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Anfang April

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Die städtebauliche Modernisierung von Paris, über viele Jahre unermüdlich angetrieben von Baron Georges Haussmann, hatte auch im 7. Arrondissement zu großbürgerlichem Wohlstand geführt, dem sich die Familien nicht nur verpflichtet fühlten, sondern auch als ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend zwingend angemessen empfanden. Die Rue Surcouf mit ihren prächtigen Häusern lag in einer ruhigen Wohngegend am linken Seine-Ufer, nicht weit vom Quai d’Orsay entfernt.

Véronique Dorléac stand ungeniert im leichten Nachtgewand auf dem Balkonvorsprung ihres Schlafzimmers. Aufrecht, die Hände auf das gusseiserne Geländer gelegt, blickte sie auf die noch unbelebte Straße hinunter. Sie liebte diese besonderen Minuten, wenn der neue Tag erwachte. Die frische Luft in den frühen Morgenstunden, das besonderen Licht und das Frühlingsträllern der Vögel in den Lindenbäumen, die die Straße zu beiden Seiten säumten – all das erfüllte Véronique gleichermaßen mit Frohmut und Tatendrang. Sie hatte die Balkontüren geöffnet, der Morgensonne entgegengelacht und war ungeachtet ihrer pikant intimen Bekleidung auf den Balkon getreten, weil sie kein Bedürfnis hatte, sich hinter zugezogenen Vorhängen zu verstecken und gerade mal die Nasenspitze am Frühling teilhaben zu lassen. Die Welt war dort draußen und sie wollte gespürt werden. Das gelang nun mal entschieden besser, wenn sie sich nicht in ihrem Zimmer im dritten Stock des Elternhauses versteckte.

Hufschlag auf Kopfsteinpflaster ließ Véronique erschrocken zusammenzucken. Ein Gemüsehändler führte sein Pferd, das einen mit Salatköpfen vollbeladenen Karren hinter sich herzog, die Straße hoch. Er schlurfte mit gebeugten Schultern, und da er wohl noch müde war, ließ er den Kopf hängen. Erschrocken wich Véronique vom Balkon zurück und verschränkte beide Arme vor der kaum bedeckten Brust. Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen. Schnell huschte sie ins Zimmer zurück, schloss die Balkontüren und zog den dünnen Vorhang zu. So geschützt spähte sie hinaus und verfolgte gespannt, ob eine Reaktion des Händlers Aufschluss darauf gab, dass er sie entdeckt hatte. Bitte nicht, hoffte sie, andernfalls würde sie noch innerhalb der nächsten Viertelstunde im Café an der Straßenecke zum viel belachten Gesprächsthema werden. Ihre Finger klammerten sich an den Vorhang. Sie musste ihr Gesicht dicht an das Fenster pressen, um dem Gemüsehändler mit den Augen weiter folgen zu können. Da, jetzt kam er mit seinem Pferdekarren am Café vorbei. Véronique biss sich auf die Unterlippe. Hatte der Kerl sich nicht eben umgedreht? Hatte er nicht eben in ihre Richtung geguckt, und war da nicht ein unverschämtes Grinsen in seinem ungewaschenen Gesicht gewesen? Véroniques Herz klopfte wild gegen ihre Brust. Das war es dann wohl mit dem guten Ruf der Familie. Wie dumm von mir, mich so hinauszuwagen, schalt sie sich. Aber es war ein so herrliches Gefühl gewesen, die Luft an ihrer Haut zu spüren, dass sie sämtliche Vorsicht hinter den Genuss des Moments gestellt hatte.

Der Gemüsehändler drehte sich ein zweites Mal um und wieder schaute er die Straße zurück. Er hob den Arm und winkte. Was für ein dreister Kerl, empörte sich Véronique, und schon wollte sie die Balkontür wieder aufreißen, um hinauszutreten und über die Straße rufen, dass er sich was schämen solle, als sie einen zweiten Mann die Straße heraufkommen sah, dem das Winken des Gemüsehändlers offensichtlich gegolten hatte. Aha, dem würde er gleich seine pikante Beobachtung mitteilen, davon war zweifelsohne auszugehen. Zwar hatte Véronique gerne Gegenstand von Männergesprächen sein wollen, aber auf Gesellschaften und nicht auf der Straße. Véronique beobachtete, wie die beiden Männer sich begrüßten, lachend ein paar Worte wechselten und dann den weiteren Weg gemeinsam fortsetzen. Sie kehrten nicht ins Café ein.

Erleichtert ließ Véronique den Vorhang los. Hatte der Gemüsehändler also Tomaten auf den Augen gehabt, so müde war er wohl noch gewesen, als er an ihr vorbeigekommen war. In Zukunft sollte sie doch vorsichtiger sein. Nicht auszudenken, wenn ihren Eltern zugetragen würde, in welch schamloser Weise sich ihre Tochter auf dem Balkon präsentierte. Die angesehene Familie Dorléac wäre Mittelpunkt eines prächtigen Skandals, und Bernard Dorléac, hochrangiger Angestellter des Bankhauses Bel et Sainbenat und großer Befürworter des Kanalbaus in Panama, wäre gezwungen, seine Tochter aus der Familienchronik zu streichen, um den Makel der Sittenlosigkeit wenigstens annähernd zu tilgen.

Und dennoch, Véronique musste lächeln bei der Vorstellung, wie ihr Vater mit tadelnden Worten auf sie einsprach, während er darüber vergaß, seine in Ohnmacht fallende Ehefrau aufzufangen. Es gab diese kleinen teuflischen Momente im Leben der Zweiundzwanzigjährigen, an denen sie nicht üble Lust hätte, einen solchen Skandal zu provozieren. Es könnte wie ein Befreiungsschlag sein, wäre er nicht gleichzeitig mit dem Untergang der Familie verbunden.

Doch nun, wo für sie keine Befürchtung mehr bestand, Schande über die Familie gebracht zu haben, stellte sich bei Véronique ein aufregendes Nachprickeln ein. Genau an den Stellen, mit denen sie sich selbst intensiv befasste. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten und ihre Lippen sich kaum beruhigen wollten, so sehr sie sich auch bemühte, nicht so ungehörig zu grinsen wie ein Stubenmädchen, das vom Hausherrn einen Klaps auf den Hintern bekommen hat.

Véronique sehnte sich danach, der Freiheit ihres Geistes auch die des Lebens folgen lassen zu können. Doch das war schier unvorstellbar bei den Konventionen, die über Generationen in der Familie Dorléac gewachsen waren und deren Fortbestand sich ihre Eltern sorgsam und mit wachsamen Augen verschrieben hatten.

Sahen ihre Eltern denn nicht, in welch aufregender Zeit sie lebten? Hatten sie nichts davon mitbekommen, wie Paris sich wandelte? Véronique ließ sich zurück auf das Bett fallen. Sie hätte nicht diese Gedanken aufkommen lassen sollen. Sie machten sie trübsinnig und ließen sie sich verloren fühlen.

Etwas Aufmunterndes konnte jetzt nicht schaden. Véronique zog die oberste Schublade ihrer Nachtkommode auf und entnahm mehrere Blätter Papier, die sie vor sich auf der Bettdecke verteilte. Sie konnte es kaum erwarten, die am Vorabend angefertigten Zeichnungen noch einmal mit feinen Strichen zu vollenden. Die Skizzen erschienen ihr ganz ordentlich gelungen. Sie hätte erröten müssen bei dem, was sie so offenherzig darstellten, aber sie fand, dass es nicht zum Sturz in einen moralischen Abgrund führen brauchte, wenn das weibliche Geschlecht so deutlich zu Papier gebracht war. Männer malten, was sie begehrten, aber sie zeichnete ganz ohne Gier. Véronique setzte sich mit geöffneten Beinen auf das Bett und schob ihr Nachthemd hoch. Gerade als sie zu Spiegel und Stift greifen wollte, um die Skizzen zu vollenden, klopfte es an die Tür. Rasch schob Véronique die einzelnen Blätter übereinander und verstaute sie wieder in der Schublade. Dann bat sie Mimi, das Hausmädchen, mit beschwingt klingender Stimme herein.

„Ist das nicht ein herrlicher Morgen, meine liebe Mimi? Ich könnte es den Vöglein gleichtun und den ganzen Tag über trällern, was Herz und Stimme hergeben.“

„Solange Sie sich dabei nicht auf einen Ast setzen, Mademoiselle, denke ich, ist das eine sehr schöne Idee.“

Véronique lachte. Sie mochte Mimi sehr gern. Schon kurz nachdem Mimi eingestellt worden war, hatte Véronique dieses zarte Geschöpf mit den immer leicht geröteten Wangen ins Herz geschlossen. Nicht nur, weil sie beide im gleichen Alter von zweiundzwanzig Jahren waren und sich in ähnlichen Phasen ihrer beider Leben befanden, wenn auch auf unterschiedlichen Seiten der gezogenen bürgerlichen Linie, sondern vor allem, weil Véronique ihrer formvollendeten Erziehung im Gespräch mit Mimi eine Auszeit gönnen und unkompliziert mit ihr plaudern konnte. Es war so belebend, sich mit einem Menschen unterhalten zu können, ohne darauf zu achten, ob auch der kleine Finger im richtigen Winkel von der Teetasse gespreizt war.

Mimi war von kleiner Statur und schien in ihrer Dienstmädchenkleidung zu verschwinden, wären da nicht die zu einem Zopf zusammengebundenen langen Haare, die unter dem weißen Häubchen hervorfielen. Gerade wegen ihres zerbrechlichen Äußeren erstaunte es Véronique immer wieder, mit welch beherzter Kraft sie Ordnung in die Zimmer brachte. Resolut und zupackend hatte sich Mimi ihren Platz im Hause Dorléac erobert, und manchmal vermutete Véronique, dass sie über so manches Familiengeheimnis bestimmt Bescheid wusste. Auch ein Grund, weshalb Véronique ihr herzlich zugetan blieb.

„Heute ist ein großer Tag, Mademoiselle“, sagte Mimi, während sie die Kissen aufschüttelte und das Überzugtuch glattzog.

„Du meinst, weil mein Bruder Valentin nach zwei Jahren Aufenthalt in Panama zurückkommt? Ja, das ist wirklich aufregend. Wir alle sind sehr gespannt, was Valentin vom Kanalbau zu erzählen hat, am allermeisten die kleine Caline. Sie kann sich zwar kaum an ihren großen Bruder erinnern, aber in ihrer Fantasie hat er schon die unglaublichsten Abenteuer überstanden, und die muss er ihr unbedingt erzählen. Wehe dem armen Valentin, wenn er in Panama nichts erlebt hat, dann wird er mit Caline gehörig Ärger bekommen.“

„Na, ich denke, das wird nicht geschehen“, sagte Mimi. „Man hört ja so einiges über den Kanalbau. Nicht immer Erfreuliches, aber bestimmt kann Valentin Ihnen sagen, dass die Schauermeldungen, die uns hier zu Ohren kommen, frei erfunden sind.“

Véronique öffnete ihren Kleiderschrank und wählte ihre Garderobe für den Tag aus. „Es sind wirklich schlimme Dinge, die man hören muss. Von Malaria, Unfällen und vielen Hundert Tote entlang der Baustellen.“

„Vielen Tausend, Mademoiselle.“

„Ach, dieser ganze Panamakanal steht unter keinem guten Stern. Ich war dagegen, dass mein Bruder dorthin reist.“

„Wenn er Ingenieurswesen studieren will, dann ist es aber sicher die richtige Entscheidung gewesen“, merkte Mimi an. „Eine bessere Schule als die Praxis kann man nicht bekommen.“

„Schon, aber musste er deswegen gleich nach Panama? Eine Konstruktion in Paris hätte doch auch ausgereicht.“

„Der Panamakanal ist nicht einfach nur ein Bau, Mademoiselle Véronique. Er ist das Prestigeobjekt Frankreichs. Wer dabei war, dessen Karriere ist gesichert.“

„Ich nahm an, Frankreichs Prestigeobjekt wird im Frühjahr auf dem Champ de Mars eröffnet und nennt sich Weltausstellung. Extra hierfür hat man doch diesen furchtbar grässlichen Turm aufgestellt, dessen Einweihung vorgestern war.“

Mimi kicherte. „Mademoiselle, wie reden Sie über Monsieur Eiffels Konstruktion? Es ist ein Wunderwerk moderner Architektur. “

„Und dennoch ist es hässlich. Ich habe gehört, dass es nach der Weltausstellung wieder abgerissen werden soll. Ich bin sehr dafür, denn welchen Nutzen hat ein Eisengerüst mitten in der Landschaft?“

„Also, ich finde den Turm interessant“, sagte Mimi voller Ernst. „Er hat so etwas Männliches.“

Nun war es an Véronique, zu lachen. „Meine liebe Mimi, ich finde, du wirst jetzt entschieden vulgär.“

„Aber, Mademoiselle, allen meinen Freundinnen gefällt der Turm. Wir können es kaum erwarten, bis wir hinaufsteigen dürfen.“ Mimi nahm das Kopfkissen und klopfte es trotz Véroniques Anwesenheit ungeniert kräftig aus.

Véronique zog ihr Nachtgewand aus und wusch sich über der Waschschüssel. Dann schlüpfte sie rasch in den Jupon, einen mit Spitzen und Rüschen verzierten Unterrock, und bat Mimi, ihr beim Anlegen des Korsetts zu helfen. Auf die wieder in Mode gekommene Tournüre verzichtete sie.

„Aber heute ist nicht nur ein großer Tag, weil Ihr Bruder zurückkommt, Mademoiselle.“

„Ach, nein? Nicht nur?“, trällerte Véronique. Sie wusste sehr genau, worauf Mimi anspielte, doch mit spitzbübischem Vergnügen tat sie so, als hätte sie keinerlei Ahnung, wovon sie sprach.

Mimi zog die Verschnürung des Korsetts kräftig stramm, sodass Véronique die Luft gut vernehmbar aus den Lungen gepresst wurde. „Monsieur Morvan würde es bestimmt nicht gefallen, im Wohnzimmer zu erfahren, dass Sie nicht an seinen angekündigten Besuch gedacht haben.“

„Morvan, ja richtig.“ Véronique lächelte vergnügt. „Ich erinnere mich vage.“

„Er ist sehr angetan von Ihnen.“

Véronique betrachtete den Inhalt des Kleiderschranks. Mit einer Hand fuhr sie ihre Garderobe entlang, zögerte bei dem einen oder anderen Kleid und verschränkte schließlich die Arme vor der Brust. „Was soll ich nur für den heutigen Ausflug anziehen?“, überlegte sie laut. „Mimi, was schlägst du vor?“

„Möchten Sie Monsieur Morvan ermuntern oder ihn verschrecken?“

„Weder das eine noch das andere. Ich möchte gefallen, aber nicht unbedingt Morvan. Schließlich gibt es im Park sicherlich auch noch andere junge Männer, mit denen man ein kokettes Spiel zum Zeitvertreib beginnen kann.“

„Mademoiselle, ich müsste jetzt erröten, wenn ich Sie nicht schon so gut kennen würde.“

„Ich erröte für uns beide.“ Véronique entschied sich für ein schlichtes Promenadenkleid in hellgrün gemusterter Seide. „Der gute Hugo Morvan“, ächzte sie, da Mimi immer noch verschnürte. „Ein netter Mann, sicherlich.“

Mimi stieß einen verzückten Seufzer aus. „Und so gutaussehend. Von seinem Stand und seinem Vermögen ganz abgesehen. Zudem sagt man ihm eine gewisse Zielstrebigkeit nach. Er ist eine sehr gute Partie, Mademoiselle, und ich bin sicher, Ihre Mutter wäre überglücklich, würden Sie Monsieurs Morvans Werben nachgeben.“

„Meine Mutter würde sogar ganz sicher ein Jahr lang jeden Tag ein Dutzend Kerzen in der Kirche anzünden, wenn ich verheiratet wäre, egal mit wem.“

„Mit Monsieur Morvan wäre sie sehr einverstanden.“

„Wie schön für meine Mutter, nur leider bin ich nicht einverstanden. Weder mit Monsieur Morvan noch mit dem Gedanken an eine Heirat.“

Die Vorstellung, ihr Leben als Frau in den eigenen vier Wänden wie eine Verbannte zu verbringen, um als eine Art geschütztes Privateigentum für ein wohliges Heim zu sorgen, bereitete ihr Unbehagen. Schauer jagten über ihren Rücken bei dem Gedanken, wie vorhersehbar ihre Tage sein würden, sollte sie Morvan heiraten. Wenn sie sich gruseln wollte, konnte sie auch einen dieser modernen Schauerromane lesen, von denen sie auf Gesellschaften gehört hatte und die ihre Neugier weckten.

