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Die Warnblinkanlage wirft lange rote Streifen auf den nassen Asphalt. Swensen nimmt den Lichtschein schon vor der Kurve wahr, bevor der Bahnübergang überhaupt in seinem Blickfeld auftaucht und steigt behutsam in die Bremsen. Der alte VW-Polo zieht sofort leicht nach rechts.

Mist, ich muss unbedingt die Bremsen richten lassen.

Nach der Besprechung war er in Gedanken an seine Auseinandersetzung mit Anna zuerst in seine Wohnung in der Hinrich-Fehrs-Straße gefahren. Wie schon am Morgen konnte er nicht entspannen und probierte es gar nicht erst mit Meditation. Dieses vertrackte Gefühl, nicht Fisch und nicht Fleisch, war ein Zustand, den er nie lange aushalten konnte. Er musste die Sache mit der gemeinsamen Wohnung noch heute Abend mit ihr klären.

Mit lautem Pfeifen kündigt sich die Regionalbahn nach St. Peter an und rattert quer über die Straße. Die erleuchteten Fenster ziehen einen gelben Lichtstreifen durch die Nacht.

Gähnend leer, denkt Swensen. Wer will auch um diese Zeit mit dem Zug von Husum nach St. Peter. So kutschiert sich die Bahn mit Sicherheit in die roten Zahlen.

Auf der Geraden nach dem Übergang fährt der Triebwagen eine längere Strecke parallel zur Straße, immer auf gleicher Höhe mit Swensens VW. Im Schein der Zugfenster fliegen die flachen Marschwiesen mit den geduckten, windschiefen Weiden und vereinzelten Schafherden vorbei. Vorn sieht Swensen ein grelles Licht auf sich zukommen. Es stammt von der nagelneuen RaMi-Tankstelle, die hier mitten in die Einsamkeit gesetzt wurde. Swensen steuert seinen Wagen an den Zapfsäulen vorbei bis direkt vor die Eingangstür. Obwohl sich einige Häuser im Umfeld befinden, wirkt die ganze Anlage wie ausgestorben. Durch die Fensterfront kann er die Verkäuferin von draußen deutlich erkennen.

Die steht da wie auf dem Präsentierteller, denkt er. Eine riesige Tankstelle, eine Verkäuferin, allein bis spät in die Nacht. Das ist doch nur eine Frage der Zeit, bis wir hier ermitteln dürfen.

Er schnappt sich einen der mickrigen Blumensträuße, die in Plastikeimern vor der Tür stehen, bezahlt und ist schon wieder auf der Straße. Fünf Minuten später sieht er durchs linke Seitenfenster die Witzworter Meierei, die kurz vor dem Ortseingang steht.

Immer wenn er hier vorbeikommt, denkt er unwillkürlich an den sagenhaften ›Eiderstedter Traum‹. Der sahnige Joghurt, der hier produziert wird, ist ein Geheimtipp im Norden.

Kurz vor der angestrahlten Backsteinkirche mit dem winzigen, spitzen Türmchen biegt er nach rechts ab und hält vor Anna Dietes Reetdachhäuschen. Aber trotz seines mehrmaligen Klingelns und Klopfens meldet Anna sich nicht. Verwirrt tritt er die Rückfahrt an.

Gegen 22:18 Uhr lässt er sich daheim auf das Sofa sinken. Sein Körper erscheint ihm wie abgespalten, als bestehe seine Existenz nur in seinem Kopf. Er hat das Gefühl sich mal wieder richtig gehen lassen zu müssen, seine Kontrolle abwerfen zu wollen. Sein Alltag hat etwas Blutarmes angenommen. Diese starren Rituale, morgens Meditieren, abends Meditieren, vegetarisch ernähren, grünen Tee trinken. Wo ist die Lust am Leben geblieben?

Swensen treibt es in die Küche. Er hat eine schwache Erinnerung, dass noch eine Flasche Rotwein da sein muss. Zielsicher öffnet er die rechte Tür des Küchenschranks. Da steht er, ein griechischer Samos. Bye, bye, formlose Leere.

Er dreht vorsichtig den Korkenzieher ein, zieht mit einem sanften Plopp den Korken heraus, riecht an der Unterseite wie an einer alten Erinnerung und schenkt das Glas viertel voll. Dann nippt er kurz daran. Der fast ölige Wein legt ihm eine süße Schwere auf die Zunge. Er geht beschwingt ins Wohnzimmer zurück und hockt sich wieder auf das Sofa.

Sein Blick fällt auf die Uhr, 22:29 Uhr. Er drückt auf die Fernbedienung. Der Bildschirm leuchtet auf. 22:29:57, 22:29:58, 22:29:59. Fanfare, Stimme. Hier ist das Erste mit den Tagesthemen. Ulrich Wickert. Guten Abend meine Damen und Herren. Der erste Beitrag. In Amerika versuchen Wahlhelfer gestanzte Löcher auf Wahlzetteln zu lesen.

Swensen lehnt sich zurück. Teilnahmslos lässt er die Bilderflut an seinem Bewusstsein vorbeiziehen. Erst eine Polizeikette, die einen Wald durchstreift, erregt wieder seine Aufmerksamkeit.

Mehrere Hundertschaften der Polizei durchsuchen die Umgegend des Wohnorts von Beatrix, kommentiert die Sprecherstimme. Die Beamten sind schon seit Tagen im Einsatz.

Ein Kampfjet donnert durchs Bild.

Die Bundeswehr setzt jetzt Tornados mit Wärmekameras ein.

Mit einem Mal sind Weinseligkeit und buddhistische Weisheit wie weggeblasen. Auf dem Sofa sitzt Hauptkommissar Jan Swensen. Er muss über sich lächeln und merkt sofort, dass seine Reaktion nur seine Bestürzung überspielen soll. Ertappt.

Klassischer Fall von Verdrängung, denkt er und spürt einen garstigen Druck im Magen, obwohl er mehrmals tief durchatmet. Das Fahndungsfoto der kleinen Beatrix, das gerade im Beitrag gezeigt wurde, steht ihm weiterhin vor Augen. Eine unheilvolle Ahnung lähmt ihn. Da ist es wieder, sein altes Trauma. Bis eben war er fest überzeugt, er hätte es ein für alle Mal überwunden. Wie durch einen Nebel sieht er zwei Gestalten, die sich einen Weg durch das Gestrüpp einer Parkanlage bahnen. Die erste Gestalt ist Hauptkommissar Karl Begier und die zweite ist er selbst.

Es sah damals aus wie einer der normalen Einsätze, die er seit acht Dienstjahren bei der Mordkommission Hamburg West abgerissen hatte. Alle verfügbaren Schutz- und Kriminalpolizisten vor Ort. Zwei Leichen im Sternschanzenpark. Begier bog das Buschwerk zur Seite und Swensen trat neben ihn. Da lagen sie, zwei tote Knaben, zwischen neun und zwölf Jahren. Der Anblick traf ihn unerwartet, wie eine Keule. Der eine Leichnam lag mit nacktem Oberkörper, an Händen und Füßen gefesselt, auf dem Rücken. Am Hals klaffte eine breite Wunde. Eine verkrustete Blutspur führte über die linke Halsseite bis zum blutig durchtränkten Erdreich. Der Reißverschluss der Jeanshose war heruntergezogen, der Hosenbund geöffnet. Das jüngere Kind lag zirka fünf Meter entfernt, ebenfalls auf dem Rücken. Die blutverschmierte Windjacke war offen, das T-Shirt darunter nach oben geschoben. Der Brust- und Bauchbereich war mit brutalen Stichwunden übersät. »Das ist ja wie auf dem Schlachthof«, meinte Begier. Swensen wurde speiübel. Er stützte sich an einen Baum und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

In weiter Ferne dringt ein schwaches Surren an sein Ohr. Er taucht durch den Nebel. Das Geräusch wird schrill. Sein Telefon klingelt. Swensen drückt mit der Fernbedienung den Ton des Fernsehers leiser und nimmt den Hörer ab.

