Читать книгу Nur ein Viertel Elfenblut - Wolf Awert - Страница 8
Tamalone
ОглавлениеSumpfwasser eilte durch den schütteren Wald am Fuß des Berglandes. Nur einige neugierige Tieraugen folgten ihm. Der alte Elf war in diesem Spiel von Licht, Schatten und tanzenden Flecken aus Braun, Grün und Silber nicht leicht zu erkennen. Auch konnte man ihn nicht hören, weil seine Sprungschritte leiser waren als der Flügelschlag eines Nachtfalters. Hin und wieder geriet sein Lauf ein wenig aus dem Takt, weil er sich an die Brust griff, als wollte er sich vergewissern, dass sein Herz noch schlug. Irgendwann blieb er stehen. Für ein kurzes Durchschnaufen wenige Sprünge vor dem Ziel oder eine letzte schnelle Orientierung, dass er noch auf dem richtigen Weg war. Vielleicht aber auch nur, um seine Gedanken zu sammeln.
Ich werde langsam zu alt für diese Rennerei, dachte er, als er sich eingestehen musste, seine Kräfte überschätzt zu haben. Er hatte länger gebraucht als geplant. Umso größer war nun die Erleichterung, sein Ziel endlich erreicht zu haben.
Es war ein erbärmliches Ziel. Nur eine Niederlassung der Minengesellschaft in einem kleinen Dreieck zwischen Elfenland, dem Aufstieg zu den Drachenbergen und einer Region, die ursprünglich allein den Tieren vorbehalten war. Früher hätte man diesen Ort wahrscheinlich Niemandsland genannt. Doch früher war früher, und die Zeiten hatten sich geändert. Seitdem die Menschen in alle Richtungen ausgeschwärmt waren, als hätte jemand mit dem Stock an einen Bienenstock geschlagen, gab es kein Niemandsland mehr. Jetzt ließen sie sich nieder, wo es ihnen gefiel. Staub und Asche! Konntet ihr nicht in eurer angestammten Heimat bleiben? Was habt ihr in unseren Wäldern zu suchen?
Vorwürfe machte er den Menschen nicht. Jedes Volk reagierte auf die Veränderungen der neuen Zeit auf seine ganz eigene Art. So auch das seine. Nur die Waldelfen waren bereit gewesen, Verantwortung zu übernehmen und hatten deshalb beschlossen, dass die Gesetze des Elfenlandes ab sofort und überall zu gelten hatten. Aber wohin hat uns das gebracht?, fragte er sich. Jetzt haben wir die Feinde im eigenen Volk und einen Krieg vor der Tür, den wir niemals werden gewinnen können. Und selbst wenn, ist unsere Welt deshalb noch lange nicht gerettet. Niemand kann eine Welt retten, die es sich vorgenommen hat zu sterben. Auch wir Elfen nicht.
Die letzten Schritte legte Sumpfwasser nun langsam, beinahe bedächtig zurück. Vor ihm befanden sich noch einige Büsche zwischen vereinzelten schlanken Bäumen, bevor das offene Land mit seinem steindurchsetzten Boden begann. Er bog ein paar Äste zur Seite, um besser sehen zu können. Nein, das war kein Ort, an dem ein anständiger Elf sich blicken lassen sollte. Was für ein Gestank! In einem Reflex des Abscheus verzog er das Gesicht, riss sich aber sofort wieder zusammen. Er war angekommen. Das allein zählte.
Weite und nur Dreck und Staub, weil unzählige Menschenfüße Gras und Kräuter zertrampelt hatten. Ein paar vereinzelte Hütten und Häuser. Am hinteren Rand einer freien Fläche ragte ein hässlich rotes Gebäude aus Stein empor, viel zu groß für diese Siedlung. Daneben verschiedene Baracken. Dort, wo das Gelände anstieg und es zu den Drachenbergen hinaufging, hatten die Menschen es gewagt, ein Loch in den Fels zu brechen, das sich mit jedem Tag tiefer ins Gestein hineinfraß und sich unter der Erde immer weiter verzweigte wie ein Baum, der den Himmel suchte. Wussten sie denn nicht, dass das Leben über der Erde lag und nicht darunter? Neben dem Loch, etwas abgelegen, befanden sich die Totsteinhalden. Gestein, das einmal den Boden getragen und als Teil des Gebirges einen Zweck erfüllt hatte, lag nun nutzlos herum, nachdem die Menschen ihm das Erz entnommen hatten.
