Читать книгу Stromboli - Wolf Buchinger - Страница 5
Beginn des Abenteuers
ОглавлениеNun bin ich wohl ganz angekommen und werde schon wie ein Cousin behandelt. Tut gut, hatte ich ja auch insgeheim gehofft, aber nie erwartet, dass es so schnell so perfekt und intensiv läuft. Wenn Mia mich anschaut, ist es ein Blick zwischen Misstrauen und Wollust, manchmal rollt sie die großen Augen, dann wagt man keinen Widerspruch.
Ihr ‚einverstanden?‘ ging durch den ganzen Körper, außer den Augen hob sie den Kopf, zog die Stirn empor, so dass viele Falten entstanden, wo kurz zuvor straffe Haut war, ihr Hals drehte sich abrupt zu mir und der kleine Körper wuchs ein paar Zentimeter, wahrscheinlich hatte sie sich dafür auf die Fußspitzen gestellt. Beeindruckend, wirkungsvoll, Machtspiele einer Frau.
Das Zimmer entspricht meinem Traum, den ich zuhause
nicht einmal annähernd umsetzen konnte: Anstatt großer englischer Möbel herrscht hier spartanische Einfachheit wie in einer Klosterzelle. Bett, Tisch, Stuhl, Ikea-Einfach-schrank, Kofferablage aus einer alten Weinkiste. Kein Teppich, dafür grobe Feldsteine, denen man die wahrscheinlich jahrhundertelange Benutzung ansieht; das war früher sicher ein Stall, den sie selbst umgebaut haben. Ich schnuppere. Nein, kein Ziegengeruch mehr, dafür aus der Toilette irgendein Billigraumspray, der nach Wiesenblumen und Weihrauch, Rasierwasser und Eau de Javel riecht, nein stinkt, Was zu viel ist, ist zu viel, also das Fenster auf in der Hoffnung, dass am Abend diese südliche Duftmischung durch Frischluft abgelöst worden ist. Shorts, Sandalen, Kurzärmelhemd, mein Gott, fühle ich mich wohl, so einfach und so wirkungsvoll bei diesen Temperaturen. Zuhause musste ich bei jeder Temperatur immer würdig herumlaufen: schwarze Hose, weißes Langärmlerdesignerhemd, Krawatte und in Griffnähe das Jackett. ‚Man weiß ja nie, ob nicht ein wichtiger Kunde kommt!‘ Ich habe mich diesem Diktat gebeugt, widerwillig und aus der Erfahrung, dass so lange gemotzt wird, bis ich mich ihrer Kleidervorschrift gebeugt hatte.
„Du wirst bald gut aussehen! Käsekuchenbeine und fast keine Haare, in drei Tagen wird die Sonne aus dir einen richtigen Mann gemacht haben.“
Tja, so sieht das Gegenteil aus. Eine Mia ist so selbstbewusst, dass sie keine falschen Komplimente macht und nur ihre Wahrheiten von sich gibt, die man gerne ohne Wider-spruch oder Negativgefühle akzeptiert.
„Danke für das Kompliment! Was machen wir jetzt?“
„Du musst jetzt stark sein. Du bist doch hierher gekommen, um Abenteuer zu erleben. Nun kriegst du eines, das du nie vergessen wirst. Komm, wir gehen ums Haus herum!“
Ja, Abenteuer, warum nicht. Mein Ziel ist hier ein ganz anderes, aber bis dahin kann man ja alles mitnehmen, was emotional und besonders ist. Ich vermute mal, dass wir in einen riesigen alten Weinkeller mit Spinnweben und Ratten gehen und den Wein für heute Abend aussuchen, den ich ihr dann als Geschenk abkaufen soll. Oh, ein wunder-schöner Gemüsegarten mit all dem, was das Mittelmeer-klima so hergibt.