»Swensen!«

»Hallo Jan!« Swensen erkennt die krächzende Schnupfenstimme von Peter Hollmann am anderen Ende der Leitung.

»Ich hoffe du bist nicht sauer, dass ich so spät anrufe, aber ich hab den Namen des Fotografen rausgekriegt. Du erinnerst dich noch an unser Gespräch von vorhin. Also, der Mann heißt Wiggenheim, Sylvester von Wiggenheim, und lebt wahrscheinlich in Hamburg, jedenfalls nach der Biographie in meinem Buch.«

Swensen sieht auf dem Bildschirm, dass in der Zwischenzeit irgendein Krimi angefangen hat.

»Hallo, Jan! Bis du noch da?«

»Klar, Peter! Prima! Besten Dank! Schätze, die Adresse kriegen wir morgen schon raus.«

»Also, dann bis morgen.«

»Bis morgen!«

Swensen legt auf und das Telefon klingelt gleich wieder.

»Ist noch was, Peter?«

»Hallo Jan, ich bin’s, Anna!«

»Du, Anna? Oh, – hast du den Blumenstrauß gefunden?«

»Welchen Blumenstrauß?«

»Den ich dir an die Tür geklemmt habe.«

»An die Tür? Du warst bei mir zuhause?«

»Ja!«

»Wieso das denn? Ich bin in Rendsburg und halte mein Seminar über ›narzisstische Persönlichkeitsstörungen‹.«

Swensen schlägt sich mit der Hand an die Stirn.

»Ach ja, Rendsburg! Hab ich mal wieder total verschwitzt. Dann konntest du ja nicht da sein.«

»Nein, konnte ich nicht!«

»Dann rufst du jetzt einfach nur so an?«

»Das könnte man so sagen. Ich hab allerdings auch ein wenig an unseren ungeklärten Streit gedacht.«

»Ja, stimmt! War ziemlich blöde, oder?«

»Ja!«

»Tut mir leid! Wir sollten morgen unbedingt mal drüber reden.«

»Ich bin erst am Wochenende zurück.«

»Gut dann sehen wir uns dann.«

»Wir werden sehen. Gute Nacht, Jan!«

»Gute Nacht Anna!«

Swensen legt auf und fühlt sich mit einem Mal zutiefst allein. Er wird wohl immer ein Eigenbrötler mit Angst vor Nähe bleiben. In der Zwischenzeit ist der ›Tatort‹ auf dem Bildschirm voll im Gange. Gerade verfolgt eine Person eine andere. Swensen erkennt Kommissar Schimanski, der über die Feuertreppe eines Gasometers rennt, und macht den Ton wieder lauter. Schüsse peitschen. Der mutmaßliche Ganove wird getroffen und stürzt über das Geländer in die Tiefe.

Schwachsinn, denkt er und drückt den Aus-Knopf.

Er muss wieder an den Kindermord im Sternschanzenpark denken. Das Bild hatte sich damals so in sein Gedächtnis eingebrannt, dass die Angst vor dem nächsten Einsatz ihn fast lähmte. Wochenlang träumte er fast jede Nacht von durchgeschnittenen Hälsen und bleichen Knabenoberkörpern. Mit blutigen Wundlöchern vor Augen schreckte er aus dem Schlaf. Im Dienst fühlte er sich wie betäubt, fast stumpfsinnig. Er mied die Gespräche mit den Kollegen, denn der normale Wortschatz in einer Mordkommission erinnerte ihn immer wieder an die Horrornacht. Und dann kamen mit einem Mal noch diese ›Flashbacks‹ dazu. Sie trafen ihn aus heiterem Himmel, in jeder erdenklichen Situation, zum Beispiel beim Nachtisch in der Polizeikantine. Die Leichen der Knaben lagen urplötzlich real vor seinen Füßen. Er brauchte nur die Hand ausstrecken um ihr Blut zu berühren.

Wenn er heute an diese Albtraumzeit zurückdenkt, wird ihm klar, dass er schon damals dieser Eigenbrötler war. Er vereinsamte zusehends in der Gruppe. Sobald seine Kollegen ihn darauf ansprachen, bezeichnete er sich als einen Individualisten. Und als Individualist wollte er die Sache natürlich unbedingt selber in den Griff bekommen.

Eines Morgens kam Karl Begier in sein Büro, legte ihm mit einem Augenzwinkern einen Flyer auf den Schreibtisch und verschwand wortlos wieder. Swensen griff sich das hellblaue Stück Papier und faltete es auf.

Posttraumatische Belastungsstörung nach kriminellen Gewalttaten. Ein Gastvortrag von Prof. Dr. Hermann im ›Psychologischen Institut‹, Saal IV der Uni Hamburg. 23. Januar 1992, 20:00 Uhr.

Erst war er stinksauer gewesen und wollte Karl Begier zur Rede stellen, ihn fragen, was ihn sein Privatleben anginge. Doch seine nächtlichen Traumattacken ließen ihn dann verstummen. Am 23. schlich er nach über zwanzig Jahren wieder auf das Unigelände. Er fühlte sich fast wie ein geprügelter Hund, als er in den Vorlesungssaal trat und das versammelte Jungvolk ihn anstarrte. Sein erster Impuls war sofort wieder umzudrehen. Nur der Anblick einer attraktiven, schon etwas älteren Rothaarigen, die allein, etwas abseits in einer der hinteren Reihen saß, hielt ihn dann doch davon ab. Die beiden Fremdkörper zogen sich an. Er steuerte entschlossen auf sie zu und setzte sich mit einem ›ist hier noch frei?‹ direkt neben sie.

»Jetzt nicht mehr!«, entgegnete sie schnippisch.

»’Schuldigung! Swensen, Jan Swensen. Ich bin das erste Mal hier und brauche solidarische Unterstützung. Sie sind doch auch keine Studentin, oder?«

»Nein, ich bin glücklicherweise schon einige Jahre in Arbeit!«

»Und weshalb sind sie dann hier?«

»Psychologische Fortbildung, Herr Swensen, ein wenig psychologische Fortbildung!«

Das war sein erstes Gespräch mit einer Psychologin. Nach dem Vortrag gelang es ihm sie noch zu einem Wein einzuladen und das soeben Gehörte regte ihn an, innerhalb von einer halben Stunde seinen gesamten Seelenmüll einer völlig wildfremden Frau zu erzählen. Er erfuhr ihren Namen und spürte, Anna Diete war ein Mensch, der wirklich mitfühlend zuhören konnte. Am Ende des Abends hatte er Schmetterlinge im Bauch, eine Telefonnummer aus Witzwort in Schleswig-Holstein und die Adresse einer Kollegin von Anna in Hamburg.