Ich hasse euch Menschen. Euch und die Gestaltwandler. Weil ihr alle keine Achtung vor der Reinheit des Blutes habt.
Ein schneller Blick in den staubweißen Himmel verriet ihm, dass die Sonne bereits hoch stand. Er würde sich beeilen müssen, aber Lärm und Gestank lenkten ihn ab. Still waren nur die Kinder, die Mahlzeiten für die Bergleute in Richtung Schacht trugen. Aber diese Stille schenkte niemandem Ruhe. Es war nur eine kleine Stille, die sich nicht über den Mund hinaus traute. Wo die Ruhe fehlte, konnte Schönheit sich nicht niederlassen. Wie also sollten die Siedlungen der Menschen etwas anderes widerspiegeln als die versammelte Hässlichkeit aller Dinge? Sumpfwasser riss sich zusammen. Er war nicht hierhergekommen, um müßigen Gedanken nachzuhängen. Er war gekommen, weil …
Er flüsterte einen Namen und schickte ihn auf die Reise: „Tamalone“. Er war zu leise gesprochen, um gehört zu werden, und nicht mehr als der Träger seines Wunsches. Mit Elfenmagie verband er Wort und Wunsch zu einem Sehnen, das von selbst sein Ziel finden würde. Tamalone, so hieß das Mädchen. Oder war es eine junge Frau? Sumpfwasser schüttelte den Kopf. Zu viel Zeit war schon vergangen. Und so wenig hatte er erreicht.
Mitten in der Siedlung setzte ein Mädchen ihre beiden Wassereimer ab, ohne sich um die missbilligenden Blicke derer zu kümmern, die ihr nun plötzlich ausweichen mussten. Sie streifte sich die Lederriemen des Rucksacks von den Schultern, ließ ihre Last einfach dort fallen, wo sie stand und lauschte dem Wind. Hier war die Minensiedlung, in der sie alles kannte. Am Waldrand fing das Draußen an, das sie nichts anging, weil dort nichts war, das sie zu interessieren hatte. Aber heute war dort doch etwas. Der Wind brachte es mit. Etwas, das sie umhüllte, die Hitze vertrieb, den Staub bannte und würzig roch. Etwas das einen Namen trug. „Tamalone“. Nein, Tamalone war nicht der Name des Draußen. Tamalone war ihr Name – und ein Ruf.
Mit zunächst zögerlichen, dann festen Schritten begab sie sich zum Rand der Lichtung. Sie brauchte den Kopf nicht zu wenden, um zu wissen, dass sie beobachtet wurde, weil das immer geschah. Meistens ganz offen aus einem der Fenster des roten Hauses heraus. Ein Mann in dunkler Kleidung oder eine Frau. Manchmal standen sie auch zusammen dort, und er hielt sie im Arm. Beide arbeiteten für die Minengesellschaft und brauchten sich nicht zu verstecken. Mehr wusste sie von ihnen nicht.
Sie hatte die Stimme erkannt, obwohl sie keinen Klang hatte, alle Ohren umging und sich direkt in die Köpfe begab, die ihr Einlass gewährten. Die Stimme gehörte einem Elfen, der bereits vor vielen Jahren in ihr Leben getreten war. Der bloße Gedanke daran ließ sie erschaudern, denn Elfen hatten Macht über Menschen. Die Männer über die Frauen und die Frauen über die Männer. Elfencharme wurde dieser Zauber genannt, obwohl er mit Charme wenig zu tun hatte und eher einem Fluch ähnelte. Er war reine Magie. Man konnte von Glück sprechen, dass die Elfen ihre Macht nur selten ausübten, aber allein ihre Gegenwart genügte, um von dieser Magie berührt zu werden. Der Elf, der sie rief, war nicht mehr jung. Sein Charme war bereits zerbrochen, sein Liebreiz zerkratzt. Wollte er sie an sich binden, musste er mehr tun, als nur da zu sein. Doch dagegen war sie gewappnet, weil sie immer noch auf Mutters Hilfe zählen konnte: „Trau keinem Mann und schon gar keinem Elfen.“ Auch Mutters Stimme war voller Magie und voller Kraft. Ja, Mutter besaß sehr viel Kraft.
