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Lufthauch

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„Die Reinheit der Rasse ist heilig.“

„Und heilig das Leben, wenn Vernunft es erfüllt. Setz dich, Lufthauch.“

Lufthauch schaute sich um. Es gab hier nur einen Stuhl. Der befand sich auf der anderen Seite eines Tisches, und Sumpfwasser saß darauf. Keine Hocker, und es fehlten auch von Magie kunstvoll herbeigebogene Äste, die sich als Sitzgelegenheit nutzen ließen. Da hingen nur diese vier geflochtenen Körbe an dünnen Ketten von der Decke herab. Saß man erst einmal in diesen Halbkugeln, kam man nur schwer wieder heraus. Jeder Waldläuferinstinkt musste bei diesem Anblick aufschreien. Als er sich dann tatsächlich setzte, tat er das linkisch und umständlicher, als es seine Art war. Ich muss mir Zeit lassen, darf nichts überstürzen.

Dass die Wehrhüter Lufthauch riefen, war nicht ungewöhnlich. Er hatte schon mehrfach kleinere Aufträge übertragen bekommen. Aber hier saß ihm nicht irgendwer gegenüber, sondern der Erste Berater des Großen Elfenrates. Der stand für alles, womit sich der Rat beschäftigte, und noch Etliches mehr. Er war das Machtzentrum des Elfenvolkes. Wie konnte ein einzelner Mann nur so viel Macht in sich vereinigen? Und, vor allem, was konnte dieser Mann ausgerechnet von ihm wollen? Wie soll ich mich geben? Etwas untertänig, oder besser eifrig? Nein, besser gleichgültig, denn Gleichgültigkeit … Bevor Lufthauch zu einer Entscheidung gelangen konnte, berührten seine Beinkleider bereits die verflochtenen Äste der Korbkugel und er saß. Sumpfwasser hingegen war aufgestanden, hatte ihm den Rücken zugekehrt und schaute über die Wipfel der Bäume. Ein Anblick, den er nur deswegen genießen konnte, weil sich der Arbeitsplatz eines Ersten Beraters selbstverständlich in der höchsten Baumkrone befand. Das wirkte alles nicht richtig hier. Lufthauch drängte es danach, wieder aufzustehen.

Die leisen Geräusche der Korbkugeln verrieten Sumpfwasser das Unbehagen seines Gastes. Betont gelassen kehrte er an seinen Platz zurück. Er schaute durch Lufthauchs Unsicherheit hindurch wie durch ein schlecht geknüpftes Spinnennetz. Unsicherheit führte leicht zu einem unberechenbaren Verhalten. Und nichts konnte er im Augenblick so wenig gebrauchen wie Unberechenbarkeit. Hoffentlich habe ich mich nicht in dir getäuscht, mein Junge, dachte er und versuchte sich an einem Lächeln. Es gelang ihm nur deshalb, weil es sich über eine Andeutung nicht hinaus traute. „Du bist also der, den man den Waldläufer nennt“, sagte er. „Ich habe viel von dir gehört.“

„Ein Name ohne Bedeutung. Sind nicht alle Elfen Waldläufer?“

Angriff, Abwehr, Gegenstoß. Dieser Lufthauch war schnell und gespannt wie ein Jagdbogen vor dem Schuss. Es würde nicht einfach werden, zu dem einzigen Punkt zu kommen, um den es wirklich ging. Für einen Moment herrschte Stille in dem luftigen Wipfel. Die Sonne zeichnete Kringel auf den Anzug des jungen Mannes. Der Wind musste draußen etwas aufgefrischt sein, er brachte jetzt die Luft im Raum ebenfalls in Bewegung. Die Korbkugel unter Lufthauch knarrte, als sich das Gewicht, das sie trug, verlagerte. Für Sumpfwasser war dieses Geräusch immer wieder eine Offenbarung. Kein Knarren glich dem anderen. Unter jedem Gewicht, jeder Körpergröße und -form erklang der Korb anders. Schon manch ein Besucher hatte sich gefragt, warum hier überhaupt Kugeln hingen und es keine anderen Sitzplätze gab, doch niemand hatte es bisher gewagt, diese Frage auszusprechen. Sollte er verraten, dass ihm die Kugeln Geschichten über die Menschen erzählten, die darin saßen? Gleichgültig, worüber gesprochen wurde, am Ende wusste er immer viel und der andere nichts. So würde es auch dieses Mal sein.

