärts in Eddas Hof.
Er erwacht gegen neun Uhr völlig verdreht auf dem Sofa. Ein stechender Schmerz zieht sich vom Nacken hinauf in seinen Hinterkopf. Benommen schleicht er ins Bad und sieht ein bleigraues Gesicht mit tiefen Rändern unter den Augen, das ihm aus dem Spiegel entgegen blickt. Erst als er seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl hält, kommt er langsam wieder zu sich.
Dreißig Minuten später parkt er seinen Wagen in der Süderstraße, genau gegenüber der Videothek. Als er die Eingangstür öffnet, steckt die ›Husumer Rundschau‹ schon im Briefschlitz. Der beleuchtete Getränkeschrank wirft ein fahles Licht an die gegenüberliegende Wand. Er legt die Zeitung auf den Tresen, dessen Umrisse er im Halbdunkel gerade noch erkennen kann und nimmt sich eine Fanta. Dann knipst er Licht an und erschrickt unwillkürlich. Die Räume haben sich in seinen Traum aus der vergangenen Nacht verwandelt. Mit einem mulmigen Gefühl fingert er seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schließt die Tresenschublade auf. Sein Herz pocht bis zum Hals. Neben dem Kassenbuch liegt seine ›Walther 7,65 mm‹, wie immer. Auch wenn er eigentlich nichts anderes erwartet hatte, braucht er längere Zeit, bis er sich wieder ganz beruhigt hat. Er ist zutiefst erstaunt, wie schnell ihn so ein Hirngespinst aus der Bahn werfen kann. Irgendwie muss er sich jetzt selbst etwas beweisen. Demonstrativ durchquert er den gesamten Laden bis in den hintersten Raum und zurück.
So, das Thema ist endgültig abgehakt, denkt er, nimmt eine Getränkedose und reißt sie auf. Als er sie gerade an den Mund setzen will, fällt sein Blick auf die Titelseite der Zeitung.
Mädchen bleibt verschwunden. Trotz intensiver Suche der Flensburger Polizei gibt es weiterhin kein Lebenszeichen von der kleinen Beatrix aus Glücksburg.
Ich werde nie begreifen, wer so was fertig bringt! Wie kann man sich nur an einem kleinen Mädchen vergreifen, denkt er, als wenn jemand in seinem Kopf einen Hebel umgelegt hat.
Solche Menschen sind doch krank. Der wusste 100%ig, was er gemacht hat.
Aufgebracht schlägt er die Zeitungsseiten um. Er freut sich über seine Wut, sie erzeugt ein gutes Gefühl im Bauch.
Was ist meine Tat gegen so etwas Abscheuliches. Ich bin da schließlich nur wegen ein paar fehlender Kröten reingeschlittert. Und überhaupt ist das Ganze sowieso nicht zu vergleichen!
Da werden seine Gedanken jäh gestoppt. Gerade hat er den Lokalteil der Zeitung aufgeschlagen. Knallhart springt ihm seine Realität ins Auge. Ein Bild von Edda.
Wer kennt diese Frau? Für sachdienliche Hinweise wenden Sie sich bitte an die Husumer Kriminalpolizei.
Woher haben die ein Bild von Edda, schießt es ihm durch den Kopf. Wieso steht da nichts von einer Leiche? Wenn sie ein Bild haben, müssen sie doch eine Leiche haben!
Fragen, die auf ihn einstürmen, aufdringlich und beklemmend zugleich. Doch so sehr er auch nachdenkt, logische Antworten bleiben ihm verborgen. Hilflos trommelt er mit den Fingern auf der Tischplatte. Seine Schläfen schmerzen. Er fühlt ein zentnerschweres Gewicht auf seinen Schultern. Alles, was er sich zurechtgelegt hatte, kann er ab sofort vergessen. Ihm ist klar: er muss unbedingt handeln. Wenn er nicht in Kürze die Polizei informiert, wird man über kurz oder lang rauskriegen, dass Edda bei ihm angestellt ist. Dann tauchen sie auf und werden ihm sehr unangenehme Fragen stellen.
