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Steindorn

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Nach den Strapazen seiner langen Reise von NA-R nach Centrell hatte Steindorn etwas Erholung dringend nötig gehabt. Doch zu viel Erholung macht einen wachen Geist träge. Wie viele Tage genoss er nun schon die Gastfreundschaft im Haus Blau? Drei Tage? Sechs Tage? Zehn? Merkwürdig, er wusste es nicht. Mehr als drei Tage waren es sicherlich. Seine Erinnerungen waren nicht so scharf, wie er es von sich gewohnt war. Eher allgemeine Eindrücke als klare Bilder. Eine sonderbare Magie lebte hier im Haus Blau. Elfenmagie war es nicht. Die hätte er erkannt und verstanden. Einem erfahrenen Kampfmagier konnte man in Sachen Magie wenig vormachen. Aber hier? Das war etwas anderes.

Steindorn widmete nun seine gesamte Achtsamkeit seinen Erinnerungen. Er nahm sie auseinander, putzte sie blank und setzte sie wieder zusammen, aber die Zahl der Tage, die er hier verbracht hatte, zerfiel, sobald er sie berührte. Als ob sie völlig unwichtig sei. „Noch bestimme ich selbst, was wichtig für mich ist und was nicht“, sagte er laut zu sich und wollte gerade erneut beginnen, seine Erinnerungen zu überprüfen, als jemand an die Tür klopfte.

„Die Herrin bittet um Eure Anwesenheit.“

Das war neu. Bisher war sie immer zu ihm gekommen, denn sein Zimmer lag in der Nähe des ihren und außerdem abseits aller Geschäftigkeiten des Hauses.

„Wenn Ihr mir bitte folgen wollt?“

Der Bedienstete führte Steindorn durch unscheinbare Türen und über enge Treppen unter das Dach in einen kleinen Vorraum, klopfte an und öffnete ihm dann eine herrlich geschnitzte Tür, die in einen prächtigen Salon führte, der weder etwas mit dem Staub und der Verlassenheit des Hinweges zu tun hatte, noch mit der merkwürdigen Geruchsmischung eines Dachbodens. Anstatt nach Frischluft gewürzt mit dem Aroma roher Holzbalken roch es nach – Magie. Steindorn wusste nicht, wie er diesen Geruch anders benennen sollte.

Er trat ein und sah sich zwei Frauen gegenüber, die gut und gerne Schwestern sein konnten, wenn nicht …

Blauer Dreisporn war seine Gastgeberin und ihr Bild ihm gut vertraut. Aber die Frau neben ihr, ihr ähnlich und doch fremd, kannte er noch viel besser. Jedenfalls sagten ihm das alle seine Sinne und Gefühle. Nur woher er sie kannte, das erzählten sie ihm nicht. Und ihren Namen hatte er auch vergessen. Immer wieder blickte er von einer zur anderen und wurde doch um keine Daumenbreite schlauer.

„Wollt Ihr Euch nicht setzen, guter Freund?“

Steindorn starrte Blauer Dreisporn an, als könne er nicht begreifen. Dann befreite er sich gewaltsam aus seinem traumartigen Zustand, nickte kurz und nahm in dem Stuhl Platz, der sich den beiden Frauen gegenüber befand. Er lehnte sich nach hinten und legte seine Arme auf die beiden Armstützen. Der Stuhl umarmte ihn von hinten. Jetzt fühlte er sich sicher.

„Verzeiht, wenn ich so offen heraus frage“, sagte er. „Wir kennen uns, sind uns schon mehrfach begegnet, aber ich kann mich nicht mehr an die Umstände erinnern. Bitte helft meinem Gedächtnis auf die Sprünge.“ Erwartungsvoll schaute er auf die ihm vertraute und doch so fremde Frau.