Sumpfwasser sah Tamalone herankommen, erkannte den für einen Menschen außergewöhnlich geschmeidigen Gang, das beleidigend helle Haar, in dem er nur Spuren von Elfenfarbe wiederfand, und erschrak, als er sah, was sie am Leib trug. Wams, Hosen, Stiefel. Alles aus Leder. Ohne Zweifel Rehleder, gut gewalkt und deshalb sehr weich. Menschenhände konnten das nicht geschneidert haben. Hier, wo die Minengesellschaft das Sagen hatte, war das eine völlig unangemessene Kleidung. Hatte er nicht Unauffälligkeit angeordnet? Sie gehört nicht zu den Menschen, dachte er. Sie ist unrein und gehört nirgendwo hin als dorthin, wohin man sie lässt. Aber musste sie deshalb ihre Andersartigkeit so deutlich betonen? Er suchte am Halsansatz, an den Handgelenken, in den Umrissen der Falten nach Spuren eines Unterkleides. Aber er fand nur Leder. Offensichtlich trug sie das Leder auf der Haut wie eine Jägerin des Elfenvolkes. Staub und Asche! Sie war keine Elfe. Sie war ein Mensch mit ein paar Tropfen Elfenblut. Höchstens eine Viertelelfe. Oder ein Dreiviertelmensch. Da sollte sie sich besser in der Menge verstecken. Obwohl … Wer konnte schon sagen, was die Zukunft mit ihr vorhatte? Sumpfwasser trat aus seiner Deckung hervor.
„Ich bin hier, Tamalone.“
Tamalone musste zweimal schauen, bis sie gegen den Waldrand erkennen konnte, was Elfe war und was Ast, was zur Kleidung, zum Haar oder zum Blätterwerk gehörte. Wie gelang es den Elfen nur, immer wie ein Teil des Waldes auszusehen?
„Meine Freunde nennen mich Tama“, sagte sie leise und ganz ruhig. „Wenn Ihr mögt, könnt Ihr mich ebenfalls so nennen.“
„Du hast Freunde hier?“
Da lag ein unmissverständlicher Vorwurf in der Stimme, der sie mehr schmerzte als ein aufgeschürftes Knie. Warum sollte sie keine Freunde haben? Aber der Elf hatte recht. Freunde hatte sie hier nicht gefunden. Nur einmal. Beinahe. Einen Jungen mit goldenen Augen. Aber der war viel jünger gewesen als sie, und sie hatte ihn nach ihrer ersten Begegnung nie wieder gesehen.
