Читать книгу Alle Lust sucht Ewigkeit - Wolf-Ingo Härtl - Страница 6

Paris, 1889 1
März

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Dem schönsten Lächeln haftet immer ein Hauch von Melancholie an, und bei Jacques Dufaux wusste man dann gleich, dass er in träumerischer Stimmung war, die er gerne teilen mochte.

„In Zeiten, in denen eine anständige Frau eine aufkommende Hitze bestenfalls beim Kuchenbacken verspüren darf, suche ich nach der Frau, die Begriffe wie Moral und Anstand auf ihre ganz eigene Weise auslegt“, sagte Jacques. „Sie könnte ich bis auf den letzten Blutstropfen lieben. Eine Liebe, die nichts für sich will, denn nur dann ist es möglich, an gebrochenem Herzen zu sterben. Alles andere ist dramatischer Unfug.“

Er hob sein Glas und prostete dem albern kichernden Mädchen, das ihm gegenübersaß, mit dem charmanten Lächeln zu, das ihm für gewöhnlich das Leben erleichterte. Vor allem, wenn er es Frauen schenkte. Fast bedächtig nahm er einen Schluck von seinem Mâcon, dann lehnte er sich mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht zurück und blickte durch den großen Saal des Moulin de la Galette. An diesem Abend schienen noch mehr Gäste als sonst da zu sein. Bis unter die hohe Decke standen dichte Schwaden von Tabakqualm und hüllten die ausgelassen feiernden Menschen ein, als würden sie sich in einer Dampfwäscherei befinden und nicht in einem beliebten Vergnügungslokal auf der Kuppe des Montmartre, in dem es schwer war, sein eigenes Wort zu verstehen.

Jacques Dufaux stellte sein Weinglas auf dem Tisch ab und griff nach dem zweiten, kelchförmigen Glas, das danebenstand. Er hielt es sich vor das Gesicht und blinzelte Chou-Chou zu. Noch konnte er sich nicht entscheiden, welches Grün ihn mehr faszinierte. Das ihrer Augen, ein verlockender Kontrast zu den viel zu rot geschminkten Lippen, oder das des Absinths, der verträumt weiche Wellen durch sein Glas zog, wenn er es schwenkte. Gefährlich zulächeln tat ihm beides.

„Du sagst so schöne Sachen, Jacques Dufaux.“ Chou-Chou beugte sich seufzend vor. Ihr offen herabfallendes, blondes Haar bedeckte die linke Gesichtshälfte, also genau jene, die durch ein Missgeschick mit kochendem Wasser entstellt war. Das Missgeschick hörte auf den Namen Drei-Finger-Louis und war bekannt für seine gewalttätigen Ausbrüche gegenüber Mädchen wie Chou-Chou, die als gigolette nachts ihren kargen Lohn als Näherin aufbesserten.

„Ist das so?“ Jacques hob den Kopf und sah über Chou-Chous Schulter. Er entdeckte in der Menge seine Freundin Zabou, die sich berufen fühlte, Luftschlangen pustend durch das Lokal zu tanzen.

„Aber ja.“ Chou-Chou legte eine Hand auf seinen rechten Oberschenkel und begann, mit sanftem Druck kreisähnliche Bewegungen auszuführen. „Liebe mich doch einfach nur ein bisschen.“ Ihre drollige Aussprache verriet, dass Wein und Likör sie längst aus dem Mieder gehauen hatten, und zwar ohne es aufzuschnüren.

„Ein bisschen lieben?“

Dufaux ließ ihre Hand auf seinem Bein gewähren. „Ist so etwas möglich?“

Er hatte schon häufig über diese Frage nachgedacht, deren möglicherweise bejahende Antwort ihm eine gewisse Ratlosigkeit bescherte.

„Aber ja, mein lieber Jacques. Du liebst ein kleines bisschen und trägst dafür auch nur Risse an deinem Herzen davon. Schau, so kleine Risse nur.“ Sie hob die Hand und bedeutete mit Daumen und Zeigefinger einen winzigen Abstand, um vor Dufaux‘ Nase zu zeigen, was sie meinte.

Jacques griff sanft nach ihrer Hand und legte sie auf seinen Oberschenkel zurück.

Chou-Chou richtete sich auf. Ihr herausforderndes Dekolleté lenkte ihn nicht unwesentlich vom Absinth ab. Nicht alles, was appetitlich daherkam, konnte man trinken. Er hatte sich noch nicht entschieden, ob er das Mädchen reizend finden sollte oder belanglos.

Chou-Chou kicherte. „Spendierst du mir noch ein Glas? Dann komme ich auch mit zu dir.“

„Aber ich bin zur Stunde kein bisschen in dich verliebt“, sagte er.

„Du Schuft. Und wenn ich dir ein Glas spendiere?“

Reizend, eindeutig, die Sache war entschieden. „Du bist ein hinreißendes Wesen“, sagte Jacques.

Chou-Chou seufzte, und ein Schleier legte sich über ihre halb geöffneten Augen. „Ein bisschen nur. Liebe mich nur ein bisschen. Das tut keinem weh.“

Nein, das tat es sicher nicht, dachte Jacques. Nur, dass er das auch nicht Liebe nannte. Das unterschied ihn von einem Großteil der Menschen, die man hier oben auf dem Hügel von Montmartre, der Butte, antraf.

Montmartre. Hier, in diesem dörflichen Vorort im Norden von Paris lebten sie alle, die vom Licht der Sonne übersehen worden waren. Tagelöhner, Diebe und Kriminelle, Arbeiter, Trinker. Die Armut hielt sie fest umklammert und vereinte sie in ihrer täglichen Mühsal zu Gleichgesinnten. Die Frauen erzielten als Wäscherin oder Näherin zu wenig Lohn, daher verdienten sie sich nebenbei als Prostituierte etwas zum Leben dazu, wenn sie sich nicht gleich als Hure niederließen, was bei aller Trostlosigkeit auch recht einträglich sein konnte.

Doch die Menschen der Butte wären nicht sie selbst, würden sie es nicht auch verstehen, das Leben bei den Hörnern zu packen. Die ganz besonderen Vergnügungslokale mit ihrer zügellosen Art des Lebens und des Tanzens konnten nur hier entstehen. Hier, wo der entdeckungsfreudige Geist vieler Künstler mit dem freien Leben der Außenseiter von Paris zu einer unwiderstehlich sinnesfrohen Mischung zusammenfand, hatte Jacques Dufaux in den steilen, engen Gassen sein Zuhause.

Die Stimmung im Moulin de la Galette war am Überkochen. Die Menschenmassen tosten wie die hohe See, was nicht verwunderte, scherte sich hier doch niemand um allzu sittliches Gebaren, im Gegenteil, wer sich zu sehr nach der Etikette richtete, musste fürchten, hinausgeworfen zu werden.

Von allen Seiten waren laute und schrille Stimmen vergnügter Mädchen zu hören, und es war nicht eindeutig auszumachen, ob sie sich über zudringliche Verehrer empörten oder diese aufforderten, noch einen Schritt weiterzugehen.

Jacques ließ seinen Blick durch die große Tanzhalle vor ihm schweifen. Er hatte einen Tisch am Rand zwischen den mit Keramik gekachelten Stützpfeilern gewählt, da er von hier aus dicht am Geschehen war, ohne selbst in Aktion treten zu müssen. Zu beobachten, das gefiel ihm.

Er fühlte sich herrlich schwebend, wie eine Feder, die sich vom Bürzel einer Ente gelöst hat, und genoss die Stimmung im Tanzlokal trotz der erdrückenden Wärme, die ihn schwer atmen und viel trinken ließ. Aber die ansteckende Fröhlichkeit der Menschen und die Verrücktheit ihrer Ideen, nach denen sie lebten – das war seine Welt. Was brauchte es mehr, als in einer kleinen Atelierwohnung seine Leidenschaften leben zu können? Malen, trinken, wieder malen und zwischendurch vögeln und essen, essen und vögeln. Die Reihenfolge war nicht in Stein gemeißelt, seine Vorstellung von Glück schon. Das Leben karrt es dir vor die Füße, und es liegt an dir, ob du einen Bogen darum machst oder es aufnimmst und umarmst. Jacques mochte es zu umarmen, und er hatte ein Talent dazu, die ganze Welt mit einzubeziehen, solange sie aus hübschen Mädchen und seinen Farben und Leinwänden bestand.