„Also, würde Monsieur Morvan mich fragen“, sagte Mimi mit unüberhörbarem Schmachten in der Stimme, „ich würde keine Sekunde zögern und ja sagen. Er sieht so gut aus und hat vollendete Manieren.“

Wie öde, dachte Véronique. Keine Überraschungen, die ein Mann seines Schlags zulassen würde. „Sein Äußeres ist ansprechend, da stimme ich dir zu, Mimi.“

„Sehen Sie, Mademoiselle, vielleicht sollten Sie es sich doch noch mal überlegen.“

„Aber was bedeutet denn sein gutes Aussehen und sein vermögender Stand? Er würde begehrt bleiben, ob verheiratet oder nicht. Und ich zweifle nicht an Morvans guten Manieren, wohl aber an seinem Charakter, den ich durchaus das eine oder andere Mal als rüde kennengelernt habe, vor allem im Umgang mit Untergebenen, sei es im Restaurant oder mit Kutschern. Alles zusammen lässt mich fürchten, ständig mit der Bedrohung eines Seitensprungs zu leben. Nein, meine liebe Mimi, Hugo Morvan ist nichts für mich.“

„Dann verstehe ich nicht, weshalb Sie mit ihm ausgehen und Hoffnung schüren? Er muss doch davon ausgehen, dass Sie seinem Werben längst nachgegeben haben und er nur noch zu fragen braucht.“

„Ich gehe mit Morvan aus, weil ich ihn als Begleitung brauche. Es ist eine Schande, dass Frauen nicht alleine das Haus verlassen dürfen. Morvan verschafft mir die Möglichkeit, ohne größere Erregung der Gesellschaft hinauszukommen.“

„Wenn es nur darum ginge, dann könnten Sie doch anderen Bewerbern den Vorzug geben?“

„Welchen anderen Bewerbern? Mutter hat es verstanden, sämtliche weniger betuchten Interessenten schon an der Tür abzuweisen. Und andere gab es nicht, weil Mutter weniger meine Vorzüge hervorhebt, als … ach, meine liebe Mimi, seien wir ehrlich, wir wissen beide, dass ich im Grunde gar nicht wählerisch sein darf.“

„Aber, Mademoiselle, das dürfen Sie nicht sagen. Sie haben eine hübsche Figur und Sie haben Verstand.“

Véronique senkte den Kopf. „Die Figur vermag die Männer zu interessieren, aber mein Verstand ist wohl eher hinderlich. Und dann vergisst du das hier, Mimi.“ Sie wandte ihr Gesicht dem Spiegel zu und fuhr mit dem Finger eine dünne Linie nach, die unterhalb ihres linken Auges begann und bis über den Wangenbogen verlief. Ihre Erhebung zeichnete sie sich auf der Haut so deutlich ab wie ein rötlicher Federstrich auf Papier.

„Die Narbe wird mich nie mehr verlassen“, sagte Véronique. Sie wollte ihrer Stimme die nötige Festigkeit verleihen, doch das gelang ihr nicht. Ein ungewolltes Flattern der Worte konnte sie nicht verhindern. „Reiche mir bitte mein Kleid, damit ich hineinschlüpfen kann. Mutter wartet bestimmt schon am Frühstückstisch auf mich.“

„Ihr Vater, Monsieur Dorléac, ist auch noch nicht unten. Sie müssen sich nicht überhasten.“

„Vater ist noch nicht unten? Wie ungewöhnlich. Er ist doch sonst immer der Erste am Tisch.“

„In den vergangenen Tagen kommt er immer später“, sagte Mimi. „Ich habe mich auch schon gewundert, aber dann sagte ich mir, Monsieur Dorléac habe einfach Spaß am länger Schlafen gefunden. Allerdings, das muss ich gestehen, erscheint mir Ihr Vater in letzter Zeit sehr geistesabwesend. Er konzentriert sich kaum auf die Morgenzeitung, sondern starrt die meiste Zeit nur schweigend gegen die Tür oder läuft umher, als erwarte er jeden Augenblick einen Boten mit einer schlimmen Nachricht.“

„Er ist sicher genauso aufgeregt über Valentins Rückkehr wie wir alle“, meinte Véronique.

Obwohl, so musste sie sich eingestehen, dieses Verhalten an ihrem Vater in der Tat ungewöhnlich war. Er war, soweit sie zurückdenken konnte, immer der ruhige Pol in der Familie gewesen, dem jegliche Form von unangebrachter Hektik ein Gräuel war und der lieber eine Stunde länger in der Bank seiner Aufgabe als Prokurist nachkam, als sich zuhause um die unvermeidbaren alltäglichen Dinge einer Familie zu kümmern. Dies obliegt, so seine unbeugsame Ansicht, den Frauen der Familie. Véronique teilte diese Ansicht nicht.

Als sich Véronique im Spiegel betrachtete, erspähte sie in ihrem Rücken, wie die Tür zu ihrem Zimmer vorsichtig aufgeschoben wurde und ein vorwitziges kleines Mädchen auf leisen Sohlen hereinschlich. Auch Mimi hatte das Mädchen im Spiegel entdeckt, tat aber so, als hätte sie es nicht gesehen, da Véronique ihr mit einem Blick signalisierte, sich nichts anmerken zu lassen.

Das kleine Mädchen in dem dünnen Nachthemdchen, das ihr bis zu den nackten Waden reichte, und mit dem langen blonden Haar, das es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, schlich sich näher und näher. Es wollte ganz leise sein, doch es kicherte aus lauter Freude über das, was es vorhatte. Als es dicht hinter Véronique stand, legte es beide Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief ganz laut „Buh“. Véronique und Mimi taten, als wären sie zu Tode erschrocken.

„Himmel, Caline, du kleiner Satansbraten“, rief Véronique. „Jetzt hast du uns beide aber erwischt. Nicht wahr, Mimi, Sie haben meine kleine Schwester auch nicht hereinkommen hören.“

„Aber nein. Sie muss über den Boden geschwebt sein.“ Mimi zwinkerte dem Mädchen zu.

Caline prustete vor Lachen. Sie klatschte begeistert in die kleinen Hände. Dann nahm sie Anlauf und sprang auf das Bett, um dort weiterzulachen.

Es wärmte Véronique jedes Mal das Herz, wenn sie Caline so glücklich umherhüpfen sah. Die kleine Schwester war wirklich der Sonnenschein im Haus, egal zu welcher Jahreszeit, ob es stürmte oder schneite. Caline lachte sich mit einer Unbekümmertheit durchs Leben, um die sie Véronique beneidete. Sie konnte sich gar nicht erinnern, in Calines Alter auch so gewesen zu sein.

„Gehst du aus, Vero?“, fragte Caline, während sie versuchte, eines der großen Kissen auf dem Kopf zu balancieren. „Du hast dich so schön angezogen.“

„So ist es, du Wildfang. Ich werde zu einem Ausflug abgeholt.“

„Oh bitte, darf ich mit?“, bettelte Caline. Das Kissen rutschte ihr vom Scheitel, doch es war augenblicklich zur Nebensache geworden, als die Rede von einem Ausflug war. „Ich werde auch brav sein.“

Véronique lachte. „Du weißt doch gar nicht, was das heißt.“ Sie tauschte mit Mimi einen vergnügten Blick.

„Doch, das weiß ich wohl“, protestierte Caline. „Ich werde dich bestimmt nicht stören, wenn du mit dem Herrn allein sein willst.“ Dabei umarmte Caline das große Kissen, wie sie es bei Liebespaaren gesehen hatte.

Nun musste sich Mimi die Hand vor den Mund pressen, um nicht laut aufzulachen. Dieses vorlaute Mädchen wusste zwar nicht, wovon es sprach, hatte aber ein gutes Gespür, worum es gehen konnte. Als Mimi den vorwurfsvollen Blick Véroniques auffing, räusperte sie sich und murmelte eine leise Entschuldigung. Dann überprüfte sie noch schnell den Rocksaum, vergewisserte sich, dass ihre Arbeit getan war und ging aus dem Zimmer.

Véronique wartete ab, bis Mimi die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann raffte sie ihre Röcke, lief los und sprang auf das Bett, ganz so wie es Caline zuvor getan hatte. Die Matratze gab ein wimmerndes Quietschen von sich, doch das Bett wankte nicht. Caline lachte hell auf, als sie durch den Schwung des Sprungs auf und nieder geschüttelt wurde.

„Ich würde dich ja gerne mitnehmen, kleine Schwester, aber hast du nicht um elf Uhr deinen Benimmunterricht bei Madame Leforge?“

„Ich kann doch alles am Abend nachholen. Bitte, Vero, nimm mich mit.“

„Tut mir leid, Mutter würde es nicht erlauben. Du weißt, wie wichtig der Unterricht ist.“

Caline machte einen Schmollmund, nickte aber. „Musstest du das auch alles machen?“, fragte sie.

Sofort verspürte Véronique ein heftiges Ziehen in der Magengegend. Sie konnte sich nur allzu gut an die Unterrichtsstunden bei Madame Leforge erinnern, auch wenn die letzte Stunde schon acht Jahre zurücklag. Sie verspürte nun mal keine Neigung, zu etwas erzogen zu werden, von dem sie sich instinktiv lieber entfernen wollte, als sich darauf zuzubewegen. Aber Mutter hatte nicht nur darauf bestanden, sie hatte sorgsam darauf geachtet, dass Véronique den nötigen Ernst für diese Ausbildung mitbrachte, und sei es mit den erprobten Mitteln des Entzugs in jeder Form. Abendessen, Lieblingspuppe, alles perdu, wie Mutter zu sagen pflegte. Komm zur Besinnung, Kind, begreife, was gut für dich ist. Worte, die Véronique nicht vergessen hatte. Irgendwann hatte sie tatsächlich etwas gelernt, vor allem, dass sie abwägen musste, wann sie sich ihren eigenen Kopf leistete und wann nicht.

„Schau, was da oben ist“, sagte Véronique und zeigte in die Ecke über der Tür. Caline wandte den Kopf. „Ich sehe nichts“, sagte sie.

„Da ist ja auch nichts.“ Der kurze Moment der Ablenkung genügte Véronique, um der kleinen Schwester mit einem schnellen, beherzten Griff das Kissen zu entreißen und hinter ihrem Rücken zu verstecken.

„Gib es mir wieder“, rief Caline.

„Was soll ich dir geben?“ Hätte Véronique pfeifen können, wäre das jetzt der Moment gewesen, um ihrer Unschuldsmiene die dringend benötigte Glaubwürdigkeit zu verleihen.

„Das Kissen, Vero. Gib mir das Kissen zurück.“

„Hol’s dir doch.“

Mit einer Hand wehrte sie Calines ungestüme Bemühungen ab, wieder in den Besitz des Kissens zu gelangen. Es gelang ihr solange, bis Caline dazu überging, sie zu kitzeln. Eine wirklich hinterhältige Waffe, die die Kleine gegen sie einsetzte. Schließlich gab Véronique lachend auf. Damit sie nicht noch einmal hereingelegt wurde, setzte sich Caline im Schneidersitz auf das Kissen und verschränkte die kleinen Arme. Sie reckte ihr Kinn triumphierend hoch. Nicht mit ihr. Wegnehmen konnte man anderen etwas, aber nicht Caline Dorléac. Véronique verspürte eine tiefe Wärme für die kleine Schwester, in der sie sich manchmal durchaus wiedererkannte, vor allem, was den Eigensinn und die kämpferische Bereitschaft anging.

„Mutter sagt, der Unterricht bei Madame Leforge ist wichtig, damit ich mal heiraten kann“, sagte Caline. Auf ihrer Stirn runzelten sich Falten. Sie wollte von ihrer großen Schwester wissen, ob sie das glauben sollte oder nicht.

Véronique ließ sich rücklings auf die Matratze fallen und seufzte. Mutter hatte das damals schon zu ihr gesagt, und wie Caline hatte auch sie das infrage gestellt. Aber sie durfte natürlich nicht Mutters Erziehung entgegenwirken.

„Es hilft ganz sicher, zu wissen, wie man sich benimmt, Caline. Du solltest den Unterricht sehr ernst nehmen.“

„Aber ich weiß längst, wie man bei Tisch sitzt, wie man den Erwachsenen zuhört und all so einen Kram.“

„Das ist nicht alles, was Madame Leforge dir beibringt.“

„Was denn noch?“

„Dein Unterricht geht über ein paar Jahre. Und mit jedem Jahr, dass du älter wirst, wird Madame Leforge dir deinem Alter entsprechend Neues beibringen. Du wirst sehen, Caline, es wird dir gefallen.“

„Hat es dir denn gefallen?“

Diese Frage musste ja kommen. Wie beantwortete sie sie, ohne dass Caline ihr an der Nasenspitze ansah, dass sie log, na ja, flunkerte.

„Nicht in dem Moment, in dem ich es lernte. Aber heute bin ich dankbar dafür.“ Das entsprach sogar der Wahrheit.

Caline dachte einen Moment über die Antwort nach, dann nickte sie. „Wenn du es sagst, Vero, dann werde ich auch mal dankbar dafür sein. Aber nicht heute.“

Véronique lachte. Die kleine Schwester konnte wirklich wie eine zweite Sonne am Tag sein.

„Aber wenn du so dankbar bist, warum bist du dann noch nicht verheiratet?“

Das Lachen rutschte Véronique aus dem Gesicht. Das mit der zweiten Sonne strich sie sofort. „Was meinst du denn damit?“, fragte sie.

„Mutter sagt, du müsstest längst unter der Schürze sein.“

„Unter der Haube.“

„Ja, das hat Mutter gesagt. Unter der Haube müsstest du sein. Warum bist du’s nicht, wenn der Unterricht so gut war?“

„Der Unterricht ist das eine, der richtige Mann zum Heiraten das andere.“

„Willst du denn nicht heiraten?“

Die Kleine konnte Fragen stellen. „Sicher, irgendwann einmal.“

„Liegt es daran, weil dich keiner nehmen will?“

Véronique schnappte nach Luft. „Wie kommst du denn auf so etwas?“

„Mutter hat das gesagt.“

Ein Feuerring schloss sich um Véroniques Herz und er brannte ihr Tränen in die Augen, die sie mit letzter Kraft zurückhalten konnte. Wie konnte Mutter so etwas sagen. Schlimm genug, dass sie es dachte, aber es vor der kleinen Schwester aussprechen war demütigend.

