Читать книгу Die Spur des unbekannten Bruders - Winfried Paarmann - Страница 5
Im Rausch der Gipfelhöhe
ОглавлениеAlles war wieder lebendig, in klaren plastischen Bildern: Richard sah sich selbst, wie er als Zwölfjähriger neben seinem Zwillingsbruder Theo den Hang hinaufstieg, sie näherten sich bereits der Baumgrenze, der Weg wurde steiler, zunehmend nacktes Gestein. In der Ferne in funkelndem Weiß die erhabenen Schneeriesen des Dachsteingebirges.
Richard, auf der Couch ausgestreckt, begann zu flüstern:
„Theo... Ja, er ist bei mir...
An unserer Seite der Mann mit dem grauen Umhang aus Fell. Er ist klein, er hat diesen auffallend großen Kopf. Er läuft und springt mit der Wendigkeit einer Gämse. So bewegt er sich immer auf diesen Berghängen, selbst wenn sie steil werden wie jetzt, wir können kaum mit ihm mithalten.
Er hat uns gesagt, dass es dort oben eine Berghöhle gibt. Eine Höhle voll mit Kristallen.
Die Luft flimmert und singt. Es ist Mittag. Die fernen Schneegipfel liegen unter einem tiefblauen samtenen Himmel. Fern sehe ich einen Adler kreisen.
Die Luft flimmert, sie singt. Die ganze Atmosphäre der Berge pulsiert. Das nackte Gestein spiegelt das Licht, es funkelt, es blendet. Ein Rausch hat uns beide ergriffen.
Der Mann im Fellumhang: Etwas ist sonderbar mit seinem Aussehen, etwas ist fremd daran. Man könnte denken bei diesem Gesicht, diesem Blick: Dieser Mann ist gar kein Mensch. Irgendwie fürchten wir uns vor ihm. Wie uns zugleich etwas magisch in seinen Bann zieht. Er hat uns Kindern gesagt, dass er der ‚Bergkönig’ ist. Es ist sein Name. Wir können ihn auch so nennen.
Theo dreht sich einen Moment zu mir um. Er flüstert: ‚Du hörst es wieder? – Du hörst sie doch auch?’ Ich weiß, wovon er spricht. Er hat es mir vorhin schon einmal gesagt. Die Luft singt. Er hört unsere kleine Schwester darin. Sie singt für uns, so meint er. Manchmal singt sie von fern, hoch vom Gipfel herab. Dann singt sie direkt neben uns.
Wir nähern uns einem Geröllfeld.
Ich weiß: Gleich wird es geschehen.
Es gibt eine Gruppe von rötlichen Felsen an dieser Stelle.
Jetzt gleich geschieht es.
Ich sehe noch etwas anderes, dort hinter den rötlichen Felsen. Was ist es? eine Gestalt?
Theo betritt das Geröllfeld.
Der Mann im Fellumhang, der ‚Bergkönig’, wirft einen Stein.
Theo stürzt. Die Geröllwand hat sich in Bewegung gesetzt. Nun stürze auch ich.“
Das Bild begann zu verflimmern.
Plötzlich völlige Dunkelheit.
„Ich sehe nichts mehr. Alles schwarz.“
Wieder der Filmriss.
„Gehen Sie weiter voran,“ sagte die Frau neben ihm, die, wie immer ihren Notizblock in der Hand, jedes Wort aufmerksam verfolgte. „Gehen Sie voran, bis das Schwarze vorbei ist.“
„Ein lautes Surren. Ein Helikopter. Man fliegt mich zum Hospital.
Theo ist nicht bei mir.
Doch Vater.
Er beugt sich über mich. Ein Lächeln huscht durch seine Augen. Er ist glücklich, dass ich plötzlich die Augen aufschlage. Er streichelt meinen Kopf.
Doch Theo fehlt.
Vater sagt: Sie suchen ihn noch. Sie werden ihn finden.“
Richard hob den Kopf, rieb sich die Augen.
„Soll ich Sie hinauszählen?“ fragte die Frau.
„Ich schaffe es selbst.“ Richard schüttelte die leichte Trance von sich ab.
„Auch ich bin gestürzt.
Wahrscheinlich gab es nur diese Bewusstlosigkeit – bis ich im Helikopter wach wurde.
Wie ich doch spüre, immer noch, dass mir etwas verborgen bleibt…“
Richard wollte die Hypnosesitzung beenden. Über diesen einen Punkt führte sein Erinnern nicht hinaus, auch diesmal nicht.
Ein arbeitsreicher Tag wartete morgen auf ihn.