* * *

Über dem Festland geht die Sonne glutrot auf. Hinnak Hansen hat dafür keinen Blick übrig. Er nimmt die täglichen Kapriolen der Natur nur noch nebenbei wahr. Seit über fünfzehn Jahren fischt er jetzt in der Nordsee nach Krabben und Plattfischen. Ein schöner Tag wie heute verspricht um diese Jahreszeit endlich volle Netze, aber nur wenn man weiß wo man jetzt hin muss.

Der gestrige Tag, oberhalb der Lorenzplatte, war wesentlich unangenehmer gewesen. Peitschender Regen, stark bewegte See bei 5 bis 6 Windstärken. Außerdem lief der Job so mies wie schon lange nicht mehr. Erst waren fast mehr Krebse und Knurrhähne als Krabben im Fang, so dass er und sein Gehilfe Peter Müller ewig rumackern durften dieses lästige, unnütze Zeug auszusortieren. Eine echte Affenarbeit. Und dann kam es noch dicker. Am späten Nachmittag hatten sie mit müden Knochen das Fanggeschirr beiderseits der Bordwände ausgefiert. Gerade konnten sie etwas verschnaufen, da passierte es. Die zwei ›Kurren‹ (Schleppnetze) wurden gerade erst eine halbe Stunde über den Meeresgrund gezogen, als ein mächtiger Ruck den Holzkutter in seinen Fugen erschütterte. Eines der beiden Netze war irgendwo hängen geblieben. Die Fahrt wurde aus heiterem Himmel gestoppt. Der Ausleger, ein stählerner Balken, der quer zur Fahrtrichtung über Bord hängt, zog den Kutter um 90 Grad zur Seite, wobei er unaufhaltsam nach backbord abdrehte. Gleichzeitig kippte er in eine bedrohliche Schlagseite. Hinnak Hansen schoss das Adrenalin ins Blut und mit einem blitzschnellen Griff stoppte er die Maschine. So eine Situation hatte er schon ein paar Mal erlebt und wusste daher, dass das Netz wahrscheinlich an einem alten Wrack fest hing.

Er und Peter Müller sind ein eingespieltes Team und das kam ihnen jetzt mal wieder zu gute. Kein unnützes Wort fiel. Während sein Kollege dafür sorgte, dass der Baum nicht überschlug und beide Netze den Kahn noch mehr in Schieflage gezogen hätten, hievte er das freie Netz über die Wasseroberfläche. Das Fanggewicht am Baum wirkte wie ein Hebearm und drückte den Kahn wieder in eine annehmbare Normallage. Dann befestigten die Männer das nur halbvolle Netz an der Bordwand, damit es nicht in die Schrauben geraten konnte. Jetzt ließen sie mit der Winde den Draht aus dem Mast fallen und die Bäume knallten an Deck. Die Gefahr umzukippen war gebannt. Der Rest war schon fast wieder Routine gewesen. Hinnak Hansen manövrierte das Fischerboot gegen den Strom zurück und dann volle Kante über das festgehakte Netz. Das Ergebnis durften die beiden noch bis spät in den Abend flicken. Nach dem Chaostag beschlossen sie einen weiteren Tag dranzuhängen und blieben über Nacht draußen.

Ein neuer Tag, ein neues Glück, denkt Hinnak Hansen. Wir sollten heute die Dooven Tide (erste Tageshälfte) voll ausnutzen.

Er steht unrasiert im Ruderhaus und steuert seine alte ›Trude‹ seit einer Stunde Kurs Südost, Richtung Rochelsand vor Westerhever. Der siebenhundertsechzehner Deutzmotor tuckert vor sich hin. Das Log zeigt, dass er kontinuierlich neun Knoten macht. Im ganzen Raum riecht es nach Dieselöl.

»Ist Kaffee da?«

Peter Müller tappt verschlafen durch die Tür. Hinnak Hansen deutet ohne ein Wort auf die Kaffeemaschine, zündet sich eine Zigarette an und hält die fast leere Packung in Peter Müllers Richtung. Der schüttelt verschlafen den Kopf, schnappt sich eine am Rand leicht lädierte Porzellantasse und gießt sie halbvoll.

»Wohin geht’s?«

»Rochelsand!«

»Und du meinst, da wird es besser?«

»Merk dir eins. Ein guter Krabbenfischer braucht nur zwei Dinge damit er Krabben fängt. Erstens Intuition und zweitens noch mehr Intuition.«

Peter Müller grinst kurz.

»Wie lange brauchen wir noch?«

»Schätze noch 15 bis 20 Minuten.«

Mit dem heißen Kaffee in der Hand stiefelt er nach draußen und lehnt sich pfeifend an die Reling. Ein leichter Wind brist auf. Hinnak Hansen hat die beiden stählernen Ausleger schon abgeschwenkt. Die zwei armdicken runden Balken liegen jetzt waagerecht quer zur Fahrtrichtung über Bord. Ihre Spitzen tauchen ab und zu in die Gischt.

Hier draußen gibt es einfach keine Langeweile, denkt Peter Müller.

Er liebt das Meer, die gute alte Haut. Heute spiegelt sich der offene Himmel auf ihrer gekräuselten Oberfläche und färbt sie azurblau, fast kitschig, wie das so häufig besungene Bild vom blauen Meer. Ein paar hartnäckige Möwen segeln beharrlich, unterbrochen von kurzen Flügelschlägen, am Heck des Kutters. Peter Müller nimmt einen Schluck Kaffee, doch der ist bereits lauwarm. Er kippt ihn angeekelt ins Meer, steckt den Becher in die Seitentasche des Südwesters und macht sich dann daran, die Netze für den Fang klar zu machen. Das Ende, der ›Hievsteert‹, wird mit einem Tau zusammengelascht.

Bald hat die Sonne den höchsten Stand erreicht. In der Ferne, Steuerbord voraus, kommt der Leuchtturm von Westerhever in Sicht. Das gleichmäßige Dröhnen des Dieselmotors bricht abrupt ab. Hinnak Hansen verlangsamt die Fahrt und dreht den Kutter gegen das ablaufende Wasser.

»Man too, Man too, Peter! Wir mock dat ob Enkel (machen das zusammen)«, ruft er überdreht und stürzt aus dem Ruderhaus. »Dat warrt de gröttste Fang in de Geschicht de Krabbenfischeree.«

Die beiden stellen sich in ihre eingefleischten Positionen und schon wird das erste Netz im rechten Winkel zum Rumpf über die Bordwand gehievt. Dann gleitet es auf der Wasseroberfläche achteraus, das zweite folgt kurze Zeit später. Die Ausleger halten die Netze beiderseits des Kutters. Die Stahltrossen rucken und die beiden schlittenartigen Gestelle an der Öffnung ziehen die Netze unter Wasser. Der Schleppvorgang über den Meeresgrund hat begonnen.

»Ik scheer mi in de Tiet um de Putt.« (Ich kümmere mich in der Zeit um den Topf.)

Peter Müller schnappt sich einen Spachtel und macht sich über die verkrusteten Wände des Kochkessels her. Hinnak Hansen schaut auf die Uhr, geht ins Ruderhaus zurück und dreht das Radio an um den Wetterbericht zu hören. Mit zirka vier Knoten schneidet sich der Kutter jetzt mindestens eineinhalb Stunden durch die ruhige See.

Kurz bevor das Fanggeschirr aufgebracht wird, hat Peter Müller stets ein Kitzeln im Bauch.