„Mutter hat gesagt, dass du dich nicht wie eine junge Dame verhältst und eine vorteilhafte Heirat damit erschwerst. Das hat sie gesagt. Ich hab’s gehört, als sie es Vater sagte. Irgendwann letzte Woche. Ich hab’s aber nicht wirklich verstanden, was sie damit gemeint hat. Wie verhältst du dich denn, Vero? Ich kenne dich nur so, wie du bist.“

„Mutter gefällt es manchmal nicht, wie ich denke. In ihren Augen sollte ich mich darauf beschränken, vorzeigbar zu sein.“ Und den Mund zu halten, ergänzte sie im Geiste.

„Vorzeigbar?“ Calines Stirnrunzeln nahm zu. „Lernt man das bei Madame Leforge?“

„Wenn du älter bist, wird das ein wichtiger Bereich sein.“

„Ich möchte so werden wie du.“

Véronique hob beide Augenbrauen. Das brächte Mutter wohl ins Grab. „Werde du selbst, kleine Schwester. Das erscheint mir am besten.“

„Und du? Heiratest du jetzt nie?“

Caline blieb ein neugieriger Quälgeist. Véronique rutschte vom Bett. „Ich möchte erst einmal etwas anderes“, sagte sie. „Ich möchte etwas lernen, etwas ausprobieren.“

„Und was?“

„Das kann ich dir nicht sagen.“

„Hat es was mit diesen Bildern zu tun, die du zeichnest?“

Véronique erschrak. Luftschnappen, schon wieder. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Ihre Wangen glühten so verräterisch, dass Caline gleich die nächste Frage stellen würde. „Du hast die Bilder gesehen?“, fragte sie.

„Hab sie gesehen, ja“, sagte Caline.

Véronique wurde blass. Wie eigenartig rasch die Wangen ihre Farbe wechseln können. Sie erinnerte sich, dass sie einmal aus Eile vergessen hatte, die Zeichnungen in die Schublade zu sperren. „Und du hast gesehen, was die Bilder zeigen?“, fragte sie verhalten.

„Ich weiß nicht, was du gezeichnet hast. Wie ein Pferd sah es nicht aus, das hätte ich erkannt.“

„Wie ein Pferd?“ Véronique setzte sich auf den Stuhl. Erleichtert lachte sie auf. Wie sollte sie das denn nun verstehen? Zeichnete sie so schlecht? Aber es war besser so. Caline brauchte noch nicht verstehen, an welch anrüchigem Strich sie sich versuchte. „Nein, ein Pferd sollte es auch nicht darstellen. Kannst du ein Geheimnis bewahren?“

Es war nicht die Frage, sondern allein das Wort Geheimnis, das Caline neugierig die Ohren spitzen ließ. „Ja, ich bin doch schon elf.“

„Du bist zehn. Du wirst in drei Monaten elf.“

„Welches Geheimnis denn?“

„Du möchtest doch wissen, was ich machen möchte, bevor ich heirate. Nun, diese Bilder haben etwas damit zu tun. Ich habe mit Vater darüber gesprochen, dass ich gerne auf die École des Beaux-Arts gehen möchte. Ich habe erfahren, dass die Akademie neuerdings auch Frauen aufnimmt. Ich habe lange mit Vater darüber gesprochen, und schließlich hat er eingewilligt, mich ein Jahr die Akademie besuchen zu lassen, aber erst, wenn Valentin aus Panama zurückgekehrt und in das Ingenieursbüro von Monsieur Sauvestre eingetreten ist. Und das wird nun der Fall sein. Mit Vaters offizieller Erlaubnis habe ich ein Schreiben an die Akademie gesandt und erwarte noch in diesem Monat eine Antwort. Ich hoffe so sehr, dass ich angenommen werde und schon bald an den Kursen teilnehmen kann. Du glaubst nicht, wie ich mich darauf freue, Caline. Ach, das wird herrlich. Ich werde so viel über Malerei lernen, über Bildhauerei, und ich werde Menschen kennenlernen, denen ich sonst kaum begegnen würde.“

Véronique konnte spüren, wie ihre eigenen Worte sie begeisterten, wie sie voller Schwung der Zukunft entgegenfieberte. Von ungezügelter Vorfreude erfasst sprang sie von ihrem Stuhl auf und begann, durch das Zimmer zu tanzen. Allein der Gedanke an das, was kommen würde, beglückte sie so unbeschreiblich, dass sie den Ärger über Mutters Äußerungen beinahe vergessen konnte. Sie packte Caline an den Händen und hüpfte mit ihr im Kreis herum. Außer Atem blieben sie wieder stehen.

Véronique legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Aber kein Wort zu Mutter. Es soll eine Überraschung für sie werden.“

„Eine Überraschung, fein!“

Wie süß, dachte Véronique, das Kind glaubt noch, dass Überraschungen immer etwas Schönes sein müssen.

„Komm, lass uns nach unten gehen.“ Véronique streckte ihre Hand aus, die Caline sofort ergriff. „Dein Unterricht beginnt gleich.“

Nachdem sie Caline den strengen, aber dennoch nicht weniger fürsorglichen Händen von Madame Leforge übergeben und mit ihr ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatte, ging Véronique noch einmal in ihr Zimmer zurück, um ihre Garderobe zu überprüfen und zu kontrollieren, ob die Schublade mit ihren Zeichnungen abgesperrt, der Schlüssel abgezogen und versteckt war. Dann blickte sie auf die Tischuhr. Bald würde sie zu dem geplanten Ausflug abgeholt werden. Bis die Türglocke schellte, konnte sie sich die Zeit unten in der Bibliothek vertreiben. Dort traf sie auf ihre Mutter, die am langen Tisch in Schreibarbeit vertieft saß. Als Véronique die Bibliothek betrat, sah Mutter kurz auf, verlor kein Wort und widmete sich weiterhin ihrer Arbeit.

Es fehlte nicht viel und im Raum hätte es auch zu schneien beginnen können. Der Temperatursturz, der die gemütliche Bibliothek, einen Ort wärmender Behaglichkeit, innerhalb Sekunden zu einer Eishöhle gefrieren ließ, schmerzte Véronique mehr, als sie zugeben wollte. Sie hätte sich doch in den vergangenen Jahren längst daran gewöhnen können, aber das Gegenteil war der Fall. Das Unverständnis über die beiläufigen Blicke der Mutter nahm immer mehr zu. Würde diesen Blicken ein handfester Streit zugrunde liegen, könnte Véronique sogar Verständnis dafür aufbringen, aber dem war nicht so. Mutter sah sie ja auch nicht grimmig an oder verärgert. Es war weit schlimmer, denn ihre Augen schienen immer voller Zweifel zu sein, wenn sie sie ansah, so als könne sie nicht glauben, dass Véronique ihre leibliche Tochter war.

Véronique war kurz davor, die Bibliothek wieder zu verlassen und zurück auf ihr Zimmer zu gehen oder in die Küche, um die Keksdose zu plündern, schließlich empfand sie Kekse immer schon hilfreich, um die kalte Hand am Herzen zu bekämpfen, aber das Korsett würde es sie danach unbarmherzig bereuen lassen. Zudem war es zu spät, um den Rückzug anzutreten. Also ging sie zum Bücherregal, das die gesamte Wandseite bedeckte, fuhr mit einem Finger die Buchreihen entlang und zog schließlich einen in braunes Leder gefassten Band heraus. Sie setzte sich in einen der beiden Lesesessel, legte die Füße auf den kleinen Schemel und begann halbherzig, in dem Buch zu blättern.

Ohne den Kopf zu heben blickte sie zu ihrer Mutter hinüber. Wann war bloß der Bruch zwischen ihnen beiden entstanden? Véronique konnte sich kaum noch erinnern, dass es einmal anders zwischen ihnen gewesen war. Es hatte Zeiten gegeben, da grübelte sie sich den Kopf heiß, was geschehen war. Welche Schuld sie selbst an der Misere trug, denn offensichtlich wurde sie von ihrer Mutter dauerhaft abgestraft. Einmal hatte Véronique, es mochte vier Jahre her sein, sie nach dem Grund für die Ablehnung gefragt, woraufhin Mutter sie irritiert angesehen hatte und nicht verstand, was mit Ablehnung gemeint sei. In Mutters Augen gab es keine Ablehnung dem eigenen Kind gegenüber. Eine Fortführung dieses Gespräch erschien ihr auch nicht notwendig, aber einen guten Rat hätte sie noch für Véronique, nämlich den, dass sie wissen müsse, wo ihr Platz sei. Ihr Benehmen entspräche in keinster Weise den üblichen Gepflogenheiten. Zu gerne hätte Véronique gewusst, was Mutter damit genau meinte, doch zu dieser Frage kam sie nicht mehr. Die Unterhaltung war im Hinblick auf das bevorstehende Abendessen als beendet erklärt worden. Irgendwann im vergangenen Jahr hatte Véronique es schließlich aufgegeben, auf Besserung zu hoffen.

Sie legte das Buch beiseite und nahm die Tageszeitung vom Beistelltischchen, aber es gelang ihr nicht, sich auf die neuesten Meldungen über die bevorstehende Weltausstellung und den Bau des Panamakanals zu konzentrieren. Nur den kurzen Bericht über die bestialisch zugerichtete Frauenleiche, die vor einer Woche oben am Montmartre gefunden worden war, las sie aufmerksam. Die polizeilichen Ermittlungen schienen sich arg in Grenzen zu halten, und Véronique stieß es übel auf, dass es nach Ansicht des Verfassers dieser Zeilen wohl auch nicht verwunderlich sei, wenn eine solche Frau Opfer eines solchen Verbrechens würde.

Plötzlich hob Mutter den Kopf, und ihre Blicke trafen sich.

„Wir werden neue Möbel brauchen. Diese hier haben wir schon vor über einem Jahr gekauft“, sagte sie und strich mit der Handfläche über die Tischplatte. „Setz dich zu mir, Véronique. Bis Monsieur Morvan kommt, um dich abzuholen, kannst du mir beim Schreiben der Einladungskarten helfen. Wir müssen sie noch diese Woche verschicken, damit wir in der ersten Maiwoche empfangen können. Ich möchte nicht, dass es zu Absagen kommt, weil sich die Gäste bereits für eine andere Einladung entschieden haben.“

Véronique legte die Zeitung zurück, stand auf und ging zum Tisch hinüber.

Madame Dorléac hatte vor sich je zwei Stapel Karten und Umschläge liegen. Auf der linken Seite die noch ungeschriebenen, auf der rechten die ausformulierten Karten und die mit Namen versehenen Umschläge. Daneben lag ein großer Bogen Papier, auf dem in einfachen Linien der lange Esstisch mitsamt zwei Reihen gegenüberliegender Stühle gezeichnet war. Véronique legte den Kopf schief, um einen Blick auf die Platzverteilung zu werfen, die ihre Mutter bislang um den Tisch herum notiert hatte. Es gab keine Überraschungen. Wie immer die gleichen Leute, die erwartet wurden. Véronique musste beim bloßen Lesen der Namen ein Gähnen unterdrücken, so sehr ermüdeten sie die zu erwartenden Gespräche, die sich sofort in ihren Kopf drängten. Einen Namen musste sie allerdings lesen.

„Du lädst Hugo Morvan ein?“, fragte sie.

„Die Karte ist schon geschrieben“, antwortete ihre Mutter.

„Aber er ist doch ein Arbeitskollege von Vater. Er war bisher noch nie bei einem unserer Empfänge.“

„Ich habe mir überlegt, dass es Sinn ergibt, wenn er dieses Mal eine Einladung erhält.“

Véronique legte die Hand auf das Blatt Papier und drehte es auf der Tischplatte so herum, sodass sie es besser lesen konnte.

„Du hast ihn mir gegenüber am Tisch platziert?“

„Der richtige Platz“, entgegnete ihre Mutter knapp und ohne vom Schreiben der nächsten Karte aufzublicken.

„Richtig wofür?“

„Wo setzen wir bloß Valentin hin?“, überlegte Mutter. „Seine überraschende Rückkehr hat es mir noch nicht möglich gemacht, eine passende Tischdame für ihn zu finden.“

„Ich möchte wissen, was du damit meinst, dass es der richtige Platz für Monsieur Morvan sei.“

„Ach, Véronique, mein liebes Kind. Muss ich es dir wirklich erklären?“

„Ich würde es durchaus erhellend finden, erklärt zu bekommen, was du dir dabei gedacht hast, Mutter.“

„Setz dich.“ Mutter wies auf den Stuhl am Kopfende des Tischs.

„Ich stehe gern.“

Mutter seufzte. „Woher hast du nur diesen Widerwillen allem und jedem gegenüber?“, sagte sie. „Von mir ganz sicher nicht. Dieser Empfang, für den ich die Karten schreibe, wird zu deinem Geburtstag sein.“

„Dann wäre es doch schön, wenn ich die Gäste aussuche und einlade.“

„Dein Vater und ich haben bereits alles festgelegt. Du wirst sehen, es werden die richtigen Leute erscheinen, um dir zu gratulieren.“

„Ich verstehe immer noch nicht, weshalb ihr Morvan eingeladen habt.“

„Was ist so ungewöhnlich daran? Ihr beide, du und er, seht euch in den vergangenen Monaten doch regelmäßig. Ihr spaziert die Promenade entlang und über die Boulevards. Heute unternehmt ihr einen Frühlingsausflug. Ich dachte, es wäre an der Zeit, dass Monsieur Morvan Gelegenheit bekommt, unser Gast zu sein.“

„An meinem Geburtstag?“

Mutters Ton wurde ungehaltener. „Du wirst im Mai dreiundzwanzig Jahre alt, mein liebes Kind. Dir läuft die Zeit davon. Wie lange möchtest du noch warten, um zu heiraten? So viele Verehrer gibt es nicht für dich. Es liegt nicht allein an deinem, ach, wie soll ich es ausdrücken, ohne dich zu verletzen? Es liegt nicht allein an deinem verunzierten Gesicht. Es ist ja auch nicht so, dass du mit deinem Verhalten mögliche Interessenten ermunterst, um dich zu werben. Da müssen wir schauen, dass derjenige, der offensichtlich trotz dieser Hemmnisse nicht abgeneigt ist, dich zur Frau zu nehmen, uns nicht perdu geht. Dein Vater und ich haben darüber gesprochen, und Vater meint, dass Morvan sich in der Bank als zuverlässiger und solider Mitarbeiter präsentiert, dem eine vielversprechende Karriere vorausgesagt wird. Und jetzt setz dich bitte und schreibe die nächsten Einladungen. Hier sind die Namen.“ Sie schob Véronique eine Liste zu. „Tinte und Feder stehen auf dem Tisch.“

Véronique starrte ihre Mutter einfach nur an. Unfähig, etwas zu erwidern, sank sie auf den Stuhl. Arme, Beine und der Kopf waren wie betäubt, als hätte man sie stundenlang mit dem Teppichklopfer verprügelt. Sie war nicht sicher, ob sie alles richtig gehört hatte. Hatte Mutter gerade wirklich gesagt, sie wolle sie nicht verletzen? Nur um ihr anschließend mit leichtfertiger Gleichgültigkeit ins Gesicht zu sagen, was für ein bedauernswerter Ladenhüter sie doch für ihre Eltern war?