„Weißt du noch, wer ich bin? Erinnerst du dich noch an die Frau, die dich aus dem Wald heraus und an diesen Ort gebracht hat?“
Tamalone hob den Blick. Der Elfencharme zupfte an ihr herum und ließ sie vorsichtig werden. „Mutter, hilf“, dachte sie und errichtete eine Mauer um sich, die der Schönheit des Elfen den Zauber entzog. Es fiel ihr leichter, als sie erwartet hatte. Aber sie musste sich doch eingestehen, dass sie trotz Mutters Hilfe für den verfluchten Elfencharme anfällig war. Warum gab es so etwas, das niemand haben wollte und keiner gebrauchen konnte? Die Menschen litten unter ihrer unerfüllten Sehnsucht, und die Elfen litten unter den unerwünschten Nachstellungen der Menschen. Kein Wunder, dass die Elfen die Menschen mieden und sich jede Annäherung verbaten. Doch ganz selten, hin und wieder …
Tamalone kniff die Augen zusammen, um den Mann schärfer zu sehen, denn im Spiel von Licht und Schatten veränderte sich sein Bild ständig. Silbrig oder grün das Haar, grün oder braun die Haut, nicht dunkel wie eine bemooste Borke, eher wie die Unterseite eines lichtdurchdrungenen Blattes. Braun auch die Kleidung mit wandernden Flecken von Grün darüber. Jetzt erst, nachdem sie ihn ganz sicher wiedererkannte, war sie auch bereit, seine Frage zu beantworten: „Ja, ich erinnere mich an Euch. Euer Name ist Sumpfwasser. Er hat keinen Klang, ist trüb, riecht nach vergangenen Tagen, von denen einer wie der andere ist, und bewegt sich nur, wenn Blasen von einem Grund aufsteigen, den niemand sieht. Euch gehorchen die Wehrhüter, und Ihr habt dafür gesorgt, dass ich vom Wald an den Fuß der Berge gebracht wurde. Auch an Mutter erinnere ich mich. Wie sollte ich sie jemals vergessen können? Sie war ja die ganze Zeit an meiner Seite.“
„Ach ja, ich vergaß“, sagte Sumpfwasser, und eine Wolke des Unmuts zog über sein Gesicht. „Du nanntest diese Frau ‚Mutter‘, obwohl sie es nicht war. Und meinen Namen scheinst du mit dem zu verwechseln, was er beschreibt. Doch ist das in diesem Augenblick ohne Bedeutung. Ich bin gekommen, weil ich dich brauche und daher deine Bringschuld einfordere. Bist du dazu bereit?“
Tamalone biss sich auf die Lippen. Sie war sich keiner Bringschuld bewusst. „Wie geht es Mutter?“, presste sie heraus. „Ich erinnere mich, wie Ihr und Mutter mich hergebracht habt. Ihr seid sofort wieder gegangen. Mutter ist geblieben. Mit ihr zusammen zu sein, war die schönste Zeit meines Lebens. Bis auch sie mich plötzlich verließ. Sagt mir, war es meine Schuld, dass sie ging? Ist das die Schuld, die Ihr einfordert? Oder war sie meiner überdrüssig? Wenn jemand weiß, was damals passiert ist, dann seid Ihr das.“ Mit dem Mut der Verzweiflung setzte sie noch hinzu: „Und wer ist mein Vater?“
Sie sah Sumpfwasser zusammenzucken, wie sich sein Rücken versteifte. Doch schnell fand er zu seinem alten Selbst zurück.
„Wenn es dir hilft, darfst du mich ‚Vater‘ nennen. Ich bin dein Vater, wie ‚Mutter‘ deine Mutter ist. Es liegt nichts Böses darin, sie so zu nennen, denn sie liebte dich und hat sich um dich gekümmert. So wie auch ich, aber ich tat es eher aus der Ferne.“ Für einen Moment schloss Sumpfwasser die Augen, um einen Anflug von Mitleid abzuwehren und sich zur Ordnung zu rufen. Du bist nur ein Werkzeug und mein Geschöpf, dachte er. Dafür habe ich dich vor den Wehrhütern gerettet. Und auch „Mutter“, wie du deine Beschützerin nennst, ist nicht mehr als mein Werkzeug.
„Dein leiblicher Vater ist ein Mensch reines Blutes und mir unbekannt“, fuhr er fort. „Und deine leibliche Mutter war eine Unreine wie du. Aber an sie könntest du dich vielleicht noch erinnern. Du warst drei oder vier Jahre alt, als sie weggebracht wurde.“
Tamalone konnte sich an jemanden erinnern, der sich um sie gekümmert hatte, bevor Mutter es tat. Sie schloss ihre Augen, aber das half ihr nicht. Sie spürte noch eine entfernte Wärme, Hände, die sie streichelten und hielten, aber die lange Zeit hatte alle Bilder zerstört.
