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Titel
ОглавлениеTempora mutantur, et nos mutamur in illis oder Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit ihnen.
Prager trat auf die Terrasse seiner Ferienwohnung und genoss den Blick auf das Meer. Die Unterkunft befand sich in leicht erhöhter Lage über dem Dorf Lentas . Der Ortsname, das hatte er in einem Reiseführer gelesen, stammte vom altgriechischen Wort „Lenta“ und bedeutet Löwe. Naja, man braucht etwas Fantasie, um in der Felsformation der vorgelagerten Landzunge einen liegenden Löwen zu erkennen, dachte er. Er hatte sich diesen Ort ausgesucht, weil es hier noch keine größeren Hotels gab. Den Massentourismus fand man eher an der Nordküste Kretas und auch schon an der Südküste in beliebten Orten wie Agia Galini oder Matala . Beide Ortschaften lagen nicht weit entfernt westlich von Lentas .
Bei Durchsicht der Papiere hatte Prager entdeckt, dass er vor drei Jahren bereits zusammen mit seiner Frau Hannah in Agia Galini Urlaub gemacht hatte. Er fand es äußerst amüsant darüber nachzudenken, dass er den Unterlagen nach schon mit einer Frau auf Kreta war, die er später umbringen musste. Kuriose Welt. Die Pragers waren damals vermutlich auch hier in Lentas gewesen. Der Geschichtslehrer Rudolf Prager hatte jedenfalls in seinem leider nicht sehr ausführlichen Reisetagebuch über eine aufregend gefährliche Anfahrt über das Asteroussia-Gebirge geschrieben. Eine Straße voller Schlaglöcher und herabgefallener Steine sei das gewesen.
Auf dem Schotterweg, der an der Pension vorbei hinunter ins Dorf führte, sah der Mann, der sich nun auch Prager nannte, Frau Speer mit einer schweren Tasche bepackt, vorbeigehen. Er winkte ihr freundlich zu als sie zu ihm hochblickte. Sie stellte ihre Tasche ab und winkte zurück. Immer wieder schön, oder? Prager hob weihevoll die Hände, so als wollte er sagen, ja, vor uns liegt ein Wunder der Natur, genießen wir es, solange wir können. Frau Speer nahm ihre Tasche wieder auf: Wir sehen uns beim Zorbas , Herr Prager!
Wie vertraut das schon klang, Herr Prager, wir sehen uns beim Zorbas ! Einige Leute im Dorf nannten ihn den deutschen Professor, für andere war er ein Altertumsforscher. Frau Speer sagte nur ‚Herr Prager’. Vor wenigen Monaten hieß er noch Schmidt, Herrmann Schmidt. Er war im Range eines Majors beim Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Freiburg beschäftigt. Seine Aufgaben beschränkten sich vor seiner Pensionierung auf Gütesicherung und -prüfung.
Aber Schmidt hatte Selbstmord begangen. Vermutlich fürchtete er, so später die Erklärung von Kollegen, die Aufdeckung einiger belastender Dinge aus seiner DDR-Vergangenheit. In der Zeitung war zu lesen, dass alte Archive, die die Bundeswehr aus Beständen der NVA übernommen hatte, erneut überprüft werden sollten. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass wirklich alles vernichtet worden war, und nichts mehr an seine Vergangenheit beim Militärischen Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee der DDR erinnerte. Als ehemaliger Mitarbeiter der Militärischen Aufklärung wollte Schmidt nicht in seine letzte Lebensphase eintreten, jedenfalls nicht als Mitarbeiter mit besonderen Aufgaben.