»Es ist einfach jedes Mal wieder spannend, wenn der Steert hochkommt«, denkt er, während sich die Stahltrossen mit Krachen auf die Winde wickeln. Beide Netze tauchen gleichzeitig auf und werden hochgehievt. Sie sind berstend voll. Die Krabben rutschen in den Netzbeutel und baumeln in der Sonne. Das tausendfache Kribbeln, Krabbeln und Zappeln erzeugt das typisch knisternde Geräusch. Peter Müller jubelt mit erhobenen Daumen zum Fenster des Ruderhauses hinüber. Er bugsiert das prallvolle Netz über den eisernen Auffangtrichter, löst das Tau am ›Steert‹ und die Krabbenflut rauscht hinein. Mit einem Schlag ist Peter Müllers Hochstimmung auf null. Entgeistert starrt er auf einen bleichen Arm, der aus den quirligen Schalentieren herausragt.

»Schitt! Hinnak! Verdammichter Schitt!«, brüllt er.

»Wat is?«

»Ene Leik! Wi heff ne Leik an Boord!« (Eine Leiche, wir haben eine Leiche an Bord!)

»Wat!!!«

Hinnak Hansen stürzt aus dem Ruderhaus wie von einer Tarantel gestochen. Peter Müller trabt mit rudernden Armen auf und ab und schimpft jetzt auf Hochdeutsch vor sich hin.

»Das darf doch nicht wahr sein, so was! Das hat vor uns noch keiner geschafft. Ne’ Leiche mit dem Netz auffischen, das ist doch gar nicht möglich!«

»Ich würde sagen, eins zu einer Million. Ja, Glück muss der Mensch haben«, ergänzt Hinnak Hansen sarkastisch und schimpft wütend hinterher, »das hat uns jetzt gerade noch gefehlt! Und? Was machen wir?«

»Wieso, was machen wir?«

»Na ja, über Bord damit!«

»Bist du völlig durchgedreht, Hinnak?«

»Weißt du was passiert, wenn wir den Mist hier melden? Wir dürfen unseren gesamten, beschissenen Fang wegschmeißen!«

»Hinnak, jetzt bleib mal ganz ruhig. Willst du die Leiche etwa da rausziehen, wieder über Bord werfen und dann einfach weitermachen?«

Hinnak Hansen steht da wie versteinert, dann dreht er sich abrupt um und geht langsam auf das Ruderhaus zu.

»Schon gut, Peter, schon gut!«, murmelt er.

Eine halbe Stunde später legt sich das Polizeiboot ›Sylt‹ längsschiffs. Es ist dreimal größer als die ›Trude‹. Über eine Trittleiter kommen mehrere Beamte an Bord. Es ist Mittwoch, der 22. November 2000.

* * *

Dunkelbrauner Qualm steigt in einer pulsierenden Schlange vor ihm in den wolkenlosen Himmel. Swensen kann sich wieder an die Müllverbrennungsanlage erinnern, als er seinen rechten Blinker einschaltet. Abfahrt Volkspark, das ist richtig. Er wechselt mit seinem Wagen von der Autobahn auf die Abbiegerspur um in der folgenden Kurve mit dem Motor abzubremsen. Im Vorbeifahren sieht er ein riesiges Wandgemälde an dem grauen Betonkasten. Eine Müllkralle hält die Weltkugel in ihren Fängen. Daneben prangt die Schrift: Wir lassen sie nicht fallen.

Das ist doch wirklich der Zynismus pur, schießt es ihm durch den Kopf, während er beim Abbremsen sachte gegensteuert. Die Ampel steht auf Rot.

Ja der Verstand wertet eben alles was er sieht, sagt im selben Moment seine buddhistische Überzeugung und gleichzeitig hält eine Stimme in guter alter 68er Manier dagegen, aber so ist das eben. Was ist denn eine Müllverbrennungsanlage? Sie versucht Müll zu beseitigen und verteilt ihn dabei nur in der Luft. Der Müll hat sich zwar in Luft aufgelöst, ist aber immer noch da! Der Buddhist bleibt gelassen. Der Müll wandelt wie alle Materie nur seine Form! So funktioniert sie eben, die ewige Verkettung von Ursache und Bedingung. Ursachen ziehen Folgen nach sich und der Mensch steckt da mitten drin. Er hat sich in der Tat für diese Müllverbrennung entschieden und Taten bringen nicht nur Glück, sondern auch Leid hervor, Herr Hauptkommissar.

In Hamburg kennt er sich aus wie in seiner Westentasche, obwohl seine Dienstzeit bereits sieben Jahre zurückliegt. Jetzt links, dann immer geradeaus bis zur Kreuzung Bornkampsweg, dann links in die Stresemannstraße und an der liegt schon die Polizeidirektion Hamburg West. Kaum ist er allerdings einige hundert Meter stadteinwärts gefahren, ist wieder Schluss. Nichts geht mehr. Stau.

Swensen lehnt sich zurück und beginnt, wie immer in so einer Lage, sofort mit einer Atemübung. Er lässt die Luft konzentriert ein und aus fließen. Das Klingeln seines Handys beendet die Entspannung, bevor sie noch richtig begonnen hat. Da sich auf der Straße sowieso nichts bewegt, drückt er auf Empfang.

»Swensen!«

»Sind Sie es, Herr Swensen? Ich kann Sie schlecht verstehen!« Susan Biehls Klostergesang klingt wie ein Anruf aus dem Vatikan.

»Ja ich bin’s! Ich versteh’ Sie gut! Können Sie mich hören?«

Swensen dreht sich um hundertachtzig Grad und schmunzelt über die immer absurdere Kommunikation.

»Gerade so. Aber es geht! Wo sind Sie denn bloß?«

»Ich bin in Hamburg. Hollmann hat mich gestern Abend noch angerufen. Er war sich ziemlich sicher, dass dieser Fotograf, der uns die Bilder der Leiche geschickt hat, aus Hamburg kommt. Da hab ich mich heute Morgen gleich auf die Socken gemacht, zumal meine alte Abteilung hier mir Hilfe zugesagt hat. Und was ist bei euch los?«

»Wichtige Neuigkeiten! Frau Haman hat den alten Freund der Herbst ausfindig gemacht und ist zur Vernehmung hin. Und Herr Mielke ist im Hafen. Ein Krabbenkutter hat eine Leiche rausgezogen.«

»Eine Frauenleiche?«

»Ja.«

»Mensch Susan, nun lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen! Ist es Edda Herbst?«

»Weiß man noch nicht. Herr Mielke ist gerade erst los. Der Chef hat Staatsanwalt Dr. Rebinger benachrichtigt und will um halb sechs eine Pressekonferenz abhalten. Er wünscht, dass Sie dabei sind.«

»I do my very best! Ich beeil’ mich! Bis dann!«

»Bis dann!«

Die Autos stehen weiterhin wie festgeschraubt. Swensen lehnt sich zurück, entspannt sich und besinnt sich auf seine Atemübung.

»Ich atme ein und fühle mich ruhig. Ich atme aus und fühle mich friedlich, und ruhig – friedlich, ruhig – friedlich.«

Polizeidirektion West. Eineinhalb Stunden für fünf Kilometer, eine reife Leistung, denkt Swensen, als er mit gemischten Gefühlen die Eingangstreppe zur Mordkommission hinaufsteigt. Bis auf einen Satz neuester Computer scheint hier die Zeit stehen geblieben zu sein.

Heinrich Karlsen steuert mit dem bekannten federnden Gang direkt auf ihn zu und drückt ihm gelangweilt die Hand.