„Mutter sollte auf dich aufpassen, bis du groß genug warst und allein zurechtkommen konntest. Und sie sollte dich ausbilden. Irgendwann gab ich ihr eine neue Aufgabe. Aber jetzt habe ich lange Zeit nichts mehr von ihr gehört und angefangen, mir Sorgen um sie zu machen.“
Tamalone konnte sich nicht daran erinnern, von Mutter zu irgendetwas ausgebildet worden zu sein. Zur Sauberkeit hatte sie sie erzogen. Wenn sie irgendwo gespielt hatte, musste sie hinterher immer alles aufräumen und abwischen. Das Spiel hieß: „Wir sind niemals hier gewesen.“ Als sie angefangen hatte, bunte Steine zu sammeln, musste sie zuerst ein verstecktes Lager anlegen, in dem sie die Steine aufbewahrte, und dann lernen, einen gefundenen Stein so zu entfernen, dass sein Fehlen niemandem auffiel. Sie hatte es gern gespielt und war gut darin gewesen. Sie hatte immer alles richtig gemacht. Und doch war „Mutter“ gegangen und nicht wiedergekommen. Jetzt wusste sie warum. Weil Sumpfwasser sie fortgeschickt hatte. Sie spürte den Schmerz in ihrer Kehle aufsteigen. Mutter hatte sich noch nicht einmal von ihr verabschiedet. Oder vielleicht doch? Da war etwas in ihren Erinnerungen, das gar nicht dahin gehörte. Mutter war noch einmal zurückgekommen. Oder nicht? Sie war sich ihrer eigenen Erinnerungen nicht mehr sicher. Als sie dann fragte: „Und jetzt soll ich an ihre Stelle treten?“, erschrak sie vor ihrer eigenen Stimme und wie kalt diese plötzlich klang. Aber das Grübeln stellte sie erst einmal ein.
„Nein“, sagte Sumpfwasser so ruhig, als ob er Tamalones plötzliche Veränderung gar nicht bemerkt hätte. „Das wäre zu viel verlangt von jemandem, der noch so jung ist wie du. Es ist nur eine einzige Fahrt zu machen. Von hier aus fährst du mit dem Frachter nach NeuAllerdamm-Rot. Zu unserer Quarantänestation. Du betrittst die Station und suchst den Ort auf, an dem ‚Mutter‘ sich zuletzt aufgehalten hat. Alles andere wird sich finden.“
„Wenn ich Euren Wunsch erfülle, werdet Ihr mir dann sagen, wer ich bin?“ Tamalone staunte über ihren Mut und sah zu ihrer Überraschung, wie sich jetzt auch in dem Elf etwas bewegte. Was es war, konnte sie nicht sagen, aber es breitete sich wie eine Welle von der Mitte seines Körpers aus und löste sich erst auf der glatten Haut auf.
„Nein, das werde ich nicht. Niemand kennt die Abstammung einer Unreinen. Wenn es eine Antwort auf diese Frage gibt, wirst du sie möglicherweise in dir selbst finden. Vielleicht kann die Frau, die du ‚Mutter‘ nennst, dir dabei helfen. Sie weiß mehr als andere Wesen. So reist du also nicht nur für mich oder für sie, sondern auch für dich. Aber lass dich nicht erwischen. Es gibt Kräfte in unserem Land, denen es nicht gefallen würde, dass du dort bist. Benutze dein bisschen Elfenblut klug.“
Tamalone hielt den Atem an. Sumpfwassers letzter Satz hatte die Luft schwer werden lassen und alles, was er vorher gesagt hatte, in eine Lüge verwandelt. Es ging nicht um eine kleine Gefälligkeit. Die Quarantänestation war ein Ort, an dem Leute verschwanden und der gefährlich war für jemanden wie sie. Aber wer sollte etwas dagegen haben, dass sie die Quarantänestation aufsuchte? „Wer wollte …?“
Sumpfwasser sah in Tamalones fragende Augen, schüttelte den Kopf und versiegelte seine Lippen mit dem Zeigefinger. Tamalone verstand. Keine Fragen mehr. Dann sagte er: „Tritt etwas zur Seite.“ Er griff in die Tasche, holte eine Handvoll Staub heraus und warf ihn in die Luft. Als er ihn dann mit gespitzten Lippen fortblies, kam wie aus dem Nichts ein hilfreicher Windstoß, der den Staub zu einer Gruppe Menschen hinbeförderte, die vor lauter Gaffen ihre Arbeit vernachlässigt hatte.
„Was war das?“, wollte Tamalone wissen.