„Wenn wir uns begegnet sind, dann kann es nur hier in Centrell gewesen sein, denn auf meinen Reisen begegne ich kaum jemandem, sodass ich mich an jeden Einzelnen erinnern kann. Verzeiht, wenn ich jetzt ebenso offen bin wie Ihr, aber Ihr wart nicht darunter.“

„Es hätte mich auch überrascht“, sagte Blauer Dreisporn. „Darf ich Euch Blauer Schlafmohn vorstellen? Ihr Name verrät Euch bereits, dass auch sie zum innersten Kreis der Familie gehört. Sie hier zu wissen, ist ein Geschenk, denn sie ist ständig unterwegs. Ich wollte, dass sie Eure Geschichte erfährt, habe Ihr also alles berichtet, wie Ihr es mir erzählt habt, und möchte auch, dass sie alles aus Eurem Mund noch ein weiteres Mal hört.“

Steindorn war erstaunt. „Blauer Schlafmohn? Nein, dieser Name sagt mir nichts. Aber Ihr beide seid bestimmt Schwestern oder sonstwie miteinander verwandt. Vielleicht ist es das, was ich in Euch erkenne.“

Steindorn sah, wie sich die Köpfe der beiden Frauen bewegten. Viel war es nicht, und auch die Mienen blieben unbewegt, aber trotzdem war er sich sicher, dass die beiden sich über ihn unterhielten. Nur auf welche Art das geschah, vermochte er nicht zu sagen.

Er hat ein klares Auge, wie ich es dir gesagt habe.“

Und ich habe dich gewarnt, eine Gestalt anzunehmen, die deiner Zeit in NA-R zu ähnlich ist“, antwortete Blauer Dreisporn.

Die Dienerschaft in diesem Haus kennt mich zu gut. Die Alten wie die Jungen. Bei einer völlig neuen Gestalt hätte sich jeder hier im Haus gefragt, wer ich denn bin. Dann doch lieber so.“

Blauer Dreisporn lächelte. „Als wir unsere Gestalten wählten, konnten wir nicht wissen, dass du einmal überall Spuren hinterlassen wirst.“

Nein, das konnten wir wirklich nicht vorhersehen.“

Als Steindorn ein Lächeln über das Gesicht von Blauer Dreisporn huschen sah, machte er sich bereit, seine Geschichte erneut zu erzählen, aber es war seine Gastgeberin, die das Gespräch wieder aufnahm.

„Ich muss Euch leider mitteilen, dass ich über einen Komposit mit dem Namen Immergrün nichts habe erfahren können. Doch muss das nichts heißen. Komposits gibt es in Centrell wie Blätter an einem Busch. Und außerdem, wer sagt uns denn, dass er auch in dieser Stadt den gleichen Namen führt wie bei Euch daheim in NeuAllerdamm-Rot. Nach NA-R selbst habe ich mich nicht erkundigt und möchte es auch nicht tun. Da würden meine Fragen mehr verraten, als wir an Antworten erwarten könnten.“

„Ich frage mich …“ Die weiche Stimme von Blauer Schlafmohn war wirklich geeignet, jedem überreizten Nerv Ruhe zu schenken. Nur Steindorn nicht, denn wieder kam mit einer überwältigenden Mächtigkeit der Eindruck zurück, diese Frau zu kennen.

„Fragt nur“, sagte er so kurz angebunden, dass es beinahe schon unhöflich klang.

„Was hatte die Viertelelfe, von der Ihr Blauer Dreisporn erzähltet, an sich, dass sie die Aufmerksamkeit dieses Immergrün erwecken konnte?“

Steindorn hob in einer Geste der Hilflosigkeit kurz die Schultern an und ließ sie dann wieder fallen. „Dieser Kerl lässt niemanden in seinen Kopf hineinschauen. Ich vermute, dass es anfangs nicht mehr war, als dass ein Gestaltwandler eine Viertelelfe entführte, ohne dass unser Rat sofort das Unterste nach oben kehrte.“

„Und warum hat der Rat nicht reagiert?“

Steindorn traute seinen Ohren nicht. Wie war es möglich, eine Samtstimme mit einer Härte zu versehen, die ihn an anderen Orten sofort veranlasst hätte, eine magische Schutzwand aufzubauen? Er bemühte sich um Gelassenheit, als er antwortete: „Die Nachricht kam erst mit Verzögerung und geringer Dringlichkeit zum Rat. Es war bereits zu spät. Wir konnten uns nur noch um Klärung bemühen.