Also, los! Angriff war noch immer die beste Verteidigung!
Er nimmt sein Handy und wählt die Nummer der Husumer Kriminalpolizei.
* * *
Kurz hinter der Post kommt erst der Bertelsmann Bücherclub und dann der Fotoladen Adolf Dallmann. Im Vorbeigehen bleibt Swensens Blick am Schaufenster hängen. Die großen gerahmten Hochzeitsbilder waren noch in wärmeren Zeiten entstanden, wahrscheinlich im hiesigen Schlosspark. Swensen muss unwillkürlich grinsen. Auf dem Farbfoto unten rechts hat die Braut sich in ihrem weißen Samt ausladend ins Gras gehockt und der Bräutigam steht in Siegerpose hinter ihr wie ein Großwildjäger, der mit seiner erlegten Trophäe abgelichtet wird.
Das Bild macht ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er merkt, dass seine Abneigung gegen das Heiraten und die Ehe für ihn immer noch ein Thema zu sein scheint. Frauen in Brautkleidern haben für ihn etwas zutiefst bürgerliches, etwas wovon er sich sein Leben lang beharrlich abgrenzen wollte. Doch das Hochzeitsfoto, das ahnt er, ist nicht der Auslöser für sein mulmiges Gefühl. Es erinnert ihn nur an den gestrigen Abend, an dem Anna seine Hand nahm, ihn mit großen Augen ansah und fragte, ob er sich vorstellen könne mit in ihr Haus einzuziehen. Er hatte die Hand fast reflexartig zurückgezogen. Die Frage kam ihm vor wie ein Skalpell, das brutal in seinen gewohnten Alltag eindringen wollte, in seinen morgendlichen Blick aus dem Fenster, in seinen plötzlichen Drang ein Saxofonsolo von Branford Marsalis zu hören, in seinen meditativen Zustand von innerer Leere.
Es geht um meine Freiheit, hatte er gedacht und gleichzeitig flüsterte ihm die Stimme seines Meisters zu: Alles was du festhältst, wird dein Leben verwirren. Und da war es, das kleine Ich, das Ich des Jan Swensen. Es rebellierte, bäumte sich auf. Er saß da, verwirrt und unfähig auf Anna einzugehen. Sie fing an zu weinen. Auch seine beruhigenden Worte halfen nichts mehr, ihr Gesicht versteinerte.
»Typisch männliche Angst vor Nähe!«, sagte sie mit harter Stimme und schmiss ihn raus.
Swensen öffnet die Ladentür und tritt an den Tresen.
»Moin, Moin, ich hab eine Frage. Kann man bei Ihnen noch Schwarz-Weiß-Fotos machen lassen?«
Er grinst die junge Brünette an und merkt sofort, dass seine Frage nicht gerade präzise ausgefallen ist.
»Natürlich! Was brauchen Sie? Passbilder oder soll es ein Porträt sein?«
»Keins von beiden. ’Schuldigung, Jan Swensen von der Kripo Husum. Ich möchte nur wissen, ob jemand in ihrem Laden vor zirka ein oder zwei Wochen Schwarz-Weiß-Abzüge in Auftrag gegeben hat.«
»Die Leute machen heutzutage nur Farbbilder. Ich kann mich nicht erinnern, dass hier jemals einer Schwarz-Weiß-Abzüge haben wollte.«
»Gilt das nur für sie oder gibt es noch andere Verkäuferinnen?«
»Ich kann kurz den Chef rufen, der muss das auf alle Fälle wissen. Herr Dallmann, kommen Sie bitte!«
Ein kleiner glatzköpfiger Kopf taucht hinter einem Vorhang auf.
»Ich hab ihre Frage hier hinten schon mitgehört. Schwarz-Weiß-Abzüge macht in Husum keiner mehr.«
»Danke, das war’s schon.«
Als Swensen gerade den Laden verlässt, macht sich sein Handy bemerkbar. Er drückt sich an eine Hauswand und hält sich mit der linken Hand das Ohr zu. Diese verbogene Körperhaltung kommt ihm bei anderen immer albern vor.