Als er zufällig in Freiburg einen Mann sah, der sein Doppelgänger hätte sein können, reifte in ihm ein verwegener Plan: Ein neues Leben beginnen konnte nur heißen, das alte zu beenden. Dieser Schnitt musste radikal und mit äußerster Präzision in der Ausführung vorgenommen werden. Als ehemaliger Agent war ihm ein Wechsel der Identität fast zur täglichen Übung geworden. Jetzt ging es darum, eine Rolle zu übernehmen, die einzig und allein ihm von Nutzen sein sollte. In dem Gymnasiallehrer Rudolf Prager sah er für sich die Verkörperung seines neuen Lebens. Um Prager werden zu können, genügte es nicht, nur so auszusehen wie Prager. Er musste dessen Gewohnheiten, dessen Stil, dessen Auftreten, seinen Gang, seine Gesten, die Bewegung seiner Hände, die Haltung des Kopfes übernehmen. All das, was einen Menschen für andere erst kenntlich macht, musste studiert, eingeübt und verinnerlicht werden. Erst wenn er wie Prager zu denken und zu fühlen gelernt hatte, konnte er wirklich Prager sein.
Ein ehrgeiziges Projekt hatte er sich da vorgenommen und ein gefährliches Spiel war es auch. Er musste sich vor Selbstüberschätzung hüten und eine abwartende Haltung kultivieren, das war ihm nicht immer ganz leicht gefallen. Aber fürs Erste war es wichtig, von allem Abstand zu gewinnen, räumlichen und zeitlichen Abstand. In Freiburg zu bleiben, nein, das wäre nicht gut und letztlich nicht möglich gewesen. Dieser Stadt konnte er sich erst wieder nähern, wenn über den Ereignissen des vergangenen Jahres genügend Gras gewachsen war. Im Juli war Frau Prager ermordet worden. Bis heute hatte die Polizei den Täter nicht fassen können. Unbeachtet von der großen Öffentlichkeit hatte sich wenige Wochen danach ein Beamter der Bundeswehr in seiner Wohnung erhängt. Wen interessierte das schon. Der Mann hatte keine Angehörigen und kaum Freunde.
Prager nahm seine Umhängetasche vom Wandhaken, steckte das graue Notizbuch und ein Buch über Nikos Kazantzakis ein, sah nach, ob Bleistift und Kugelschreiber in der Tasche lagen, streifte sich die bequemen Slipper über und verließ die aus hellem Naturstein gebaute Unterkunft, die sie hier Studio nannten. Bis zum Dorf brauchte er fast zehn Minuten, dafür genoss er hier oben absolute Ruhe, nur manchmal hörte man hinterm Haus vom Hang her das Gebimmel der Schafe.
Doch ruhig ging es auch im Dorf zu. Es gab hier noch keine Durchgangsstraße. Jetzt, Mitte Mai, hatten erst wenige Touristen den Weg über die Berge hinunter nach Lentas gefunden. Die Badesaison begann Mitte Juni. Richtig heiß sollte es in den Monaten Juli und August werden, dann war auch der kleine Strand unten bevölkert aber nie überfüllt, wie ihm Frau Speer, die schon seit Jahren hierher kam, vor zwei Tagen erzählte. Wenn Sie baden gehen wollen, sollten Sie den Sandstrand auf der Westseite der Landzunge nehmen, hatte sie, die Ortskundige, geraten. Aber Vorsicht, Herr Prager, dort trägt man keine Badehosen, kicherte sie.
Adam und Xanthoula Grigoraki hatten die schmucken Appartements bauen lassen. Sie betrieben im Ort auch die Taverne Zorbas , auf deren Terrasse für Prager heute wie auch schon in den vergangenen Tagen der Frühstückstisch gedeckt war. Eine bequeme Einrichtung, die er des Öfteren auch abends zu nutzen wusste. Das Restaurant gewährte einen schönen Blick auf die Bucht. Die nicht weit entfernte Taverne El Greco stand dem Zorbas in nichts nach, dort war die Aussicht auf das Lybische Meer und den Löwenfelsen noch beeindruckender. Die Taverne wurde von drei Brüdern geführt, eine Frau hatte Prager dort noch nicht gesehen. Einer der Brüder war der Koch, der zweite Cheforganisator und der dritte ein Kellner mit Witz und viel Charme. Hier war es noch üblich, dass man vor der Auswahl der Speisen einen Blick in die Kochtöpfe warf. Da sprachlich zwischen Gast und Wirt meist Fragen offen blieben, war eine Besichtigung vor Ort manchmal sehr von Vorteil.