Aber Schrammen auf dem Herzen mochte er nicht. Davon hatte er mit seinen 26 Jahren bereits genug angesammelt und keine freiwillig. Sie waren weder Zierde noch Trophäe, sondern schlicht ein Auslöser für das dumpfe Gefühl im Magen, das ihn überkam, wenn er sich erinnerte.

Jemand rief seinen Namen. Er wandte den Kopf und sah Madame Lefèvre an seinen Tisch kommen. Sie und ihr Gatte gehörten zu den vielen feinen Parisern des 8. Arrondissements, die hier oben das lustige Leben in den Vergnügungslokalen für sich entdeckt hatten und sich sonntags mitten in frivole Tänze und Gesänge hineinstürzten, was wiederum eine fast schon skurrile Mischung der einzelnen Gesellschaftsschichten zur Folge hatte. Und nicht nur das, es bescherte mancher Näherin ein sicheres Zubrot. Sie brauchte bloß auf dem Rücken zu liegen und die richtigen Geräusche von sich zu geben. Und für Maler, wie Jacques einer war, oder Dichter wie seinen Freund Alban Delaby, gab es auch immer wieder Aufträge, die die Miete bezahlten. Madame Lefèvre hatte Jacques den Monat Februar bezahlt, als sie ihn bat, doch ihre beiden Lieblinge zu porträtieren. Jules und Jim. Schoßhunde.

„Monsieur Dufaux, huhu!“ Sie war selbst in diesem Lärm nicht zu überhören.

Jacques überwand sich. „Madame Lefèvre, welch Überraschung.“

„Mein Mann und ich wollten diesen Abend mal in das Lokal gehen, von dem ganz Paris zurzeit spricht. Wo ist eigentlich mein Mann?“ Sie schwang ihre beträchtliche Körperfülle einmal im Kreis herum. Als sie ihren Mann nicht entdecken konnte, schüttelte sie den Kopf und richtete sich wieder an Jacques.

„Ihr Bild ist ja so beglückend, Monsieur Dufaux. Glauben Sie, mein Mann würde ein Bild von mir gerne über dem Kamin hängen sehen?“

„Ich glaube, Ihr Mann würde Sie überall gerne hängen sehen.“

„Ach, Sie alter Charmeur.“ Madame Lefèvre umkurvte den Tisch, winkte und verschwand mit einem Juchzer in der tanzenden Menge.

Jacques schmunzelte und nahm den Kohlestift wieder auf, den er auf dem Holztisch abgelegt hatte, um die Farbbrechung des Glases zu betrachten, und setzte seine Zeichnung fort. Er hatte immer einen kleinen Block bei sich, um interessante Motive sofort mit dem Stift festhalten zu können. Nervöse, nur auf den ersten Blick flüchtig dahingeworfene Skizzen, doch immer mit einem eigenen Blick fürs Detail. Die meisten zerriss er, noch bevor er sie beendet hatte.

„Was zeichnest du da?“, fragte Chou-Chou. Inzwischen hatte sie sich mit beiden Händen an Dufaux‘ Schulter gehängt, was ihn zu einer Schieflage zwang, die ein vernünftiges Führen des Kohlestifts unweigerlich erschwerte.

„Erkennst du es nicht?“, fragte er.

Chou-Chou neigte sich nach links, neigte sich nach rechts, gab einen schnurrenden Laut von sich, der wohl zeigen sollte, dass sie überlegte, und schüttelte schließlich den Kopf, sodass ihr Haar gegen Jacques‘ Wange strich. „Nein, keine Ahnung“, sagte sie.

„Du sitzt gerade drin.“

„Wo drin? In diesem Bild?“

„Aber ja. Ich zeichne gerade das La Galette.“ Etwas zweifelnd blickte Jacques das Mädchen an. „Wie viele Parfait Amour hast du heute Abend schon getrunken?“

„Darauf brauche ich dir nicht zu antworten, Jacques Dufaux, du gemeiner Kerl. Dieser Likör ist gut für den Magen, so sagt man, und ich kann es bestätigen.“ Sie verzog ihren Mund zu einem breiten Grinsen. „Außerdem vergisst du wohl, wo wir uns befinden? Wir sind auf der Butte. Da zählt man nicht mit.“

Jacques lachte herzlich auf. Sie hatte recht, gezählt wurde hier gar nichts. Nicht das Geld, nicht die Liebschaften pro Tag oder Woche, und schon gar nicht die Flaschen Wein.

„Schau, ich zeige es dir.“ Er drehte den Stift um und zeigte mit dem stumpfen Ende auf einzelne Punkte auf dem Papier. „Siehst du, Chou-Chou, dort drüben ist der Eingang. Hier hängen die Kristalllüster, die durch das dauernde Aufstampfen der Gäste bedenklich über unseren Köpfen schwanken, und hier in der Mitte steht die Miniaturmühle, die fast bis zur Decke reicht. Um die Mühle breitet sich der große Tanzboden aus, auf dem sich gerade Zabou und Alban die Lunge aus dem Leib springen.“

„Wer?“ Chou-Chou reckte den Hals und spähte durch die Vielzahl von Menschen, die an Tischen saßen und darum standen, hindurch, doch der Blick zum Tanzboden blieb versperrt.

„Alban Delaby“, wiederholte Jacques. „Und Zabou. Meine Freunde, mit denen ich hergekommen bin. Du weißt schon, die beiden, die gegangen sind, als du dich zu mir gesetzt hast.“

„Ach, die beiden.“ Chou-Chou legte ihre Stirn in Falten. „Die habe ich schon ganz vergessen. Gehört diese Zabou zu Delaby?“

„Zabou gehört zu niemand.“

„Also vögelst du die Kleine?“

Jacques seufzte. Er hatte Chou-Chou erklären wollen, weshalb er die Figuren auf dem Papier in dieser angedeuteten Form zeichnete, mit den Schatten um ihre Konturen, und sie interessierte nur, ob er mit Zabou schlief. Aber egal, einfach weiterreden. „Schau, hier sitzen wir, an diesem Tisch.“ Er klopfte mit dem Stiftende auf einen Punkt in der linken unteren Ecke der Skizze.

„Ich sehe niemanden“, raunte Chou-Chou verwirrt, weil sie außer einer mit leichter Hand schraffierten Fläche, die nicht größer als ein Centimestück war, nichts erkennen konnte. Ihre Vorstellungskraft beschränkte sich weitestgehend darauf, was ein Mann mit ihr für zwei Franc anstellen konnte, aber in einer Zeichnung das Lokal wiederzuerkennen, in dem sie gerade trank und tanzte, bedeutete für ihre Fantasie einen Rösselsprung, und der trieb ihren Verstand in einen Abgrund.

Jacques gab nicht auf. Er fuhr mit dem Finger über die Zeichnung. „Hier, das ist der Tisch, und das hier …“ Er hob den Kopf und sah, dass Chou-Chou anstatt auf das Papier auf seinen Mund blickte, wohl weniger, weil sie seinen Worten folgte, als vielmehr, weil sie dem Verlangen nach gierigen Küssen nachgeben wollte.

„Ach, … vergiss es.“ Er nahm das Blatt, faltete es zweimal in der Mitte und zerriss es.

„Was machst du? Das war doch hübsch.“

Hübsch? Dufaux zuckte zusammen. Konnte es einen hässlicheren Dorn im Fleische eines Malers geben als das vernichtende Urteil „hübsch“? Hübsch konnte ein Fohlen auf der Weide sein, auch ein struppig aussehender Straßenköter, seinetwegen auch ein Blumenarrangement auf einem Grabstein, aber doch nicht ein Bild.

„Es war nichts“, sagte er. „Es war rein gar nichts.“

Er griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck. Es waren die weichen Bewegungen des Getränks, die eine beruhigende Wirkung auf ihn ausübten. Er brauchte das Glas nur leicht schwenken und gegen das Licht der Deckenlampen zu halten, dann war er augenblicklich wie hypnotisiert von dem Farbenspiel, das er erkennen konnte.

„Ich trinke sonst so gut wie nie Absinth“, sagte er, selbst einigermaßen erstaunt über sich, an diesem Abend der grünen Fee den Vorzug gegenüber seinem geliebten Wein gegeben zu haben. Er wusste gar nicht, ob er ihm guttat. Er hatte schon Männer und Frauen gemalt, die dem Absinth verfallen waren. Ihr Anblick war kein schöner, und wer kaufte schon Bilder mit stumpf blickenden Menschen?