„Und wie geht es der Viertelelfe jetzt? Wo ist sie? Was macht sie?“

„Ich bin zu lange weg aus meinem NA-R, um das beantworten zu können. Ich kann nur sagen, dass sie nach ihrem Verschwinden plötzlich wieder auftauchte, eine Scheibe eines angeblichen Drachenzahns für viel Geld an einen Händler für Artefakte verkaufte und sich von dem Geld eine teure, kleine Wohnung leistete. In einem der Häuser von König Nachtnebel und Meister Treibgut. Falls diese Namen Euch etwas sagen. Die letzte Nachricht, die ich bekam, betraf ihre Verhaftung durch diesen Immergrün.“

Die beiden Frauen warfen sich einen langen Blick zu und starrten dann regungslos vor sich hin. Steindorn wartete geduldig. Über was für eine Fähigkeit verfügten die Frauen? Es gab keine Elfenmagie, die so etwas ermöglichte.

Immergrün hat Tama festgesetzt? Hast du das gewusst?“, fragte Blauer Schlafmohn mit etwas Sorge in ihrer Stimme.

Nein, aber da sie wieder in Freiheit ist, scheint nichts Gefährliches geschehen zu sein. Der Gestaltwandler war ein Riesenaffe nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte. Tama wurde später von einer Raubkatze beschützt. Meinst du, sie ist eine von uns?“

Wenn du recht hast, gibt es nicht viele Möglichkeiten.“

Wir müssen sie zu fassen kriegen. Weißt du, wo sie steckt?“

Wenn du es nicht weißt ... Ich fürchte, wir müssen warten, bis sie irgendwo wieder auftaucht. Aber dann sollten wir schnell sein.“

„Wir müssen entscheiden, was wir mit Euch machen“, sagte Blauer Dreisporn so unvermittelt, dass Steindorn zusammenzuckte. „In NA-R hattet Ihr in einer kleinen, freundlichen Stadt einen Feind. Jetzt seid Ihr an einen Ort gekommen, an dem die Situation zur Zeit etwas …“ Blauer Dreisporn gab sich Mühe, das passende Wort zu finden, fand es nicht und blieb im Ungefähren. „… schwierig ist, möchte ich sagen. Dass ich bisher nicht darüber gesprochen habe, mögt Ihr mir verzeihen. Ihr werdet schon bald selbst herausfinden, aus welchen Richtungen in Centrell die Winde wehen.“

Steindorn unterdrückte einen Fluch. „Ich hatte gehofft in einer großen Stadt nur einer von vielen zu sein.“

„In Centrell ist nicht geklärt, wer in Zukunft das Sagen hat, und – schlimmer noch – was und wohin es die Stadtelfen treibt. Es ist deshalb für Euch besser, unser Haus so früh wie möglich wieder zu verlassen und einen Platz unter einem der großen Bäume zu finden. Das Haus Blau ist eher ein hartnäckiges Buschwerk als ein Baum. Genießt also die letzte Nacht in unserem Haus.

Und das hier …“, sagte sie und zog ein Papier aus einer ihrer vielen Taschen heraus, „ist eine Liste der mächtigen Häuser in Centrell. Es sind deren acht. Früher waren es mal weit über dreißig. Dann sank ihre Zahl recht schnell auf vierundzwanzig. Da es lange Zeit bei dieser Zahl blieb, etablierte man einen Rat der Vierundzwanzig, in dem jede Familie eine Stimme hatte. Das Haus Blau gehörte damals zu den kleinsten Häusern. Heute sind es nur noch acht Familien, von denen jede drei Stimmen im Rat hat. Ihr seht, der Rat der Vierundzwanzig existiert immer noch. Und immer noch ist das Haus Blau das kleinste Haus. Aber es gibt uns noch, und nur allein das und unsere drei Stimmen zählen.