Der Mensch in der Digitalen, denkt er und meldet sich gleichzeitig. »Hier Swensen!«
»Mielke! Halt dich fest, Jan. Ich hab gerade mit einem gewissen Hajo Peters gesprochen. Der hat das Bild von unserer Frau in der Husumer Rundschau gesehen, und sie erkannt. Es soll eine Mitarbeiterin von ihm sein, mit Namen Edda Herbst. Sie wohnt in der Deichstraße 22.«
»Schick’ sofort das gesamte Team raus!«
»Ist schon veranlasst! Der Typ führt eine Videothek in der Süderstraße, und ist da jetzt auch zu erreichen.«
»Okay! Ich bin in der Nähe. Ich geh’ sofort mal rüber und sprech’ mit ihm und komm danach gleich in die Deichstraße. Bis dann!«
Swensen drückt die Taste mit dem roten Hörer und nimmt wieder Normalhaltung an. Er überlegt einen Moment und geht dann noch mal zurück in den Fotoladen.
»Ich sehe gerade im Fenster, Sie verkaufen auch Handys. Ist es möglich die Melodie gegen ein normales Klingeln auszutauschen?«
»Klar! Sie gehen einfach ins Menü, und dann …!«
»Menü?«, unterbricht Swensen.
»Geben Sie mal her!«
Die Brünette nimmt ihm das Handy aus der Hand. Ihr rechter Zeigefinger drückt in einem rasanten Tempo auf unzählige Knöpfe. Es piept ein paar Mal und Swensen hat sein Gerät wieder. Er lächelt verlegen.
»Dankeschön!«
* * *
Von der Süderstraße bis zur Deichstraße sind es zirka 15 Minuten zu Fuß. Auf dem Weg dorthin holt Swensen sich im Fischhaus Loof ein Krabbenbrötchen, die Besten in Husum, sagt man. Er sieht sich zwar als Vegetarier, aber bei Krabben drückt er öfter beide Augen zu. Weil mal wieder eine Touristenschar alle Tische belegt hat, lehnt er sich vor dem Laden an die Hauswand. Hier ist es windstill. Die Sonne wärmt sogar ein wenig. Gegenüber steht das neue Fischrestaurant, das direkt neben das Hafenbecken gesetzt wurde. Der futuristische Glaskasten stört sein ästhetisches Empfinden. Für ihn ist diese gewollt moderne Architektur eher hässlich und banal. Vor der Eingangstür kämpft eine kleine Gruppe Frauen und Kinder mit einem Schwarm Möwen. Eine große Lachmöwe versucht das Fischbrötchen eines kleinen Mädchens im Sturzflug zu erbeuten. Der mächtige signalgelbe Schnabel verfehlt den Leckerbissen nur knapp. Das Kind lässt das Brötchen erschreckt zu Boden fallen und brüllt. Sofort balgt sich die restliche Vogelhorde mit wilden Flügelschlägen darum. Die Lachmöwe kreist im großen Bogen über der Straße und landet unmittelbar neben Swensen auf einer Plastikmülltonne. Er wirft ihr von seinem letzten Happen eine Krabbe hinüber, die sie geschickt auffängt. Schmunzelnd steckt er sich den Rest in den Mund, wischt sich mit der Serviette die Finger und den Mund ab und wirft das zusammengeknüllte Papier in die Mülltonne, nachdem er die Möwe vom Deckel hochgescheucht hat.
Als er nach zirka 30 Metern in die Deichstraße einbiegt, sieht er schon zwei Streifenwagen und Mielkes Twingo auf dem Parkplatz vor der Gepäckannahme stehen. Der leere Ziegelbau auf dem Gelände des stillgelegten Güterbahnhofs liegt genau gegenüber von Haus 22, ebenfalls ein Ziegelbau und mindestens genauso heruntergekommen. Die neu eingesetzte Aluminiumtür gibt der schäbigen Fassade den Rest. Der Bürgersteig ist auf der gesamten Länge des Hauses und dem angrenzenden Holztor daneben mit rot-weißem Plastikband abgesperrt.