Zwei Tische weiter rechts saß eine Frau alleine und verloren, die Unterarme teilnahmslos auf der Tischplatte abgelegt. Sie schien von der Musik der Kapelle unberührt und starrte mit leerem Blick, fast ohne Lidschlag, in eine selbst erschaffene Unendlichkeit vor sich. Wangen und Mund hingen schlaff von ihrem Gesicht, und Dufaux fragte sich unweigerlich, wann das Fleisch von den Knochen rutschte und die Frau mit einem Totenschädel auf ihrem Stuhl hockte, lediglich mit dem ausgebleichten und an allen Kanten zerfransten Hut darauf. Das allerdings wäre ein verdammt gutes Motiv. Seiner Neigung für das Makabre folgend stellte er im Geiste sofort ein Porträt her, dem er den Titel Langes Warten auf das nächste Glas gab. Nicht verkaufsfördernd. Er verbannte das Bild rasch aus seinem Kopf. Wie alt mochte die Frau sein? Schwer zu sagen. Am besten, er zog von seiner Einschätzung zwanzig Jahre ab, dann träfe er es wohl.

Chou-Chou wischte sich mit dem Handrücken über die likörfeuchten Lippen. Mit den Augen folgte sie Dufaux‘ nachdenklichem Blick, dann flüsterte sie: „Was ist mit dir, mon étalon? Willst du lieber mit dieser Rosine ins Bett? Bin ich dir nicht hübsch genug?“

„Red keinen Unfug, ma chère.“ Jacques tippte Chou-Chou zweimal mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze und schnalzte dazu mit der Zunge. „Mach dir keine Gedanken.“

„O la la, ist das nicht zu gewagt?“

Chou-Chou wandte sich überrascht nach der fremden Stimme um. Sie hatte nicht bemerkt, wie Zabou und Alban Delaby die Tanzfläche verlassen hatten und zum Tisch zurückgekehrt waren.

„Ah, meine Freunde“, rief Jacques erfreut.

„Ich frage ernsthaft“, sagte Zabou, die sich sofort Chou-Chous kritischem Blick ausgesetzt sah, über diesen aber mit einem milden Lächeln hinwegging. „Sich keine Gedanken zu machen, kann man doch nur sagen, wenn ansonsten für gewöhnlich überhaupt Gedanken umherschwirren, oder? Was meinst du, Alban? Wie ist deine Ansicht zu dieser Hoffnung in Jacques‘ Bitte?“

„Ich bin gegen jede Ausprägung von Überforderung, meine Liebe, und sich Gedanken machen gehört eindeutig dazu.“

Während Alban Delaby sich sofort auf einen Stuhl setzte, war Zabou noch stehengeblieben und trank, ohne um Erlaubnis zu fragen, aus Jacques‘ Glas. Sie schenkte ihm diesen besonderen Blick, der es ihm stets unmöglich machte, etwas einzuwenden. Er musste nur aufpassen, dass Delaby nicht auch noch aus seinem Glas trank, bevor er ein eigenes auf dem Tisch hatte. Er war zwar Jacques‘ bester Freund, aber die Zuneigung hatte Grenzen.

„Du bist also Zabou“, knurrte Chou-Chou. Sie beugte sich vor, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können, und fiel dabei vom Stuhl. Alban Delaby lachte schallend, kam aber nicht auf die Idee, ihr vom Boden aufzuhelfen. Er war gerade beschäftigt, sich eine Zigarette anzuzünden.

Jacques reichte ihr die Hand, doch Chou-Chou ignorierte sie. Während sie umständlich aufstand und sich wieder hinsetzte, glitt ihr Blick über das andere Mädchen.

Zabou war eine zierliche, schnippische Schönheit mit misstrauischen Augen, die mit ihren gerade mal 19 Jahren schon gelernt hatte, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen. Sie wusste, dass sie den Männern gefiel, wenngleich sie es nicht verstehen konnte. Sie selbst fand, dass ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare zu dünn waren und daher immer so ungestüm um ihren Kopf wehten, als würde der Gott des Windes persönlich Spaß daran haben, jede ihrer mühsam arrangierten Frisuren zu zerstören. Auch behauptete Zabou stets, dass ihre Nase zu schmal sei, die Hüften zu breit, der Busen zu groß, die Beine zu kurz und so weiter und so weiter. Alles separat betrachtet mochte vielleicht zutreffen, aber zusammen ergab es eine hübsche junge Frau, deren heiteres Lachen ansteckend war.

Jacques hatte Zabou vom ersten Augenblick an gemocht, als sie sich vor einigen Jahren im Sommer zu ihm und Alban Delaby in der Gartenlaube des Franc-Buveur an den Tisch gesetzt hatte, weil kein anderer Platz mehr frei gewesen war. Seither waren die drei unzertrennlich.

„Ich bin durstig“, rief Alban. „Mit Zabou zu tanzen, sorgt für eine trockene Kehle. Sie tanzt göttlich. Herumgedreht und hoch das Bein. Ach, Jacques, du verpasst wirklich etwas.“

„Oh, ich bin sicher, unser lieber Jacques hat sich nicht gelangweilt.“ Zabou zwinkerte ihm mit einem Nicken in Chou-Chous Richtung vielsagend zu.

Jacques hob die Schultern und verzog mit gespieltem Bedauern den Mund. „Ich wurde überrumpelt.“

„Gewiss, mein Freund, davon bin ich überzeugt. Holla, du schwebender Traum, komm her zu mir, ich möchte was trinken.“ Alban winkte einer Bedienung, die wie alle Kellnerinnen in diesem Lokal als Elfe verkleidet umherflatterte und in ihrem betörend kurzen grünen Röckchen entschieden zu viel Bein zeigte, was aber keinen der Gäste in Schnappatmung versetzte. Leicht zu schockierende bürgerliche Damen ausgenommen, die sich aber mehr an den begehrlichen Blicken ihrer Ehemänner störten als an den hüpfenden Elfen.

„Ich werde ein Gedicht über Zabou schreiben müssen“, sagte Alban Delaby. „Darüber, wie atemlos sie die Männer macht.“

Zabou lachte herzlich. „Ein Gedicht über mich? Wie herrlich. Dann noch ein Bild von Jacques und die Nachwelt liegt mir auf ewig zu Füßen.“

Chou-Chou zog ein Gesicht, als hätte sich der Likör in ihrem Glas in Zitronenwasser verwandelt. Jacques Dufaux schmunzelte über das, was die beiden Mädchen ihm zum Beobachten anboten.

Alban verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte sich. Seine Bewegungen waren wie beinahe alles an ihm eine Spur zu blasiert, um ihn auf den ersten Blick sympathisch zu finden, aber das Augenzwinkernde in seinem Blick und sein lässiger Umgang mit Worten machten dieses Manko mehr als wett. Außerdem sah er gut aus, was seinen Erfolg bei den Damen begünstigte, obwohl Jacques der Meinung war, dass seinem Freund der Dreck des Lebens fehlte. Und da man nicht loswerden konnte, was man nicht besaß, stand es zu befürchten, dass Alban sich nie verändern würde.

Jacques bemerkte, dass Zabou ihn ansah und mit einem flüchtigen Nicken auf Alban wies. Jacques nickte lächelnd. Wie er hatte auch sie bemerkt, dass Alban ungeniert mit einem beiläufigen Blick, der die Grenzen des Unverschämten streifte, die Formen der kleinen Chou-Chou abtastete.

„Sie erinnern mich an eine Comtesse, in die ich mich unsterblich verliebte, als mich meine Europareise nach Stockholm führte“, sagte Alban.

„Wirklich?“ Chou-Chou fühlte sich geschmeichelt. „Eine Comtesse?“

„Aber ja, ich wollte für sie und mich eine Blockhütte in den Wäldern nahe des Polarkreises bauen.“

„Und? Haben Sie?“

„Ihr Gemahl war dagegen.“ Schon stürzte sich Alban wortgewandt in die Schilderung seiner unglaublichen Erlebnisse in Skandinavien, welche er sich gerade mit blühendster Fantasie ausdachte, da er Paris noch nie verlassen hatte.