„Sie haben mich gesehen. Jetzt habe ich ihre Erinnerungen durcheinandergebracht.“
„Sie mögen Euch vielleicht vergessen haben. Aber ich nicht. Ich weiß immer noch, über was wir gesprochen haben.“ Da war Trotz in Tamalones Stimme und ihre Hände hielt sie zu Fäusten geballt. Mehr gab ihre Kraft nicht her. Der Gedanke, diesen Ort der Sicherheit verlassen zu müssen, ließ ihre Beine schwach werden und ihre Arme zittern. Nur die Hoffnung, „Mutter“ möglicherweise wiederzusehen, half ihr, denn was konnte wichtiger sein, als „Mutter“ zu finden. Sie hob das Kinn. „Bei der Magie der Elfen, ich werde ‚Mutter‘ suchen gehen und die Station nicht eher wieder verlassen, bis ich sie gefunden habe.“ Doch bei dem Wort „Station“ sträubte sich etwas in ihr, was sie nicht so recht einfangen konnte.
Sumpfwasser betrachtete Tamalone mit kühlem Interesse. Dann erlaubte er sich ein leises Lächeln, das in den Mundwinkel begann, sich zur Nase hin ausbreitete, um dann auf dem Weg zu den Augen wieder zu erlöschen. „So stark ist dieser Zauber nicht, dass mich jemand vergisst, der mit mir geredet hat, Tamalone. Nicht für dich, nur für die anderen hier bin ich jetzt nicht mehr wichtig. Und so sollte es auch sein. Jetzt lebe wohl. Jemand anderes wird dir sagen, wann du aufzubrechen hast. Jemand von der Minengesellschaft. Es wird ein Mensch sein. Keiner von meiner Art.“
Der Wald verschluckte die Elfengestalt. Für einige Herzschläge atmete er noch einen Rest Elfenmagie aus, die in Tamalone das Verlangen weckte, Sumpfwasser hinterherzulaufen. Aber zunächst würde sie Mutter suchen gehen. Und in diesem einen Augenblick, der ihr einen Blick in das Innere der eigenen Seele erlaubte, erinnerte sie sich wieder. Es war kein Traum gewesen. Einmal noch war Mutter zurückgekommen, hatte in tiefster Nacht an ihrem Bett gesessen, sie geweckt und gesagt: „Suche in der Stadt nach mir. Vielleicht wirst du mich nicht gleich finden können, aber gib nicht auf. Nicht im Wald bin ich zu Haus. In der Stadt findest du die Antworten, die du suchst.“
Tamalone wusste nicht mehr, was Illusion, was Traum und was Wirklichkeit war. Nur eines wusste sie: Stadt! Nicht Station. Es heißt Stadt, wohin ich reisen muss! Beinahe hätte sie das dem Elfen noch hinterhergeschrien.
Tamalone hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind. Unter ihr vibrierte das schwarz gestrichene Eisen des Dampfkessels. Er schnaufte und pustete so laut, dass seine Geräusche sich sogar gegen das Brausen des Windes behaupten konnten. Keine Frage, dieser Dampfkessel lebte und trug seinen Namen zurecht. Das „Ungeheuer der Tiefe“ war der berühmteste Erzfrachter der Minengesellschaft. Berühmt, weil mit ihm alles angefangen hatte, bekannt, weil er am meisten erlebt hatte, und bewundert, weil er der Stärkste war. So erzählten es die Alten, und Tamalone glaubte ihnen jedes Wort, denn die Kraft dieses Ungeheuers konnte sie nun überall spüren. Unter ihren Beinen, in ihrem Bauch und auch dazwischen. Von dort suchte sich das Rütteln und Stoßen seinen Weg durch das Rückgrat hindurch bis hoch oben in ihren Kopf.
Endlich frei!