»Swensen, lange nicht gesehen! Wie geht’s?«

Sein alter Chef scheint, bis auf ein paar Falten, null gealtert. Sein durchtrainierter Körper und sein kantiges Gesicht mit der leicht geknickten Nase gaben ihm schon immer das Aussehen eines Preisboxers.

»Sehr gut, Heinrich. Was macht Hauptkommissar Begier?«

»Der Karl, der ist seit zwei Jahren in Rente, mein Lieber!«

»Oh, war er denn schon so alt?«

Karlsen ignoriert die Frage, packt Swensen unsanft am Arm und zieht ihn in Richtung eines Schreibtischs in der äußersten Ecke des Bürogroßraums.

»Ich stell’ dir Murat Hassanzadeh zur Seite. Übrigens, du weißt, dass dein Wunsch nach eigener Ermittlung von uns nicht gern gesehen wird. Warum schickt ihr uns nicht die Akte zu, wir erledigen den Job und schicken euch die Akte zurück?«

»Genau aus dem Grund, wegen der Schickerei! Wir haben heute eine Leiche aus der Nordsee gezogen und heute Abend ist Pressekonferenz. Wäre gut, wenn ich dann ein paar Neuigkeiten hätte.«

»Ich dachte, nur wir in Hamburg kennen Stress!« witzelt Karlsen und tritt an den Schreibtisch eines mittelgroßen Mannes im adretten Anzug mit knallbunter Seidenkrawatte. Er hat dunkelbraune Augen, kurze schwarze Haare und einen penibel gepflegten Schnurrbart. Mitte dreißig schätzt Swensen und tippt auf einen gebürtigen Iraner, Iraker oder Ägypter.

»Das ist Murat Hassanzadeh. Murats Eltern sind damals während des Schahregimes nach Deutschland immigriert. Und das ist Jan Swensen aus Husum. Du weißt schon Murat, die Sache mit dem Fotografen.«

Karlsen klopft mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte und verschwindet. Die beiden Männer geben sich die Hand.

»Ich hab schon nachgeforscht. Sylvester von Wiggenheim wohnt in der vornehmsten Gegend von Blankenese, an der Elbchaussee.«

Swensen ist amüsiert über das perfekte Deutsch mit deutlichem Hamburger Akzent. Murat Hassanzadeh registriert das, fährt jedoch unbeirrt mit seinen Ausführungen fort.

»Eigentlich gehört Blankenese nicht zu unserem Ermittlungsgebiet, aber ich habe schon mit dem Chef dort gesprochen. Sie drücken beide Augen zu.«

Die weiße Villa der Wiggenheims gleicht mit ihrem Säulenvorbau einer etwas gewollten Nachbildung des Weißen Hauses in Washington. Im Schatten dieses Anwesens merken Swensen und Hassanzadeh wie sie auf das Format von zwei lästigen Schnüfflern zusammenschrumpfen, was durch den Gesichtsausdruck des Hausmädchens noch bestätigt wird, als sie sich als Kripobeamte vorstellen.

»Bitte warten Sie hier, meine Herren. Ich werde Frau von Wiggenheim benachrichtigen.«

Hassanzadeh schielt den davoneilenden Beinen hinterher, während Swensen entzückt den flachen, rechteckigen Holzkopf an der Wand betrachtet. Über dem waagerechten Mund glotzen zwei eng stehende Löcher als Augen. Aus der Stirn ragt ein langschnäbliger Vogelkopf.

Wahrscheinlich eine afrikanische Schamanenmaske, denkt Swensen beeindruckt. Während die Beine, diesmal von vorn, wieder in Hassanzadehs Blickfeld schreiten, fragt er sich, welcher exklusive Innenausstatter wohl diese Ritualskulptur zweckentfremdet an diese Wand verbannt hat.

»Meine Herren, würden Sie mir bitte folgen!«

Die Dame des Hauses sitzt in einem engen rosa Kostüm auf einem grauen Kanapee und bittet Swensen und Hassanzadeh mit einer Handbewegung Platz zu nehmen.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Wir hätten gerne Sylvester von Wiggenheim gesprochen?«

»Mein Mann ist in seinem Atelier. Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Nein, Frau Wiggenheim! Wir müssen schon …«

»Von Wiggenheim, bitte!«

»Frau von Wiggenheim, wir müssen ihren Mann schon persönlich sprechen.«

»Fräulein Else, bringen Sie die Herren bitte zur Tür und geben Sie ihnen die Adresse vom Atelier meines Mannes. Auf Wiedersehen meine Herren!«

Swensen bemerkt den wütenden Ausdruck auf Murat Hassanzadehs Gesicht und stoppt ihn mit einem beruhigenden Augenkontakt. Dann beugt er kurz seinen Kopf in Richtung der Dame des Hauses.

»Moin, Moin, Frau von Wiggenheim«, verabschiedet er sich demonstrativ.

Ein vernichtender Blick verfolgt die Beamten.

* * *

Ein pfeifendes Geräusch erfüllt den abgedunkelten Raum. Es kommt vom Rotor einer großen Windanlage. Weißer Nebel quillt aus einem Behälter mit Flüssigeis und wabert knöchelhoch über den Boden. Mehrere Scheinwerfer färben die filigranen Wirbel goldgelb. Aus einem Lautsprecher hämmert Trommelmusik. Mittendrin verändert eine blutjunge Frau mit ruckartigen Bewegungen unentwegt ihre Körperhaltung. Sie trägt eine weinrote, rundausgeschnittene Samtbluse und einen schwarzen Superminirock. Der makellose Körper wirkt auf Swensen wie eine Fata Morgana. Neben der Frau hält ein Afghane seine Schnauze stoisch in Richtung Windanlage. Sein langes Fell flattert im künstlichen Luftstrom. Davor fuchtelt ein Mann mit dem linken Arm besessen in der Luft herum, während seine rechte Hand ununterbrochen den Auslöser einer Kamera betätigt. Dazu stößt er unverständliche archaische Laute aus, die sich ab und zu in grunzende Wortbrocken verwandeln.

»Yeah, Woman, look at me! Yeah! Look here! Yeah!«

Swensen und Hassanzadeh, dessen Blick sich nach dem Eintreten sofort an die ellenlangen Gazellenbeine des Modells geheftet hat, stehen etwas abseits im Raum. Ein Mann mit feminin tänzelndem Gang hatte sie hierher geführt und ihnen zugeflüstert, hier bitte so lange mucksmäuschenstill zu warten bis der Meister, wie er es ausdrückte, seinen kreativen Schub hinter sich gebracht hätte. Swensen starrt beeindruckt auf das surrealistische Schauspiel vor sich. Er fühlt sich wie ein Auserwählter, der exklusiv in den Kulissen stehen darf und hautnah dem Trubel einer Inszenierung zusehen kann.

Irgendwie hat der Job eines Kripobeamten etwas für sich, denkt er. In welchem Beruf bekommt man schon einen Einblick in alles, was unsere Welt so antreibt? Und immer, wenn Swensen sich im Sinnieren verloren hat, lösen sich über kurz oder lang alle Grenzen um ihn herum auf. Es ist wie ein Blick hinter die Wirklichkeit. Das ins Licht getauchte Modell und ihr dunkler Gegenpart verschwimmen zu einem pulsierenden Organismus. Jede Zelle wirkt in ihrer Tätigkeit mit jeder anderen Zelle zusammen, als wenn sich all ihre Bemühungen nur so im Gleichgewicht halten können.