Véronique hätte am liebsten die Finger gekrallt und das Papier bis zur Unkenntlichkeit zerknittert. Oder besser noch, Morvans Namen mit dem Daumennagel weggekratzt. Nein, noch viel besser wäre es, ihren eigenen Namen aus dem Blatt zu schneiden, am besten gleich aus diesem beklagenswerten Leben, das ihre Mutter ihr aufzwingen wollte.

„Möchtest du eine Tasse Tee?“

Véronique schüttelte schwach den Kopf. Sie nahm die Feder auf, tunkte sie in die Tinte und schrieb die nächste Einladung.

Zuerst war es der köstliche Duft frischen Kaffees, der Jacques Dufaux erwachen ließ, dann Zabous samtweiche Stimme, mit der sie ihm den beginnenden Tag schmackhaft machen wollte, und schließlich das herrliche Frühlingswetter, dessen milde Sonnenstrahlen den üblicherweise schlechten Ruf des Aprils vergessen ließen.

In dem kleinen Zimmer, das Jacques bewohnte, herrschte eine künstlerische Unordnung. Auf der Fensterbank reihten sich Gläser aneinander, aus denen Pinsel wie wucherndes Unkraut ragten. Die Staffelei war, ebenso wie der einzige Stuhl, in der Mitte des Zimmers platziert. Die Kommode war mit Farbklecksen übersät. Tuben, Tücher und Schwämme lagen neben einem Brotkorb darauf. Zwischen Kleiderschrank und Kleiderständer stapelten sich Dutzende von Leinwänden, bemalte und unbemalte. Überall lagen leere Weinflaschen wie fröhliche Erinnerungen herum. Dazwischen fand sich noch Platz für ein breites Messingbett.

Jacques setzte sich auf die Bettkante und gähnte. Er rieb sich die Augen, öffnete sie und blinzelte Zabou entgegen, die mit einer dampfenden Tasse auf ihn zukam.

„Verschlaf nicht diesen schönen Tag, Jacques. Du hast versprochen, mit mir in den Park zu gehen. Hier, trink.“

Er nahm einen Schluck und war mit einem Satz aufgesprungen. „Du liebe Güte, der weckt ja Tote auf“, keuchte er.

„Das erschien mir nötig.“

Zabou ging zum Fenster und öffnete es. Mit einem Schwall frischer Luft kamen auch die murmelnden Geräusche der Straße ins Zimmer. „Zieh dich an, wir wollen nicht trödeln.“

„Ich hätte dir nicht erlauben sollen, bei mir zu wohnen. Seit du hier bist, verläuft mein Leben viel zu geregelt. Das fängt schon mit dem Aufstehen an.“

„Was meinst du damit?“

„Morgens aufstehen. Vor elf. Würde ich das wollen, hätte ich mir eine Hauswirtschafterin zugelegt.“

„Das würdest du nie, denn die müsstest du ja bezahlen“, sagte Zabou, während sie sämtliche Kleider, derer sie und Jacques sich in der Nacht entledigt hatten, vom Boden aufsammelte und in den aufgeklappten Deckel der großen, alten Truhe legte. „Außerdem lässt du mich bei dir wohnen, weil ich dir Modell stehe, weil ich dich darum gebeten habe und weil du mich magst.“

„An das mit dem Modellstehen kann ich mich erinnern.“

Ein zerdrücktes Leinenhemd klatschte gegen seinen Kopf.

„Sei nicht so uncharmant, Jacques“, rief Zabou, „sonst werfe ich auch noch deine Hose.“

„Wirf ruhig, ich brauche eine zum Anziehen. So wie ich jetzt bin, kann ich ja schlecht rausgehen.“

„Du treibst dich nachts zu viel herum. Ich wache mitten in der Nacht auf, und wer liegt nicht neben mir? Mein Gott, Jacques, du zitterst ja.“

Das Hemd in seinen Händen begann zu flattern. „Du hast mitbekommen, dass ich weg war?“

„Aber ja. Du warst nicht gerade leise, als du wiedergekommen bist. Wo bist du gewesen?“

Jacques schlüpfte ins Hemd. „Nachts ist die Luft so klar, das reinigt meinen Kopf“, sagte er. „Ein kleiner Spaziergang im Mondlicht hilft mir immer, mich zu entspannen.“

„Du hättest mich wecken können. Ich hätte dich auch entspannt.“

„Du hast so friedlich geschlafen. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht.“

Kaum gesagt, bereute es Jacques schon. Chou-Chou ohne Herz – jeden Tag drängte sich dieser fürchterliche Anblick in seine Gedanken.

Zabou zögerte kurz, bevor sie fragte: „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Ich meine, seit – seit dieser einen Nacht, da–“

„Sei still“, fuhr Jacques dazwischen.

„Aber –“

„Hörst du nicht? Du sollst still sein. Oder willst du, dass ich, dass ich …“

„Beruhige dich, Jacques.“

Es klopfte an der Tür. Ohne abzuwarten, trat Alban Delaby in Jacques‘ Wohnung. Lachend drehte er seinen Hut zwischen den Händen.

„Du hast mir noch gefehlt“, raunte Jacques.

„Was ist mit ihm?“, fragte Alban.

Jacques warf Zabou einen unmissverständlichen Blick zu. Sie hob die Schultern. „Es ist nichts“, sagte sie.

„Wie erfreulich“, rief Alban. „Meine lieben Freunde, ich sehe, ihr seid bereit, mit mir das Abenteuer ‚neuer Tag‘ zu bestreiten. Spürt ihr auch diese belebende Frische, die in der Luft liegt? Sie könnte mich direkt erquicken, würde ich mich von gestern Nacht nicht so erschlagen fühlen.“

„Trink von ihrem Kaffee.“ Jacques nickte zur Kanne auf der kleinen Herdplatte.

Zabou suchte in einer Kommode nach einer weiteren Tasse, fand aber keine, in der nicht wenigstens ein Pinsel abgelegt war. Sie reichte Alban Delaby ihre eigene Tasse, und er trank sie, ohne zu zögern, mit zwei großen Schlucken aus.

„Jacques, guter Freund und Trinkgefährte.“ Delaby vollführte eine kunstvoll durchdachte, weit ausholende Geste. „Verspürst du den Wunsch, mich zu einem Mittagessen einzuladen?“

„Aber nein, überhaupt nicht. Ich habe dir gestern ein Mittagessen bezahlt.“

„Das gestrige Mittagessen liegt bereits zwei Mahlzeiten in der Vergangenheit. Fällt dir auf, dass ich dich weder am Abend noch zum Frühstück angehauen habe? Zu diesen Mahlzeiten ließ ich mich von einem Mädchen, dessen Name ich vergessen habe zu erfragen, einladen. Du siehst also, dass ich ausgesprochen rücksichtsvoll dir gegenüber bin.“

„Lass es gut sein, Alban. Ich habe gerade noch genug Franc, um mit Zabou den versprochenen Ausflug zu machen.“

„Ich komme mit“, entschied Delaby kurzerhand. „Ach, Jacques, bevor ich es vergesse. Unten wartet dein Hauswirt. Er sagte, dass er die Miete von dir möchte.“

Jacques verzog gequält das Gesicht. „Ist es schon wieder soweit? Dieser gierige Kerl kann einen aber auch nicht in Ruhe lassen. Alban, leih mir zwei Franc, damit ich ihn bezahlen kann.“

„Du schuldest mir noch fünf.“

„Dann leih mir zehn. Ich geb dir fünf zurück und kann meinen Hauswirt bezahlen. Und vom Rest lade ich euch in ein Gartenlokal ein. Wir müssen ja frühstücken, bevor wir unseren Ausflug machen.“

Hinter Delaby drängte sich ein mickrig aussehender, kleiner Mann in den Türrahmen. Er hatte einen Kneifer auf der krummen Nase, hinter dem wimpernlose, stechende Augen sofort nach Jacques Ausschau hielten, um ihn aufzuspießen.

„Monsieur Dufaux“, sagte er, „diesmal lasse ich mich von Ihnen nicht mehr abspeisen. Diesmal zahlen Sie, was Sie mir schulden. Drei Monatsmieten, das macht neun Franc.“

Zabou seufzte. „Adieu, Frühstück.“

Jacques richtete sich zu voller Größe auf und trat, hosenlos wie er noch war, auf den Hauswirt zu. Er bedeckte seine Blöße halbwegs mit der Kaffeetasse.

„Mein lieber Monsieur Poulbot, ich freue mich, Sie zu sehen. Selbstverständlich begleiche ich heute meine Mietschulden. Sehen Sie die Bilder in der Ecke? Ich habe sie in der vergangenen Woche gemalt. Ein finanzkräftiger Geschäftsmann aus dem 5. Arrondissement hat diese Bilder bei mir bestellt. Er möchte sein Wochenendhaus damit bestücken. Aber wissen Sie was, Poulbot? Ich überlasse eins der Bilder Ihnen. Was halten Sie davon? Ist das ein Wort? Suchen Sie sich eins aus.“

„Und dafür soll ich dann wahrscheinlich die Mietschulden streichen, hm?“

Jacques setzte ein gewinnendes Lächeln auf. „Wo Sie selbst diesen Vorschlag unterbreiten, da sage ich nicht nein.“

„Monsieur Dufaux, ich habe in den letzten zwölf Monaten schon vier Bilder von Ihnen bekommen.“

„Meine Werke gefallen Ihnen also? Ein Zeichen des guten Geschmacks. Welches möchten Sie denn? Wie wäre es mit diesem hier?“

Jacques hob eine ungerahmte Leinwand vom Boden auf, auf der sich eine nackte Frau ungeniert auf einer Gartenbank ausstreckte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Zabou war nicht zu leugnen.

„Ich habe dem Bild den Titel Die Wanderhure erschlagen unter den Säulen der Erde gegeben. Spüren Sie die Kraft, die von ihm ausgeht?“

„Ich spüre nur das Jucken meiner Handfläche, weil noch keine Münzen darin liegen.“ Poulbot streckte seine Hand fordernd aus.

Jacques sah ein, dass einer solchen Unbarmherzigkeit nicht beizukommen war. Er bezahlte Poulbot. Dann hielt er sein Versprechen und lud Zabou und Alban zu einem Frühstück in einem guinguette ein. Dort angekommen, entschuldigte sich Alban gleich. Er hatte am anderen Ende des Gartens einen Bekannten entdeckt, der ihm noch Geld schuldete. Das galt es einzutreiben. Zabou und Jacques blieben am Tisch zurück und gaben die Bestellung auf. Plötzlich schob sich ein Schatten über ihren Tisch. Ein wenig in der Art eines Überfalls am Wegesrand wagte die Silhouette das Zusammensitzen zu stören. Jacques hob den Kopf und erschrak. Nicht, dass der Schattenwerfer besonders hässlich gewesen wäre, ganz im Gegenteil, wohl aber, weil er sich vor dem fürchtete, was unweigerlich kommen würde. Fragen, lästige Fragen aus dem Mund einer Hupfdohle der Nacht.

„Suzette?“, rief Zabou.

Die Angesprochene setzte sich auf den von Alban verlassenen Stuhl. Sie nahm Jacques das Glas aus der Hand und trank es ohne abzusetzen leer. Dann schielte sie nach Zabous Glas, doch die umklammerte es mit beiden Händen. Unruhig wanderte Suzettes Blick durch das Gartenlokal. Ihr schwarzes Haar war nachlässig mit einer Schleife hochgebunden. Strähnen hingen zu beiden Seiten ihres Gesichts. Die blassgelbe Bluse war falsch und nicht bis oben hin zugeknöpft, sodass Jacques unweigerlich einen ordentlichen Blick auf ihre Brüste erhaschte, als sie sich mit hängenden Schultern über den Tisch beugte. Plötzlich ruckte sie mit Kopf und Oberkörper vor, als wollte sie mit ihrer scharf geschnittenen Nase Jacques die Augen aushacken. Jacques wich zurück. Für gewöhnlich war er nicht so schreckhaft, aber zurzeit waren seine Nerven in etwa so angespannt wie ein Strumpfband, nur mit dem Unterschied, dass sich ein Strumpfband um etwas Schönes schmiegte, seine Nerven hingegen Unerfreuliches umschlossen.

„Wo ist Belle?“, fragte Suzette unvermittelt. Sie lispelte leicht, was ihrem ohnehin recht aparten Gesicht, aufgrund dessen – und dem zipfeligen Rock, den sie trug – mancher sie für eine Zigeunerin hielt, einen zusätzlichen Charme verlieh.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Jacques, dass Zabou ihn beobachtete. Er hob die Schultern. „Woher soll ich das wissen?“

„Ihr wart zusammen, als ich euch heute Nacht wegen meinem Freier allein gelassen hab.“

„Schon, aber ich bin kurz darauf auch nach Hause gegangen.“

„Und Belle? Wo ist sie hin? Sie ist heute Morgen nicht in ihrem Bett gewesen. Das passt nicht zu ihr. Sie kommt immer heim, selbst wenn sie so betrunken ist, dass sie ihren eigenen Namen nicht mehr weiß.“

„Vielleicht war ihr letzter Freier ein ganz besonders Netter und sie ist noch bei ihm?“

„Unsinn.“ Suzette warf Jacques einen missbilligenden Blick zu. Jacques ärgerte sich über sich selbst. Suzette und Belle waren ein Paar, er hätte sich seine Bemerkung sparen können.

„Hoffentlich ist Belle nichts passiert“, sagte Zabou. Sie tastete nach Jacques‘ Hand, der sie aber fortzog, bevor sie ihn berühren konnte. „Wir müssen los, wenn wir den Zug nach Argenteuil noch erwischen wollen“, sagte er.

Suzette zog die Stirn kraus. „Ich geh zu der Ruine“, murmelte sie. „Dort geht Belle mit den Freiern hin, die es schnell wollen.“ Sie stieß sich vom Tisch ab. Ohne einen Gruß lief sie davon. Einem gut gekleideten Herrn, der ihr im Vorbeigehen an die linke Brust fasste, verpasste sie noch eine Ohrfeige, dann war sie aus dem Garten.

„Sie macht sich wirklich Sorgen“, sagte Jacques nachdenklich.

„Sie liebt Belle“, sagte Zabou.

„Ach, ja, die Liebe.“ Alban war an den Tisch zurückgekehrt. „Gehen wir?“

Als die Türglocke erklang, erschrak Véronique. Hugo Morvan holte sie mit der von ihm gewohnten Pünktlichkeit ab. Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter, legte sich ein Schultertuch um, setzte ihr Kapotthütchen auf und verließ das Haus.

In der offenen Kutsche, mit der Morvan vorgefahren kam, saß zu Véroniques Freude auch seine jüngere Schwester Juliette, die ihr mit einem strahlenden Lachen zuwinkte. Dann konnte es doch noch ein schöner Ausflug werden, dachte Véronique. Mit Juliette verstand sie sich prächtig. Sie beide hatten schon häufig bei Gesellschaften zusammengesessen und sich über die verschiedensten Verehrer unterhalten, oder besser gesagt, sie alle der Reihe nach mit weiblicher Begeisterung in der Luft zerrissen.

Hugo Morvan bot Véronique seine Hand als Einstiegshilfe an. Das war so ungefähr das Äußerste, das Véronique Monsieur Morvan an Berührung gestattete.

