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Padre Emilio
ОглавлениеVenedig, heute
Unerwartet riss die Wolkendecke auf und das gleißende Licht des Mondes fiel für einen Moment auf den Glockenturm der Madonna di Campo in Venedig. Ganz oben im Turm der Kirche ließ der abrupte Lichteinfall einen Mann mit Kapuze reaktionsschnell in Deckung gehen. Er wollte keine neugierigen Blicke auf sich ziehen. Es war erst einundzwanzig Uhr – zu früh für sein Vorhaben –, deshalb durfte er den Glockenturm jetzt noch nicht verlassen.
Vorsichtig lugte er durch die gotische Balustrade, die den Turm umschlang. Niemand hatte ihn bemerkt. Gottseidank!
Jabal – dessen Name einem biblischen Nomaden entlehnt war – atmete durch und blickte zum Himmel. Noch wenige Sekunden, dann würde der Mond wieder von Wolken bedeckt sein. Und diesmal würde die Phase jedenfalls von längerer Dauer sein, denn es zogen schwere Gewitterwolken auf, die starken Regen mit sich bringen würden.
»Gut so«, murmelte Jabal, »das macht die Sache für mich einfacher.«
Er hatte sich den ganzen Nachmittag im Turm der Madonna di Campo verborgen gehalten, um sich bei Einbruch der Dunkelheit von dort aus unbemerkt in den angrenzenden Säulengang abseilen zu können. Dort hoffte er, seinen schrecklichen Plan schnell und ohne großes Aufsehen in die Tat umsetzen zu können.
Die Minuten verrannen und schon bald brach die Nacht herein. Gegen halb zehn vernahm Jabal ein lautes metallisches Geräusch. Der Messdiener hatte die Hauptpforte des Säulenhofs abgeschlossen. Alles lief nach Plan – genau so, wie Jabal es in den Wochen zuvor beobachtet und akribisch notiert hatte. Und in genau zwanzig Minuten, also um zehn vor zehn, würde der Messdiener die Kirche verlassen und sich in seine Wohnung begeben. Padre Emilio, Jabals Opfer, würde dann allein zurückbleiben und zur vollen Stunde sein Abendgebet sprechen, bevor er sich im angrenzenden Pfarrhaus ebenfalls zur Ruhe legen würde.
Sein Gebet würde Pater Emilio – wie immer – im Säulenhof abhalten, der direkt an die Kirche anschloss. Dieses Gebäude glich in seiner Bauart einem römischen Atrium und diente den Geistlichen als Ort der inneren Einkehr und des Gebets.
Jabals Puls beschleunigte, als die Glocke über ihm zehnmal schlug. Er musste sich die Ohren zuhalten, um von dem Lärm nicht ohnmächtig zu werden.
Nachdem die letzten Glockenschläge verklungen waren, begann der Regen zu fallen – zunächst nur in dünnen Fäden, dann immer stärker werdend und kurze Zeit später prasselte er laut und wuchtig auf die Dächer des Säulenhofs nieder.
Jabal erhob sich langsam und sah an sich herab. Seine dunkelrote Mönchskutte war gut verschnürt und er trug – wie immer – keine Schuhe. Selbst in den Wintermonaten ging Jabal barfuß. Das gehörte sich für einen bußfertigen Ordensbruder, fand er. Jabal hatte das Abseilen vom Turm einige Dutzend Male an einer Kletterwand in den Schweizer Alpen geübt und fühlte sich darin sicher. Allerdings würde das Seil wegen des Regens nass und glitschig sein. Also streifte er seine schwarzen Lederhandschuhe über. Sie würden jetzt nicht nur Fingerabdrücke verhindern, sondern ihm auch einen besseren Griff am Seil ermöglichen.
Der dreißig Jahre alte Ordensbruder strich sich ein letztes Mal über seinen langen schwarzen Vollbart, um sich Mut zu machen und schlang das Seil anschließend doppelt um die Balustrade herum, sodass es zwar festhielt, sich später aber von unten wieder lösen ließ!
Vorsichtig begann er sich abzuseilen, langsam und rhythmisch, in der Art eines alpinen Bergsteigers. Er musste leise vorgehen, denn er durfte auf keinen Fall von Pater Emilio gehört werden. Dieser könnte sonst aufgeschreckt werden und fliehen, wodurch die zeitraubende Vorbereitung der letzten Wochen umsonst gewesen wäre. Dank des lauten Regens aber hörte Pater Emilio absolut nichts.