Ja, genauso ist es! Jede meiner Handlungen, jede Aktion, jeder Gedanke, jedes Wort, schießt es ihm wie eine plötzliche Erkenntnis durch den Kopf, hat nicht allein Auswirkungen auf mich persönlich, sondern hält auch das gesamte Zusammenspiel im Gange.

Da stoppt abrupt die wilde Aktion auf der Bühne vor ihm. Sylvester von Wiggenheim schnippt mit den Fingern und einer der Gehilfen stürmt zu ihm hin, nimmt die benutzte Kamera entgegen und drückt ihm eine neue in die Hand. Der große, massive Mann mit dem sauber geschnittenen Dreitagebart bleibt bewegungslos stehen und legt zwei Finger auf seine geschlossenen Augenlider, als sei er jäh in Trance gefallen. Sein schlichter Rollkragenpullover und die Bügelfaltenhose im gleichen dunkelgrau sehen ziemlich teuer aus. Swensen merkt, dass er das Alter des Fotografen schlecht einschätzen kann. Irgendwo zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig.

Genauso unerwartet, wie die Stille eingetreten war, kommt mit einem Mal wieder Leben in die Szenerie.

»Fucking Bullshit! My inspiration is past!«, schimpft Sylvester von Wiggenheim los, zieht eine Filmschachtel aus der Hosentasche und wirft sie quer durch den Raum. Das Team um ihn herum weicht aufgeschreckt zurück.

»Stop, we stop now! Intermission!!«

Während Swensen und Hassanzadeh entschlossen auf ihn zugehen, fragt Swensen sich, wer sich nun eigentlich mehr in Szene setzt, Modell oder Fotograf.

»Who are you?”

»Sorry, Mr. von Wiggenheim! My name is Jan Swensen, criminalpolice husum and this is Murat Hassanzadeh from hamburg!«

Sylvester von Wiggenheim starrt die beiden Männer so entgeistert an, als hätte Luzifer sich mit einem Betriebsausflug in seine Räume verirrt.

»Kriminalpolizei?«

»Oh, Sie sprechen auch Deutsch?«, lächelt Swensen.

»Was soll das? Natürlich spreche ich Deutsch!«

»Wir ermitteln im Fall Edda Herbst und haben ein paar Fragen.«

»Ich kenne keine Edda Herbst.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Waren Sie zwischen dem 14. und dem 18. November zufällig in St.Peter-Ording?«

Swensen registriert ein kurzes Zögern bei von Wiggenheim.

»Was soll ich in St. Peter-Ording?«

»Nun, zum Beispiel Fotos im Watt machen!«

»Im Watt? Was soll ich im Watt fotografieren?«

»Vielleicht eine dort herumliegende Leiche!«

»Ich verstehe nicht!«, antwortet von Wiggenheim barsch. »Wie kommen Sie auf mich?«

»Nun, durch eine bestimmte leichte Schräge in einer Totalen vom Westerhever Leuchtturm. Eine leichte Schräge ist doch ihr künstlerisches Markenzeichen, oder irre ich mich?«

»Ich glaube da werde ich mit jemand verwechselt. Sie sehen, ich bin beschäftigt. So eine Performance hier kostet mich über 1.000 DM die Stunde. Also, würden sie mich jetzt entschuldigen?«

Auf Murat Hassanzadehs Gesicht bilden sich Zornfalten. Swensen tritt etwas zur Seite und überlässt mit einem Augenzwinkern seinem Kollegen das Feld. Gespannt lauert er auf eine neue Variante in der Verhörtechnik, die sein Großstadtkollege ihm präsentieren könnte um dann enttäuscht feststellen zu müssen, dass er nur wieder die alte Leier vom bösen Bullen kultiviert.

»Herr von Wiggenheim, wir verdienen zwar keine 1.000 DM die Stunde, aber unsere Zeit haben wir auch nicht gestohlen. Hören Sie also genau zu, ich sage das jetzt nur einmal. Sie haben genau zwei Möglichkeiten. Erstens, Sie sagen uns sofort die Wahrheit, oder wir brechen Ihre Arbeit hier ab und Sie begleiten uns augenblicklich zur Befragung mit aufs Revier. Dann besorgen wir einen Durchsuchungsbefehl und stellen nebenbei Ihre Bude so auf den Kopf, dass Sie hier anschließend nichts mehr wieder finden.«

Swensen bläst die Backen auf und lässt unüberhörbar Luft entweichen. Von Wiggenheim steht unentschlossen vor ihnen.

»Welche der Möglichkeiten ist Ihnen lieber, Herr von Wiggenheim?«, zischt Hassanzadeh hinterher.

»Ihr Benehmen wird Konsequenten haben, meine Herren!«, antwortet Wiggenheim in einem scharfen Ton. Hassanzadeh tritt übergreifend nah neben ihn und führt seinen Mund dicht an sein Ohr.

»Glauben Sie mir, das mit dem Beschweren haben schon ganz andere versucht. Ich garantiere Ihnen, es klappt nicht. Denken Sie lieber an die vielen 1.000 DM, die Ihnen durch diese sture Haltung verloren gehen.«

Auf Wiggenheims Stirn bilden sich kleine Schweißperlen. Dann dreht er sich ruckartig um die eigene Achse und eilt er auf eine Tür zu.

»Bitte folgen Sie mir!«, ruft er von dort, winkt die beiden Kriminalisten in einen Nebenraum und schließt die Tür.

»Ich möchte, dass meine Aussage unbedingt vertraulich behandelt wird, auch meine Frau darf vom Inhalt unseres Gesprächs nichts erfahren.«

»Ihre Frau?« Swensen spielt den Erstaunten.

»Wird alles vertraulich behandelt, oder nicht?«

»Natürlich.«

»Also gut! Ich war am 16. November in St.Peter-Ording. Ich habe die Leiche im Watt entdeckt, die Fotos gemacht und sie dann an die Kripo Husum geschickt. Ich wollte da einfach nicht mit rein gezogen werden.«

»Nicht rein gezogen werden?« Swensen setzt eine nachdenkliche Mine auf. »Ich verstehe nicht ganz, Herr von Wiggenheim. Sie haben eine Leiche gefunden und das nicht sofort den Behörden gemeldet? Da besteht aber schon Erklärungsbedarf.«

»Meine Frau weiß nichts von meinem Aufenthalt in St. Peter-Ording.«

»Ja, und? Dann erfährt sie das eben jetzt.«

»Sie haben mir volle Vertraulichkeit zugesichert.«

»Was ist daran so überaus vertraulich, Herr von Wiggenheim?«

Von Wiggenheims Blut weicht aus seinem Gesicht. Seine Augen treten hervor und die Stimme scheint mit einem Mal belegt zu sein.

»Ich hab mich mit einer Geliebten in St. Peter getroffen.«

»Wie rührend!«, zischt Hassanzadeh. Swensen bringt seinen Kollegen mit einem unmissverständlichen Blick zum Schweigen.

»Ich hätte jetzt gern die ganze Wahrheit.«

»Das ist die ganze Wahrheit. Ich war mit meiner Geliebten in St. Peter. Am 16. bin ich allein zum Fotografieren ins Watt raus. Dort hab ich die Leiche gefunden, die Fotos gemacht und sie Ihnen geschickt. Was hätte ich denn machen sollen? Ich bin da ohne mein Zutun in eine ziemlich missliche Lage hineingeraten. Wenn ich gleich zur Polizei gegangen wäre, hätte meine Frau mit Sicherheit von meinen Verhältnis erfahren. Das musste ja nicht sein.«

»Und Ihre Geliebte, haben Sie ihr etwas davon gesagt?«

»Natürlich nicht!«

»Gibt es sonst noch etwas, was wir nicht wissen?«

»Nein!«, sagt von Wiggenheim schroff.