Mein Vorschlag ist, dass Ihr morgen beginnt, jedes dieser Häuser aufzusuchen und um Unterstützung zu bitten. Fragt jedes Mal nach dem Familienältesten. Da Ihr nicht um Geld bittet, dürfte Euch zumindest die Neugier gewiss sein. Beginnt mit dem Haus Barion. Es ist das größte und wird von Barionstab angeführt. Der Familienälteste trägt immer denselben oder einen ähnlichen Namen wie das Haus, dem er vorsteht. So wie auch unser Familienvorstand immer Blaublatt heißt, auch wenn bei dem Namen unseres Hauses das -blatt im Verlauf der Zeit verlorengegangen ist. Barionstab leitet die mit Abstand mächtigste Familie in Centrell, weil sie einige Häuser mit einschließt, die von Verwandten geleitet werden. Früher einmal waren das eigenständige Häuser. Wenn Ihr auf jemanden mit Namen Felsbirne, Stechapfel, Gelbe Zwetschge oder Ähnliches stößt, seid sicher, er ist ein Vasall von Barionstab.

Das Haus der Vier Winde ist das zweitgrößte Haus und wird zurzeit von drei Brüdern geführt, weil der Stuhl von Südwind nicht besetzt ist. Dann gibt es noch drei mittelgroße Familien, und zwei kleinere, von denen wir eine sind. Ich empfehle Euch, bei allen Antworten, die Ihr gebt, bei der Wahrheit zu bleiben. Wenn Euch jemand fragt, wo Ihr die Nacht verbracht habt, sagt ruhig, dass Ihr bei uns wart, denn es ist wahrscheinlich, dass sie das bereits wissen. Den Rest überlasse ich Euch. Und noch etwas. Kommt nicht mehr zu uns zurück, es sei denn in einem Augenblick größter Not. Dann gewähren wir Euch Zuflucht und bringen Euch aus der Stadt heraus. Ich lasse niemandem, der mir von Altwi empfohlen wird, in einem Sturm allein. Wir bleiben weiterhin in Kontakt, aber ich bin es, die Euch finden wird. Also sucht nicht nach mir. Und nun viel Glück, Steindorn, viel, viel Glück.“

„Auch von mir viel Glück, Steindorn“, sagte Blauer Schlafmohn. „Ihr seid ein äußerst fähiger und geschickter Mann, der schon viele kluge Entscheidungen getroffen hat. Centrell könnte trotz aller Gefahren der richtige Ort für Euch sein. Ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen. Und seid vorsichtig, wem Ihr vertraut.“

Steindorn bedankte sich für die guten Wünsche. Dann führte ihn jemand in sein Zimmer zurück.

Unterwegs überlegte er, was Blauer Schlafmohn gemeint haben konnte. Woher wollte sie wissen, welche Entscheidungen er getroffen hatte und ob er geschickt war? Solche Worte schenkte man nur jemandem, den man gut und lange kannte. Und da war es wieder. Dieses Gefühl, sie sehr gut zu kennen. Aber wenn, dann unter einem anderen Namen als ausgerechnet Schlafmohn. Über seine Zukunft macht er sich jetzt keine Illusionen mehr. Von nun an arbeitete er für diese beiden Frauen im Haus Blau. Eventuell die Seiten zu wechseln in einem Spiel, von dem er noch gar nichts verstand, wäre ganz bestimmt keine jener klugen Entscheidungen, für die er gerade noch so gelobt worden war. Oh ja, er hatte die Warnung gut verstanden.

Am nächsten Morgen fand er ein gutes Frühstück vor und daneben einige kleinere Goldmünzen, die er einsteckte. Er verließ das Haus, ohne Abschied zu nehmen. Wo dieser Barionstab residierte, wusste er nicht. Aber das herauszufinden, konnte ja nicht schwierig sein.

Eine wild wuchernde Ranke umgab einen Stab. Auf Steindorn wirkte das Relief so, als wollte die Ranke den Stab schützen, und das Relief die Tür, über der es angebracht war. Aber wohin führte die Tür?