Prager hatte seine Essgewohnheiten den ortsüblichen Verhältnissen angepasst. Meist genügte ein kleines Frühstück bestehend aus ein oder zwei Tassen Kaffee. Das reichhaltige Abendessen vom Vortag ließ am Morgen noch kein großes Hungergefühl aufkommen. Die Hauptmahlzeit des Tages wurde abends eingenommen. Ab 20 Uhr war für ihn ein Tisch im El Greco reserviert. Er sagte rechtzeitig bei Stefano, dem Cheforganisator, ab, wenn er sich auf Tour begeben wollte und nicht wusste, ob er rechtzeitig zurück sein konnte.
Jetzt brachte ihm Xantthoulas Tochter Elpida den Kaffee, dazu wie üblich frisches Brot mit Marmelade. Prager legte sein graues Buch neben die Kaffeetasse und überflog die Notizen vom Vortag. Er hatte sich mit der achtzigjährigen Eleni Giannedakis getroffen. Elpidas Bruder Wasili hatte beim Übersetzen geholfen. Prager wollte etwas über die jüngere Geschichte des Orts in Erfahrung bringen. In seinem Studio hing ein altes Foto von Lentas . Auf dem verblichenen Bild war zwischen Felsen nur ein Hausdach zu sehen, sonst nur Zitronen- und Zedratbäume. Jetzt reihte sich am Strand eine Taverne an die andere. Es gab auch einen Supermarkt und eine Bäckerei im Ort. Das Appartement, das Prager bewohnte, war keine drei Jahre alt.
Die alte Eleni konnte sich noch genau erinnern, wie das hier unten im Süden von Kreta begonnen hatte. Es hatte geregnet als käme die Sintflut, sagte Eleni. Alle Gärten mit den mühselig hochgezogenen Tomaten, Gurken und Zucchini waren vom Regen verwüstet worden. Ich fragte meinen Mann, was wir jetzt machen sollen. Er kramte aus seinen Hosentaschen noch eine letzte Münze. Wir gingen in den damals einzigen kleinen Kafenion von Lentas einen Kaffee trinken. Dort hatte sich eine Gruppe von Griechen aus Heraklion niedergelassen. Sie tranken den ganzen Abend und der Wirt goss immer wieder Schnaps in die Gläser seiner Gäste. Ich dachte mir, wie leicht dieser Wirt doch sein Geld verdient. Als wir wieder zu Hause waren, habe ich zu meinem Mann gesagt: Wir bauen uns auch so ein Kafenion.
Prager ließ sich noch einen Kaffee einschenken, lehnte sich zurück und sah hinaus aufs graublaue Meer. Alle warten sie jetzt im Frühjahr auf die Fremden, die mit dem Bus, dem Leihwagen oder mit dem Rucksack auf dem Rücken den Berg herunterkommen. Und so, wie sie einst Oliven von der Erde sammelten, um Öl und Geld aus ihnen zu pressen, so sammeln sie heute die Touristen ein.
Er hatte im Internet nach einem Ort auf Kreta gesucht, der etwas abseits lag, gleichwohl aber nicht aus der Welt war. Vielleicht wäre Agii Deka günstiger gewesen, das lag nicht weit von den archäologischen Ausgrabungen von Gortyn entfernt. Aber das Meer hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Er wollte aufs Meer hinausschauen können, wenn er sich schon zum Gelehrten wandeln musste. Hinter dem Horizont lag Lybien. Das klingt fremd und gut, dachte Prager: Ich trinke Kaffee und schaue aufs Lybische Meer. Am Morgen hatte das Wasser über dem Dunst eine silbergraue Farbe angenommen, am Nachmittag wird es wieder tiefblau sein. Reinhard Mey hat recht, wenn er singt: Es hat tausend Farben und tausend Gesichter . Es kommt darauf an, wie das Sonnenlicht an der Wasseroberfläche reflektiert und gebrochen wird. Und im Meer selbst wird das Licht von Abermillionen Wassermolekülen und Partikeln in alle Richtungen, auch rückwärts, umgeleitet. Solche Gedanken gingen dem falschen Prager durch den Kopf, als er auf der Terrasse der Taverne Zorbas seinen morgendlichen Kaffee trank und aufs Meer hinaus sah.