Die Musikkapelle brach plötzlich mit der Lautstärke eines Sommergewitters über den Köpfen aller Gäste herein.

„Eine Polka!“ Zabou klatschte begeistert in die Hände. „Auf, Delaby, lass uns tanzen.“

„Ich brauche Wein“, rief Alban, doch sein halbherziger Protest bremste Zabou nicht. Sie sprang auf und zerrte ihn an der Hand zurück in die Mitte des Lokals, wo ausgelassen umhergesprungen wurde. Auf dem Weg dorthin stibitzte sich Delaby vom Tablett einer vorbeifliegenden Elfe ein Glas Rotwein und legte dafür seine angerauchte Zigarette darauf. Er prostete Jacques lachend zu, dann war er wieder in der Menge der Tanzenden untergetaucht.

„Ein Glück, dass die beiden wieder gegangen sind“, stöhnte Chou-Chou erleichtert auf. „Sie haben uns nur gestört, nicht wahr, Jacques? Wir sollten rasch den Tisch wechseln, bevor sie wiederkommen.“

Oder gleich nach Hause gehen, dachte Jacques. Seine Finger spielten mit dem Stift.

„Mal doch mich“, stieß Chou-Chou plötzlich begeistert aus. „Mir gefällt der Gedanke, von dir gemalt zu werden.“

Gott im Himmel, also doch Gedanken. Jacques schmunzelte und schüttelte verhalten den Kopf.

„Aber warum denn nicht?“ Chou-Chous Stimme kippte eine Spur zu sehr ins Schrille, was aber auch dem Kontrollverlust über die Zungenfertigkeit geschuldet war.

Jacques hatte schon immer gewusst, wann der rechte Augenblick zum Schweigen gegeben war. Aber er wollte nicht zu brüsk in seiner offensichtlichen Ablehnung sein, deshalb küsste er Chou-Chou einfach. Das sollte genügen, um sie von solchen Ideen zu befreien. Das Mädchen durfte sich keine Dinge von ihm erhoffen, die er nicht gewillt war, ihr zu erfüllen. Sie wäre Verschwendung seiner Farben und seiner Zeit. Sicher, wenn sie ihm Modell stünde, würde er auch mit ihr schlafen, aber das würde er heute Nacht auch so, wozu also noch vorgeben, sie malen zu wollen? Zudem erschöpfte ein Mädchen wie Chou-Chou seine Kreativität. Sie war hübsch, zweifelsohne, aber auch furchtbar langweilig. Was würde von ihr den Weg auf die Leinwand finden? Es war niederschmetternd. Stellte sich Jacques diese Frage, dann überfiel ihn eine Schläfrigkeit, die einer Vorstufe zum Koma glich. Auf solche Bilder war er nicht aus. Er jagte hinter etwas anderem her, etwas Besonderem. Er wollte nicht einfach nur das Leben abbilden, er wollte ein Bild zum Leben erwecken. Er seufzte. Alles leicht daher gesagt, das wusste er selbst. Umsetzen musste er es, nur darauf kam es an.

„Was ist mit dir?“ Besorgt legte Chou-Chou ihre Hand an seine Stirn. „Geht es dir nicht gut? Du siehst so müde aus.“

Ihre Finger lagen zart auf seiner Haut und verströmten ein angenehmes Prickeln, das er so gar nicht erwartet hätte, da Chou-Chou bislang hauptsächlich mit einer leicht plumpen Unbeholfenheit geglänzt hatte. Aber ihre Berührung schaffte es, Jacques nachsichtig werden zu lassen. Warum nicht bei einem Mädchen wie Chou-Chou dahinschmelzen, auch wenn bei ihrem Mieder, sollte sie denn eines tragen, die Worte „vorne“ und „hinten“ hineingenäht werden mussten. Das durfte ihr aber nicht zum Nachteil gereichen. Das arme Kind tat, was es konnte. Es war nicht viel, aber aufrichtig. Also gut, er würde heute Nacht mit ihr schlafen. Wie herrlich selbstlos man doch sein konnte, wenn man sich nur die richtigen Argumente aneinanderreihte.

„Ich werde dich nicht malen“, sagte er. „Porträts sind nicht das, wonach ich suche.“ Eine klitzekleine geviertelte Halblüge, aber das brauchte sie nicht wissen.

Dieser Satz schien für Chou-Chou die Aufforderung zu sein, es einem herausschießende Korken aus einer Champagnerflasche gleichzutun, denn mit einem leichtfüßigen Hüpfer sprang sie von ihrem Stuhl auf, um mit demselben Schwung auf Jacques‘ Schoß zu landen.

„Wonach suchst du denn?“ Ihr Mund näherte sich gefährlich seinem Ohr. „Suchst du nach Liebe?“, hauchte sie mit tieferer Stimme.

Jacques berührte mit der Nasenspitze Chou-Chous nackte Schulter. Ihre Haut roch nach der würzigen Frische einer gemähten Frühlingswiese, und er konnte das aufkommende Drängen seiner Lenden nicht verhindern, wollte er auch gar nicht. Er erlag den weiblichen Reizen stets gern mit einer entschlossenen Willenlosigkeit.

„Oh, ich kann spüren, dass ich dir gefalle.“ Chou-Chou lachte ihrem bisherigen Likörkonsum entsprechend unpassend laut.

Jacques legte seine Hand in ihren Nacken, beugte sich vor und küsste sie. Ihre Lippen schmeckten besser, als sie aussahen, also küsste er sie gleich noch einmal. Diesmal länger und auch ein wenig zärtlicher.

Chou-Chou schwankte bedrohlich auf seinem Schoß, als er von ihr ließ. Sie lachte glucksend und salutierte mit einer Hand wie ein Matrose, als sie „ahoi“ rief, und mit dem Oberkörper den imaginären Wellengang auf seinen Knien ausglich.

Jacques zögerte noch einen Moment, bevor er nach seinem Glas griff. Kippte das Mädchen nun zu Boden oder nicht? Sein Kuss hatte ihr zwar den Atem geraubt, aber doch hoffentlich nicht den letzten Rest an Gleichgewicht. Immerhin musste sie noch ein Stück zu Fuß gehen, um in seine Wohnung zu gelangen.

„Mach das gleich noch mal“, gurrte Chou-Chou. „Ich schwanke doch so gern.“

Sie wölbte ihren Busen vor. Jacques begrüßte es, dass Chou-Chou ihn nicht unter allzu züchtiger Kleidung versteckt hielt, wenn es auch dazu führte, dass seine Gedanken viel zu oft durch die Weichheit ihrer Brüste abgelenkt waren, anstatt sich auf das Publikum im Tanzlokal zu konzentrieren, um ein gutes Motiv auszumachen. Er bräuchte nur die Zunge herausstrecken, um eine erste Verkostung ihrer Himbeeren vorzunehmen. Doch hab Geduld, du kleiner, praller Obstkorb. Er genoss den aufregenden Zustand erwartungsfroher Vorfreude nur zu gern, woran auch Chou-Chous kreisende Bewegungen, die sie mit ihrem Becken auf seinem Schoss vollführte, gewiss einen erheblichen Anteil daran hatten. Die wachsende Lust erhitzte Jacques zusätzlich zur stickigen Wärme des Tanzsaals. Ihm war, als würden geschickte Finger mit einer Daunenfeder über seine Kopfhaut streichen.

Er steckte den Stift in die Tasche seines Kurzmantels. „Lass uns gehen.“

„Ich muss erst noch austrinken.“ Chou-Chou rutschte von ihm herunter und leerte ihr Glas. Dann packte sie mit beiden Händen Jacques‘ rechten Unterarm und zog ihn auf die Beine. Chou-Chou hielt sich eng an ihn geschmiegt, während er seinen linken Arm fest um ihre Hüften legte und sie mit dem Druck seiner Hand in Richtung Ausgang dirigierte. Es amüsierte ihn, dass nicht klar war, wer eigentlich wen stützte. Die ersten Schritte noch tapfer gerade, dann zunehmend schlingernd, aber immer die Tür im Blick.

Kühle empfing sie, als sie das Lokal verließen und nach draußen traten. Jacques zog den Mantel an und schlug den Kragen hoch, was aber nicht verhinderte, dass die Kälte durch die Ärmel kroch und ihn frösteln ließ.

Die schmale Straße war ohne Beleuchtung und lag wie eine düstere Ahnung vor ihnen.