„Das sind kluge Worte für einen so jungen Mann“, sagte er schließlich. „Aber bedenke, wenn jeder Elf ein Waldläufer ist, was wäre dann der, den die Leute so nennen?“

Lufthauch dachte nur kurz nach. „Vielleicht jemand, der sich lieber draußen als drinnen aufhält?“

„Gut geantwortet. Es hilft in vielen Situationen, wenn man um das rechte Wort nicht verlegen ist. Aber lass uns zur Sache kommen. Das hier …“, Sumpfwasser machte eine weit ausladende Handbewegung, „… ist nicht ein Ort, an dem du dich gerne aufhältst, und deshalb möchte ich dich auch nicht lange festhalten. Ich habe dich kommen lassen, weil ich nur Gutes über dich gehört habe und weil ich jemanden mit deinen Fähigkeiten brauche, jemanden, der nicht gesehen wird, wenn er nicht gesehen werden will. Ich selbst werde in nicht allzu kurzer Zeit eine Viertelelfe nach NA-R schicken, und ich brauche eine Person von hoher Zuverlässigkeit, der ich vertrauen kann. Du sollst die Frau auf ihrer Fahrt zu unserer Quarantänestation so überwachen, dass sie dich nicht bemerkt. Sie wird einen Frachter der Gesellschaft von der Bergarbeitersiedlung bis hin zur Station nutzen. Dort übernimmt unser Kontakt, und deine Aufgabe ist beendet. Das ist alles. Hast du das soweit verstanden?“

Durch den Baumwipfel kam ein Vogel zu ihnen geflogen, setzte sich auf eine Stange, sang ein kurzes Begrüßungslied und putzte sich das Gefieder. Sumpfwasser erhob sich, ging zu dem Vogel, strich ihm über den Kopf und entfernte etwas von dessen Bein. Dann setzte er sich wieder hin und wartete auf eine Antwort aus dem Hängekorb.

„Sicher. Da gibt es nicht viel zu verstehen. Ganz im Gegenteil. Das ist so einfach, dass ich mich frage, wofür ich überhaupt gebraucht werde.“ Das merkwürdige Unbehagen hatte nicht weichen wollen. Lufthauch war sich sicher, dass er dieses Gefühl schon einmal und vor gar nicht so langer Zeit gehabt hatte, konnte sich aber nicht erinnern, wo und wann das gewesen war. Sumpfwasser ließ ihm auch nicht die Zeit, dieser Gedankenspur nachzugehen.

„Der Viertelelfe darf unter keinen Umständen etwas passieren, hörst du? Sollte doch etwas Unerwartetes geschehen, musst du handeln, selbst auf die Gefahr hin, dass sie dich dann bemerkt. Ihre Sicherheit steht über allem.“

Lufthauch sah winzige Schweißperlen auf der Oberlippe des alten Mannes. „Sie ist ein Dreiviertelmensch“, sagte er.

„Na, na, Viertelelfe klingt doch viel netter. Das macht sie zu einer von uns, was sie in gewisser Weise ja auch ist.“

„Warum lasst Ihr sie nicht einfach durch einen unserer Wehrhüter bewachen?“

Sumpfwasser hörte auf die Korbkugel. Der junge Mann fühlte sich jetzt sicher. Gut so. „Das ist leider nicht möglich“, sagte er, als wäre es wirklich keine große Sache. „Es wurde leider versäumt, sie zu markieren.“

„Und das lässt sich nicht mehr nachholen?“

„Selbstverständlich wäre das möglich. Nur würde es dann keinen Sinn mehr machen, sie loszuschicken.“

Lufthauch und hob abwehrend die Hände. „Dann bin ich, befürchte ich, der falsche Mann für Euch.“

Sumpfwasser zog eine Augenbraue hoch.