»Waren das alle Bilder, die wir bekommen haben?«

»Nein! Ich hab die Besten ausgewählt. In meinem Layoutschrank liegen noch einige.«

»Worauf warten Sie? Die Bilder bitte!«

Von Wiggenheim öffnet eine Schublade, nimmt einige Fotos heraus und legt sie auf einen Arbeitstisch.

Schon auf den ersten Blick erkennt Swensen, dass seine persönliche Anreise sich gelohnt hat. Da liegen Fotos, auf denen deutliche Reifenabdrücke im Sand zu erkennen sind.

Geländewagen, denkt Swensen und fragt: »Warum haben Sie uns diese Aufnahmen denn nicht mitgeschickt?«

»Ehrlich gesagt, der Briefumschlag war einfach zu schmal. Ich hätte die da sonst so richtig reinquälen müssen. Ich hab die Besten ausgewählt.«

»Diese Beurteilung sollten Sie lieber uns überlassen!« knurrt Hassanzadeh, und im Wort ›Sie‹ klingt ein drohender Unterton mit. Swensens Worte wirken dagegen eher loyal.

»Herr von Wiggenheim, ich hätte gerne sämtliche Negative, die Sie in St. Peter-Ording gemacht haben. Und hinterher verraten sie mir noch den Namen und die Adresse ihrer Geliebten.«

»Muss das sein?«

»Ja, das muss sein.«

* * *

Die kalten Neonleuchten werden von den Fliesenwänden in hunderten von grellen Lichtpunkten widergespiegelt. Die beiden Gerichtsmediziner, Dr. Helmut Markgraf und Dr. Jürgen Riemschneider, binden ihre grünen Schutzkittel zu und streifen sich Mundschutz und Latex-Handschuhe über. Sie sind am Nachmittag, mit dem Auftrag eine Wasserleiche in Husum zu obduzieren, aus Kiel angereist. Auf dem Sektionstisch aus blankem Edelstahl liegt ein Frauenkörper. Der penetrante Geruch von Fäulnisgas liegt in der Luft, doch der hochgewachsene Markgraf nimmt ihn, wie immer nach einer gewissen Zeit, nicht mehr wahr. Ein Gerichtsmediziner entwickelt bei seiner Tätigkeit auf die Dauer eine gesunde Immunität gegen alles Verweste, Verbrannte und Blutige. Wegen seiner schlaksigen Körpermotorik hat sich Markgraf von seinen Kollegen den Spitznamen Pinocchio eingehandelt. Doch im selben Moment, in dem er das Skalpell ansetzt, widerlegt er diesen Anschein sofort. Mit ruhiger Hand schneidet er ein sauberes Y in die bleiche Haut, ungefähr fünf Zentimeter vom Halsansatz entfernt bis hinunter zum Nabel.

Weich wie Marzipan, denkt Markgraf und setzt zwei weitere Schnitte vom Nabel jeweils zum linken und rechten Hüftansatz. Danach faltet er die Hautlappen auseinander. Das Innere des Rumpfs wird freigelegt. Markgraf schaltet die elektrische Knochensäge ein. Das runde Sägeblatt beginnt mit einem sirrenden Geräusch zu rotieren. Der Gerichtsmediziner setzt es am Brustbein an und lässt es von oben nach unten durch die Knochen fräsen. Das kreischende Geräusch erwischt Swensen, als er den Raum betritt. Er merkt, wie sich seine Nackenhaare aufstellen und bleibt erst mal in der Tür stehen um noch einmal tief durchzuatmen. Das Ekelgefühl hat sich aber bereits im Magen festgekrallt.

Wer ein Leben voller Weisheit führt, muss auch den Tod nicht fürchten.

Ein Satz, der ihm verblüffender Weise jedes Mal in den Kopf kommt, wenn ihn seine Arbeit in eine Pathologie führt. Glücklicherweise kommt das, seit er seinen Dienst in Husum angetreten hat, wesentlich seltener vor als zu seiner Zeit in Hamburg. Auf der anderen Seite hatte ihn der Aufenthalt in diesen Räumen auch immer wieder fasziniert. Da war jedes Mal so ein zwingendes und unausweichliches Gefühl, das ihn am Anfang völlig verunsicherte. Erst viel später erkannte er, dass der Schrecken des Todes seine eigene Todesangst mobilisierte, eine Angst, die offensichtlich in uns allen steckt und immer erst dann ins Bewusstsein tritt, wenn der Tod zum Greifen nah vor einem liegt.

Als Dr. Jürgen Riemschneider, der gerade das Herz gereicht bekommen hat, Swensen in der Tür nach Luft schnappen sieht, gibt er ihm ein Zeichen doch draußen zu warten. Doch der schüttelt den Kopf und tritt entschlossen an den Sektionstisch. Mit einem kurzen Blick überzeugt er sich von den leeren Augenhöhlen. Es ist die Tote von den Fotos. Die beiden Gerichtsmediziner unterbrechen ihre Arbeit, ziehen sich den Mundschutz herunter und streifen sich die blutigen Handschuhe ab.

»Na, Jan! Musst du dir das mal wieder antun?«, sagt Riemschneider und deutet dann mit einer Kopfbewegung zu seinem Kollegen. »Dr. Markgraf kennst du noch nicht, ist erst seit kurzem bei uns.«

»Hallo, Hauptkommissar Jan Swensen, Kripo Husum!«

Markgraf schüttelt Swensen die Hand.

»Dr. Helmut Markgraf!«, sagt er und sieht Swensen bedeutungsvoll an. »Das Übliche, denk’ ich? Zeitpunkt des Todes. Natürlicher oder nicht natürlicher Tod. Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung.«

»Das auch. Aber als Erstes würde mich interessieren, ob die Tote Edda Herbst ist.«

»Es scheint Edda Herbst zu sein!« antwortet Riemschneider bevor Markgraf den Mund aufmacht. »Wir haben gehört, dass heute Vormittag ein Kollege von dir mit einem Videothekbesitzer hier war, der die Leiche identifizieren konnte.«

Riemschneider deutet auf den unteren Halsansatz der Leiche.

»Hier das Muttermal.«

Dann nimmt er die rechte Hand der Toten und hebt sie etwas in die Höhe. An den Fingernägeln sind Reste roten Nagellacks zu sehen.

»Und hier eine kleine, zirka 2 cm lange Narbe auf dem Handrücken.«

Nachdem Swensen sich die Merkmale angeschaut hat, wendet er sich erleichtert von dem Gruselszenario ab. Sofort glaubt Dr. Markgraf, dass jetzt seine Stunde gekommen wäre. Wie für einen Bühnenauftritt bringt er sich vor ihm in Stellung.

»Trotz der avitalen Beschädigungen ist eine Fremdeinwirkung auf den ersten Blick nicht festzustellen. Alles deutet auf Ertrinken hin. Die genaue Bestimmung der Todeszeit ist nach so langer Zeit im Wasser durch die starke Wärmeableitung kaum noch möglich. Das gilt auch für eine Bestimmung über supravitale Reaktionen, die sind genauso temperaturabhängig.«

Swensen kneift die Augen zusammen und Riemschneider übersetzt darauf das Fachchinesisch mit knappen Worten.