„Adieu“, rief Jacques. Er drehte sich um, musste mit einem Schritt das Gleichgewicht halten, und winkte mit der freien Hand dem Schriftzug auf dem Rundbogen über der Eingangstür zu. „Behalte deine wüste Behaglichkeit und deinen guten Weinvorrat, La Galette, dann werden wir uns schon bald wiedersehen. Ich denke, morgen Abend.“

„Komm schon, ich friere.“ Chou-Chou zerrte an seinem Jackenärmel. Ja, dachte Jacques, sie musste wirklich frieren, so wenig Stoff, wie sie am Leib trug. Am frühen Abend, wenn die milde Frühlingsluft noch zu belebenden Spaziergängen einlud, konnte sie das dünne Kleid tragen, aber jetzt vor Mitternacht klatschte die kalte Nacht wie ein nasses Handtuch gegen den Körper.

„Ich weiß einen Platz, an dem ich dich wärme“, sagte er und verstärkte den Griff um ihre Hüfte.

„Stell dir vor, den kenne ich auch. Hat er ein Kissen und eine Decke?“

„Zwei Kissen. Ich lebe im Luxus, musst du wissen.“

„Zwei Kissen? Mir scheint, du bist auf Besuch gut eingestellt.“

„Ich mag ein armer Maler sein, aber ich lasse mich dennoch nicht lumpen. Bei mir bekommen die Mädchen am nächsten Morgen sogar Frühstück.“

„Sag mir schnell, wo du wohnst.“

„Ganz in der Nähe, ma chère. In der Rue Tourlaque. Der kürzeste Weg führt hier entlang.“

Sie gingen mit schnellen Schritten die steil abfallende Rue Lepic hinunter. Das obere Stück der Straße bestand vornehmlich aus Sand und Unkraut, aber schon bald knirschte Kies unter ihren Schuhen, als sie am unteren Maquis vorbeikamen, jenem weitläufigen, unwirtlichen Brachland auf der Kuppe des Montmartre, das aus wucherndem Gestrüpp und Schutthalden bestand. Selbst in seinem angetrunkenen Zustand musste Jacques an die Menschen denken, die auf dem Maquis in Baracken und kleineren Gärten mehr schlecht als recht lebten. Nicht das romantischste Eck auf der Butte, wie er wusste, und vor allem eines der gefährlichsten. Hier trugen die Menschen mit lässiger Selbstverständlichkeit Messer und Schlagringe mit sich wie er Stift und Papier. Selbst die Huren waren bewaffnet, um ihren Geschäften einigermaßen sicher nachgehen zu können, sei es nun an einem Bretterzaun oder in einer der verfallenen Hütten am Ende einer Straße.

Chou-Chou blieb plötzlich stehen. Sie stoppte Jacques mit einer Hand vor seiner Brust. In der Nacht trugen die Stimmen besonders weit, und so wagte sie nicht mal zu flüstern, sondern blickte ihn nur mit einem fragenden Gesicht an. Ihre Augenbrauen stießen über der Nasenwurzel fast aneinander, was ihr einen merkwürdig unbeholfenen Ausdruck verlieh.

Jacques brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass das Mädchen etwas von ihm wollte. Der Absinth machte sich nun doch drastisch bemerkbar. Hatte er anfangs noch gehofft, die Nachtfrische würde ihn wieder nüchtern werden lassen, so sah er sich getäuscht. Müde fühlte sich sein Geist an, und seine Füße setzten die Schritte auch nur, weil sie diesen Weg schon oft in diesem Zustand gegangen waren und genau wussten, wann sie zuhause ankamen.

„Jacques“, flüsterte Chou-Chou. Sie klammerte sich enger an ihn. „Müssen wir diesen Weg gehen?“

„Aber ja, es ist der kürzeste zu meiner Wohnung. Und dahin wollen wir doch.“

„Aber ich fürchte mich.“

Jacques sah sie an, als hätte sie gerade gebeichtet, drei Brüste zu haben, und er möge sich doch nachher bitte nicht wundern, wenn sie im Bett lagen. Er schüttelte kurz den Kopf, doch der Dunstnebel des Weins ließ sich nicht vertreiben. Dann bemerkte er, dass das Mädchen in seinem Arm zitterte, und wohl nicht vor Kälte. Es war ein angstvolles Beben, das ihr Körper auf ihn übertrug. Sonderbar, fand er, so viele Jahre lebte er hier, aber obwohl er um die Sitten und Gepflogenheiten dieser Gegend wusste, so war ihm nie der Gedanke gekommen, Angst haben zu müssen. Er drückte Chou-Chou fester an sich.

„Schau, ich bin doch bei dir“, sagte er so beruhigend er mit der schweren Zunge konnte. Nicht auszudenken, wenn Chou-Chou es sich nun anders überlegte und fortlief, zurück ins La Galette oder sonst wohin, nur nicht mit zu ihm in die Wohnung. Er war nicht in der Stimmung, sich jetzt nach einem anderen Mädchen umzuschauen, außerdem hatte er sich für diese Nacht an Chou-Chou gewöhnt, wer wusste schon, ob ihm das in der kommenden noch einmal gelang?

„Es ist so dunkel, wenn der Mond hinter den Wolken verschwindet“, flüsterte Chou-Chou. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern.

„Das ist richtig“, nickte Jacques. „Vor allem, weil es Nacht ist.“

„Du verspottest mich.“

„Aber nein.“

Er setzte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sofort zuckte er zurück. Seine Lippen schmeckten Angstschweiß. Mit einem Mal erkannte er, dass das Mädchen gar nicht mehr so beschwipst war wie noch vor wenigen Minuten, als sie das Tanzlokal verließen. „Du fürchtest dich ja wirklich“, sagte er. „Du spielst mir gar nichts vor.“

„Natürlich nicht.“

Chou-Chou zog die Schultern noch ein Stück höher und blickte mit großen Augen über ihre Schulter. Er öffnete seinen Paletot, ließ Chou-Chou ganz nahe an sich heranrücken und schloss den Mantel um ihre Schulter. Sie schmiegte sich dicht an ihn. Jacques wünschte, sie würde nicht so stark zittern, denn das war seiner vorfreudigen Erregung mehr als abträglich.

Der Hang des Maquis lag in grauen Schatten vor ihnen. Für jemanden, der nicht häufig diese unebenen Straßen und engen Gassen entlangging, mochte sicher etwas Bedrohliches von ihm ausgehen. Die überwucherten Böschungen entwickelten in der Nacht ein gruseliges Eigenleben, sodass die wildesten Auswüchse in der Fantasie eines jungen Mädchens sie ohne großen Widerstand umzingeln konnten. Und auch wenn der Verstand einen mahnte, dass es eben nur Dornenranken, Gestrüpp und Unkraut sein mochte, so gab es noch diesen durchtriebenen Wind, der mal kräftiger, mal schwächer hindurchblies und die Angst befeuerte.

So betrachtet konnte Jacques Dufaux das Mädchen sogar gut verstehen. Er selbst hatte sich schon so manches Mal über den großen Stadtplaner Baron Haussmann geärgert, dessen ehrgeiziges Ziel es war, mit Erneuerungen in vielen Arrondissements die Stadt Paris aus dem Mittelalter in die Moderne zu führen. Nur schien es sehr offensichtlich, dass Haussmann den äußeren Rand des rechten Seine-Ufers in seine Planungen nicht mit einbeziehen wollte, denn wie sonst konnte man es sich erklären, dass es hier auf dem Montmartre keine Laternen mit moderner Gasbeleuchtung gab wie drüben in den anderen Stadtteilen. Nichts, was die dunklen Gassen erhellte, außer dem schwachen Licht der Talgkerzen oder Öllampen aus den Baracken und einfachen Häusern heraus.

Trotzdem, Jacques gab diese Nacht noch nicht verloren. Zu leicht fühlte er sich und zu inspiriert für das Tosen des Bettes. Das Mädchen unter seinem Mantel versprach herrlichen Wellengang, wenn sie doch nur aufhören würde zu zittern. Wenn auch in Chou-Chous Köpfchen der Likör rapide zu verdunsten schien, so musste er sich eingestehen, dass der Alkohol ihn selbst noch herrlich über den Weg schweben ließ, was möglicherweise auch daran lag, dass es bergab ging. Er hätte beim Wein bleiben sollen, so wie jeden Tag, aber irgendwie war der Absinth auf dem Tisch gelandet, und dann hatte er ihn eben getrunken, obwohl er ihn nie trank, schließlich wollte er nicht so enden wie Gaston, ein früherer Trinkgefährte, der mit seinen vierundzwanzig Jahren wie fünfundsiebzig aussah und behauptete, dass in seinem Kopf ein Marder namens Istin hockte und ihm einflüsterte, was er sagen sollte, wenn er etwas gefragt wurde.