Swensen grüßt den uniformierten Beamten, von dem ihm bloß der Vorname Bernd einfällt. Der tippt ohne Worte an seine Schirmmütze und lässt ihn passieren. Der Teppichboden im Flur ist so abgetreten, dass man die dunkelblaue Farbe nur noch am Rand erkennen kann. Der Flur führt direkt in die Stube. Ein mittelgroßer Raum, mit dem üblichen Mobiliar, Schrankwand, Tisch, Sessel, Sofa, Fernseher. Zwei Personen in weißen Plastikoveralls, Latexhandschuhen und Fußschützern sind auf Spurensuche. Einer kriecht mit einer Lupe über den dunkelblauen Teppichboden. Der andere, der neben dem Sofa kniend die Nase schnaubt, ist Peter Hollmann. Swensen erkennt ihn an seiner rundlichen Gestalt und dem buschigen Schnauzer, der unter der stramm geschnürten Kapuze hervorlugt. Im Raum nebenan, der Küche, unterhält sich Stephan Mielke angeregt mit Paul Richter, einem breitschultrigen Streifenpolizisten.
»Hey, Stephan! Ich denke Peter hat die Grippe?«, platzt Swensen mitten in ihr Gespräch.
»Ich hab ihn angerufen. Wollte nur schnell wissen, was zu tun ist. Er ist immerhin unser bester Kriminaltechniker.«
»Ja, ja, wenn man Peter Hollmann um Rat fragt, ist der immer sofort wieder gesund.«
»Meinst du es war falsch ihn anzurufen?« Mielke sieht Swensen mit fragenden Augen an.
»Zweifel ist nur eine Kette von Worten in deinem Geist!«
»Was?«
»Das war ein Scherz, Stephan! Vergiss es einfach. Wo kann ich Handschuhe bekommen?«
Mielke zieht ein Paar aus der Manteltasche und reicht sie Swensen, der diese geräuschvoll über die Hände zieht.
»Was ist mit dem Videobesitzer?«
»Nichts was uns großartig weiterhelfen könnte«, antwortet Swensen knapp, um endlosen Spekulationen vorzubeugen. »Und hier? Habt ihr schon was gefunden?«
Der Kommissar hat nebenbei damit begonnen, sämtliche Schranktüren in der Küche zu öffnen und wieder zu schließen.
»Bis jetzt nichts!«, antwortet Mielke. »In der ganzen Wohnung gibt es offensichtlich keinen Hinweis auf irgendeine Gewalttat. Die Kollegen fragen im Moment in der Nachbarschaft herum, ob jemand was gesehen oder gehört hat.«
»Gut«, bestätigt Swensen. »Wir sollten uns nachher in der Inspektion noch mal kurz zusammensetzen und die Ergebnisse durchgehen.«
Er beginnt Schubladen zu öffnen und wieder zu schließen. In Mielkes Mimik zeichnet sich eine gewisse Gereiztheit ab.
»Was machst du da eigentlich?«
»Ich suche nach einem Zugang zu Eddas Universum! Ermitteln ist so etwas wie das Begreifen gegenseitiger Abhängigkeiten, die zwischen einem Ganzen und seinen Teilen besteht. Ohne Teile kein Ganzes und ohne Ganzes machen auch unsere Mutmaßungen über die Teile keinen Sinn.«
Mielke murmelt etwas, tippt Paul Richter an und beide suchen überstürzt das Weite. Swensen kennt diese Reaktionen von seinen Kollegen.
Es ist zwar fast schon gar nicht mehr wahr, denkt er, aber die Praxis der Mahayana-Schule hat mich offensichtlich doch mehr verändert, als mir manchmal klar ist. Immer bei solchen Reaktionen steht ihm seine Zeit im buddhistischen Zentrum plastisch vor Augen. Wenn ich richtig drüber nachdenke, hat der Meister uns seine Worte förmlich ins Gedächtnis eingeknetet, auf ewig abrufbar.