Er hatte nach dem Haus Barion gesucht, man hatte ihm den Weg gewiesen, und nun stand er vor einem Gebäude, das einen ganzen Block ausmachte und durch viele Türen betreten werden konnte. Jede Tür sah anders aus, aber so etwas wie einen Haupteingang, konnte er nicht entdecken. Entweder war das ein Spielchen, das half, Eingeweihte vom gemeinen Volk zu unterscheiden, oder es war völlig egal, an welche Tür er klopfte. Er entschied sich für die zweite Deutung, hob den Türklopfer an und ließ ihn auf dem Metallschild aufschlagen. Der Ton war tief und wohlklingend. Die Tür öffnete sich so rasch, dass man glauben könnte, man hätte ihn erwartet. Er stellte sich vor und fragte nach Barionstab. Es hätte ihn nicht verwundert, gleich wieder fortgeschickt zu werden, aber er wurde eingelassen, ihm wurden Erfrischungen angeboten, wie man sie wohl kaum einem hergelaufenen Bettler anbieten würde, und nach kurzer Wartezeit wurde er von einem älteren Elfen begrüßt.

„Was kann ich für Euch tun?“

Diese Frage überraschte Steindorn, weil sie viel zu früh kam, auf jede Höflichkeit verzichtete und auch alles umging, das benötigt wurde, um erst einmal eine Atmosphäre des oberflächlichen Vertrauens zu schaffen. Auf diese Frage konnte er wohl kaum mit einem Forderungskatalog antworten. Er beschloss, sie nicht zu beachten und seinerseits eine Frage zu stellen. Eine harmlose Frage, die niemandem schadete.

„Mein Name ist Steindorn“, sagte er. „Habe ich die Ehre Barionstab gegenüberzustehen, dem Herrn des Hauses Barion?“

Der Elf nickte nur kurz.

„Ich bin einen weiten Weg gegangen, um mir in Centrell eine neue Existenz aufzubauen. Keine Stadt gleicht der anderen, und gerade in der größten und wichtigsten Stadt herrschen immer etwas andere Gesetze als im Rest des Landes. Ich wäre daher dankbar für ein paar Empfehlungen, Hinweise aber auch Warnungen, die mir helfen, auf festem Untergrund zu bleiben.“

„Wie soll ich Euch die geben können, wenn ich nicht weiß, was Ihr hier erwartet. Oder seid Ihr gekommen, um für mich zu arbeiten?“

Wieder so eine direkte Frage, die er weder mit ‚Ja‘ noch mit ‚Nein‘ beantworten durfte, weil das ‚ja‘ ihn festlegte und er bei einem ‚Nein‘ die darauf folgende Frage fürchtete. „Ich weiß, es wirft ein schlechtes Licht auf mich, wenn ich sage, dass ich mich noch nicht entschieden habe. In jedem Fall ist es meine Absicht, selbstständig zu bleiben. Ich bevorzuge Kooperationen, einen Platz in bereits aufgespannten Netzen, und auch dort befinde ich mich lieber am Rand als in der Mitte. Denn in der Mitte befinden sich Macht und Einfluss, woran mir nicht gelegen ist. Die hohe Politik überlasse ich gern anderen.“

„Ihr habt eine merkwürdige Art, um Unterstützung zu bitten. Ist das Haus Barionstab das erste Haus, das Ihr besucht? Wenn nicht, wüsste ich gern, was Euch anderen Ortes empfohlen wurde.“

„Als ich in die Stadt kam, stieß ich mehr oder weniger zufällig auf ein Haus, dessen Fassade ganz in Blau gehalten war. Blaublatt und seine Familie nahmen mich herzlich auf, konnten aber nur wenig mit mir anfangen. Alles, was sie mir gaben, – und ich sage gern, dass das nicht wenig war, denn meine Reise hatte mich viel Kraft gekostet, – war die Gelegenheit, mich auszuruhen. Zu Euch bin ich gekommen, weil Ihr nach den Worten Blaublatts das größte Rad in dieser Stadt dreht.“

Zum ersten Mal verzog sich Barionstabs Mund zu der Andeutung eines Lächelns. „Ja, so würde sich der gute Blaublatt wahrscheinlich ausdrücken. Haus Blau war in der Tat das völlig falsche Haus für jemanden wie Euch, der offensichtlich weiterkommen möchte. Haus Blau ist ein Haus des Stillstandes, ohne Ehrgeiz und Kraft, aber einem erstaunlichen Willen, alles zu überleben. Es ist auch ein Haus voller Traditionen, obwohl mir unklar ist, wofür Traditionen etwas taugen wollen. Es sind Geheimniskrämer, alle miteinander, wobei ich mich immer frage, ob dieses Haus überhaupt etwas hat, das es wert ist, geheim gehalten zu werden. Aber lassen wir das. Ihr spracht davon, was Ihr weniger schätzt, aber was sind Eure Stärken?“