Der Kutscher bekam eine knappe Anweisung, wohin er fahren sollte, dann lehnte sich Hugo Morvan in seinem Sitz zurück. Er saß Véronique und Juliette gegenüber. Offensichtlich sorgsam darauf bedacht, dass seine Beine nicht Véroniques Rock streiften, suchte er sich eine bequeme Position und erklärte, dass die Fahrt nur knappe zwei Stunden dauern würde, bis sie am Ziel angelangt seien. Morvan hatte für diesen Frühlingstag die wunderschönen Landschaften entlang der Seine ausgewählt, wo sie in Argenteuil aussteigen würden, um zu picknicken und das ein oder andere Glas in einem der vielen guinguettes am Ufer zu sich zu nehmen. Juliette hielt auf ihrem Schoß einen Bastkorb umklammert, in dem unter einer karierten Stoffdecke verschiedene Obstsorten, Käse und Brot hervorlugten.

„Es wird herrlich werden“, sagte Juliette voller Vorfreude. Sie wies Véronique auf ein paar Schläger hin, die in einem Futteral neben ihr auf der Sitzbank lagen. „Wir können Federball spielen. Du bist mir noch eine Revanche vom letzten Sommer schuldig.“

Véronique umarmte ihre junge Freundin. Dann hielt sie ihren Hut mit beiden Händen am Rand fest und legte den Kopf in den Nacken. Der Kutscher trieb das Pferd nicht zu übermäßiger Eile an, sodass der leichte Fahrtwind ihr Gesicht und den Hals angenehm streichelte.

Sie fuhren über die Pont des Invalides und kamen am Bahnhof Saint-Lazare vorbei. Sie verließen Paris über eine breite Allee, zu deren beiden Seiten Kastanienbäume das typische Wechselspiel von Sonnenlicht und Schatten auf die Straße warfen.

Während der Fahrt bestritt Hugo Morvan einen Großteil der Unterhaltung, indem er von der bevorstehenden Weltausstellung erzählte, die auf dem Gelände des Champ de Mars errichtet wurde. Im nächsten Monat würde Paris einmal mehr der Mittelpunkt der Welt sein, und er, Hugo Morvan, gehörte zu den Männern in der Geschäftswelt, die nicht weniger von seiner Stadt erwarteten.

„Die fortschreitende Industrialisierung der vergangenen Jahre ermöglicht es Frankreich, und hier meine ich vor allem Paris, weiter zu wachsen und einen Wohlstand zu erreichen, den es bislang nicht kannte.“

Und so weiter und so weiter. Véronique wandte sich zur Seite und verdeckte ihr Gähnen mit der Hand. Morvan benutzte die gleichen Sätze wie ihr Vater. Sie mochte es kaum noch hören. Sicher, ihr war bekannt und bewusst, dass auch der eigene familiäre Wohlstand untrennbar mit dem Frankreichs verknüpft war, aber musste man denn deshalb von morgens bis abends darüber reden und nichts anderem mehr huldigen als dem Erreichten? Männer wie Morvan berauschten sich an ihren gesellschaftlichen Stellungen, vergaßen dabei aber zu gern, ihr Benehmen einem gesteigerten Vermögen anzupassen. Na ja, Véronique hatte leicht reden, das wusste sie. Ihre Mutter, ja, die hatte noch andere Verhältnisse kennengelernt. Véronique und ihre Geschwister waren hineingeboren in dieses Leben. Vielleicht lag darin der Grund für ihre rasche Ermüdung, wenn dieses Thema zur Sprache kam.

„Mademoiselle Dorléac?“

„Hm?“ Oh je, war sie doch tatsächlich über Morvans Ausführungen eingenickt. Véronique rutschte auf dem Sitz vor und hob den Kopf.

„Sind Sie nicht interessiert an dem, was zurzeit in unserem Land passiert?“

Morvan blickte sie mit erwartungsvoller Strenge an. Es war sichtbar, dass er außer Zustimmung nichts anderes erwartete. Damit konnte Véronique nicht dienen. Sie zuckte mit den Schultern.

„Ich finde es sehr einseitig“, sagte sie.

„Wie darf ich das verstehen?“

„Ich habe kürzlich einen Artikel über Clara Zetkin und ihre Anschauungen zur Frauenfrage gelesen, und ich finde es bemerkenswert, was sie sagt. Von ihrem Mut, dies öffentlich zu tun, ganz abgesehen.“

Morvan schnaufte demonstrativ laut durch. Missbilligung auf höchster Stufe. „Sie sollten sich nicht für die unqualifizierten Hetzereien einer verwirrten Frau interessieren, Mademoiselle. Die Ansichten dieser Dame schaden Frankreich nur.“

„Nur den Männern in Frankreich, den Frauen sicher nicht“, entgegnete Véronique. „Was ist verkehrt daran, eine vollständige Veränderung der sozialen Stellung der Frauen zu fordern?“

„Eine solche Forderung kann nur in neuerlicher Anarchie enden. Das kann niemand gutheißen, auch Sie nicht, Mademoiselle.“

„Was denkst du?“, richtete sich Véronique an Juliette. „Möchtest du nicht mitbestimmen können, was in Paris geschieht?“

„Ach, weißt du, ich mache mir darüber keine Gedanken. Das ist Politik, und davon verstehe ich nichts.“

Warum wohl nur, kam es Véronique in den Sinn. „Und arbeiten? Wie steht es damit?“

Juliette zuckte zusammen. „Arbeiten? Aber das ist nichts für Frauen.“

„Warum denn nicht?“

„Es entspricht einfach nicht der natürlichen Position, für die die Frauen vorgesehen sind. Man stelle sich vor, ich würde arbeiten, dann wäre ich doch wie diese Frauen, die jeden Tag vom Montmartre herunterkommen, um als Wäscherin oder Näherin ihr Geld zu verdienen.“

„Es müsste doch möglich sein, für Frauen, wie wir es sind, auch Berufe ergreifen zu können, die andere Gebiete bekleiden. Naturwissenschaftliche oder auch juristische Bereiche.“

Morvan stieß ein verächtliches, knappes Lachen aus. „Meine liebe Véronique, Sie sind wirklich gut gelaunt heute, nicht wahr? Wie soll das denn gehen, eine Frau in der Justiz? Es reicht doch, wenn sie den Haushalt richtet, um ihrem Ehemann und den Kindern ein behagliches Heim zu bieten. Eine Aufgabe von besonderer Herausforderung, finden Sie nicht?“

„Nicht erschöpfend genug für das Leben einer modernen Frau. Gäbe es für Frauen eine größere Auswahl an Berufen, die sie ausüben dürften, dann bräuchten sie nicht ihre Körper verkaufen und vielleicht so fürchterlich sterben wie dieses arme Mädchen, von dem ich in der Zeitung las.“

Morvan klopfte sich zum Zeichen seiner Erheiterung auf den Oberschenkel. „Mademoiselle, Sie amüsieren mich.“

Und du mich so ganz und gar nicht. „Warum lachen Sie, Monsieur?“, fragte sie erbost.

„Weil Sie offensichtlich nicht verstanden haben, dass dieser eine Beruf auch dann nicht aussterben wird, wenn Frauen alle Türen offen stünden.“

„Das arme Mädchen ist ermordet worden. Nachts und allein auf der Straße. Finden Sie das nicht auch furchtbar?“

„Nun, allein war sie ja wohl nicht. Und von der Straße ist sie ja nun weg.“

„Sie sind geschmacklos, Monsieur.“

Morvan riss der Geduldsfaden. „Niemand in Paris interessiert sich für eine Hure vom Montmartre. Sollen sie sich doch gegenseitig die Kehlen durchschneiden, solange sie nur oben auf ihrem Hügel bleiben.“

„Und wenn der Mörder auf unsere Seite der Seine noch einmal zuschlägt?“

„Eine solche Gräueltat? Ausgeschlossen.“

Véronique verkniff sich weitere Bemerkungen. Der Ausflug fing ja gut an. Warum hatte sie nicht den Mund gehalten? Sie wusste doch um Hugo Morvans Ansichten. Am liebsten wäre sie von der fahrenden Kutsche abgesprungen und zu Fuß weitergegangen. Aber vermutlich hätte sie sich beim Sprung den Knöchel gebrochen und sähe sich dann der hochgezogenen Augenbraue Morvans ausgesetzt. Alles, bloß das nicht. Sie fühlte sich ein wenig wie das Pferd, das ihre Kutsche zog. Geboren für mehr, als nur angeschirrt geradeaus zu laufen.

Sie schloss die Augen. Nur die milde Luft spüren, das half ihr so oft, wenn sie das Gefühl hatte, aus allen Nähten zu platzen. Sie hätte auf das Mieder verzichten sollen. Nachdem sie eine Weile bewusst ein- und ausgeatmet hatte, beruhigte sie sich wieder. Sie wollte sich den schönen Tag nicht kaputtmachen lassen. Außerdem war die Erkenntnis, dass Hugo Morvan nichts weiter als ein notwendiges Übel zum Promenieren war, nichts Neues. Einem Schnupfen nicht unähnlich hatte Véronique seine Gesellschaft akzeptiert, die in temporär überschaubarer Dosis erträglich war.

„Komm, Véronique, lassen wir die Politik, davon verstehen wir doch nichts.“ Juliette legte ihren Arm um Véroniques Schulter und zog sie an sich. „Schau diesen herrlich blauen Himmel, den wollen wir doch nicht mit solchen Gesprächsthemen verdunkeln. Es wäre ewig schade.“

Véronique zwang sich zu einem Lächeln. „Nun, was gibt es von Madame Peloux zu berichten?“, fragte sie. „Ich habe gehört, sie möchte sich neu verheiraten. Ein wenig rasch, immerhin ist sie doch erst seit vier Monaten Witwe.“

„Aber sie ist auch nicht mehr die Jüngste. Da zählt jeder Tag.“

Die restliche Fahrt bis nach Argenteuil plapperte Juliette mit leidenschaftlicher Begeisterung über den neuesten Klatsch aus der Rue de Vaugirard. Véronique hörte nur mit einem Ohr zu. Sie dachte an die Tote vom Montmartre und fragte sich, ob es wirklich niemanden interessierte, wer sie umgebracht hatte Sie verspürte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Es könnte den Mörder ermutigen, es nicht bei einem Mädchen zu belassen.

Das Ende der Gasse, die links von der Rue Girardon abzweigte, verlief sich in Sand und Gestrüpp. Als hätte Gott hier plötzlich keine Lust mehr gehabt, die Landschaft aufzuhübschen, wucherte Unkraut in allen Höhen und Farben.

Suzette ließ die letzten bewohnten Barracken am Weg hinter sich und lief mit gerafftem Rock die Steigung hoch. Durch die Löcher ihrer zerschlissenen Stiefel schaufelte sie sich Sand zwischen die Zehen. Oben am Hang standen die verfallenen Überreste einer alten Mühle. Vor Jahren hatte ein Blitzschlag die Mühle getroffen. Das Dach, die Speicher und das Windrad waren abgebrannt, nur das steinerne Fundament war übriggeblieben. Dort hatte man die Leichen der erstickten Bewohner gefunden. Die Mühle war nicht mehr aufgebaut worden, sei es aus Aberglaube über nicht zur Ruhe kommende Seelen oder einfach, weil die Zeit der Mühlen abgelaufen war. Egal, was es war, die meisten Leute mieden diesen Teil des Hangs. Das bot Huren wie Belle die Möglichkeit, nachts auf die Schnelle in einem halbwegs windgeschützten Gemäuer ein paar Franc zu verdienen.

Es ist schön dort, sagte Belle immer. Du kannst die Sterne beobachten, während sich auf dir einer abrackert.

Suzette näherte sich dem Gemäuer und sah, wie drei Jungs davor einen altersschwachen, blinden Hund quälten, indem sie ihn mit Steinen so bewarfen, dass er im Kreis herumgejagt wurde.

„Hört sofort auf!“, rief sie.

Die Jungen drehten die Köpfe. Als sie Suzette erkannten, ließen sie von dem Hund ab. Einer, er trug außer einer zu großen Hose nichts am Leib, grinste ihr ziemlich frühreif für sein Alter entgegen.

„Salut, Suzette“, rief er. „Was bietest du uns, damit wir den Köter in Ruhe lassen?“

„Ohrfeigen, bis ihr satt seid. Habt ihr Belle gesehen?“

Der Hosenjunge drehte sich zu seinen Freunden um, doch die hoben bloß die Schultern. „Nein, Suzette“, rief er. „Hebst du deinen Rock für uns?“

„Davon träumst du. Los, verschwindet.“

„Wieso denn?“

Suzette hob eine Handvoll Kiesel auf und warf sie nach den Jungen. „Seht ihr, so fühlt es sich an, mit Steinen beworfen zu werden.“

„Schon gut, wir gehen ja schon. Aber wenn ich genug Geld habe, dann komme ich zu dir, Suzette.“

„Ja, ja“, raunte sie. „Krieg erst mal Haare am Sack, dann sehen wir weiter.“

Sie achtete nicht mehr auf die Jungen, die lachend den Weg hinunterliefen. Der alte Hund hatte sich inzwischen in den Schatten eines Mauervorsprungs gelegt. Er keuchte, spürte aber, dass von Suzette keine Gefahr ausging, als sie an ihm vorbei in die Ruine trat.

Sie stützte sich an den Steinen ab, um über einen Geröllhaufen zu steigen und dabei nicht auszurutschen. Sie blickte nach oben. Hellblauer Himmel. Hinter der nächsten bröckelnden Mauer zwei Schritte weiter nahmen die untersten Stufen einer nach oben ins Nichts führenden Treppe viel Licht. Vorsichtig tastete sich Suzette im Halbdunkel vor und stieß dabei mit dem Stiefel an einen Stapel Holzkisten, der unter den Stufen stand. Sie setzte einen Schritt zur Seite und rutschte mit der Sohle weg. Sie fluchte leise.

Weil Suzette nicht genau erkennen konnte, worauf sie stand, bückte sie sich und nahm eine Seilschlinge auf, die vor ihr lag. Fasst sich eklig an, dachte sie. Sie wollte es zur Seite werfen, doch es blockierte. Suzette zerrte fester. Hinter den Holzkisten kippte eine Frau hervor und schlug mit dem Oberkörper und dem Gesicht vor Suzettes Füßen auf den Boden.

Suzette blickte auf das verdrehte Etwas in ihren Händen, das sie mit der toten Belle verband.

Kreischend ließ sie den Darm fallen.

Wer an diesem Tag zuvor noch gezweifelt haben mochte, ob der Frühling tatsächlich Einzug gehalten hatte, wusste es spätestens in dem Augenblick, wenn er mit Zug oder Kutsche nach Argenteuil fuhr und die herrlichen Landschaften im strahlenden Sonnenlicht vor sich sah. An die kleinen Wäldchen schlossen sich weitläufige Wiesenflächen bis zu den gewundenen Uferböschungen der Seine an, an denen sich Gartenwirtschaften und auf Hochbauten errichtete Terrassenlokale aneinanderreihten, um die unternehmungslustigen Ausflügler aus Paris mit den köstlichsten Speisen und Getränken zu bewirtschaften. Über diesen guinguettes zwitscherten die Vögel und zogen die Blicke der Besucher von Zeit zu Zeit zu sich bis in den mit weißen Wolken betupften hellblauen Himmel hinauf. Gelächter und angeregte Unterhaltungen waren wie das leise Brummen eines Bienenschwarms über den Lokalen und Wiesen zu vernehmen, und überall, wohin man schaute, waren entspannte und fröhliche Gesichter zu sehen, bei manch einem auch unverhohlen die Vorfreude auf ein heimliches Liebesgedöns in den umliegenden Wäldchen, die Jung und Alt zu einem Versteckspiel einluden, bei dem man ganz gewiss gefunden werden wollte.