„Einen unmarkierten Mischling nicht augenblicklich zu melden, verstößt gegen eines unserer wichtigsten Gesetze. Und ich bin der, den sie verfolgen werden, wenn etwas nicht so läuft, wie es laufen soll. Ihr habt bestimmt Verständnis dafür, dass ich Euren Auftrag ablehnen muss.“ Lufthauch war sich sicher, dass Sumpfwasser ihn auf eine Probe gestellt hatte. Aber nicht mit mir, dachte er.

„Aber nicht doch. Die erste Frage, die gestellt würde, wäre die nach dem Verantwortlichen, der sie in den Frachter brachte, oder dem, der den Wachen befahl, wegzuschauen. Du aber bräuchtest nur zu sagen, dass du sie melden wolltest und ihr gefolgt bist, um zu erfahren, wohin sie sich begibt. Schließlich kann dir niemand nachweisen, dass du von ihrer Existenz gewusst hast.“

„Das wäre aber eine Lüge. Wollt Ihr mich zu so einer Aussage verleiten?“

Sumpfwasser seufzte. „Mach es nicht komplizierter, als es ist. Fangen wir von vorn an. Bei wem müsstest du sie melden?“

„Beim nächsten Wehrhüter.“

„Und den Gesetzesverstoß der fehlenden Markierung?“

„Auch bei den Wehrhütern.“

„Und wer führt die Wehrhüter an?“

„Das seid wohl Ihr, wenn ich mich nicht täusche.“ Lufthauch kamen erste Zweifel, ob das wirklich nur eine Probe war.

„Wo liegt denn dann die Schwierigkeit? Du könntest doch darauf hinweisen, dass du genau das getan hast.“

„Und Ihr könntet es abstreiten. Wer sollte mir da glauben?“

Sumpfwasser fühlte Ungeduld in sich aufsteigen. Es war immer die gleiche Schwierigkeit mit all den jungen Männern, die nicht mit den Wehrhütern zusammen aufgewachsen waren. Konnten sich einfach nicht vorstellen, dass es einen Alltag gab, der bewältigt werden musste und dass dieser Alltag Regeln, Gesetze und sogar ganze Prinzipien abschliff, bis niemand sie mehr erkennen konnte. Ein letzter Versuch: „Niemand wird behaupten, dass du das wissen konntest.“

„Ich bin ein Waldläufer, ein Fährtenleser, Kundschafter. Ich begleite Jagdtrupps auf ihren Patrouillen. Ich brauche nur zehn Schritte in einen Wald hineinzugehen, und selbst Ihr hättet Schwierigkeiten, mir da zu folgen. Aber eine Viertelelfe in einem Frachter zu begleiten, ist, als wolltet Ihr einen weißen Wolf in einem Wildschweinrudel verstecken. Das ist völlig unmöglich.“

„Vorhin warst du noch der Meinung, dass alles ganz einfach wäre. Du wirst sehen, dass es möglich ist und lernen, wie man es möglich macht. Betrachte es einfach als Teil deiner Ausbildung.“

„Aber ich bin ausgebildet. Ich bin ein Altjäger.“

„Von denen wir mehr haben als Bucheckern unter einer Buche in einem Mastjahr. Einen Altjäger brauche ich nicht, und deshalb bist du auch ab sofort kein Jäger mehr. Wer braucht in einer Angelegenheit, von der das Schicksal unseres ganzen Volkes abhängt, einen Altjäger?“ Sumpfwassers Stimme kam leise, gelassen, war nicht drängend oder gar bedrohlich, und selbst das „Schicksal unseres ganzen Volkes“ kam eher selbstverständlich als verzweifelt daher. Und trotzdem schaute Lufthauch wie ein angeschossenes Tier, das noch nicht verstand, was ihn getroffen hatte.