„Ich bin ein Komposit, kein Waldelf, wie Ihr unschwer erkennen könnt. Ich bin ein Kampfmagier durch und durch, der durch sein Geschick, Dinge zu organisieren, zu ein wenig Geld gekommen ist. Man nennt mich allgemein ‚den Dorn‘, weil ich eher aufspieße als zerschmettere und mich der nur schwer vergisst, in dessen Fleisch ich mich einmal hineingebohrt habe. Andererseits trage ich das unauffällige Graubraun einer entlaubten Schlehe und falle nicht weiter auf.“

„Da Ihr nicht nach Geld gefragt habt, nehme ich an, Ihr besitzt es. Mit Geld ist viel zu gewinnen. Baut eine Fabrik und in der Fabrik Kanonen. Außer Geld braucht Ihr nur die richtigen Leute dafür, solche die sich mit der Verarbeitung und der Magie von Metall auskennen. Eurem Namen nach zu urteilen, ist Tatkraft Euer größter Schatz.“

„Ein guter Scherz, Barionstab. Kanonen. Für nichts zu gebrauchen und eine Verschwendung von Erz. Teuer sind sie überdies auch noch.“

„Das nenne ich eine deutliche Aussage. Erklärt mir, warum Kanonen für nichts zu gebrauchen sind.“

„Sie sind schwer und noch schwerer zu bewegen. Sie bieten ein statisches Ziel, und ihr Schwachpunkt sind die Kanoniere. Jeder brauchbare Kampfmagier könnte eine Stellung zerstören.“

„Und wenn eine Stellung durch Magier geschützt würde?“

„Dann liefe es auf einen Kampf zwischen Magiern hinaus. Wozu braucht man dann die Kanone.“

„Ihr habt eine interessante Weise, die Dinge zu sehen. Wie sieht es mit Artefakten aus? Oder Maschinen? Was haltet Ihr von magischen Gerätschaften?“

„Ich komme aus NA-R. Das ist die Stadt der Artefakte. Für mich ein Handelszweig der Zukunft. Aber man muss genau wissen, wofür man sie braucht. Sagt, habt Ihr auch einen Vorschlag für den Fall, dass Tatkraft etwas wichtiger ist als Geld?“

„Sicher. Baut eine Kampftruppe auf und vermietet sie für verschiedene Einsätze. Ob Ihr jemanden beschützt oder jemanden verschwinden lasst, ist kein so großer Unterschied.“

Steindorn verbarg seine Überraschung geschickt, fragte sich aber, ob Barionstab das ernst meinte oder ihn nur provozieren wollte. In Zeiten des Friedens kostete es viel Geld, auf seine Chance zu warten. Bedeutete dieses Angebot, dass die Zeiten der Ruhe vorbei waren? Eine vorsichtige Antwort wäre wohl die beste, und so sagte er:

„Das ist ein sehr bedenkenswerter Vorschlag, Barionstab. Allerdings sind der Aufbau und vor allem der Unterhalt einer solchen Truppe kostspielig und nur lohnend, wenn genügend Einsätze gefordert würden. Wo sollten die herkommen, zumal doch wohl jedes Haus seine eigene kleine Kampfgruppe besitzen dürfte?“

„Ihr denkt wie ein wirklicher Geschäftsmann. Ich habe mir gedacht, solange Ihr klein seid, arbeitet Ihr für mich als eurem ersten Kunden. Ich leihe Euch für den Anfang einen zweiten Kampfmagier und einen oder zwei Söldner, die ihr später wieder freistellt, wenn Ihr eigenes Personal gefunden habt. Ihr habt recht, die Häuser schützen sich selbst. Aber ihre Kämpfer sind bekannt, und nach jedem Einsatz weiß die Stadt am nächsten Tag, wer beteiligt war. Bei Euch wäre das weit weniger klar.“

„Das ist korrekt. Aber in Zeiten großer Ruhe ist die Auftragslage in diesem Gewerbe dünn.“