Als Véronique Dorléac gemeinsam mit Hugo Morvan und seiner Schwester Juliette die Wiesen von Argenteuil betrat, hellte sich sofort ihr Gesicht auf. Die kalte Jahreszeit war endgültig vorbei, und das über den Winter eingestaubte Befinden konnte wieder befreit durchatmen.

Véronique blieb oben auf dem Hügel, der bis zur Seine hinunterführte, stehen, breitete die Arme aus und hätte am liebsten einen lauten Juchzer ausgestoßen, doch sie wusste, dass Morvan solche Gefühlsausbrüche missbilligte, also begnügte sie sich mit einem tiefen Einatmen. Sie blickte auf all die Menschen, die zu den Terrassenlokalen strömten, als gälte es, die letzte Portion Kuchen zu ergattern. Sie erkannte ein paar Bekannte ihrer Eltern, die ihr von den Sitzbänken aus freundlich zunickten, und auch am Ufer konnte sie den jungen Rechtsanwalt erkennen, der drei Häuser weiter in der Rue Surcouf wohnte und der immer so unverhohlen die Narbe über ihrer Wange anstarrte, wenn sie sich zufällig begegneten.

Menschen spazierten querfeldein über die hügeligen Wiesen und ließen sich zu einem Picknick auf der weiten Rasenfläche zwischen Waldrand und Fluss nieder. Von überall her war glückliches Lachen zu vernehmen, und es schien, als buhlten die jungen Männer mit der Mittagssonne um die Gunst der Mädchen, die sie begleiteten oder erst hier im Schatten einer Gartenlaube entdeckten.

An den Uferpromenaden hatten Maler ihre Staffeleien aufgestellt und hielten das heitere Leben in den Terrassenlokalen auf den Leinwänden fest. Véronique zeigte sich an den Bildern interessiert und blieb in einigem Abstand hinter einem Maler stehen.

„Eine Verwirrung des Auges“, spottete Morvan. „Mehr ist es nicht. Kein Wunder, dass der Salon die Bilder nicht aufnimmt.“

Eine Verwirrung der Sinne, dachte Véronique, behielt ihre Ansicht aber für sich und schwelgte im Stillen in Begeisterung für das, was auf der Leinwand zu sehen war.

Nach einem ersten Umtrunk auf der Picknickdecke schlug Véronique vor, eine Partie Federball zu spielen. Sie und Juliette suchten sich eine freie Wiesenfläche zwischen ihrem Platz und entfernt genug von den Büschen, wo sich mehrere Gruppen junger Männer und Frauen mit Wein, Brot und Käse ins Gras gesetzt hatten. Das Federballspiel begann mit verhaltenen Schlägen, doch mit zunehmender Spieldauer hüpften die beiden Mädchen ausgelassener umher, ließen den Rocksaum flattern und lachten, wenn sie mit erstaunlicher Regelmäßigkeit den kleinen Ball verfehlten.

Nach einer Weile zog sich Véronique ihre Schuhe und Strümpfe aus. Juliettes überrascht aufgerissenen Augen über diese unschickliche Tat besänftigte sie mit dem Zeigefinger vor den Lippen und einem Blick nach allen Seiten, der zeigte, dass niemand es gesehen hatte und es auch so bleiben kann, wenn sie den Mund hielt. Barfuß sprang es sich doch gleich viel angenehmer über die Wiese. Das Gras kitzelte an Véroniques Knöcheln, und sie fühlte sich auf herrliche Weise sehr lebendig.

Juliette wagte es nicht, sich ebenfalls Strümpfe und Schuhe auszuziehen, auch wenn der weite Rock kaum einen Blick auf die nackten Füße zulassen würde.

Hugo Morvan blieb derweil auf der Picknickdecke hocken, rauchte und beobachtete abwechselnd Véronique und Juliette und die Boote auf der Seine. Zweimal musste er einen verschlagenen Ball zu den Mädchen zurückwerfen, seine einzige Beteiligung am Spiel.

„Dein Bruder ist ein rechter Ignorant“, rief Véronique zwischen zwei Schlägen. Sie wusste, dass sie außer Hörweite war, daher erlaubte sie sich die offenen Worte. „Ich meine nicht nur seine Ansichten. Hat er überhaupt an etwas Vergnügen außer an seiner Arbeit?“

Juliette war flink auf den Füßen und erwischte den geschlagenen Ball noch rechtzeitig, bevor er über ihren Kopf hinweg war. „Hugo denkt nicht nur an die Arbeit“, antwortete sie. „Er spricht in letzter Zeit immer häufiger davon, sich zu verheiraten.“

„Und an wen denkt er dabei?“

„Stell dich nicht dumm.“

Véronique erschrak. „Wie kommt er denn auf einen solch verrückten Gedanken?“ Sie musste sich strecken, um Juliettes Rückschlag gerade noch so zu erwischen. Dabei verschlug sie. Sie hob den Ball auf und warf ihn hoch, um einen neuen Schlagwechsel zu beginnen.

„Wieso sollte er nicht? Du gestattest Hugo, dass er dich besuchen darf, dass ihr miteinander ausgeht, dass er dich zu Ausflügen begleitet.“

„Aber das ist doch keine Ermunterung, um meine Hand anzuhalten.“

„Für Hugo schon. Außerdem würde er dich nicht ausführen, wenn er nicht seine Wahl getroffen hätte.“

Véronique ließ den Schläger sinken. Der Ball fiel vor ihren Füßen ins Gras. Hatte diese Unterhaltung eben noch die Leichtigkeit eines Augenzwinkerns für sie gehabt, so nahm sie nun eine beklemmende Entwicklung.

Sie bückte sich, hob den Ball auf und schlug ihn zu Juliette. „Ich habe nicht vor, deinen Bruder zu heiraten, Juliette. Das musst du ihm klarmachen, ich bitte dich.“

„Wenn Hugo sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann gibt es für ihn keine Umkehr. Ziele zu erreichen ist sein oberstes Gesetz.“

„Bei seinen Bankgeschäften vielleicht, aber doch nicht bei einer solch wichtigen Lebensentscheidung.“

„Er ist sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.“

„Er wird wissen wollen, wie ich dazu denke.“

„Wird er nicht“, rief Juliette. „Er hat übrigens schon mal bei deiner Mutter vorgefühlt, wie du einer solchen Verbindung gegenüberstehst. Deine Mutter zeigte sich hocherfreut.“

Hocherfreut? Véronique drosch auf den Federball ein. Unkontrolliert schoss er in hohem Bogen über Juliettes Kopf bis hin zu den Büschen am Rand des Wäldchens. Dort fiel er einem jungen Mann, der ausgestreckt auf dem Gras ein Schläfchen hielt, auf den Kopf.

In Véroniques Gesicht arbeiteten die Kiefermuskeln. Sie biss sich auf die Unterlippe und ihr Busen hob und senkte sich in schneller Atmung, die nicht allein vom Umherhüpfen kam. „Entschuldige, Juliette, ich werde den Ball holen.“

Endschlossen stapfte sie los, den Schläger fest umklammert. Am liebsten hätte sie ihn gegen den nächsten Baumstamm gepfeffert, damit er stellvertretend für Morvans Holzkopf zersplitterte.

Oder auch anstelle dieses Mannes dort drüben bei den Büschen. Sie konnte nicht verstehen, wie ein Mann so ungalant sein konnte und sie laufen ließ, anstatt ihr den verschlagenen Ball zu bringen. Mit jedem Schritt steigerte sich ihr Zorn, der seit der Kutschfahrt längst in ihr brodelte. Dieser Fremde, der ihr den Federball entgegenstreckte wie eine Mohrrübe einem Lastesel, und in dessen Gesicht ein breites Grinsen lag, kam ihr gerade recht, um Dampf abzulassen.

„Ich danke Ihnen, dass Sie unseren Ball aufgefangen haben“, rief sie bereits, obwohl sie noch einige Meter von dem Fremden entfernt war. „Wenn Sie ihn mir nun bitte überreichen würden, dann können meine Freundin und ich unser Spiel fortsetzen.“

Der Fremde wartete, bis Véronique vor ihm stand. Als sie nach dem Ball greifen wollte, zog er seine Hand zurück.

„Seien Sie nicht albern“, protestierte Véronique. „Geben Sie her.“ Ungeduldig streckte sie den Arm aus, doch er machte keine Anstalten, auf ihre Forderung einzugehen. Er ignorierte ihre Hand und betrachtete stattdessen Véroniques Gesicht. Ein Augenpaar funkelte ihn an, doch diese wilde Energie bestärkte ihn nur, nicht gleich nachzugeben.

„Ich darf Mademoiselle darauf aufmerksam machen, dass dieser Ball mich am Kopf traf.“ Er tippte an seine Stirn. „Genau hier.“

„Und was wollen Sie jetzt von mir? Eine Entschuldigung?“

„Einen Kuss.“

„Einen … “ Véronique gab einen empörten Laut von sich. Sie hob den Schläger in ihrer Hand an. „Ich kann damit auch mehr als nur auf Bälle einschlagen.“

„Und mit Ihrem Mund gewiss auch mehr als nur Drohungen formen“, konterte er.

Véronique glaubte, sich verhört zu haben. Was erlaubte sich dieser Kerl? Energisch streckte sie noch einmal die Hand aus, um den Ball zu fordern, doch der fremde Mann schien weiterhin unbeeindruckt. Er sah ihr unverwandt ins Gesicht, und als sie seinem Blick standhielt, stellte Véronique fest, dass er ganz ungeniert seine Augen wandern ließ, wobei es ihm offensichtlich bewusst war, dass sie ganz genau mitbekam, wohin er gerade schaute. Sein Blick glitt an ihrem Hals hinab bis zu ihrem Busen, auf dem er unverschämt verweilte, dann rutschte er weiter bis zu ihren Hüften, schien diese förmlich nachzuzeichnen, bevor er den langen Rock hinabstrich, deutlich bemüht, die Konturen ihrer Beine zu erahnen. Schließlich blickte er Véronique wieder ins Gesicht, und ihr kam es vor, als würde das Ergebnis seiner Begutachtung zu ihren Gunsten ausgefallen sein.

Vergnügt und völlig frei von Scham lachte er sie an. Seine herzliche Offenheit wirkte nicht gespielt und auch nicht listig geplant, so wie sie es bei manchen Verehrern gesehen hatte, die sich selbst als Fuchs und sie als Hasen betrachteten. Das machte es ihr schwer, ihn mit tausend Flüchen der Hölle zu bedecken, was sie liebend gerne getan hätte, ihr aber leider nur ein halbes Dutzend davon einfiel. Überhaupt, sie verspürte ein Glühen ihrer Wangen. Oh nein, nicht jetzt, das wäre der absolut falsche Zeitpunkt. Sie sollte empört sein, aber es war eine andere Gefühlsregung, die sie aus dem Gleichgewicht brachte.

„Ich heiße Jacques“, sagte er, „und Sie?“

„Sie überschreiten gerade die nächste Grenze, Monsieur.“

„Sie müssen meine Aufdringlichkeit entschuldigen, aber Sie müssen mir unbedingt Modell stehen, Mademoiselle. Ich würde Sie für mein Leben gerne malen.“

„So, möchten Sie? Und wenn ich Sie beim Wort nehme und als Entlohnung für mein Posieren tatsächlich Ihr Leben einfordere?“

„Ach, zweimal können Sie es doch gar nicht bekommen.“

Véronique hob die Augenbrauen. „Zweimal?“

„Ich habe mein Leben doch längst in Ihre Hände übergeben. Haben Sie es nicht gleich bemerkt?“

„Sie reden Unfug.“

„Ein einziges Lächeln von Ihnen reichte aus, um mein Herz zu erobern.“

„Ein einziges Lächeln nur? Kann es sein, dass Sie ein schwaches Herz haben, Monsieur? Muss ich fürchten, dass Sie ableben?“

„Kann es gelungener für einen Mann enden als zu Füßen einer Schönheit?“

„Sie sind recht keck, Monsieur.“

„Sie mögen recht haben, Mademoiselle.“ Jacques lächelte gewinnend. „Ich kann nicht anders. Es scheint, als täten Sie mir gut.“

Er betrachtete ihr Kleid mit der Art von Interesse, die vermuten ließ, dass er gerne auch mal darunter geschaut hätte.

Véronique winkte ab. Sie wunderte sich, dass sie sich noch immer nicht über sein Verhalten empörte, aber das Gegenteil war der Fall. Seine direkte Art empfand sie sogar erfrischend angenehm. Die Deutlichkeit der Worte unterschieden sich wohltuend von den oftmals umständlichen Komplimenten, denen sie sich bei Gesellschaften ausgesetzt sah und die immer so klangen, als wären sie auswendig gelernt und müssten ganz schnell einer unverheirateten Dame gesagt werden, da sie ansonsten ihre Haltbarkeit verlieren.

Andererseits erlaubte sich dieser freche Maler mit seiner Dreistigkeit wirklich unerhört viel. Er glaubte wohl, sie sei eines seiner Gassenmädchen, das mit leicht dahingeworfenen Schmeicheleien nicht anders kann, als sofort und ungestüm seine Bettstatt zu durchwühlen. Mit ihm darin natürlich.

„Ich sehe da ein zartes Lächeln Ihre Lippen umspielen“, sagte Jacques. Er beugte sich ein kleines Stück vor und zwinkerte Véronique herausfordernd zu. „Ich täusche mich nicht.“

„Ich wäre kein gutes Modell für Sie“, sagte Véronique.

„Da mögen Sie recht haben.“ Jacques nickte. „Meine Leinwand würde brennen mit Ihrem Abbild darauf.“

„Ich mag es nicht, wenn mir Tollheiten ins Gesicht gesagt werden.“

„Wohin möchten Sie denn, dass ich sie sage?“

„Sie sind unverschämt.“

„Und Sie sind wunderschön.“

„Nun bin ich vollends überzeugt, dass Sie, Monsieur, nicht Herr über all Ihre Sinne sind. Vor allem die Sehkraft Ihrer Augen hat wohl im Dunkel Ihres Ateliers gelitten.“

„Mir kommt es in diesem Moment aber so vor, als würden meine Augen besonders scharf sehen.“

Véronique brauchte einen Moment, um Jacques‘ Bemerkung in Einklang mit seinem anzüglichen Grinsen zu bringen. Zu dumm, sagte sie sich, jetzt erröte ich doch tatsächlich. Ein Lümmel vom Berg schafft es, mich aus der Fassung zu bringen.

Plötzlich fiel Jacques vor ihr auf die Knie, breitete beide Arme weit auseinander, als wollte er sie auffangen, wenn sie doch bloß nur endlich fallen würde. Hoffentlich begann er jetzt nicht zu singen.