„Steht es wirklich so schlimm?“

Was war das denn für eine Kinderfrage? Wie viel Hilflosigkeit doch noch in diesem Bengel steckte! Altjäger. Pah. Sumpfwasser entschloss sich für einen Wechsel seiner Strategie. Manchmal war die beste Lösung eine brutale Dosis der reinen Wahrheit. In der Politik wurde das viel zu oft vergessen. „Du kommst viel herum, Lufthauch. Warst auch außerhalb unserer Elfenwälder. Sollten dir die Zeichen entgangen sein? Halva, unsere geliebte Welt, hat angefangen, sich selbst zu zerstören. Wie schnell ihr das gelingt, weiß niemand. Und ob man eine ganze Welt davon abbringen kann, sich umzubringen, kann erst recht niemand sagen. Ich weiß noch nicht einmal, ob unser ganzes Tun und Handeln in dieser Sache überhaupt einen Sinn ergibt. Aber eines weiß ich. Ich werde mich bis zum letzten Atemzug gegen den Untergang stemmen. Mit allem, was ich habe, und allem, was ich bin.“ Und in demselben Augenblick, in dem er diese Worte aussprach, wurde ihm zur eigenen Verwunderung das Herz frei, und eine Verzweiflung verließ ihn, die ihn die ganze Zeit hinuntergedrückt hatte. Zum ersten Mal ausgesprochen zu haben, was ihn seit langer Zeit wie eine kaum zu bewältigende Last zu Boden drückte, gab ihm neue Kraft. Nein, er würde nicht weichen. Er nicht.

„Aber wenn ich kein Jäger bin, wer bin ich denn dann?“

Sumpfwasser lächelte. Das war ja schnell gegangen. Von der Zerstörung der Welt zurück zu sich selbst. Er hatte ihn. Etwas Unterstützung, etwas Vertrauen und eine Spur Strenge. „Eine gute Frage in dieser schweren Zeit“, sagte er. „Obwohl ich glaube, dass du bei einigem Nachdenken die Antwort auch selbst finden könntest, wenn du dir die Zeit dazu gönnst. Du hast ja sehr schnell und völlig richtig erkannt, dass wir durch die fehlende Markierung der Viertelelfe ein Verbrechen begangen haben. Aber solche Dinge sind harmlos, solange niemand davon erfährt. Solche Dinge gehören zu den kleinen Geheimnissen unseres Handwerks. Und du bist nun ein Teil dieses kleinen Geheimnisses.“

„Ja, nur …“

„Als Teil dieses kleinen Geheimnisses bist du ein Geheimnisträger, als Geheimnisträger gehörst du im weitesten Sinn zum Elfenrat oder seinem Hüter, also mir, mindestens aber zu den Wehrhütern im Allgemeinen. Und das ist es auch schon. Selbstverständlich musst du deine Eidesformel noch sprechen. Erinnere mich daran, dass wir das noch erledigen, bevor du gehst. Gibt es noch etwas, das du wissen möchtest?“

„Ja, erlaubt mir bitte noch zwei Fragen: Warum seid Ihr ein solches Risiko eingegangen, jemanden anzusprechen, den Ihr nicht kanntet, und von ihm zu erwarten, dass er sich auf so etwas einlässt? Und vor allem, warum habt Ihr es höchstpersönlich auf Euch genommen, diesen Auftrag zu erteilen, anstatt das zu delegieren und auf diese Art saubere Hände zu behalten?“

Sumpfwasser lächelte. Das waren zwei gute Fragen. Aber die hättest du früher stellen müssen, mein Junge. „Du bist mir empfohlen worden“, sagte er.

„Von wem?“

„Von Truppführerin Bork. Diese Frau kennt ihre Leute, und ich vertraue ihrem Urteil blind.“

Jetzt fiel es Lufthauch wieder ein. Er hatte Bork vor nicht allzu langer Zeit auf einer Patrouille begleitet, auf der sie einen Elfen unreinen Blutes gefangen genommen hatten. Auch da hatte er dieses Gefühl gehabt, dass sie ihn eigentlich gar nicht gebraucht hätten. Genau wie jetzt für die Begleitung einer Viertelelfe. Das konnte nicht alles sein. Er ließ sich doch keinen Sand in die Augen streuen. Vielleicht war das alles Teil eines größeren Plans. Dem Ersten Berater traute er alles zu. Vorsicht, Lufthauch, ermahnte er sich.