„Das mit der Ruhe täuscht. Centrell ist ein Feuerberg in der Entstehung. Jemand wie Ihr könnte das eine Sandkorn zu viel sein, das oft ganze Hänge ins Rutschen bringt. Wir stehen vor einem Krieg, Steindorn, wenn wir nicht aufpassen.“

„Krieg ist ein großes Wort, Barionstab. Das wäre der erste Krieg, seit die Vernunft diese Welt betreten hat. Wir haben noch nicht einmal ein eigenes Wort dafür und mussten es uns aus den Legenden holen.“

„Ha, wo sind nur Eure Augen, Kerl! Krieg hat es immer gegeben. Er wurde nur niemals so genannt. Oder wollt Ihr sagen, dass Frieden herrscht zwischen den Komposits und den Waldelfen, nur weil die Zeit noch nicht gekommen ist, zu den Waffen zu greifen? Die Stadtelfen sind verärgert, weil sie nicht frei durch das Land ziehen können, wie es ihnen gefällt. Begegnen sie einer Gruppe von Wehrhütern, werden sie eingefangen und behandelt wie alle anderen Wilden auch. Und das sogar im Land der Menschen. Ich spreche nicht über den Elfenwald. Wir Komposits müssen deshalb immer in Gruppen reisen, die denen der Wehrhüter in Größe und Bewaffnung mindestens ebenbürtig sind. Das nehmen wir nicht mehr lange hin. Wir werden kämpfen. Nur der Zeitpunkt ist noch nicht festgelegt.“

„Das ganze Leben ist ein Kampf, aber der Schritt vom Kampf zum Krieg ist groß und länger, als die Beine eines Mannes ihn gehen können.“

„Es gibt nicht den einen Schritt vom Kampf zum Krieg. Dazu sind viele Schritte nötig. Einer dieser Schritte betrifft unsere Zukunft. Wir wollen wachsen wie andere Völker auch. Aber Erz und Holz befindet sich auf dem Gebiet der Waldelfen, die mit diesem Reichtum nichts anzufangen wissen. Ähnliches gilt auch für viele magische Substanzen, die wir für unsere Artefakte brauchen. Die Waldelfen haben alles und nutzen nichts davon. Wir brauchen alles und haben nichts. So darf es nicht verwundern, dass es Stimmen im Rat gibt, die empfehlen, die Waldelfen einfach anzugreifen. Sie leben in ihrem Riesengebiet so weit verstreut, dass sie keinen Widerstand organisieren könnten. Aber diese Stimmen, sind Stimmen dummer Hitzköpfe. Wir hätten schnelle Anfangserfolge und ständen am Ende einer Übermacht gegenüber, der wir nicht gewachsen sind. Nein, so geht das nicht. Wir müssen anders vorgehen.“

„Jetzt macht Ihr mich neugierig. Wenn der Kleine den Großen besiegen will, braucht er eine Idee.“

„Oder die Umstände spielen ihm in die Hände. Der Schwachpunkt der Waldelfen ist ihr Elfenrat. Er ist zu groß, zu alt, zu dumm und zu unbeweglich. Er ist der verfaulte Kern im Inneren eines großen Baumes. Aber auch ein hohler Baum stürzt erst dann, wenn die Fäulnis einen Weg nach draußen gefunden und die Borke zerrissen hat. Bis dahin dauert es noch. Viel schlimmer ist, dass Centrell nicht mit einer Stimme spricht. Unser Rat beschließt viele Dinge mit sechzehn gegen acht Stimmen. Die Mehrheit regiert, aber um einen Krieg zu beginnen, ist die Minderheit zu stark. Eine Eurer Aufgaben könnte es sein, die Minderheit zu schwächen oder davon zu überzeugen, ihre Meinung zu ändern. Das Haus der Vier Winde steht unseren Absichten entgegen und auch eines der mittleren Häuser, doch das wird fallen, wenn die vier Winde nicht mehr gleichzeitig wehen.“

„Lasst mich raten. Das Haus Blau steht auf keiner der beiden Seiten.“

„Ihr seid ein kluger Mann. Das Haus Blau enthält sich oder stimmt mit zwei Stimmen gegen uns und mit einer für uns.“