»Es gibt nur Verletzungen, die erst nach dem Tod durch Tierfraß, in diesem Fall Vögel, verursacht wurden. Zur Todeszeit können wir noch nichts sagen. Aber eins scheint sicher, wenn die Frau ertrunken ist, dann ist sie nicht vor Ort ertrunken. Auf der Vorderseite der Toten haben sich sehr starke Totenflecken gebildet.«

»Ja, und?« Swensen schaut die Gerichtsmediziner fragend an.

»Nun«, erklärt Markgraf mit Genugtuung, »Leichenflecken bilden sich nach dem Tod durch das Absinken des Blutes in tiefer liegende Gewebezonen.«

»Schwerkraft, alles fällt zu Boden«, erklärt Riemschneider. »Die Leiche muss also ziemlich lange auf dem Bauch gelegen haben. Wer nach dem Ertrinken im Wasser treibt, bildet keine Totenflecken.«

»Und was heißt das?«, fragt Swensen.

»Nun, die Frau ist mit Sicherheit nicht im Meer ertrunken. Sie muss gleich nach dem Tod längere Zeit auf festem Boden gelegen haben und erst viel später ins Wasser geraten sein. Das würde bedeuten, sie ist vorher ermordet worden!«

»Wann wissen Sie das genau?«

»Wir schauen uns als nächstes die Lungen näher an.«

»Ich gebe Ihnen meine Handynummer. Rufen Sie mich bitte sofort an.«

* * *

Susan raunt in ihrem typischen Singsang gerade ein »ich dich auch« ins Telefon und küsst geräuschvoll die Sprechmuschel, als sie Swensen neben sich wahrnimmt. Sie errötet bis unter die Haarwurzeln. Hastig legt sie auf und spielt nervös mit dem Kugelschreiber. Swensen zieht eine Folie mit Negativen aus einem Umschlag.

»Susan, können sie dafür sorgen, dass von diesen Negativen 40x50 cm Vergrößerungen gemacht werden, jeweils drei Abzüge?«

»Klar Herr Swensen, schon erledigt.«

Über den Flur gehen Heinz Püchel und Silvia Haman, die ihren Chef um eineinhalb Kopf überragt, auf den Raum zu, in dem die Pressekonferenz stattfinden soll. Doch vor der Tür müssen sie warten, eine kleine Gruppe Presseleute blockiert gestikulierend den Eingang. Fred Petermann vom Lokalradio und Rüdiger Poth von der Husumer Rundschau sind Swensen bekannt. Als Püchel ihn sieht, winkt er hektisch zu ihm hinüber. Bevor Swensen reagieren kann, klingelt sein Handy.

»Swensen!«

»Oh, wo ist denn Ihre schöne Melodie geblieben?«, säuselt Susan.

Swensen legt einen Finger an seinen Mund. »Jürgen, was gibt’s Neues? Wasser in der Lunge? … Aha, also eindeutig ertrunken? Okay, … gut … du bist also absolut sicher. Gut … wenn ihr die Laborwerte habt, bekomme ich sie sofort … prima, danke Jürgen, Moin, Moin!«

Swensen schreibt auf einen Zettel ›Edda Herbst ist ermordet worden‹ und eilt zur Pressekonferenz, die bereits begonnen hat. Auf einem Podium am Kopfende des Raums sitzen sein Chef Püchel, Staatsanwalt Dr. Ulrich Rebinger und Stephan Mielke hinter einem Tisch. Vor ihnen stehen einige Mikrofone. Der Staatsanwalt ist ein stämmiger Mann mit Hängeschultern, mittelgroß mit grauen Haaren, Seitenscheitel und leichtem Doppelkinn. Er hat das Wort ergriffen und referiert dabei so umständlich über den Ermittlungsstand im Fall Edda Herbst, dass selbst bei der Darstellung des Leichenfundes auf dem Krabbenkutter die gesamte Presse schläfrig auf den Stühlen hängt. Swensen pirscht sich an Püchel heran und legt ihm den Zettel vor die Nase. Der zuckt zusammen, stößt Rebinger in die Seite und schiebt ihm den Zettel hin. Rebinger verstummt und räumt den Platz hinter den Mikrofonen für Swensen. Der setzt sich und spricht mit klarer, lauter Stimme: »Meine Damen und Herren, es gibt neueste Erkenntnisse über die Tote aus der Nordsee. Es besteht jetzt der dringende Verdacht, dass diese Frau ermordet wurde. Die genaue Tatzeit ist allerdings noch nicht bekannt, liegt aber höchstwahrscheinlich zwischen dem 13. und 17. November. Unsere bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass die Ermordete vermutlich bei St. Peter-Ording ins Watt gebracht wurde. Wir bitten die Bevölkerung deshalb um sachdienliche Hinweise. Dabei interessiert uns besonders, ob jemand in der fraglichen Zeit einen Geländewagen beobachtet hat, der auf den Strand vor St. Peter-Ording gefahren ist. Wenn sie noch weitere Fragen haben, dann fragen Sie bitte!«

»Woher wissen Sie, dass die Frau ermordet wurde?«

Püchel versucht mit einer kurzen Handbewegung Swensen vermeintliche Auskunftsfreudigkeit zu stoppen.

»Genau auf diese Frage können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Auskünfte geben. Die laufenden Ermittlungen dürfen nicht gefährdet werden.«

Den Unmutsbekenntnissen der Journalisten begegnet Heinz Püchel, indem er seine Brust aufbläht und mit ausgebreiteten Armen beschwichtigende Gesten in den Raum schickt.

»Meine Damen und Herren, ich bitte Sie. Lassen Sie uns doch in Ruhe unsere Arbeit machen. Sie werden von uns weiter auf dem Laufenden gehalten.«

Während die Presseleute murrend den Raum verlassen, beugt Rebinger sich zu Swensen herüber. Sein rechtes Augenlid zuckt in regelmäßigen Abständen nervös herab.

»Herr Swensen, ich würde Sie bitten, mir Ihren Bericht schnellstmöglich zukommen zu lassen.«

Der scharfe Unterton stößt Swensen unangenehm auf. Er empfindet ihn als persönlichen Angriff. Seine alte Aversion gegen Rebinger aktiviert sich, aber er bemüht sich um Gelassenheit.

In seiner Antwort ist eine gewisse Süffisanz unüberhörbar.

»Spätestens morgen Mittag liegt er auf Ihrem Schreibtisch. Versprochen Herr Dr. Rebinger.«

Rebinger nickt, er nickt kurz zurück und sieht gerade noch, wie Stephan Mielke den Raum verlässt. Er beeilt sich ihn einzuholen und erwischt ihn kurz vor seinem Büro.

»Heh, Stephan. Ich hab gehört, du warst mit Hajo Peters bei der Identifizierung von Edda Herbst.«

»Es war ja sonst niemand da, der das gemacht hätte.«

»Ist ja gut! Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen! Ist dir was an ihm aufgefallen? Hat er sich irgendwie auffällig verhalten?«

»Nee, eigentlich nicht!«

Swensen sieht Mielke fragend an.

»Denk’ bitte genau nach, Stephan!!«

»Ach ja, zuerst wollte er auf Teufel komm raus nicht da mit hin. Ich musste ziemlichen Druck ausüben. Merkwürdig oder?«

»Wieso?«

»Dort war er dann mit einem Mal völlig cool!«

Hätschelkind

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