„Nun, nehmen wir einmal an, ich könnte mir vorstellen, was selbstverständlich abwegig ist, aber einfach mal angenommen, ich würde für Sie Modell stehen“, rang sich Véronique ihre Worte umständlich ab. „Was natürlich niemals der Fall sein wird, aber einmal angenommen, aus einer Laune heraus würde ich zusagen – muss ich dann unbekleidet sein?“

Jacques ließ die Arme sinken. „Dies wäre von entscheidendem Vorteil.“

„Von Vorteil für wen?“, hakte sie nach. „Für das Bild?“

„Vor allem für den Maler“, sagte Jacques. „Natürlich auch für den Betrachter des fertigen Bildes.“

„Wie unbekleidet?“

„Als wären Sie gerade aus Gottes Hand gerutscht.“

„Das klingt unanständig, Monsieur.“

„Geben Sie zu, es ist auch aufregend.“

„Also vollkommen unbekleidet?“

„Man könnte auch nackt dazu sagen.“

„So langsam verstehe ich, weshalb so viele Männer gerne Maler sein wollen“, meinte Véronique. „Das ist wohl der wahre Grund.“

„Einer von mehreren, ich gebe es gerne zu.“ Jacques erhob sich wieder. „Mademoiselle, ich kann es an Ihrer entzückenden Nasenspitze sehen, dass Sie nichts lieber täten, als sich von mir malen zu lassen.“

„Als Nacktmodell nehmen Sie doch bitte eines Ihrer Mädchen von der Butte, mit denen Sie für gewöhnlich den Umgang pflegen. Ich bin sicher, Sie werden dort Ihren Ansprüchen gemäß fündig.“

„Dieser Mädchen bin ich überdrüssig. Es fehlt das, was aus einem Blick einen Funkenflug macht.“ Jacques schnippte mit den Fingern.

Als Véronique das hörte, war ihr, als könnte sie auf den Spitzen der Grashalme gehen. So fühlte es sich also an, wenn es einem vorkam, schweben zu können. Nein, solch verrückte Gedanken durfte sie gar nicht erst zulassen.

Sie sah Jacques unverwandt an. Beide schwiegen, ohne den Blick von dem anderen zu lassen. Obwohl das Gespräch doch so spielerisch seinen Lauf genommen hatte, bemerkte Véronique, dass im Augenblick weder Jacques noch sie lächelten. Es war seltsam, sie hätte ihm doch ein Lächeln schenken können. Es wäre so einfach gewesen, schließlich tat er nichts Böses. Ein paar Komplimente, die er vermutlich am nächsten Tag über einer anderen Frau ausschüttete. Nicht ernst zu nehmen. Warum nur hielt sie dann den Atem an?

Da er keine Anstalten machte, zuerst wegzuschauen, musste Véronique das Band, das ihre beiden Blicke knüpften, mit einer ruckartigen Kopfbewegung kappen. Ein vorbeiflatternder Schmetterling kam da gerade recht. Ihre Augen folgten seinem Flug, der wie betrunken anmutete und sie noch schwindeliger machte, als sie sich ohnehin schon fühlte.

Ihre Brust hob sich, als sie tief ausatmete. „Ich danke Ihnen für das freundliche Ansinnen“, sagte sie, und hastig fügte sie an: „Aber ich werde nicht darauf zurückkommen. Ich muss mich noch einmal für die Unannehmlichkeit mit dem Federball entschuldigen, bevor ich zurück zu meiner Gesellschaft gehe. Ich wünsche Ihnen und Ihren Begleitern noch eine schöne Zeit im Park.“

Sie drehte sich um und ging. Ein wenig unbeholfen kamen ihr die eigenen Schritte vor. Als wären die Füße aneinandergebunden, fürchtete sie zu stolpern. Er starrt mir hinterher, wusste sie. Sie konnte es in ihrem Rücken spüren, dass Jacques sich nicht auch umgedreht hatte, um zu seinen Freunden zurückzugehen, sondern ihr nachsah. Sie war keine vier Schritte gegangen, als er plötzlich neben ihr lief und ihr den Weg versperrte. Beinahe wäre sie auf ihn aufgelaufen. Erschrocken über diese hereinbrechende, fast körperliche Nähe, hob sie beide Hände abwehrend hoch. Er rührte sich nicht von der Stelle.

„Sie sind wirklich sehr schön, Mademoiselle“, sagte er. „Ich hoffe, diese Tatsache steigt Ihnen nicht zu Kopf.“

Eingeschüchtert von seinem Blick, der sie in Ketten zu legen schien, brachte sie kein Wort heraus.

Plötzlich war Hugo Morvan neben sie getreten. Offensichtlich hatte es ihm viel zu lange gedauert, bis sie zurückkam. Mit durchgedrückten Schultern stellte er sich dicht an Véronique. Das Kinn erhoben, sodass er seinen distanzierten Blick aus einer Fallhöhe auf den Fremden herablassen konnte, die für gewöhnlich ausreichte, um jemanden in seine Schranken zu verweisen. Auch ohne, dass er einen Arm um Véronique legte, demonstrierte er für alle gut sichtbar, dass sie zu ihm gehörte und er es nicht schätzte, wenn sie angesprochen wurde.

Véronique ärgerte sich über Morvans Anmaßung, sie ungefragt in Besitz zu nehmen. Sie hatte ihn weder darum ersucht, noch hatte sie von ihm erwartet, dass er ungebeten zu Hilfe eilte. Zu ihrer Freude schien sich der Maler von Morvan nicht beeindrucken zu lassen. Er wich keinen Schritt zurück, wie sie mit einem leichten Anflug an Bewunderung feststellte.

„Meine Liebe“, sagte Morvan eisig. Er sprach zu Véronique, ließ Jacques aber nicht aus den Augen. „Ich bringe Ihnen Ihre Schuhe, die Sie verloren haben. Ich darf Sie bitten, sie wieder anzuziehen. Belästigt Sie dieser Herr?“

„Aber nein, mein lieber Hugo, er hat mir soeben den verschlagenen Ball gegeben und wollte sich gerade verabschieden. Ist es nicht so, Monsieur?“

„Ich bewundere Ihren Scharfblick.“

„Auf mich erweckte es einen anderen Eindruck“, sagte Morvan. „Von meinem Platz aus“, er wies mit einer Hand zur Picknickdecke, „musste ich annehmen, Sie bedrängten meine Begleiterin.“ Er bedachte Jacques mit einem geringschätzigen Blick. „Schließlich empfiehlt es sich durchaus, vorsichtig zu sein im Aufeinandertreffen mit – Ihresgleichen.“

„Wie darf ich das verstehen, Monsieur?“, fragte Jacques. An seinen arbeitenden Wangenknochen erkannte Véronique nur allzu deutlich seine mühsam unter Kontrolle gehaltene Wut.

„Nun, nicht nur an Ihrer Kleidung erkenne ich, aus welchem Bezirk von Paris Sie kommen.“

Jacques‘ Augen verengten sich. Langsam formte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht.

Véronique spürte, wie sich an ihren Unterarmen die Härchen aufstellten, als wäre ein eisiger Luftzug darüber gezogen.

„Er ist wie Essig in gutem Wein“, sagte er zu ihr. „So ein Glas sollten Sie beiseitestellen.“

Ungehalten drängte sich Morvan zwischen Véronique und Jacques. „Weshalb schauen Sie meine Begleitung die ganze Zeit über in so unerhörter Weise an?“, fragte er schroff.

„Ich finde, Ihre Gemahlin ist einfach schön anzuschauen.“

„Ich bin nicht seine Frau.“

„Sie ist nicht meine Frau.“

Véronique und Morvan sagten es gleichzeitig. Zu einer anderen Gelegenheit hätte sie die Situation amüsant gefunden und sicher auch gelacht, aber jetzt fand sie Morvans Erklärung einfach nur unpassend. Sie brauchte niemanden, der für sie antwortete. Sie wusste mit Worten umzugehen und gedachte auch nicht, sich die Äußerungen ihrer Gedanken nehmen zu lassen. Als sie das erfreute Aufblitzen in Jacques‘ Augen sah, erkannte sie, dass er genau das gehört hatte, was er hatte wissen wollen.

„Einen wunderschönen Frühlingstag wünsche ich noch.“ Jacques deutete auf einem Bein balancierend eine leichte Verbeugung an, drehte sich mit Schwung herum und schlenderte fort.

Was für ein seltsamer Kauz, dachte Véronique. Niemand, dem sie nachts begegnen wollte, und doch – bei all seinem irrlichternden Verhalten, das ängstigte und schmeichelte – war er vielleicht genau nur derjenige, dem sie nachts eine Begegnung erlauben würde. Sie schüttelte über ihre eigenen Gedanken den Kopf. Wie tollkühn sie sich gerade fühlte.

Sicher meinte der Maler die bezaubernden Dinge, die er ihr gesagt hatte nicht wirklich ernst, doch sie fand es sehr angenehm, sie zu hören. Wenn er so malen wie sprechen konnte, würde er vermutlich entweder verrückt oder berühmt werden. Véronique entschied, dass er verrückt würde. Es passte offensichtlich besser zu ihm und seinem unruhigen Blick.

„Kommen Sie, meine Liebe“, unterbrach Morvan ihre Gedanken. „Ich bringe Sie zu unserem Platz zurück.“

Warum nur die Eile? Véronique verspürte wenig Lust, sich wieder mit der Eintönigkeit von Morvans Gegenwart zu beschäftigen. Er vertrat die Auffassung, dass zu einem guten Gespräch einzig seine Ansichten genügten, weshalb er sich in endlosen Monologen verausgabte, die Véronique wiederum an den Rand der geistigen Erschöpfung trieben. Da Morvan ohnehin ihrer Meinung nur geringfügig Platz einräumte, begnügte sie sich damit, ihm in regelmäßigen Abständen mit einem zustimmenden Nicken beizupflichten und in der Zeit dazwischen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen oder die Menschen im Park zu beobachten. Ihr Rundblick streifte das Gebüsch, vor dem sich der charmant unverschämte Maler niedergelassen hatte. Inzwischen war er nicht mehr alleine dort. Ein Mädchen und ein anderer Mann hatten sich zu ihm gesellt, eine Karaffe mit Wein und drei Gläsern in den Händen. Den unkomplizierten Umgang, den das junge Mädchen und die beiden Männer miteinander hatten, fand Véronique sehr aufschlussreich.

Plötzlich hob der Maler sein Weinglas in ihre Richtung. Rasch schaute sie zur Seite.

Véronique hatte die Freude an dem Ausflug verloren. Sie langweilte sich. Eine Zeitlang hatte sie immer wieder verstohlen zu dem Maler und seinen Freunden hinüber gespäht, sorgsam darauf bedacht, weder von dem Maler noch von Morvan dabei ertappt zu werden. Diese Heimlichkeit hatte die Zeit mit einem ungekannten aufregenden Gefühl vertrieben, doch seit der Maler und seine Freunde den Park verlassen hatten, langweilte sie sich.

Immer noch sprach Morvan nur über den Bau der monströsen Eisenkonstruktion, die Monsieur Eiffel und seine Mitarbeiter zur Weltausstellung fertigstellten. Er bewunderte die unglaubliche Leistung im Bereich der Architektur und fütterte Véronique und Juliette mit detaillierten Angaben zur Bauweise, die ihresgleichen auf dem Erdball suchte.

„Und wenn Anfang Mai die Welt nach Paris kommt, um das höchste Bauwerk, das es gibt, zu bestaunen, dann werde ich oben auf der Plattform stehen und auf die Welt hinunterschauen.“

„Sie wollen sich wirklich da hinaufwagen?“, fragte Véronique. Sie blickte nachdenklich in die Wolken und versuchte sich vorzustellen, dass dieser Turm stabil genug sei, um nicht gleich beim ersten kräftigen Windstoß in sich zusammenzufallen.

„Aber ja“, sagte Morvan. „Ich habe mich auf die Liste der ersten Gäste eintragen lassen. Noch am Eröffnungstag der Weltausstellung werde ich oben stehen. Und Sie mit mir, meine liebe Véronique.“

Véronique stieß ein heiseres Lachen aus. „Mich bekommen Sie nicht auf dieses Ungetüm, das Paris verschandelt.“

„Gehören Sie etwa auch zu den bemitleidenswerten Ignoranten, die die Herrlichkeit eines solchen Bauwerks nicht zu schätzen wissen, Mademoiselle?“

„Ich schätze den unverstellten Blick.“

„Dann sollten Sie nicht so blind sein.“

„Blind gegenüber was?“

„Dem Fortschritt.“

„Bin ich gar nicht“, sagte Véronique. Sie setzte sich auf. Endlich hatte sie Morvan in ein Gespräch verwickelt. In ein richtiges Gespräch mit gegensätzlichen Meinungen. „Nur würde ich es begrüßen, wenn sich der Fortschritt nicht auf technische oder architektonische Bereiche beschränken würde.“

„An welche haben denn Sie gedacht?“

Morvans Augen verengten sich, und Véronique spürte, wie ihre Hände zu zittern anfingen. Jedes falsche Wort würde jetzt eine drakonische Strafe nach sich ziehen. Aber es war ihr egal, die Gelegenheit war günstig.

„Zum Beispiel die Rechte der Frauen.“

Morvan stöhnte auf. „Sollte ich mich so in Ihnen getäuscht haben, Mademoiselle Véronique?“

„Was haben Sie gegen Madame Zetkins Forderungen? Es ist doch nur natürlich, dass auch Frauen –“

„Es ist nur natürlich“, unterbrach sie Morvan schroff, „dass Frauen wissen, welche Position sie im Leben eines Mannes zu bekleiden haben. Es ist nun mal so, dass es eine klare Trennung der Aufgaben für Mann und Frau gibt. Eine, Trennung, die, wie ich anmerken möchte, sich durchaus bewährt hat.“

„Nicht für mich“, erwiderte Véronique spitz.

„Ich denke, diese Unterhaltung schadet diesem Tag. Wir beenden sie nun und wollen vergessen, dass sie stattgefunden hat“, entschied Morvan.

Als Véronique ansetzte, noch etwas zu sagen, schnitt er mit einer scharfen Handbewegung jedes weitere Wort rigoros ab. Er stand auf, bat seine Schwester, ihm den Obstkorb zu reichen, damit sie die Picknickdecke aufnehmen, ausschütteln und zusammenlegen konnte. „Es ist Zeit zum Aufbrechen. Wenn wir vor Einbruch der Dämmerung zurück sein wollen, müssen wir gehen.“

Véronique bebte innerlich. Sie hätte laut schreien mögen, wenn es ihre Erziehung zulassen würde. Selten zuvor war ihr mit einer einzigen Handbewegung klargemacht worden, welchen Stellenwert sie in den Augen eines anderen besaß.

Die gesamte Rückfahrt wollte der Kloß in Véroniques Hals nicht verschwinden. Mit Mühe rang sie sich jedes einzelne Wort ab, das sie zu einer Konversation beitrug, die in weiten Teilen Hugo Morvan bestritt, in dem er seine Ausführungen der Hinfahrt fortsetzte und über die bevorstehende Weltausstellung und ihre Bedeutung referierte.

„Aber Sie werden das noch aus nächster Nähe bestaunen können, meine liebe Mademoiselle Dorléac“, sagte er. „Ich habe Karten für den Eröffnungstag.“

„Karten?“ Véronique fragte rein mechanisch, da sie kaum zugehört hatte. Zu aufgeregt tanzten die wütenden Gedanken durch ihren Kopf.

„Für den Turm des Monsieur Eiffel. Ich sagte doch, es ist ein Privileg, zu den ersten Besuchern zu gehören, die bis hoch zur Plattform dürfen. Sie werden sehen, wie wundervoll die Aussicht über Paris ist.“

Ich werde das Elend in seinem ganzen Ausmaß sehen können, dachte Véronique. Aber sie nickte lächelnd. „Wie schön“, sagte sie.