„Und sollte das Haus der Vier Winde seine Kraft verlieren, was macht Euch so zuversichtlich, den Kampf gegen die Waldelfen zu gewinnen?“

„Es bleibt wenig geheim in Centrell. Wer Augen hat zu sehen, erkennt, dass es eine dritte Kraft in der Auseinandersetzung zwischen Stadt- und Waldelfen gibt. Sie werde ich in Centrell etablieren, ohne dass mich jemand damit in Zusammenhang bringt. Das wäre eine reizvolle Aufgabe für Euch.“

„Und Ihr habt keine Angst, dass ich diese oder andere Nachrichten weiterverkaufe? Schließlich kennt Ihr mich kaum.“

„Nein, warum sollte ich? Die dritte Kraft wird bald für jedermann sichtbar sein. Und es gibt keinen Beweis, dass ich mit ihr etwas zu tun habe. Außerdem müsst Ihr nicht glauben, dass ich Euch traue. Ich traue niemandem. Ich habe einige Leute, die für mich arbeiten und sich gegenseitig kontrollieren. Zwei von ihnen kennt Ihr. Einer ist jemand, der überall unterschätzt wird und von dem niemand weiß, dass er für mich arbeitet. Er wird eine Überraschung für Euch bedeuten. Zusätzlich hat mir ein Kaufmann aus NA-R seine Dienste angeboten. Er heißt Nachtnebel und weiß um die Bedeutung strategischer Entscheidungen. Und das sind nicht die beiden Einzigen. Ihr werdet sie alle kennenlernen im Verlauf der Zeit unserer Zusammenarbeit.“

„Nachtnebel? Er wurde in NA-R ‚König‘ genannt. Was sucht denn der in Centrell?“

„NA-R veränderte sich, seitdem Immergrün Euch von dort vertrieben hat.“

„Ihr wisst davon?“

„Sicher. Ich weiß über alles Bescheid, was in NA-R vor sich geht. Ich habe nur eine Frage an Euch. Warum habt Ihr nicht mit ihm zusammengearbeitet oder Euch gegen ihn gewehrt? Ihr hatte anfangs noch alle Chancen. Warum seid Ihr weggelaufen?“

„Ich bin nicht weggelaufen, mag es für Außenstehende auch so aussehen. Immergrün war nur der letzte Anstoß, einen bereits gefassten Entschluss endlich umzusetzen. Ich hatte in NA-R keine Zukunft, denn ich bin ein Komposit. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ein Distar mich abgelöst hätte, und auch Immergrün hat nicht das Zeug dazu, eine Stadt zu führen. Auch ging es ihm nicht um die Stadt, sondern um ein Stück Zahn, das von einem Drachen stammen sollte und sich in meinem Besitz befand. Nein, in NA-R gab es für mich nichts mehr zu gewinnen. Die kleinste unserer Städte, aber von immenser strategischer Bedeutung, weil sie so nahe am Elfenwald liegt. Ich wundere mich immer noch, warum gerade dort kein Distar regiert.“

„Um den Waldelfen die Bedeutung, die Ihr erwähntet, nicht zu zeigen. Ihr seid ein kluger Mann, Steindorn, deshalb mag ich Euch. Ich sammele kostbare Dinge. Habt Ihr das gewusst? Ich muss Euch irgendwann einmal meine schönsten Stücke zeigen. Aber die kostbarsten Dinge sind kluge Leute. Es gibt so wenige davon. Deshalb sammele ich auch sie. Viele von ihnen sind meine Freunde und noch mehr sind gute Bekannte und Geschäftspartner geworden, die irgendwann einmal ebenfalls zu meinen Freunden zählen werden. Ich würde auch Euch gerne dazu zählen und Euch an den Rand meines Netzes stellen. Genau so, wie Ihr es Euch vorstellt. Zwischen uns Stadtelfen und die Menschen. Als Wächter, aber nicht als Mauer. Als eine Art Unterhändler ohne Bedeutung an der Oberfläche, aber mit Zugang zu allem, was mir zur Verfügung steht. – Aber erzählt mir doch noch ein wenig über das Stück Drachenzahn.“

In den Drachenbergen

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