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Eine zufällige Begegnung

Mich überkam die Lust, einen Spaziergang in meinem Kiez zu unternehmen. Ich ging aus meiner Werkstatt zur U-Bahn und wollte gerade die Treppe hinabsteigen, als mir ein älterer Mann treppauf entgegenkam. Er lief mühselig und langsam, sodass ich ihn näher sehen konnte.

Dieser Mann kam mir sofort bekannt vor mit seiner Schirmmütze und dem markanten kleinen Spitzbart, seiner alten abgetragenen Kleidung, die einen Fleck auf der Hose deutlich zeigte. Die Schuhe, alte Modelle, die mir von einer Fotografie her bekannt erschienen.

Ich drehte mich auf der Treppe um und ging dem eher kleinen Mann hinterher. Mein leichtes Schulterklopfen ignorierte er erst, aber dann, bei einer nochmaligen Berührung, drehte er sich um und musterte mich mit stechenden Augen.

„Sind Sie nicht Herr Lenin, Wladimir Iljitsch, der große Revolutionär?“, fragte ich irritiert.

„Woher kennen Sie mich?“, bekam ich zur Antwort.

„Von Bildern und aus Ihren Werken, die ich während der Schulzeit und des Studiums lesen musste.“

Er nickte mit dem Kopfe. „Es gleicht schon einem Wunder, dass mich noch jemand kennt“, meinte er leutselig.

„Verehrter Meister, möchten Sie mich in meine Werkstatt begleiten, die sich hier ganz in der Nähe befindet? Ich stelle als selbstständiger Handwerker Holzspielzeug her. Im Sozialismus war ich der einzige Selbstständige, der – bei einer Einwohnerzahl von 170.000 Menschen – Holzspielzeug für die hiesige Bevölkerung auf den Markt brachte und jetzt noch bringt.“

Wladimir zeigte sich sofort interessiert, eine Person zu treffen, die im Sozialismus noch selbstständig arbeiten konnte. Seine früheren schnellen Bewegungen waren jetzt durch sein Alter sehr eingeschränkt.

„Sie fuhren doch in einem Viehwaggon durch Deutschland“, so sprach ich weiter, „danach haben Sie in Russland die Revolution initiiert und von Deutschland für Ihre Revolution noch ein paar Millionen bekommen.“

„Ganz richtig, der Viehwaggon war jedoch als solcher nur getarnt. In Wirklichkeit saß ich darin wie in einem Pullmanwagen, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Ich überging diesen Einwurf und fuhr fort, seine Taten zu loben, die Kanonenkugeln, welche von der Aurora abgefeuert wurden, und den Sturm auf das Winterpalais.

„Ja, ich erinnere mich ganz dunkel, den Film habe ich gesehen. Der Sturm auf das Winterpalais war ein Fehler, denn die Matrosen haben alles geplündert und auf dem Schwarzmarkt verscheuert“, meinte er und kratzte sich an seiner Glatze unter der Schirmmütze.

„Die Aurora liegt immer noch im selben Hafen und rostet vor sich hin“, redete ich weiter, „ja, und Stalin hat nach Ihrem Tode den Posten eines Generalsekretärs übernommen und sich später Generalissimus genannt.“

„Hören Sie auf, von diesem Schleimer und Massenmörder will ich gar nichts mehr wissen. Ich hatte ihn immer schon in Verdacht, dass er mich umbringen wollte – vielleicht hat er das auch getan, aber ich bin ihm in meinem 53. Lebensjahr durch einige Schlaganfälle zuvorgekommen. Nun liege ich gut einbalsamiert im Mausoleum an der Kremlmauer. Stalin wurde und wird doch – genauso wie die anderen zwei – als Klassiker verehrt, Marx-Lenin-Stalin. Ein Lump, dieser Stalin, der nur abschreiben konnte und das nicht mal fehlerfrei. Ohne seine Sekretärin wäre er als Analphabet enttarnt, alles Lug und Trug.“

„Es gab doch ein wunderschönes Gedicht über seinen unermüdlichen Fleiß“, konnte ich mich nicht enthalten, zu sagen, „den er für das russische Volk und die Weltrevolution entwickelte. Im Kreml brennt noch Licht, das haben ihm die Ostdeutschen geschleimt.“

„Blödsinn, der konnte auch bei Licht schlafen, dieser Trottel, und sein Butler hatte Angst, dass er im Schlaf mit der brennenden Zigarette den Kreml anzünden könnte. So wie damals Nero mit einer Fackel, das allerdings noch im antiken Rom.“

„Den Großen Vaterländischen Krieg hat er gegen Hitler gewonnen“, wandte ich ein.