An die kleine, hutzlige Gestalt, das menschliche Lächeln unter den buschigen Augenbrauen und an das schleifende Geräusch, das seine orangefarbene Leinenrobe auf dem Steinfußboden erzeugte, erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen.
»Es ist wichtig zu erkennen, wie Dinge und Ereignisse entstehen«, sagte Lama Rhinto Rinpoche fast immer, wenn er vor der Gruppe mit seiner wöchentlichen Belehrung begann. »Alle Dinge und Ereignisse stehen in Abhängigkeit von Ursache und Wirkung. Und was bedeutet das für uns? Es bedeutet die Erkenntnis, dass kein Ding oder Ereignis von uns so gedacht werden kann, dass es aus sich selbst eine Existenz gewinnt.«
Swensen hatte sich, das weiß er heute genau, jedes der Worte zu Eigen gemacht. Allerdings brauchte es Jahre, bis er sie auch ab und zu in seinen beruflichen Alltag einbauen konnte. Wie gerade jetzt, wo er eine imaginäre Fährte spürt, die aber nur als eine feine Ahnung existiert. Es ist klar, die Dinge in diesem Raum haben sich aus unzähligen Ursachen und vorausgegangenen Bedingungen so angeordnet, wie sie jetzt vor ihm liegen. Doch was sagt das schon? Achtsam sein! Wenn er sie ansieht, wenn er versucht sie aus seiner verengten Sicht zu beurteilen, kann er damit die Wirklichkeit ihrer Existenz verändern. Und wenn er etwas bewertet und dabei nicht höllisch aufpasst, kann er falsche Schlüsse ziehen.
Der Kriminalist zieht die Schublade unter dem Spülbecken auf. Das war es, was er die ganze Zeit gesucht hatte, dieser unauffällige Ort, wo beim modernen Menschen zumindest der Instinkt des Sammlers überlebt hat. Da liegt neben der Packung Gall-Seife ein Päckchen Gummibänder, ein rotes Plastikherz gefüllt mit einer Sammlung rostiger Schlüssel, eine Rolle Band, Toppitz Alufolie, eine Schere, ein Stoß Taschentücher, Reklame diverser Pizzaschnelldienste, ein Heftchen mit dem Titel ›Ätherische Öle‹ und ein zusammengefaltetes gelbes Flugblatt. Swensen klappt es auf und liest: Das Geld liegt nicht nur auf der Straße! Es kann auch bei Ihnen im Keller oder auf dem Boden liegen. Alte Bücher, handschriftliche Tagebücher, Figuren und Möbel. Wir kaufen alles für einen guten Preis! Schauen Sie nach und rufen Sie uns an. Wohnungsauflösungen, Nachlässe, wir zahlen bar! Ihr Ex und Hopp-Service Ludwig Reifenbaum. Tel. 0172426685.
Swensen überlegt angestrengt.
Warum hat Edda den Zettel aufgehoben, rätselt er. Sie muss sich davon doch etwas versprochen haben. Brauchte sie Geld? Hatte sie irgendwelche wertvollen Sachen, vielleicht Antiquitäten?
Er steckt den Zettel in eine der mit Nummern versehenen Cellophantüten, die Mielke auf den Küchentisch liegengelassen hat.
Und wie hilft uns das jetzt weiter, sinniert er weiter und wiegt seinen Fund in der Hand, als Peter Hollmann mit Mielke im Schlepptau eintritt.
»Dieses Fotoalbum habe ich gerade in der Schrankschublade gefunden«, erklärt Hollmann und legt einen grünen Kunstlederband auf den Küchentisch. Über das Gesicht, das unter der Plastikkapuze hervorlugt, läuft der Schweiß.
»Hinten liegen diese losen Passbilder drin.«
Er drückt Swensen drei Fotos in die Hand und ist schon wieder verschwunden. Der stutzt und reicht sie an Mielke weiter.