Bei seinen Recherchen war Prager auf einen berühmten Zeugen gestoßen, der Lentas schon vor vielen Jahrzehnten erlebt und beschrieben hatte, den Schriftsteller Nikos Kazantzakis, der mit seinem Roman Alexis Sorbas Weltruhm erlangte. Prager konnte sich erinnern, dass er dessen Verfilmung mit Anthony Quinn und Lila Kedrova Ende der 60er Jahre gesehen hatte.
In die Einsamkeit am Lybischen Meer zog es Kazantzakis 1924. Das war die Zeit, als er in Begeisterung für die Ideen der kommunistischen Revolution in Russland schwelgte und auch eine neue Gesellschaft in Griechenland und auf Kreta schaffen wollte. Es war aber auch die Zeit, als er begonnen hatte, sein Versepos Odyssee zu schreiben. Er bat seine Freundin Eleni nach Kreta zu kommen und mit ihm nach Lentas zu reisen. Eleni kam, wie Prager gelesen hatte, zu ihrem Geliebten, beschrieb den Ort später aber als wenig einladend. Ein halbmondförmiger Strand, von zwei Seiten durch steil abstürzende Felsen eingeschlossen. Ein einziges Dach: ein Speicher, mit Krügen und Getreide gefüllt. Ein einziger Bewohner: ein halb tauber und blinder Greis. [...] Weder Tisch noch Bett, keine Wäsche, nichts, was die Illusion von Behaglichkeit hervorrufen könnte. Ameisen, Fliegen und heller Sand, der rauchte wie geschmolzenes Zinn. Kazantzakis arbeitete in Lentas intensiv an seiner Odyssee , der Rest des Tages war der Lektüre und dem Baden am Strand gewidmet.
Prager lächelte, ich mache es genauso: Am Morgen widme ich mich dem Studium der römischen Geschichte, den Mittag verbringe ich dösend unter einem schattigen Vordach, am Nachmittag fahre ich zu den Ruinen von Gortyn und den Abend beschließe ich beim Wein im El Greco . Was mir fehlt, ist eine treue Gefährtin, der ich in einer kühlen Grotte, zur Not tut es auch mein Studio, von meiner Verwandlung erzählen kann. Kazantzakis‘ Freundin Eleni hatte notiert: Am Tage lasen wir in einer engen Grotte kauernd, vernünftigerweise Ilias, Goethes Iphigenie auf Tauris, Aischylos und Tschechov.
Kazantzakis führte in Lentas das Nacktbaden ein. Heute nichts Ungewöhnliches, erst heute Morgen hatte ihn Frau Speer an diese Möglichkeit der Naturerfahrung erinnert. Für die damalige Zeit wohl ein ungeheurer Vorgang, dachte Prager, eine Rebellion gegen Sitte und Anstand. Ein Mann und eine Frau abends am Strand - existiert Höheres im All? , hatte Kazantzakis geschrieben. Prager zog ein zusammengefaltetes Blatt aus seinem Notizbuch. Er hatte sich noch in Freiburg Auszüge aus Briefen an die „liebe, liebe Genossin“ kopiert. Er hatte sich eine Stelle unterstrichen: Doch wäre es, und ich müsste jetzt plötzlich sterben, so würde vor meine Augen das Meer bei Leda treten, unser Fels, der glühend heiße Kiesel, die flammenden Zitronenbäume, ihr schlanker biegsamer Leib, ihr schmaler und verschlossener Mund. Ach, voll von Wunderbarem ist diese Erde, und unser Herz ist ein nie befriedigtes, furchtbares Mysterium, das die ganze Höllenqual des Lebens in heilige Trunkenheit umwandelt. Erinnern sie sich doch - welch ein Ringen, um Leda in ein Paradies zu verwandeln! Leda, Lentas , man muss nur das Ganze etwas literarisieren, schon ist ein Sinn im Dasein. Und ich sage mir, ich heiße Prager, ich bin ein pensionierter Geschichtslehrer aus Deutschland und gehe hier meinem Hobby, dem Studium der römischen Geschichte auf Kreta nach.