„Macht ihr daraus Minestrone?“
„Ja, die echte. Mit viel mehr Gemüse und Gewürzen als es die Touristen hier im Ristorante bekommen und vor allem unglaublich frisch. Gibt’s heute Abend nach dem Aperitif, ich ernte nachher, kannste auch mitmachen, wir haben sogar echte Pälzer Krummbeere mitgebracht und immer weiter vermehrt, dahinten links stehen sie, sehr gut im Kraut. So, und hier ist unsere Arbeit.“
Arbeit? Womit? Ich erkenne keine Anzeichen von irgend-etwas, was man hier machen könnte. Hier stehen nur ein paar dreckige Schafe rum, die sich überhaupt nicht um uns kümmern, sie schauen sogar in eine andere Richtung, als wollten sie uns sagen: `Lasst uns in Ruhe!`
„Such dir eins aus!“
„Was?“
„Na, was wohl! Eines dieser netten Tiere. Wir schlachten und zerlegen es, frisch, frischer, kalabrische Küche. Das haben wir von den Arabern, die hier ein paar Jahrhunderte gehaust haben. Wir brauchen keinen Kühlschrank, in vier Stunden sind davon nur noch Knochen und Haut übrig. Das Fell verkaufen wir an die Gerberei, die Knochen wer-den zermahlen und an die Schweine verfüttert, das ist Recycling, wie ihr es nicht kennt!“
„Und was soll ich jetzt machen?“
„Wie gesagt: Such dir eins aus!“
„Es sind deine Schafe.“
„Du bist der Gast und wir glauben, dass wir einem Gast damit Freude bereiten können, es ist sogar eine Ehre, die man nicht ausschlagen darf.“
„Das ist Erpressung.“
„Ja, aber wenn es in einem Land so üblich ist, dann muss man sich eben anpassen. Jetzt zeig mit dem Finger auf eines!“
„Welches ist das älteste?“
„Alles ein Wurf.“
„So viele?“
„Ja, so viele. Wenn Schafe in einer Gruppe leben, werfen alle Mütter fast auf den Tag genau, wahrscheinlich zum Schutz gegen Wölfe.“
„Soll es ein Männchen oder ein Weibchen sein?“
„Is egal, jetz mach, awwer dalli! Ich sag dir mal ihre Namen: Billy, Willy, Snaky, Stony und Micky.“
„Das da!“
„Na also.“
„Nein – das daneben. Oder nein, das auf der anderen Seite!“
„So, jetzt hast du gewählt wie ein wabbelweiches Weib, schäm dich ein bisschen.“
„Ja, ich schäme mich.“
„So was gibt man nicht zu!“
„Familienerbe.“
Vielleicht bin ich doch zu wenig hart. Mia sagt ja fast dasselbe wie Gaby, oh weia, meine Schuldgefühle werden immer stärker.
Was macht sie denn jetzt? Unglaublich! Das Schaf lässt sich, auf den Rücken legen ohne sich zu wehren, kein Protest-Blöken, kein Strampeln, es scheint diese Situation sogar noch zu genießen. Mia ist gemein! Saugemein! Sie streichelt es am Hals, dort, wo jetzt sehr bald der Todesschnitt stattfinden wird. Das vermute ich wenigstens.
„Kannst du Messer wetzen?“
„Ja.“
„Jetzt lügst du. Du musst die andere Seite schleifen.“
„Ah scusi, ich habe meine Brille nicht an.“
„Alle drei bitte. Eines zum Schlachten, eines für die Haut und eines für die Innereien, du wirst es gleich lernen. Komm, mach es! Dies ist auch eine Gästepflicht. Mach einen satten Schnitt hier unten am Hals. Nur einen Schnitt, nicht zittern, das Messer fest drücken, nicht nachlassen, sonst leidet das Schaf, so ist es total überrascht und wundert sich, was mit ihm passiert und schon ist es tot. Los!“
Ich mache gleich in die Hose! Nein danke, ich bin ein unhöflicher Mensch und gerade jetzt habe ich meine neue Härte gefunden und sage klar und deutlich NEIN! Auch ältere Pälzer sind lernfähig.