Jabal fühlte festen Boden unter seinen Zehen. Er war auf dem Ziegeldach des Säulenhofs angekommen. Vorsichtig löste er das Seil von der Balustrade, fing es mit beiden Händen auf, als es ihm entgegenfiel und rollte es zusammen. Es war wichtig, keine Beweise am Tatort zu hinterlassen. Dann legte er sich flach auf den Bauch und robbte über das nasse Dach bis zur Abrisskante. Dort angekommen, sah er sich um. Der Innenhof der Säulenhalle war schwach beleuchtet, wie immer, wenn es Nacht war. Sieben Laternen spendeten ein trübes, bernsteinfarbenes Licht, und im Regen verschwammen sie zu schwachen aquarellartigen Farbtupfern und entfalteten noch weniger Leuchtkraft als sonst.
Wie romantisch!, dachte Jabal und vergaß für einen Moment, weswegen er hier war. Doch er fand seinen Fokus schnell wieder!
Padre Emilio war in sein Gebet vertieft und kniete andächtig am Boden. Regenwasser lief ihm in den Nacken und sein Gebet klang gedämpft. Seine Stimme modulierte im Regen, verzerrte gespenstisch fremd.
Jabal hielt den Atem an. Als er damals zu seinem Orden gestoßen war, hätte er sich niemals träumen lassen, eines Tages einen Mord für die Bruderschaft begehen zu müssen. Dieser Gedanke lag einem gläubigen Mönch völlig fern. So fern wie Gedanken an Hexenverfolgungen, wie sie im dreizehnten Jahrhundert im Namen der Kirche stattfanden.
Nun aber – hier und heute –, im dritten Jahrtausend, sah sich Jabal gegen seinen Willen mit der Aufgabe konfrontiert, einen Menschen für seinen Orden töten zu müssen. Und zwar im Auftrag des Oberrates des Ordens. Dieser nannte sich Zorus und bekleidete das höchste Amt in der Bruderschaft. Jabal mochte ihn nicht, denn Zorus pflegte weltliche Kontakte. Er ließ sich im Kloster oft wochenlang nicht blicken und wenn er da war, war er meist nur wenige Stunden anwesend.
Die Ordensbrüder aber hatten ihn trotzdem zu ihrem Oberrat gewählt, was ihn vor fünf Jahren zum mächtigsten Mann des Ordens der Roten Gemini gemacht hatte. Und Zorus nutzte seine Macht seitdem! Die meisten Brüder fürchteten ihn wie den allmächtigen Gott selbst, obwohl sie ahnten, dass er in dubiose Machenschaften verwickelt war, die wohl nicht besonders christlich waren. Aber sie schwiegen, redeten nicht einmal darüber, da Zorus die Bruderschaft finanziell in der Hand hatte. Ohne seine beträchtlichen Zuwendungen würde der Orden der Roten Gemini und somit auch das monumentale Kloster, in dem er residierte, keinen Tag länger überleben.
Die kargen Einnahmen der Ordensbrüder könnten die Kosten für den gewaltigen gotischen Klosterbau, den man vor fünfzig Jahren für die damals neu gegründete Bruderschaft angemietet hatte, nicht tragen. Zu schlecht waren die Zeiten für Mönche in heutigen Zeiten längst geworden. Und so war es für den finanzstarken Zorus ein Leichtes gewesen, die Macht im Orden an sich zu reißen.
Jabal verwarf die quälenden Gedanken an Zorus wieder. Ihm blieb ohnehin keine Wahl. Er musste den Befehl ausführen, wenn er nicht vom Orden ausgeschlossen werden wollte.
»Herr, verzeih mir«, flüsterte er und glitt lautlos vom Ziegeldach. In geduckter Haltung pirschte er sich an Pater Emilio heran. Säule für Säule! Die Angst hämmerte wie Glockenschläge in seinem Körper. Laut – nachhallend.
Ehe Pater Emilio bemerkte, dass er nicht mehr allein war, hatte Jabal eine schallgedämpfte Automatikpistole gezogen, sie auf seinen Hinterkopf gerichtet und abgedrückt.