„Kommen wir hier nicht am Friedhof vorbei?“, fragte Chou-Chou. Entschuldigend verzog sie den Mund zu einem schwachen Lächeln. „Ich mag keine Friedhofsmauern.“

„Es sind Mauern wie alle anderen auch“, sagte er.

„Sind sie nicht.“

„Nur, weil du weißt, was sich hinter ihnen befindet. Aber es sind die gleichen Steine, aus denen so manches Haus hier gebaut ist.“

Ein leichter Windstoß kam auf und schob die Wolken beiseite, die zuvor den Mond wie einen Gefangenen verdeckt gehalten hatten. Chou-Chou nutzte die unerwartete Helligkeit und schlüpfte unter dem Mantel hervor.

„Komm rasch, Jacques. Wir wollen uns beeilen.“ Sie beschleunigte ihre Schritte.

Ach, diese Ungeduld der jungen Mädchen. Kaum haben sie ihre Unschuld verloren, möchten sie keine Sekunde mehr ohne lasterhafte Sinnesfreuden verbringen. Jacques blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Dabei war die Welt doch so traumhaft schön. Ach, und ich vertrage wirklich keinen Absinth. Er sah hinauf zum Mond und atmete tief durch. Wie herrlich war doch dieses bleiche Licht, das die Gassen aussehen ließ, als würde geschmolzenes Silber zwischen den Häusern fließen.

„Warte einen Augenblick“, rief er Chou-Chou hinterher. „Ich will das zeichnen. Ich will versuchen, diese unwirkliche Stimmung einzufangen.“

Schon hatte er trotz klammer Finger den Block aus der Manteltasche gezogen. Chou-Chou war bereits um die Biegung des Wegs gelaufen und aus seinem Blickfeld verschwunden, aber Jacques hoffte, sie möge ihn noch gehört haben und dort auf ihn warten. Er blickte sich um und erblickte einen runden Felsen am Straßenrand, auf den er sich setzen konnte. Er staunte den Nachthimmel mit einer Faszination an, die ihn beinahe überwältigte. Wie außergewöhnlich konnten doch die unterschiedlichsten Schwarztöne sein. Die Nacht war eben nicht einfach nur finster und kalt. Das besondere Weiß des Mondlichts veredelte selbst die unwirtlichste Landschaft, und Jacques berauschte sich an seiner Fähigkeit, diesen Zauber fühlen zu können.

„Wie wunderbar“, flüsterte er. Ihm war, als müsste er besonders behutsam mit der Stille um ihn herum umgehen, um das silberhell Wertvolle nicht zu verscheuchen.

Schließlich begutachtete er seine Zeichnung und war zufrieden, einen Hauch dieses Moments eingefangen zu haben. Ich will es rasch Chou-Chou zeigen, dachte er. Sie wird es sicher auch so schön finden wie ich, und dann werden wir miteinander vögeln und glücklich sein.

Er riss die skizzenhafte Zeichnung vom Block und rollte sie zusammen. Dann lief er vor bis zur Ecke Rue Lepic und Rue Tourlaque. Er hatte angenommen, dass Chou-Chou dort auf ihn warten würde, doch er konnte sie nicht stehen sehen. Er blieb stehen. Wo war sie nur hin? Sie konnte doch nicht weitergegangen sein? So lange hatte er nun nicht für die Skizze benötigt, dass er sie nun nicht mehr sehen könnte. War das dumme Ding doch den falschen Weg gelaufen? Er lief ein paar Schritte die Verlängerung der Rue Lepic hinunter, bis er auf das Ende der Rue de Maistre stieß. Keine Chou-Chou. Aber das konnte doch gar nicht sein.

Jacques‘ Herzschlag erhöhte sich. Das Mädchen hatte Angst gehabt, und auch wenn er sie dafür nicht ausgelacht hatte, so hatte er sie doch auch nicht wirklich ernst genommen. Jetzt, wo er Chou-Chou nirgends entdecken konnte, machte er sich Sorgen. Aber nein, schalt er sich rasch, sie ist ein erwachsenes Mädchen und weiß, wie sie sich helfen kann. Sie war ja nicht das erste Mal nachts allein unterwegs.

Wirklich beruhigt fühlte sich Jacques nicht. Er bekam einen üblen Geschmack in den Mund, und er merkte, wie ihm am Haaransatz trotz der Kälte ein wenig Schweiß ausbrach.

Ich hätte sie nicht laufen lassen sollen. Ich hätte sie drängen sollen, bei mir zu bleiben und zu warten.

Jacques lief die Straße hoch und überquerte die kreuzende Rue Caulaincourt. Gerade als er sich noch mehr Vorwürfe zu machen begann, einschließlich dem, dass er sich mit der Zeichnung wohl auch um das Vergnügen dieser Nacht gebracht hatte, entdeckte er Chou-Chou. Erleichtert blieb er stehen. Na also, sie musste wohl nur die falsche Querstraße abgebogen sein. Konnte ja mal passieren mit einem Schwips im Köpfchen.

„Chou-Chou!“, rief er, als er näherkam.

Sie schien hier auf ihn gewartet zu haben und wäre leicht zu übersehen gewesen, da sie im Schlagschatten einer hohen Steinmauer auf dem Boden hockte und mit dem Rücken daran lehnte. Selbst bei Mondlicht war die halbe Straße durch den Mauerschatten verschluckt und in Schwärze getaucht. Jacques bemerkte, dass er vor dem Friedhof du Nord stand, der sich von hier nach Westen hin erstreckte und nur zwei Querstraßen von seiner Wohnung entfernt lag.

„Ich dachte, du magst keine Friedhöfe.“

Er klopfte mit der Hand gegen die kühlen Steine der Mauer. Chou-Chou erwiderte nichts. Sie schlief, den Kopf auf die Brust gesenkt, den Po auf dem kalten Boden und die Beine flach von sich gestreckt. Leise schnarchte sie vor sich hin.

„Na, prächtig.“ Jacques schüttelte den Kopf. „Wie soll ich dich denn jetzt nach Hause bekommen?“

Das Laufen hatte seine Beine müde gemacht, also setzte er sich neben Chou-Chou auf die Straße. Er konnte genauso gut im Sitzen nachdenken, wie er sie nun ins Bett bekam. Selbst durch den Mantelstoff griff die Kälte der Steine nach seinem Rücken. Er zog die Schultern zusammen. Als er ausatmete schwebte ein kleines Wölkchen vor seinem Gesicht.

„Hier, für dich.“ Er schob die kleine Zeichnung in Chou-Chous Ausschnitt.

Dann – es musste wohl der ungewohnte Absinth sein und nicht die zwei Flaschen Wein – war auch er nahe daran, auf der Stelle wegzudämmern. Immer wieder sackten seine Gedanken ins Leere, und es riss seinen Kopf hoch, wenn er aufschreckte, kurz bevor er endgültig einschlief. Sein eigenes Schnarchen weckte ihn auf, und er fragte sich, wie viele Minuten er wohl weggetreten war. Er fror. Hier sitzenzubleiben war keine gute Idee. Er mochte die Nacht wohl überstehen, aber Chou-Chou war viel zu dünn angezogen. Eine Blasenentzündung wäre zu befürchten und damit zwangsläufig eine längere Pause für ihr Gewerbe. Das konnte er nicht zulassen. Sie sollte sich aufwärmen. Bei ihm, mit ihm, unter ihm, gerne auch auf ihm.

Jacques atmete tief durch den Mund ein. Die kalte Luft belebte ihn augenblicklich. Er stieß Chou-Chou mit dem Ellenbogen an.

„Genug gescherzt, mein hübsches Mädchen, wir sollten hier kein Moos ansetzen. Es sind nur noch wenige Schritte, bis wir in meiner Wohnung die Landkarten unserer Körper erkunden können.“

Er stand auf. Chou-Chou rührte sich nicht.