„Die Bork?“, sagte er. „Ich war einige Male mit ihr auf Patrouille. Aber wir haben kaum mehr als eine Handvoll Worte miteinander gewechselt. Woher sollte sie mich gut genug kennen?“

„Auf der letzten Patrouille seid ihr auf zwei Drachen gestoßen.“

„Das ist richtig. Es war ein großartiges Erlebnis, dieser Kriecher zu begegnen, über die so viele Geschichten erzählt werden. Wir sind mitten in einen Streit zweier Drachen hineingeplatzt. Mit was für einer Wut im Bauch der andere Drache davonflog. Aber was in aller Welt hat das mit meinem Auftrag zu tun?“

Sumpfwasser sprang auf, bekämpfte seine Erregung, indem er Lufthauch erneut den Rücken zudrehte, quer durch den Raum ging und nach draußen starrte, als suchte er in der Ferne einen Punkt, an dem er sich festhalten konnte. „Weißt du überhaupt, wie selten es ist, dass sich ein Drache vor uns Elfen zeigt? Das ist so selten, dass kaum jemandem ein solches Erlebnis jemals vergönnt ist, und wenn er alle Tage durch die Drachenberge streifen würde. Viele zweifeln sogar daran, dass es diese Wesen überhaupt noch gibt. Und du siehst gleich zwei davon.“

„Die anderen haben sie auch gesehen.“

„Ja, aber du hast behauptet, sie hätten sich gestritten. Und du bist sicher, dass einer der beiden Drachen Kriecher war.“

„Ihr rechter Flügel war gelähmt, doch tat das ihrer Ausstrahlung keinen Schaden.“

„Siehst du, das meine ich, Lufthauch. Alle anderen sprachen nur von zwei Drachen. Aber du scheinst mehr gesehen zu haben als die anderen. Du hast etwas gespürt, was niemand sonst gespürt hat. Und glaube nicht, dass Drachen sich so einfach beim Streiten zusehen lassen. Drachen kann man nicht überraschen, weil sie Elfen und Menschen immer einen Schritt voraus sind. Drachen können …, ach was rede ich.“ Sumpfwasser machte eine ärgerliche Bewegung mit der Hand und drehte sich wieder herum.

Lufthauch hatte nichts mehr in seinem Korb halten können. Jetzt standen sie sich gegenüber. Sumpfwasser und Lufthauch, der Ältere und der Jüngere, und es war nicht mehr viel Platz zwischen ihnen. Lufthauch wich einen halben Schritt zurück. „Ich konnte den Zorn hören wie fernes Waffengeklirr.“ Die Stimme des jungen Elfen war leise geworden, die Worte kamen stockend aus seinem Mund. Doch nicht Furcht hielt sie zurück. Es war die Mühe, sich richtig zu erinnern, denn seine Erinnerungen waren flüchtig und von Magie durchwoben und gaben sich jetzt alle Mühe, sich einem Zugriff zu entziehen. Er sah Kriecher in den Drachenbergen und gleichzeitig den Baumwipfel mit dem Gesicht von Sumpfwasser vor sich, das immer größer wurde, sich aufblähte und mit den anderen Eindrücken verschmolz. „Die ganze Luft war von Schlachtenlärm erfüllt. Und dann dieser Geruch von Wildheit, wie man ihn vom Lagerplatz eines Rudels Raubkatzen her kennt. Und …“

„Das genügt“, sagte Sumpfwasser und die Vision ebbte ab. „Zurück zu Kriecher? Was hat sie getan?“

„Sie ist gegangen. Ruhig und gelassen. In ihr war keine Wut. Sie hat noch einmal über die Schulter zurückgeblickt und mich dabei angesehen. Und dann …“ Lufthauch brach die Stimme. Da war doch noch etwas gewesen. Eine Illusion. Kriecher hatte mit zwei Köpfen geschaut und nur einer davon hatte sich gedreht. Oder war es doch nur ein einziger Kopf gewesen? Ein Mädchenkopf? Nein, ein Frauenkopf.