»So sieht also Edda Herbst wirklich aus. Merkwürdig, nech?«
»Wieso?«
»Na ja, guck dir das Bild doch mal genau an. Sieht unserem Computerbild nicht gerade besonders ähnlich, oder?«
»Na und?«
»Ich finde das schon eine Leistung von dem Peters, dass er sie auf unserem Bild erkannt hat.«
»Findest du? Aber sie hat doch bei ihm gearbeitet«, wirft Mielke vorsichtig ein. »Zumindest können wir froh sein, dass wir durch den Videofritzen endlich wissen, wer die Frau ist.«
Swensen merkt, dass er bei Stephan Mielke schon wieder zu weit vorgeprescht ist.
»Es ist nicht immer geschickt, spontane Ideen sofort nach draußen zu posaunen«, denkt er und nickt Mielke zu.
»Da hast du recht, Stephan! Priorität im Fall Edda Herbst ist jetzt, dass wir uns schnell ein Bild von ihrem Leben machen.«
* * *
Swensen lässt gerade seinen Computer runterfahren, als Silvia Haman ihren Kopf in die Tür steckt.
»Ich komm gerade aus Heide zurück. In keinem Fotoladen wurden Schwarz-Weiß-Abzüge in Auftrag gegeben.«
»In Husum dito«, entgegnet Swensen. »Aber wir wissen in der Zwischenzeit, wer die vermeintliche Tote ist. Du kommst also wie gerufen. In fünf Minuten trifft sich unsere Truppe zum Gespräch.«
»Ich komme sofort.«
Sie eilt auf ihr Büro zu, während Swensen sich schon auf den Weg in die Küche macht um sich einen Tee aufzubrühen. Aber die Packung grüner Tee ist leer, er muss also noch mal in sein Büro zurück, denn dort liegt noch eine Schachtel mit Teebeuteln. Als er endlich mit seinem dampfenden Becher in den Konferenzraum kommt, ist er der Letzte.
»Nanu Jan! Seit wann trinkst du denn was völlig normales, so richtig mit Teebeutel?«, frotzelt Rudolf Jacobsen.
»Das ist ein Yogi-Tee mit einer Himalaja-Mischung!«
»Dann ist ja alles in Ordnung!«, grinst Stephan Mielke verschmitzt und hebt seinen Kaffeebecher. »Wir dachten schon du bist krank!«
»Nein, Kollegen, es geht mir sehr gut«, kontert Swensen gelassen und steht auf um die Sitzung zu eröffnen. Doch Peter Hollmann, der sich in die äußerste Ecke zurückgezogen hat, niest lautstark dazwischen.
»Gesundheit Peter!«
Hollmann putzt sich die Nase. Seine glänzenden Augen deutet Swensen als Fieber.
»Wohl doch etwas zu früh im Dienst?«
»Quatsch, es geht schon! Lasst euch durch mich nicht stören«
»Wie du willst«, erwidert Swensen, obwohl er der Meinung ist, Hollmann sollte nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Sein Blick wandert um den Tisch. Alle verstummen.