„Ach, chérie, ich bitte dich, komm jetzt. Allmählich wird es mir auf der Straße zu öde. Hast du kein Herz, so ein schändliches Spiel mit meiner Vorfreude zu treiben?“

Jacques beugte sich zu Chou-Chou hinab, um sie mit beiden Händen unter den Schultern zu packen und auf ihre Füße zu stellen. Er erwartete ein heiteres Lachen, mit dem sie ihm zeigte, wie gerne sie ihn zappeln ließ, doch kaum hatte er sie aus dem Schlagschatten der Mauer gezogen, stieß er selbst einen knappen, aber lauten Schrei aus.

Das Mädchen hatte tatsächlich kein Herz mehr in der Brust.

„A … aber …“

Ruckartig ließ er Chou-Chou los. Ihr schlaffer Körper klatschte gegen die Mauer und glitt langsam die Steine hinab zu Boden. Jacques taumelte zwei, drei Schritte zurück, stolperte über die eigenen Füße und schlug auf die Straße, den fassungslosen Blick unverändert auf Chou-Chou gerichtet.

Jacques zitterte am ganzen Leib. Er konnte nicht anders, er musste auf dieses Loch in Chou-Chous Brust starren, das aussah, als hätte jemand seine bloße Faust in sie gerammt, in ihr herumgewühlt, das Herz gepackt und aus ihr herausgerissen. Wie aus einem mit zerfetzten Muskeln und Adern gefüllten Trichter war das Blut des Mädchens über ihr Kleid geschossen. Was nicht den Stoff getränkt hatte, war unter ihrem Gesäß zu einer Pfütze verteilt, die durch das Mondlicht einen schockierend faszinierenden Farbton erhielt, den es auf keiner Palette der Welt zu mischen gelang.

Jacques riss den Kopf nach links, nach rechts. Niemand zu sehen. Weder den Weg hinauf noch hinunter konnte er jemand entdecken, der diese fürchterliche Tat begangen haben mochte.

Das ist doch jetzt nicht wahr. Er hob die Arme. Wie aus einem sogar jetzt noch beschützenden Instinkt heraus, so als könne er dem Mädchen doch noch helfen. Er wollte es so gern, wollte so gerne feststellen, dass dieser Anblick nicht real war und dass er träumte. Verfluchter Absinth, was hatte er nur mit ihm angestellt? Bitte, Chou-Chou, lach doch laut auf, dein herzliches Lachen, das du mir eben noch im La Galette geschenkt hast.

Er streckte die Arme weit vor. Etwas Feuchtes streifte sein Handgelenk. Jacques zuckte zusammen. Sein rechter Ärmel war durchnässt mit Chou-Chous Blut. Er blickte an sich herab und sah, dass auch sein Mantel mit Blutflecken von teilweise handtellergroßen Flächen besudelt worden war, als er versucht hatte, Chou-Chou aufzurichten. Alles in Jacques verkrampfte. Weshalb hatte er sich überhaupt neben sie gesetzt? Er hätte doch erkennen müssen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Niemand verwechselt eine Tote mit einer Schlafenden, nicht wenn man schon einmal den Tod gesehen hatte. Und Jacques hatte den Tod um sich gehabt, mehr als ihm lieb war und er hatte ertragen können. Totes sieht in sich schwer aus und strebt dem Erdboden auf eine Weise zu, wie es nichts Lebendes könnte. Warum nur war ihm das nicht aufgefallen? Weil sie geschnarcht hatte, na klar.

Mit beiden Händen fuhr er sich über die Stirn und die Haare. Er konnte sie hier nicht liegen lassen, aber genau das war es, was er sich selbst einflüsterte. Dieser Drang, seiner Hilflosigkeit nachzugeben.

Stimmen. Jacques riss den Kopf herum. Gelächter, so ausgelassen und schrill, wie es nur gefallsüchtige Frauen in Begleitung zahlwilliger Männer für die Zeit nach Mitternacht hervorbrachten. Laut und deutlich drang es an seine Ohren. Vielleicht nur noch wenige Schritte, dann würde die kleine Gruppe Männer und Frauen um die untere Straßenecke biegen und ihn vor dem Leichnam knien sehen. Den Mantel besudelt, den Blick voller Panik und Angst. Wie verräterisch er doch aussah, wie eindeutig für andere.

Er hielt den Atem an. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Angestrengt starrte er die Rue de Maistre hinunter, doch die Dunkelheit verwehrte ihm, mehr zu erkennen als das, was das Mondlicht zwischen den vorbeiziehenden Wolken preisgab.

Die Stimmen wurden klarer. Einzelne Worte konnte Jacques schon verstehen. Als würde es ihn brennend interessieren, wer da kam, rührte er sich immer noch nicht vom Fleck, obwohl sich seine Gedanken ungebremst überschlugen. Hau ab, mach endlich, lauf!

Der Alkohol brannte in seinem Magen. Ihm würde so verdammt übel werden. Wenn er sich jetzt übergab, dann käme er nicht mehr weg. Aber wenn er sich bewegte, dann müsste er bestimmt kotzen.

Sein Hemd klebte an seinem Körper. Jacques konnte seinen eigenen Angstschweiß riechen, sogar noch mehr als den sonderbaren Geruch des Blutes um sich herum. Mit stolpernden Schritten hastete er los. Er wollte nach Hause, sich in seiner Wohnung verkriechen. Es waren ja nur wenige Meter bis zur oberen Ecke der Straße. Dort, wo die Friedhofmauer links herumführte, bog er nach rechts in die Rue Tourlaque ein.

Plötzlich war die Kraft in den Beinen zurück. Jacques lief und lief. Hinter sich die Stimmen. Er wünschte, dass er nur im Rausch war, nichts weiter als ein Fiebertraum, doch als er um das hohe Eckhaus gelaufen war und sich gegen die Wand presste, da schnürte es ihm die Kehle ab, weil er sich schämte, Chou-Chou liegen gelassen zu haben. Nein, dieses Gefühl konnte keinem Traum entspringen. Nicht seinen Träumen. So war er nicht.

Er lauschte.

Erst war nur ein spitzer Schrei war zu hören, rasch gefolgt von weiteren, sowohl von Frauen als auch Männern. Sie alle schrien. Hätte Jacques auch gewundert, wenn nicht. Sie hatten die Tote entdeckt, und nicht nur das, sie hatten auch gesehen, wie sie zugerichtet war. Nicht einfach nur eine der Näherinnen, die vor Hunger gestorben war.

Aufgeregte Stimmen, laut und wild durcheinander, und auch wenn es nur wenige Wortfetzen waren, die Jacques hörte, so reichten sie aus, um ihn erneut von Kopf bis Fuß in Schweiß ausbrechen zu lassen.

Der Mörder muss noch hier sein. Er kann noch nicht weit sein.

Jacques wischte sich mit einer Hand über seine eiskalte Stirn. Wieder lauschte er. Die Stimmen waren noch da, und sie waren nicht nähergekommen. Niemand schien ihm gefolgt zu sein, also hatte ihn auch niemand davonlaufen sehen. So hoffte er.

Er war völlig durcheinander. Sein Kopf konnte keine zwei klaren Gedanken aneinanderreihen. Er wusste, wenn es amüsiersüchtige Bürgerliche waren, die da um die Straßenecke gekommen waren und nur ihr Paris vom linken Seine-Ufer kannten, um es als Maßstab für den Montmartre zu nehmen, dann war er erledigt. Was zählte es dann, dass das hier die Butte war? Hier oben gab es so gut wie keine Polizei. Die beiden Flics, die für das Arrondissement eingeteilt waren – ja, wirklich ganze zwei – waren von denjenigen, hinter denen sie her sein sollten, kaum zu unterscheiden, trieben sie sich doch alle in denselben Lokalen und Bordellen herum. Da schüttelte man sich die Hand, klopfte sich auf die Schulter und rief sich ein heiteres „weiter so, womit auch immer“ zu, nachdem man in einem Gartenlokal was zusammen getrunken hatte.

Etwas trinken, ja, das käme gelegen, dachte Jacques. Oder rauchen. Sein Tabak mit der Opiumtinktur kam ihm in den Sinn, aber allein die Vorstellung genügte, um ihn innerlich umzustülpen. Ruckartig riss es seinen Oberkörper vor, als hätte man ihm in den Magen geschlagen und er entleerte den Inhalt von eben diesem neben einem Gestrüpp.

