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Zum Geleit: Die Kraft der Wildnis

Wolfsmedizin. Was hat das zu bedeuten? Was will es sagen? Wölfe sind zu Hause in der Wildnis, am Rande der Menschenwelt. Sie haben die Reinheit und Kraft der wilden, unverdorbenen Natur; sie sind Grenzgänger. Ein wirklicher Heiler ist ebenfalls ein Grenzgänger, einer, der über die Grenzen der gesellschaftlichen Konventionen hinausgeht. Er muss ein solcher sein, denn Krankheit und Wahnsinn, Tod und Fortpflanzungstrieb, sie lassen sich nicht durch die Gebote der Rationalität und Ethik eingrenzen. Heute in unserer entzauberten Welt, in der Sicherheit und Berechenbarkeit oberste Priorität haben, haben wir vergessen, dass die wilden, nicht zähmbaren Kräfte der Natur (und die der tiefen Psyche) auch das Potenzial der Vitalität, Fruchtbarkeit und Heilung in sich tragen. Es ist die Kraft der Wildnis, die immer wieder in die erstarrte, geordnete, zivilisierte Welt hereinzubrechen droht, sie aufwirbelt, energetisiert und dadurch Neues – auch Heilendes – ermöglicht. Naturnahe Völker, wie es auch unsere Vorfahren waren, integrierten diese Energien in Form von periodisch zelebrierten, oft orgiastischen Festen in ihre Kultur, bei denen die Götter und Geister der Berge, Sümpfe und Wälder durch die Dörfer stürmten, die Menschenseelen ergriffen, durch sie hindurch tanzten und dabei die Fruchtbarkeit der Felder und Weiden, der Tiere und der Menschen freisetzten. Die wilde Jagd Wodans, der Zug der Percht, das rasende Treiben im Gefolge des Dionysos, die Lupercalien und Saturnalien der Römer, das keltische Samhain (Halloween) oder das indische Holi-Fest sind Ausdruck dieser participation mystique, die immer wieder eine heilende Katharsis ermöglicht.

Bei den kleineren, ursprünglicher lebenden Jäger- und Sammlervölkern fand die Berührung mit den Geistern der wilden Natur eher auf einer individuellen Ebene statt. Die Schamanen und Schamaninnen, die indianischen Medizinmänner und -frauen, auch die indischen Sadhus und Sadhvis gehen auf Visionssuche in die Einsamkeit. Der Gang auf den hohen, schwer zugänglichen Berg oder – wie bei den irischen Kelten – auf eine kleine sturmumbrauste Insel ist zugleich ein Gang in die dunklen Gründe der eigenen Seele. Dort, wo harte Askese, Fasten und Wachen das Ego dämpft und die Ekstase (griechisch ekstasis, »das Außer-sich-Geraten«) ermöglicht, dort wo sich die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Wildnis und Kulturland verwischen, finden sie das »Loch in der Zeit«; dort begegnen ihnen ihre Hilfsgeister – Adler, Bären, Wölfe, Hirsche, Schlangen – und schenken ihnen die notwendigen heilenden Visionen. Und gerade weil sie außerhalb der Ordnung stehen, können sie die ursprüngliche Ordnung erkennen und damit aufrechterhalten (DUERR 1978:52).

Schamanen, Medizinleute und Kräuterweiber kennen sich in der Wildnis, dem finsteren, schwer zugänglichen Wald, der einsamen Heide und den schroffen Bergen gut aus, ebenso wie in den Tiefen der inneren Seelenlandschaft. Sie vermögen es, die Gegenden jenseits des schützenden Hags, der die kleine Insel unseres domestizierten Daseins einhegt, zu bereisen. Sie haben selbst so etwas wie eine Wolfsnatur. Es gibt mittelalterliche Darstellungen von Hexen (Schamaninnen), die auf Wölfen reiten. Da ist es kein Wunder, dass ein Schamanengott wie Odin/Wodan, der die Heilkräuter und Zaubersprüche kennt, Wölfe als Begleiter hat. Auch eine schamanische Persönlichkeit wie Johnny Appleseed, der im amerikanischen Siedlergrenzland unterwegs war, wurde von einem Wolf begleitet, den er aus einem Fangeisen befreit hatte. Viele indianische und sibirische Schamanen haben Beziehungen zum Geist der Wölfe; bei meinem Freund Bill Tallbull war es ein Steppenwolf, der ihm bei seiner Visionssuche erschien und ihm seine Lebensaufgabe als Medizinmann und Botschafter zum »grünen Volk« (Pflanzen) wies.

Wölfe verkörpern die Urkraft von Freiheit und Abenteuer – sagt der Schweizer Künstler Peter Schneider. Es ist die Freiheit, vor der sich viele Schafsnaturen, die einen Hirten brauchen, fürchten. Eine Begegnung mit dem Wolf steht für Wandlung, für seelische Metamorphose. Psychoanalytiker finden in der Wolfssymbolik die finstere Seite des Unbewussten, den Ort unserer Urängste, den uns ständig folgenden »Schatten« (ZERLING/BAUER 2003:324). Diesen zu konfrontieren, anstatt ihn zu fliehen, bringt Heilung. Die grimmige Initiation der echten Schamanen besteht darin, den inneren Wolf, den Verwandler, die angsterregende Seite des Seins kennenzulernen, sodass sich die göttliche Ganzheit manifestieren kann.