„Und?“

Lufthauch schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht mehr, weil sich in jenem Augenblick die ganze Welt um mich herum verändert hatte. Es war mir, als hätte alles nur noch aus Magie bestanden. Aber Kriecher besaß zwei Köpfe. Zumindest für einen kurzen Moment.“

„Und was haben die Wehrhüter während der Zeit gemacht?“

Lufthauch schaute verdutzt. „Was sollen sie gemacht haben? Nichts. Sie haben sich wie ich die Drachen angeschaut.“

„Du Idiot!“ Sumpfwasser nahm seine Wanderung wieder auf, blieb ruckartig stehen, drehte sich um. „Kriecher hat dich gerufen. Und Drachen rufen keine Elfen, weil Menschen und Elfen Drachen nicht verstehen können. Das weiß ich, und das weiß auch Kriecher. Trotzdem hat sie dich gerufen. Wir müssen unbedingt den Grund dafür herausfinden. Wie sahen die beiden Köpfe aus?“

„Der eine war ein Drachenkopf, der andere der eines Mädchens. Oder einer jungen Frau. Helles Haar, glaube ich, aber das muss nicht stimmen, denn auch die Natur um Kriecher herum strahlte nicht in den Farben, die mir vertraut waren.“

„Gut. Mehr können wir zurzeit nicht machen. Zunächst muss diese Viertelelfe nach NA-R. Du wirst meinen Auftrag ausführen und du wirst deinen Eid sprechen. Deine Tage als Jäger und Waldläufer sind ab heute vorbei. Deine Befehle empfängst du ab heute nur noch von mir. Von keinem anderen sonst. Ist das klar?“

Lufthauch stand wie vom Donner gerührt. Der Gedanke, „Nein“ zu sagen, kam ihm so flüchtig, dass man zweifeln musste, ob es ihn überhaupt gegeben hatte. „Ganz wie Ihr wünscht, Erster Berater“, sagte er und staunte über die Luft, die aufgeregt um sie herumtanzte. „Wie bei den Drachen“, dachte er und wusste doch, dass die Drachen daran unschuldig waren. Das hier war Elfenmagie in ihrer reinsten Form. Sie kannte und erkannte er. Doch so gestaltlos, inhaltsleer und gleichzeitig so voller Kraft hatte er sie noch nie erlebt. Das musste ihre Ursprungsform sein, bevor jemand sie in einen Zauberspruch zwang. Wo bin ich hier?, fragte er sich, als Sumpfwasser sich ein Amulett um den Hals legte und es mit seiner Linken festhielt.

„Sprich mir nach.“ Sumpfwassers Stimme bahnte sich einen Weg durch Lufthauchs Ohren. „Sprich mir nach. Das Leben der Vernunft ist heilig und ich, der Elf Lufthauch, schwöre hiermit feierlich …“ Der Rest seiner Worte ging in einem Brausen unter.

Nachdem Lufthauch den Eid geleistet hatte, klärte sich die Luft wieder, als würde sich alle Magie zurückziehen. „Ihr müsst damit rechnen, dass ich Euch enttäusche“, sagte Lufthauch. „Ihr schickt mich in eine Welt, die nicht die meine ist, in eine Welt von Befehl und Gehorsam, wo doch für mich die Freiheit über allem steht. Sagt später nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt.“

Sumpfwasser legte Lufthauch die Hand auf die Schulter und packte ihn mit festem Griff. „Damit du es weißt: Du kannst mich nicht enttäuschen, höchstens scheitern. Und begleitet uns die Möglichkeit des Scheiterns nicht während unseres ganzen Lebens? Sollten wir wegen einer Angst vor dem Scheitern entscheiden, nichts zu tun? Oder gar den Zufall für uns entscheiden zu lassen? Dann würde es die Waldelfen nicht mehr lange geben, und glaube mir, Lufthauch, ich liebe unser Volk, auch wenn es nicht meine Natur ist, große Gefühle zu zeigen. Außerdem verliere ich ungern. Wenigstens das haben wir beide gemeinsam. Und nun geh.“

Lufthauch ging. Zumindest diesem Befehl gehorchte er ohne Widerspruch. Und er fragte sich, woher Sumpfwasser wusste, das Verlieren immer wie die Pest für ihn war. Seine Gedanken wanderten wieder zu Kriecher. Den Drachen mit dem gelähmten Flügel. Und wie erhaben er gewirkt hatte trotz seines Makels. „Niemand in unserer Welt sollte Kriecher heißen“, flüsterte Lufthauch. „Und ein Drache schon gar nicht.“

Nur ein Viertel Elfenblut

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