Dort vorn! Das muss er sein!

Jacques erstarrte, als dieser wilde Schrei zu ihm drang. Hatten sie ihn doch entdeckt. Er hatte sich zu weit vorgebeugt.

Diese Bestie! Ihm hinterher!

Er ballte die Hände fest zusammen, grub die Fingernägel in die Innenflächen, um zu verhindern, dass er laut aufschrie.

Den schnappen wir uns!

Jacques handelte, ohne nachzudenken. Er stieß sich von der Hauswand ab und rannte los. Weit ausholende Schritte, die ihn die abfallende Straße hinunterfliegen ließen, bis er in den Teil der Straße gelangte, wo die mehrstöckigen Häuser enger beieinanderstanden und ihm mehr Schutz boten.

Er blieb stehen. Keine Stimmen mehr. Vielleicht waren seine Verfolger in eine andere Seitengasse abgebogen? Jacques wollte nicht abwarten, ob er damit recht hatte. Er ging weiter, langsamer, denn er wollte um keinen Preis jetzt noch auffallen. Bevor er das Haus mit seiner Wohnung erreichte, musste er an der Nummer 7 vorbei, und dieser Zwerg Henri, der dort fast jede Nacht bei Marie-Clémentine, die sich seit einiger Zeit Suzanne nannte, schlief, war ein so furchtbar neugieriger kleiner Kerl und nicht dumm, er würde vielleicht eins und eins zusammenzählen, wenn er am nächsten Morgen von der Toten hörte. Trotzdem konnte Jacques nicht verhindern, dass seine Füße ihr eigenes Tempo bestimmten. Endlich kam er zum Haus Nummer 11, in dem er im dritten Stock seine kleine Einzimmerwohnung hatte.

Im Hauseingang lehnte Zabou. Sie hielt sich selbst mit den Armen umschlungen, um sich vor der Kälte zu schützen, als sie den Kopf drehte und Jacques entgegenblickte.

Als er Zabou sah, konnte er an ihren weit aufgerissenen Augen ablesen, wie furchtbar er gerade aussehen musste.

„Jacques, was ist mit dir?“ Zabou trat aus dem Türrahmen vor. „Mein Gott, du zitterst ja.“

„Was machst du hier?“ Er konnte sich nicht erklären, weshalb Zabou hier stand.

„Ich wollte nicht mehr länger bei Alban bleiben“, antwortete Zabou. „Dein Mantel, Jacques … was ist denn passiert?“

Er versteckte seinen Arm hinter dem Rücken, aber Zabou hatte das Blut auf dem Ärmel längst entdeckt. „Jacques, was ist das? Wo kommt das Blut her?“

„Warum kommst du zu mir?“

„Du – du hast gesagt, ich könnte die nächsten Tage bei dir wohnen. Mein Hauswirt hat mich doch heute Morgen aus meiner Wohnung geworfen. Ich bin zwei Monate mit der Miete in Rückstand. Ich habe es dir doch erzählt, und du hast gesagt, ich kann bei dir wohnen, bis ich was finde.“

„Ja, richtig, ich erinnere mich wieder.“

„Jacques, bitte sag mir, was geschehen ist. Wo ist diese Chou-Chou?“

„Sie … sie ist gegangen.“

„Ich wollte hier unten warten, bis sie aus deiner Wohnung kommt, und erst dann hoch zu dir.“

Jacques presste die Hände gegen das Gesicht und rieb sich die Augen.

„Zabou, bitte sei still. Ich kann nichts mehr hören.“

„Jacques, du machst mir Angst.“

Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Vorsichtig legte sie eine Hand an Jacques‘ Brust. „Dein Herz, Jacques. Um Himmels Willen, es trommelt, als wollte es dich von innen heraus zerreißen.“

Jacques zuckte zusammen. Zabou hatte ein schauerliches Gespür für Äußerungen zum eindeutig falschen Zeitpunkt. Er bekam diesen Anblick von Chou-Chous geöffneter Brust und dem Blutstrom, der aus ihr ausgetreten war, nicht mehr aus dem Kopf. Er brauchte Halt, dringend festen Halt, bevor sich der Boden unter seinen Füßen öffnete und ihn vollends zu verschlingen drohte.

„Gehen wir hoch“, sagte er und löste sich aus Zabous Umklammerung. „Oben erzähle ich dir alles.“

Er schob die Hauseingangstür auf. Der würzige Geruch der Holztreppe drang sofort in seine Nase. Niemals zuvor war ihm das so sehr aufgefallen wie in diesem Augenblick, und wenn er dem sonst keine Beachtung schenkte, so war er jetzt dankbar dafür, denn es vermittelte ihm augenblicklich das Gefühl, in Sicherheit zu sein.

Er zog Zabou fest an der Hand hinter sich her die Treppe hinauf bis in den dritten Stock. Zabou stolperte zweimal über die Stufen, weil sie seinem Schritt kaum nachkam. Trotzdem bemerkte sie, dass die Nachbarin vom Zimmer gegenüber, eine alte Krähe, an Hässlichkeit kaum zu überbieten, durch einen Türspalt neugierig verfolgte, was im Treppenhaus los war. Als sie endlich in seiner Wohnung waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, nahm Jacques völlig überraschend Zabou in seine Arme und küsste sie. Es war widersinnig, dachte er noch, aber es war auch das, was er jetzt brauchte. Er musste ihre Wärme spüren. Das Leben, das sie war.

Zabou erwiderte seinen Kuss, und wäre Jacques nicht völlig durch den Wind gewesen, wäre es ihm auch möglich gewesen, einen Unterschied festzustellen zu den Intimitäten, die er sonst mit Mädchen wie Chou-Chou genoss.

Ungeduldig fingerte er am Stoff ihrer Bluse, zupfte und zerrte die Schleifen auf, und mühte sich überhastet an den kleinen Knöpfen, so als fürchtete er, dass diese sich in kleine Schlösser verwandeln würden, zu denen er keinen Schlüssel besaß. Befreit vom lästigen Stoff schimmerte ihr weißer Körper wie Elfenbein. Er vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten, atmete den schweren Duft ihrer Haut ein, die, verschwitzt wie sie vom Tanzen war, ihn mehr berauschte als alle Gläser Wein, die er heute Abend getrunken hatte. Sie schmeckten gut, ihre hart abstehenden Brustwarzen, und er konnte hören, wie sehr Zabou die rücksichtslose Härte gefiel, mit der er sich auf sie stürzte.

Der Rock glitt ihre Beine hinab und fiel locker über die geschnürten Stiefelchen, denen Jacques keine weitere Beachtung schenkte.

Er bugsierte Zabou rücklings auf das Bett. Es war nicht einfach nur die stillbare Gier nach ihrem Körper, die ihn ihre Nähe suchen ließ, es war vielmehr die Anspannung des gerade Erlebten, die an ihm zerrte wie ein Hund an einem Hosenbein und keinen anderen Ausweg sah, aus ihm zu gelangen, als den, sich in Zabou zu verstecken. Umständlich entledigte er sich seiner Hose, während Zabous Hände über seinen Rücken streiften und ihn ungeduldig zu sich zerrten. Das bisschen Unterwäsche auf ihrem Leib verstärkte nur sein Begehren, Voller Hast riss er den Stoff von ihr, drückte ihren nackten Körper an seinen, spürte ihre weichen Brüste an seinem Oberkörper und stieß endlich in sie hinein. Schneller werdend, sich der eigenen Rücksichtslosigkeit verschreibend, bäumte er sich über ihr auf, spürte ihre Finger, die sich in sein Fleisch gruben, und als er sich nach wenigen harten Stößen entlud, begleitet von ihren völlig unkontrollierten Lauten, presste Zabou ihren Unterleib fest gegen seinen.

Es war kurz und von animalischer Direktheit, und als Jacques wenig später zwischen Zabous Schenkeln lag, die Augen geschlossen und mit eingefallenen Wangen, zitterte sein Körper einfach weiter. Er fühlte sich zersplittert wie ein zu Boden gefallenes Glas. Über diesen aufzehrenden Zustand schlief er ein. Er bekam gerade noch mit, dass Zabou seinen erschöpften Körper in ihre Arme nahm.

„Was ist nur geschehen, Jacques?“, flüsterte sie.

Alle Lust sucht Ewigkeit

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