„Mach es! Verdammt noch mal: Mach es! - Siehste! Es hat nichts gemerkt. Traumtod.“
Uff, das ging wie in Trance, vielleicht haben das meine Vorfahren auch schon tausende von Malen gemacht, ich habe ruckzuck geschnitten, als hätte ich eine endlose Routine, keine Überwindungsangst, kein Respekt mehr vor einem lebenden Individuum. Einfach so tot gemacht. Tot. Für immer. Weg aus einem glücklichen und beschützten Leben. Jetzt denke ich aber ziemlich daneben: Wenn es schon sein musste, dann war dies eine vernünftige Lösung, nein, ich empfinde sie sogar als gut. Wir halten Tiere, um sie zu essen, also muss man ihnen das Maximum an Respekt entgegenbringen und ihnen den Tod als Überraschung präsentieren. Oh je! Jetzt zittere ich doch. Irgendwie habe ich eine Art Schock bekommen und denke ziemlich quer: Wäre das nicht auch eine faire Lösung für Menschen? Nicht endlos leiden lassen, sondern ab einem bestimmten Level, wenn Leben zur Qual wird, eine kleine Pille in die luxuriöse Henkersmahlzeit, die als Feier deklariert ist - und hops ist man weg. Mitten in diesem Dasein, ja, das wäre sehr logisch. Ich muss jetzt bitte sehr schnell in die Realität zurückkommen und irgendetwas Konkretes tun, was hierher passt. Ja! Die anderen Schafe schnuppern an ihrem toten Kollegen, der gerade noch mit ihnen gefressen hat, das muss nicht sein und könnte sie quälen:
„Soll ich die anderen Schafe ins hintere Gatter treiben?“
„Wozu?“
„Sie sind so nahe und sehen alles, das könnte sie schockieren.“
„Schafe? Sie wissen nicht, was der Tod ist, schau, sie fressen sofort weiter, als wäre nichts geschehen, nachher lecken sie dann das Blut auf, das übertropft.“
Ist diese Frau brutal. Mit der rechten Hand hält sie den toten Körper, mit der linken zieht sie eine alte verbeulte Blechschüssel darunter, in die das Blut strömt.
„Das ist für die Blutwurscht, die ihr ja auch noch in den Saumaache stopft. So was konnte ich nie essen.“
Na, wenigstens das. Man muss nicht alles, was einem Volk zugeschrieben wird, auch selbst für gut halten, selbst wenn es die Leibspeise eines ehemaligen Bundeskanzlers ist. Ich hätte nie gedacht, dass Schächten so friedlich geht, das Schaf scheint wirklich nicht gelitten zu haben, Mia hält es fast liebevoll und wartet, bis der letzte Tropfen Blut aus-gelaufen ist und tut … Mein Gott, was geschieht denn jetzt? Das für totgehaltene Tier zappelt wieder, bäumt sich auf, schüttelt sich, hebt den Kopf und schaut für zwei Sekunden ihrer Schlächterin tief in die Augen, knickt in sich zusammen und fällt zuckend auf den Boden. Das ist technisch gar nicht möglich! Ein Lebewesen ohne Blut und mit einem Schnitt im Hals kann sich doch nicht mehr aufbäumen, geschweige denn nochmals die Augen öffnen und intensiv schauen!
„Na, da staunste, was?“
Auch Mia ist gerührt, sie wischt sich mit dem Handrücken Tränen aus den Augen und verschmiert Blut über ihre Stirn. Jetzt ist für mich alles total magisch und unerklärlich.
„Du kannst die Uhr danach stellen: Nach genau drei Minuten bäumt sich das Schaf nochmals auf und schaut einem tief in die Augen. Das tut es aber nur, wenn es von einem ihm vertrauten Menschen geschlachtet wird, bei maschinellem Töten oder bei Fremden geschieht das nicht. Wir haben dafür keine Erklärung. Meine Großmutter glaubt, dass das Schaf seine Seele mit diesem Blick an den Menschen übergibt, daher habe ich mich bekreuzigt und mir, ihm zu Ehren, Blut auf die Stirn geschmiert.
Das ist das tiefe Ur-Italia. Muss man verstehen, kann man aber nicht verstehen, das sind wahrscheinlich noch Überbleibsel aus der Urzeit, als Tiere und Menschen noch eng miteinander gelebt haben.“
Sie schweigt, setzt sich neben das Tier und verhüllt ihren Kopf mit einem Tuch.