„Nerven Sie mich bloß nicht mit solchen Märchen, es gab genug andere Völker, beispielsweise die USA und die Engländer, die entscheidend beteiligt waren. Stalin brachte es fertig, mehr eigene Landsleute umzubringen, als der Krieg Sowjetsoldaten verschlungen hat. Man hat ihn zu spät aus dem Mausoleum entfernt, während ich dort noch ein bescheidenes Dasein friste.“

„Sie waren immer ein bescheidener Mensch, Wladimir Iljitsch.“

„Wer hat Ihnen dieses Märchen erzählt – alles nur Show, lassen Sie sich nicht täuschen. Meine Frau, die Krupskaja, kann da einiges erzählen. Ich war ein machtgeiler Terrorist und Luxusmensch, der von einer hübschen Geliebten verwöhnt wurde. Wladi, so nannte mich die Krupskaja, wenn sie mir was Bedeutendes sagen wollte. Lass ab von der Weltrevolution, iss lieber meine guten Pelmenis, stecke die Beine unter den Tisch und überlass es den Russen und deinem Vertreter Stalin, die Sowjetunion selber zu machen. Du weißt, die Störungen in deinem Kopfe, die du immer bekommst, wenn du den Stalin nur siehst, kann dein frühes Ende bedeuten.“

„Wie Sie wohl wissen, ist nun Ihr Kommunismus und in Ihren Satellitenstaaten der Sozialismus nach den Thesen Ihres Vordenkers Marx Karl, dem Schöpfer des Kapitals und anderer Schmöker, gescheitert.“

„Das sieht nur so aus, mein lieber Spielzeugfritze, der Kapitalismus und die Auswüchse in Konzernen und Banken werden nicht überleben. Zar Putin und die Chinesen sind auf dem richtigen Weg, den Kapitalismus mit dem Kapitalismus hinwegzufegen.“

Ich begann zu zweifeln. „Ach, und wie soll das gehen?“

„Nun, dann denken Sie mal an den großen Denker Hegel, der die Möglichkeit von der Negation zur Negation erfand. Es kränkelt doch überall, die USA als Weltpolizist, ein zahnloser Tiger, der geradewegs in die Pleite steuert. In fast allen Staaten bereichern sich die Regierenden und sind korrupt – die neue Weltrevolution doch nicht mehr so fern. Leider ist es Realität, solange es Religionen gibt, werden Kriege geführt. Ich erwarte einen Islamboom, der alles Bisherige vernichten wird. Dann wird die Welt ganz anders, aber nicht besser. Sehen Sie doch Ihr Land an. Die islamischen Glaubensbrüder, die Sie vor vielen Jahren freundlich aufnahmen, gehen zu Tausenden auf die Straße und skandieren für den Präsidenten eines Landes, aus dem sie ursprünglich zu Ihnen gekommen sind. Die Religionen, und die daraus entstehenden Kriege, wurden immer als Wirtschafts- und Eroberungskriege missbraucht.“

„Sie haben, lieber Wladimir Iljitsch, darüber, wie der Kommunismus voranzutreiben ist, viele Schriften verfasst“, wollte ich ihn erinnern, doch er zuckte mit den Schultern.

„Alles Wunschdenken und Blödsinn. Wissenschaftler, die das untersuchten, haben daraus Altpapier produziert und höchstens noch lustige Geschichten darüber verbreitet.“

„Aber Ihr Hauptwerk Was tun ist doch noch ein wichtiges Buch zur Anleitung, den Kapitalismus durch die Arbeiterklasse und deren Intelligenz auszurotten.“

„Hören Sie auf, ich habe damit nur die unfähigen Parteipostenjäger auf den Plan gebracht! Ein unverzeihlicher Fehler, die ganze Theorie eine Kurzschlusshandlung meines Gehirns, das man mir nach dem Tode entnommen hat. Die Bücher meines Hauptwerkes schlummern, Gott sei dank, in den Archiven und sind Futter für den Reißwolf.“

„Wie jetzt, sind Sie etwa wieder religiös geworden nach Ihrem Gottesanruf?“, rief ich um Fassung ringend.

„Nein, an irgendetwas muss ich mich ja festhalten. Übrigens, es ist schön hier in Ihrer Werkstatt.“ Wladimir nahm seine etwas speckige Mütze ab und wischte mit dem Taschentuch den schweißigen Rand aus. „Machen Sie bloß keine Fabrik oder einen Konzern daraus, dies ist ungesund und bringt nur Magengeschwüre.“ Er ging zur Tür und drehte sich um. „Jetzt muss ich mich verabschieden, bei den Franziskanern öffnet die Suppenküche, und ich habe da eine kleine Beschäftigung für kostenfreies Essen.“

Ich wollte ihn noch begleiten, aber er lehnte ab. Inzwischen hatte ich die Lust zu einem Spaziergang verloren und begann, einen Spielzeugklettermaxen herzustellen. Zu Ehren des großen Revolutionärs und Terroristen Wladimir Iljitsch. Nur die Schirmmütze gelang mir nicht so gut.

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