»Also Kollegen, wir haben zwar noch keinen richtigen Fall, aber immerhin hat dieser Nichtfall schon einen Namen: Edda Herbst. Eins ist sicher, die Frau ist verschwunden und treibt wahrscheinlich tot irgendwo vor St. Peter-Ording im Wasser. Unfall, Suizid oder Mord, wir wissen es nicht. Aber gehen wir alles in der richtigen Reihenfolge durch. Was hast du rausgekriegt, Stephan?«
»Edda Herbst, geboren 21. 3. 1957 in Husum. Größe: 168 cm, Augenfarbe: grün. Wohnt, oder vielmehr wohnte, in einem älteren Einzelhaus in der Deichstraße 22, ein Erbstück der Eltern, die vor 10 Jahren bei einem Unfall umgekommen sind. Keine Geschwister. Verwandte sind nicht bekannt. Die Nachbarn kennen sie nur flüchtig, meist nur so vom Sehen. Keiner kann sich daran erinnern, wann er Edda Herbst zuletzt gesehen hat. Sie lebte offensichtlich ziemlich unauffällig.«
»Und am Dienstag, dem 14. November, hat sie in der Videothek von Herrn Hajo Peters gearbeitet.« mischt Swensen sich in Mielkes Ausführungen, in dem er seinen Notizblock zückt und seine Eintragungen überfliegt. »Hajo Peters ist der Mann, der Edda Herbst auf dem Bild in der Husumer Rundschau erkannt hat. Wahrscheinlich ist er auch die letzte Person, die sie lebend gesehen hat. Bei der Vernehmung sagte er, sie habe drei Wochen Urlaub genommen. Es ist ihm auch nichts Ungewöhnliches an ihrem Verhalten aufgefallen.«
Swensen macht eine kurze Pause, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu schärfen, und fährt mit Bedacht fort.
»Vor einem halben Jahr soll sie eine längere Zeit einen Freund gehabt haben, mit dem sie ziemlich viel Ärger hatte. Hajo Peters hat sie mal vor seinem Laden beobachtet, wie sie sich handfest in den Haaren hatten und sich heftig anbrüllten. Sie hat dann, nach Peters Aussage, das Ganze abrupt beendet. Es wäre gut, wenn wir rauskriegen, wer dieser Freund war.«
»Und Hajo Peters?« fragt Silvia Haman. »Welchen Eindruck hast du von dem?«
»Auf meine Frage, ob er eine intime Beziehung mit Edda Herbst hatte, wurde er ziemlich wütend. Er wäre zwar ein paar Mal bei ihr zuhause gewesen, aber immer nur um berufliche Absprachen zu treffen, wer wann welche Schicht übernimmt, usw. Sie haben sich nämlich in der Videothek immer gegenseitig abgelöst.«
Swensen nimmt einen Schluck Tee. Ein Gefühl sagt ihm, dass mit Hajo Peters etwas nicht stimmt. Doch das verschweigt er.
»Auch meine Nachforschungen in den Fotoläden in Heide, und, wie ich von Jan erfahren hab, auch in denen in Husum, haben nichts ergeben.«
Silvia Haman deutet mit dem Finger zum Reißbrett, auf das sie die gesamte Fotoserie gepinnt haben. »Der Absender der Fotos bleibt bis auf weiteres der große Unbekannte.«
»Hoffentlich finden wir sie bald, unsere Fotoleiche!«, sagt Swensen und von der anderen Seite des Tischs meldet sich Peter Hollmanns verschnupfte Stimme.
»Immerhin haben wir in der Wohnung alte Fotos von Edda Herbst gefunden. Wir wissen jetzt wie sie wirklich aussieht. Ansonsten können wir die Spuren wohl erst richtig auswerten, wenn wir die Leiche haben. Vielleicht müssen wir das Ganze auch noch mal gezielter wiederholen.«
Swensen schaut demonstrativ auf die Uhr. Inzwischen ist es bereits kurz nach sieben. »Ich glaub’ das ist wohl alles für heute!«
Alle springen auf. Während sich der Raum leert, ist Peter Hollmann am Reißbrett stehen geblieben und studiert eindringlich eines der Fotos. Er winkt Swensen zu sich und deutet auf die Totale von der Wattlandschaft mit dem Westerhever Leuchtturm im Hintergrund. Swensen sieht ihn neugierig an.
»Schau dir mal das Bild genau an, Jan!«
»Das hab ich mir schon öfter angeschaut.«
»Der Bildausschnitt! Sieh dir mal die Kamerahaltung an, die leichte Schräge.«
»Ja und?«
»Solche Schrägen, die kenn’ ich. Das ist eindeutig der Stil eines bekannten Kunstfotografen. Der Name fällt mir jetzt auf Anhieb nicht ein, aber zuhause hab ich bestimmt einen Bildband von dem. Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn dieses Foto nicht von ihm ist, der ist international bekannt.«