Weg mit dem Band, das die Haare zusammenhielt. Sie wollte die unbändige Lust spüren, die in diesem wilden, neuen Gefühl steckte. Ein offenes Land, das jeden willkommen hieß, ein Fahrtwind, der von dem erzählte, was vor einem lag, und die Kraft einer mächtigen Maschine, die niemand und kein Gott aufzuhalten vermochten. Und sie saß ganz vorn auf der Lokomotive, den Schornstein im Rücken. Der schwarzblaue Rauch blieb hinter ihr wie alles, was bisher ihr Leben verdunkelt hatte. Lokführer und Heizer mochten sich im Führerstand verstecken. Sie nicht. Wo sonst hätte sie denn sitzen sollen als auf der Stirn der schwarzen Bestie? Nein, das unbekannte Land vor ihr wollte sie nicht einfach blind durcheilen. Ihm wollte sie begegnen, es grüßen, seinen Widerstand spüren. Sie warf den Kopf in den Nacken und ließ sich vom Wind die Haare zerzausen, als sie schrie: „Jetzt komme iiiiich!“
Oben der Himmel. In ihr die Vibrationen dieses Ungetüms aus Eisen, Dampf und Feuer. Sie gingen ihr durch den Körper, verbanden sie mit der Erde, wo unter ihr große Eisenräder über Eisenschienen mahlten und klack-Klack, klack-Klack, klack-Klack, Klackeraklack sangen. Tamalone war ihr Name, aber dieses Wort war viel zu umständlich für so viel Freiheit. Hier oben war sie Tama, weil hier oben die ganze Welt ihr Freund war. Vergessen war die Minengesellschaft, die keine Freunde kannte. Außer Mutter. Zu ihr fuhr sie jetzt hin, würde neue Leute kennenlernen und Freunde finden. Das schwarze Biest, das sie ritt, war ihr erster Freund, und es war egal, dass es aus Eisen bestand. Hauptsache, es besaß eine Seele. Es war auch egal, dass sie sich bald von ihm verabschieden würde, denn andere Freunde würden folgen. Neue Freunde. Da war sie sich sicher. Denn sie fuhr nach NA-R, der schönsten Stadt des Landes. NA-R! NeuAllerdamm-Rot. Keine Station. Eine richtige Stadt, hatte Mutter gesagt. Und Mutter irrte nie.
Tama zuckte zusammen. War das ein Pfiff hinter ihr? Sie hatte ein Gehör, auf das ein Luchs hätte stolz sein können, aber der Wind schlug ihr derartig auf die Ohren, dass sie sich nicht sicher war. Sie schloss die Augen und suchte mit ihrem inneren Blick das Grasland vor ihr ab. „Jedes Vorkommen von Vernunft zeigt sich dir. Musst nur schauen“, hörte sie Mutters Stimme. Doch viel gab es nicht zu entdecken. Nichts vor ihr, nichts neben ihr, nur hinter ihr die beiden hellen Flecken von Lokführer und Heizer. Zwei reinrassige Menschen. Klar, dass die leuchteten.
Der zweite Pfiff zerriss ihr beinahe die Ohren und kam aus der Dampfpfeife. Irgendwie war es dem Lokführer gelungen, den Schall noch rechtzeitig so abzuwürgen, dass er keinen Schaden anrichten konnte. Sie drehte sich um.
„He! Schluck Bier? Dann komm her.“
Sie sah die Stimme mehr, als dass sie sie hörte. Aber der hochgehobene Bierkrug, die deutlichen Mundbewegungen und die ruckartige Kopfbewegung ließen keinen Zweifel an der Einladung aufkommen. Sie sprang auf, tänzelte über den Dampfkessel und ließ sich dann auf die Brüstung des Führerstandes hinunter.
„Komm rein. Wo zwei arbeiten, hat auch noch ein Dritter Platz“, schrie der Lokführer und hielt ihr erst eine Hand entgegen, um ihr in den Führerstand zu helfen, und dann einen frisch gefüllten Krug. Tama trank durstig. Es war erstaunlich, wie viel Wasser der Fahrtwind aus einem Körper heraussaugen konnte. Trotz dichter Lederkleidung.
„Ist das erste Mal, dass du einen Erzfrachter reitest“, stellte der Lokführer fest. „Und jetzt willste bei der Minengesellschaft ganz groß rauskommen.“ Er klopfte sich auf die Brust. „Mir kann niemand mehr was vormachen. Ich fahre die Strecke schon seit fünfundzwanzig Jahren. Kenne jeden hier und alles. Hast einen Verwandten hoch oben in der Führung, was?“
„Stimmt, der ist schon lange dabei“, schrie der Heizer von hinten in den Donner von Eisen und Stahl.“ Er schrie gut, denn Tama konnte ihn verstehen.