Der Wolf steht auch für sichere Instinkte. Auch die braucht ein Heiler, nicht nur angelesenes Kopfwissen.

Wolfsmedizin. Es gab schon ein Buch mit ähnlichem Titel, geschrieben von einem konventionellen Mediziner namens Lewis Mehl-Madrona. Er wusste zwar, dass seine Großmutter eine Tscherokesen-Indianerin war, eine Kräuterheilerin, aber das war ihm eher peinlich. Als Arzt fühle er sich der modernen positivistischen Wissenschaft verpflichtet. Dennoch wagte er sich, trotz Vorbehalte, an das Heilwissen indianischer Medizinleute heran. Beim Besuch einer Schwitzhütte erlebte er bei einem Schwerkranken, dem die Schulmedizin keine Chance mehr gab, eine spektakuläre Spontanheilung. Er hatte keine Wahl, als einen guten Teil seines erlernten medizinischen Wissens und der entsprechenden Technologien infrage zu stellen oder wenigstens deren monopolistische Deutungshoheit zu hinterfragen. Er versuchte, das indianische schamanische Wissen in seine Praxis zu integrieren. Coyote medicine, also »Steppenwolf-Medizin«, nannte er seine unkonventionelle Angangsweise, die altüberlieferte schamanische Therapien in dem Versuch, Menschen zu heilen, mit einbezieht (MEHL-MADRONA 2011).

Als Peter Germann mich einlud, ihn und seine Freunde auf einer Reise nach Sibirien und in die Mongolei zu begleiten, konnte ich nicht Nein sagen, denn in diesem wenig besiedelten Teil der Erde gibt es noch Wölfe ebenso wie echte Schamanen. Das sibirische und mongolische Schamanentum ist uralt, seine Wurzeln liegen in der jüngeren Altsteinzeit, als die Menschen der nördlichen Halbkugel, zu denen auch unsere europäischen Vorfahren gehören, noch Mammutjäger waren. Auch den Bisons (Wisente), Rentieren, Pferden, Wollnashörnern, Auerochsen und anderen Herdentieren stellten sie nach. Verhaltensforscher vertreten die Ansicht, dass diese Großwildjäger ihre Jagdtaktiken den Wolfsrudeln abgeschaut haben.

Diese paläolithischen Nomaden lebten im Winter in sogenannten Grubenhütten, die teilweise in den Erdboden eingelassen waren und deren Dächer mit Tierfellen bedeckt waren; das gab Schutz gegen Wind und Kälte. Im Sommer lebten sie in Stangenzelten (Tipis), die schnell aufgebaut und abgebaut werden konnten. Stangenzeltartige Wohnhütten fand man noch lange in der sibirischen Taiga. Die Jurte der Steppenbewohner ist aus dem Stangenzelt ihrer steinzeitlichen Vorfahren hervorgegangen. Viele der paläolithischen Heilmethoden, wie die Schamanenreise in die Geisterwelt, um Krankheitsursachen zu erkunden, die therapeutischen Rituale, Überhitzungstherapien und die Heilpflanzenkunde haben sich in Eurasien und bei den nordamerikanischen Ureinwohnern bis heute erhalten. Ethnobotaniker konnten feststellen, dass die meisten der damals, vor rund fünfzehntausend Jahren angewendeten Heilkräuter noch immer in diesen Regionen und in derselben Art und Weise Anwendung finden. Auch unsere Volksmedizin wurzelt in diesem altsteinzeitlichen Urgrund, auch wenn sie von Elementen anderer Kulturkreise aus Altägypten, Sumer und Arabien teilweise überlagert wurde.

Eine echte Feldforschung bedeutet, dass der Forscher die Sprache des indigenen Volkes, bei dem er sich aufhält, beherrscht und mindestens einen ganzen Jahreszyklus hindurch mit ihnen verbringt. Eine Reise ist also keine Feldforschung, sondern eher ein Erkundungsausflug, eine allgemeine Ortung.

»Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende«, schrieb der große Kulturanthropologe Claude Lévi-Strauss im ersten Satz seines Buches Traurige Tropen (Lévi-Strauss 1982), in dem er seine Reise in die Urwälder des Amazonas beschrieb. Darin kommt die Enttäuschung zum Ausdruck, die ihn erkennen ließ, was der Kontakt der Reisenden mit den indigenen Völkern anstellt. An sich aber war Lévi-Strauss überzeugt, dass auch Reisen interessante frische Eindrücke und Erkenntnisse vermitteln können, solange sie nicht Projektionsflächen für die eigenen Vorurteile werden. Bei einer Reise kommt es weniger darauf an, wie weit oder wie lange man unterwegs ist, sondern wie tief sie geht.

Es ist nicht meine Absicht, hier noch ein weiteres ethnografisches Werk hervorzubringen, sondern einen Blick auf die Heilpflanzenkunde und die schamanischen Heilmethoden der Sibirier und Mongolen zu werfen, denn diese gewähren Einsichten in die zirkumpolare1 Heilkunde der Großwildjäger der jüngeren Altsteinzeit. Warum ist das interessant? Zu einem, weil das auch unsere ältesten therapeutischen Wurzeln sind, wie auch die der nach Amerika gewanderten Paläosibirier, aus denen die Indianer hervorgegangen sind.

1 Zirkumpolar: die Gebiete rund um den Nordpol (Grönland, Kanada, Sibirien, Nordeuropa).

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