„Ja, meine erste Fahrt. Aber in der Minengesellschaft kenne ich keinen.“
„Red‘ nicht. Es gibt keine Frauen auf Tour. Nicht bei den Wächtern und erst recht nicht auf der Lok. Höchstens in Begleitung und markiert.“ Der Lokführer machte eine vielsagende Geste mit zwei Fingern in Richtung Hals.
„Als Kind habe ich in einem Holzfällerlager gelebt. Danach kam die Mine. Beide hatten etwas gemeinsam. Du kannst nicht weit gucken.“ Tama hob den Krug.
„Aye. Das ist hier draußen anders. Wenn du erst einmal aus dem Wald heraus bist, ist alles flach. Bis zur Station und wohl auch noch darüber hinaus. Aber wenn du nicht von der Gesellschaft bist, warum biste dann hier? Du bist kein Wächter und du bist keine Fracht.“ Die Augen des Lokführers hatten einen lauernden Ausdruck eingenommen und Tama verstand nun auch die Einladung für das Bier.
„Erst Holzfällerei, dann Mine und jetzt NA-R. Irgendwer hat was mit mir vor. Aber er zeigt sich nicht. Kennt ihr das? Ich begleite den Frachter bis zur Stadt. Dort verlasse ich euch und bleibe auch dort. Keine Rückfahrt morgen. An euch werde mich immer erinnern. Oder euch sofort vergessen. Ganz so, wie ihr das möchtet.“ Tama grinste über das ganze Gesicht.
„Heißt Station, nicht Stadt“, korrigierte der Lokführer. „Aber ich hab‘ noch nie erlebt, dass jemand einfach so in die Station fährt. Nur als Fracht. Ohne Begleitung. Du weißt ja. Aber so eine biste ja nicht, dass du eine Begleitung brauchst. Hast wohl eine spezielle Einladung.“
Tama bereute es, dass sie einfach so drauf los geredet hatte. Jetzt waren die Männer erst recht misstrauisch. Erst denken, dann reden, ermahnte sie sich, doch dafür war es jetzt zu spät. Sie nahm noch einen langen Zug aus dem Krug, um etwas Zeit zu gewinnen, gab ihn dann zurück. „Ah, das schmeckt. Ich weiß nur, dass sie in NA-R auf mich warten. Da werden sie mich wohl auch hineinlassen.“ Aber ihre Gedanken waren mittlerweile woanders. „Gehe in die Station“, hatte es geheißen. Nur das. Mit Schwierigkeiten hatte sie nicht gerechnet. Was, wenn man sie nicht hineinließ? Sie spürte den aufmerksamen Blick des Lokführers und fragte: „Warum sind die denn so vorsichtig geworden? Waren sie doch früher nicht.“
„Waren sie schon immer. Ist wegen der Gestaltwandler. Ich sage dir was, Mädchen. Die Elfen fangen Gestaltwandler und bringen sie in die Station. Markiert und nur in das Viertel, das für sie vorgesehen ist. Dort werden sie überwacht und können nicht auf dumme Gedanken kommen. Und trotzdem. Ich sag dir: Wenn du in die Station kommst, dann mach einen riesengroßen Bogen um das Viertel der Gestaltwandler. Wenn es nach mir ginge, würde man sie jagen und gleich an Ort und Stelle schlachten. Aber sie müssen ja ein eigenes Viertel in der Station bekommen. Ein Irrsinn ist das.“
„Das klingt nicht unbedingt nach viel Wertschätzung“, entgegnete Tama laut und mit einem falschen Lachen.
„Versteh mich nicht falsch. Sie waren einmal Tiere, und gegen Tiere habe ich nichts. Aber einige von denen haben jetzt Verstand. Fast so viel wie wir Menschen. Und das ist gegen die Natur, sage ich dir.“ Der Lokführer hob seinen Bierkrug.