„Wir werden die verschiedenen Pavillons besuchen und uns informieren können, ob die anderen Nationen Frankreich in Sachen Baukunst das Wasser reichen können. Immerhin ist der Turm das höchste Bauwerk der Welt. Und“, Morvan hob den Finger, um die Wichtigkeit der folgenden Äußerung hervorzuheben, „und immerhin sind wir Franzosen es, die den Bau des Panamakanals bewerkstelligen. Ein Projekt unvorstellbaren Ausmaßes. Aber das wissen Sie ja, Mademoiselle, nicht wahr.“

„Mein Bruder hat nicht oft geschrieben“, sagte Véronique. „Er war sicher zu beschäftigt.“

„Kommt er nicht heute Abend zurück? Ich habe gehört, dass der junge Monsieur Dorléac seine Zelte in Mittelamerika vorzeitig abgebrochen hat. Wissen Sie denn auch, weshalb, Mademoiselle?“

„Wie ich schon sagte, Valentin schrieb nicht häufig. Ich nehme an, er wird es uns erzählen, sobald er im Kreise der Familie angekommen ist.“

Morvan hob das Kinn und lächelte schmal. „Hoffen wir, dass er ankommt. Seht nur, ihr beide, wie schön das Rot der untergehenden Sonne über die Hügel des Montmartre fällt. Man könnte fast meinen, dass die Dächer brennen. Nicht das Schlechteste, was diesem Viertel passieren könnte.“

Eine halbe Stunde später hielt die Kutsche in der Rue Surcouf. Véronique war froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Mit jeder voranschreitenden Stunde war ihr bewusst geworden, wie wenig sie die Gegenwart von Hugo Morvan ertrug. Für die Zeitspanne eines Caféhausbesuchs oder einem Spaziergang über den Boulevard Saint Germain mochte sie erträglich sein, aber für die Dauer eines ganzen Tages war sie nicht auszuhalten.

Sie verabschiedete sich mit einer Umarmung von Juliette und einer der Etikette entsprechenden Zurückhaltung von Hugo Morvan.

„Ich begleite Sie noch bis zur Tür, Mademoiselle“, bot er sich an und stieg aus.

„Nicht nötig. Ich kenne den Weg.“

Sie ließ Morvan stehen und ging an ihm vorbei die Steinstufen zum Hauseingang hinauf. Bevor sie klingelte, wandte sie sich noch einmal um und sagte: „Ach, mein lieber Hugo, ich möchte Sie bitten, von einem möglichen Antrag um meine Hand Abstand zu nehmen. Ich bin sicher, dass ich auf Ihr Verständnis hoffen kann.“

Kaum dass Mimi die Tür geöffnet hatte, schob sie sich rasch an dem Hausmädchen vorbei in den Vorraum hinein, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Mimi hob beide Augenbrauen, beugte sich ein Stück vor und sah zur Straße, wo die Kutsche sich gerade in Bewegung setzte. Dann schloss sie die Tür.

Véronique hatte sich auf dem mit rotem Samt überzogenen Sofa im Eingangsbereich niedergelassen, lehnte mit dem Rücken am Polster und streckte auf fast schon vulgäre, ganz sicher aber undamenhafte Weise die Beine breit von sich. Sie schob den Rock hoch bis zu den Oberschenkeln.

„Mademoiselle, wenn Ihre Eltern das sehen.“

„Sie sehen es aber nicht“, sagte Véronique. „Ich muss am ganzen Körper atmen können. Entspann dich, Mimi, ich bitte dich. Wenigstens du, wenn ich es schon nicht kann.“

„War es kein schöner Tag?“

„Grauenvoll.“ Véronique hob die Hände und tat so, als müsste sie ein Untier abwehren, das sie angesprungen hatte.

„So schlimm?“

„Schlimmer.“

Obwohl, ganz so stimmte es ja auch nicht. Sie musste jetzt noch amüsiert lächeln, wenn sie an den Maler dachte und seinen unverblümten Vorschlag, sie zu malen. Nackt natürlich, wie auch sonst?

„Na, ich weiß nicht, Mademoiselle Véronique. Ihr Gesicht verrät mir etwas anderes.“

„Reines Verzweiflungslächeln, liebste Mimi“, sagte Véronique rasch. „Komm, hilf mir beim Umkleiden, dann erzähle ich dir alles.“

Fast alles. Manches eignete sich vorsichtshalber besser zum Weglassen. Das begierige Aufflackern in Mimis Augen allerdings verriet Véronique, dass ihre Wangen ein klein wenig gerötet waren und es schwer werden würde, sich beim Erzählen auf den uncharmanten Morvan zu beschränken. Sie sprang federnd vom Sofa und ging voraus zur Treppe. Über die Schulter fragte sie:

„Ist mein Bruder angekommen? Ich kann es kaum erwarten, Valentin in meine Arme zu schließen.“

Mimi antwortete nicht. Véronique blieb stehen und drehte sich um. Mimi hielt den Kopf gesenkt und wich ihrem Blick aus.

„Was ist los, Mimi? Ist etwas geschehen? Ist Valentin nicht hier?“

Mimis Hände strichen nervös über die weiße Schürze, die sie trug. „D-doch, Mademoiselle. Ihr Bruder ist, wie er letzte Woche hat ausrichten lassen, am Nachmittag angekommen.“

„Aber das ist doch wundervoll. Warum solch ein Gesicht?“ Véronique schlug eine Hand vor die Brust. „Ist ihm etwas zugestoßen? Ist er etwa nicht unversehrt? Man hat ja doch manchmal etwas über die Kanalarbeiten hören müssen.“

„Körperlich unversehrt ist er schon.“

„Aber?“

„Ach, Mademoiselle, sehen Sie bitte selbst. Monsieur Valentin ist oben in seinem alten Zimmer. Er hat Ihre Eltern nicht zu sich gelassen. Er sagte, er wolle allein sein. Und das, wo er doch gerade erst gekommen ist. Ihre Mutter ist ganz verwirrt und Ihr Vater sitzt in seinem Arbeitszimmer und kocht vor Wut. Ich bin auch ganz bestürzt, Mademoiselle. Das ist nicht der Valentin, den wir vor zwei Jahren weggehen gesehen haben.“

Das waren beängstigende Worte. Véronique spürte ein Brennen in der Brust, das sich bis zu den Armen hin ausbreitete.

„In seinem Zimmer ist er, sagst du?“

Mimi nickte. Unablässig wickelten sich ihre Finger in der Schürze ein und wieder hinaus, knickten sie und fuhren danach wieder glättend darüber. „Er möchte nicht gestört werden, hat er gesagt.“ Und leiser fügte sie hinzu: „Wir alle machen ihn krank. Das waren seine Worte.“

„Das soll er mir selbst sagen.“

Véronique drehte sich um und lief auf die Treppe zu, raffte den langen Rock und nahm Stufe für Stufe mit hastigen Schritten. Sie eilte auf das Zimmer ihres Bruders zu und besann sich im letzten Augenblick darauf, wenigstens den Anschein der Höflichkeit zu wahren, und klopfte an die Tür.

Keine Reaktion aus dem Zimmer.

„Valentin? Ich bin es, Vero.“

Keine Antwort.

Sie legte ihren Kopf an das Türblatt und lauschte. Außer dem Pochen ihres eigenen Herzens konnte sie nichts vernehmen. Kein Geräusch, keine Schritte deuteten darauf hin, dass sich jemand in dem Zimmer aufhielt. Es gehörte sich nicht, aber sie musste wissen, wovon Mimi gesprochen hat.

„Ich komme herein“, rief sie und wunderte sich, weshalb sie lauter sprach, schließlich war die Entfernung nicht größer als zuvor. Die Ungewissheit befeuerte ihre Angst, und wenn sie Angst hatte, dann flüsterte sie entweder oder sprach besonders laut, um sich selbst Mut zu machen.

Spätestens bei dieser Ankündigung hatte sie erwartet, die Stimme ihres Bruders zu hören, aber immer noch drang kein Lebenszeichen aus dem Zimmer heraus.

Die Tür war nicht abgeschlossen. Sie drehte den Knauf und schob sie langsam auf. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass das Zimmer nur im gedämpften Licht eines halb heruntergebrannten Kerzenstumpens lag, der auf der Kommode zwischen dem Bett und einem Polstersessel stand.

Véronique blieb in der Tür stehen und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann trat sie ein.

„Schließ die Tür.“

Véronique erschrak. Das war Valentins Stimme, aber sie konnte ihn nicht sehen. Mit der rechten Hand schob sie die Tür ins Schloss und fühlte sich augenblicklich gefangen, so absurd dieser Gedanke auch sein mochte. Immerhin befand sie sich in einem Zimmer im Haus ihrer Eltern. Und doch vermittelte ihr die Dunkelheit, die sie umschloss und nur durch das schwache Flackern der Kerze durchbrochen war, das beklemmende Gefühl, ausgeliefert zu sein.

Sie setzte an, etwas zu sagen. Ihre Stimme wollte ihr nicht gleich gehorchen. Sie räusperte sich, und im zweiten Anlauf gelang es ihr, den Namen des Bruders zu auszusprechen.

„Valentin?“

Keine Antwort.

„Mimi sagte mir, dass du hier oben bist.“

Véronique lauschte. Sie konnte ein schwaches Rasseln hören, das beinahe wie das Atmen eines alten Mannes klang.

„So, hat sie das?“

Véronique zuckte zusammen. Wie seltsam klang diese Stimme? Knarrend wie ein loses Brett im Boden. Ohne die Wärme, die doch Valentins Stimme immer ausgezeichnet hatte. Ob er sich freute oder ärgerte, es war immer Schwung in ihr gewesen. Aber das hier, das war eine Stimme, aus der man die Farbe herausgewaschen hatte.

Das flackernde Licht der Kerzen warf den Schatten eines ausgestreckten Arms an die Wand, und Véronique begriff, dass ihr Bruder im Polstersessel hockte und von der ihr zugewandten hohen Rückenlehne verdeckt war.

„Ja, Valentin.“

„Sagte sie nicht auch, dass ich nicht gestört werden will?“

„Doch, das sagte sie auch. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass du nach so langer Zeit nach Hause kommst und mich dann nicht sehen willst.“

„Du konntest es dir nicht vorstellen …“

Es war keine Frage, nicht mal ein Vorwurf, schlicht nur eine langsame Wiederholung ihrer Worte und dadurch um ein Vielfaches beängstigender.

Ihre Augen fanden sich nun besser im dunklen Raum zurecht. Véronique machte zwei, drei Schritte auf den Sessel zu. „Valentin, ich –“

„Bleib, wo du bist!“

Sie erstarrte augenblicklich. Mimi hatte recht. Das war nicht ihr Bruder, das konnte er nicht sein.

„Valentin, du machst mir Angst. Ich verstehe dich nicht. Wir alle haben uns so sehr auf deine Rückkehr gefreut, und nun versteckst du dich hier oben in deinem alten Zimmer, du brüskierst unsere Eltern, du bist grob zu Mimi und mir. Was ist geschehen, dass du dich so abweisend verhältst?“

Keine Antwort.

„Hast du Kummer, Valentin?“

„Kummer?“

Er kicherte. Es klang wie das Winseln eines verloren gegangenen Hundes. Ein Schauer rieselte Véroniques Rücken hinunter.

Der dunkle Raum hatte seine einschüchternde Wirkung auf sie verloren, was in der wiedergewonnenen festen Stimme zum Ausdruck kam. Sie hatte nicht vor, sich auf Distanz halten zu lassen, solange ihr nicht erklärt wurde, weshalb, zumal es ihr so unwahrscheinlich vorkam, dass die harten Worte wirklich aus Valentins Mund gekommen waren. Sie bewegte sich mit vorsichtigen Schritten auf den Sessel zu.

„Du schleichst dich an, große Schwester? Lass es bleiben. Du willst nicht näherkommen, glaube mir.“

Worte, zischelnd wie eine Schlange im Unterholz. Sein wechselhaftes Sprechen, mal ruhig und klar, mal bedrohlich und scharf, sorgte dafür, dass sich an Veros Unterarmen die feinen Härchen aufstellten. Doch die Furcht, vor dem, was sie zu sehen bekommen könnte, war nicht so ausgeprägt, wie der Wunsch nach Klarheit über das seltsame Verhalten des Bruders.

Wie immer, wenn ihr Herz vor Aufregung gegen die Brust trommelte, begann die feine Ader unterhalb ihrer Wangennarbe zu brennen, als wäre das Gesicht von Giftefeu gestreichelt worden. Sie wagte dennoch einen weiteren Versuch.

„Willst du dich mir nicht anvertrauen? Ich bin deine Schwester, ich habe dir schon häufig geholfen, erinnerst du dich?“

Es stimmte nicht ganz, was sie sagte. Es lag Jahre zurück, dass sie ihrem Bruder das letzte Mal geholfen hatte. Sie war wohl zwölf Jahre alt gewesen und er gerade zehn geworden. Da Valentin ein schmächtiges Kind gewesen war, hatte sie sich einmal für ihn auf der Wiese mit einem Gossenjungen geprügelt, der ihm seinen Holzdrachen wegnehmen wollte. Sie hatte den ungleichen Kampf verloren, sich ihr Kleidchen zerrissen und die Schuhe ruiniert, aber die Ehre der Familie verteidigt. Mit stolz erhobenem Kinn hatte sie zuhause davon erzählt, doch Mutter hatte sie nur nach der verlorenen Haarschleife gefragt und danach auf ihr Zimmer geschickt, wo sie warten sollte, bis man sie zum Essen rief. Sie wartete bis zum Abend des folgenden Tages, und als sie endlich nach unten durfte, da konnte sie kaum einen Bissen hinunterbekommen, weil ihr Mund vom vielen Weinen ausgetrocknet war. Weder Mutter noch Valentin hatten ihr etwas Tröstendes gesagt, und Vater, der scheinbar nicht bemerkt hatte, dass sie an den Mahlzeiten zuvor gar nicht teilgenommen hatte, hatte nur einen tadelnden Blick für sie übriggehabt, der so eindringlich war, dass sie sich kaum traute, den Kopf zu heben. Am großen Esstisch wurden keine Gefühle ausgebreitet.

Seltsam, dass Véronique sich ausgerechnet jetzt an diese alte Geschichte erinnerte.

Sie hatte den Sessel erreicht, brauchte nur die Hand ausstrecken, um die Hochlehne zu berühren. Langsam beugte sie sich vor. Ein säuerlicher Geruch stieg ihr in die Nase, der sie erschreckt zurückweichen ließ. Sie kannte das. Es war lange her, aber so etwas vergisst die Nase nicht. Kurz bevor Großmutter gestorben war, hatte sie ähnlich gerochen. Véronique achtete nicht auf den Reisekoffer, der am Boden lag, und als sie zurückwich, stolperte sie darüber. Rücklings kippte sie zu Boden und landete mit einem Aufschrei auf ihrem Po. Reaktionsschnell stützte sie sich mit beiden Händen ab, sodass sie sich nicht wehtat.

Valentin sprang hoch, stieß dabei den Sessel von sich, der knapp vor Véronique auf den Boden prallte. Sie konnte gerade noch die Beine anziehen, damit die Füße nicht gequetscht wurden.

„Ich habe dich gebeten, nicht näherzukommen!“

Valentin stand über ihr. Im flackernden Kerzenschein schien sein Körper eine konturenlose Masse zu sein, die sich bedrohlich über sie beugte. Erst als er sich aufrichtete, konnte Véronique sein Gesicht erkennen. Kantig, mit spitzen Wangenknochen und Augen, die in tiefen Höhlen zu verschwinden drohten. Das blonde Haar fiel ihm in glanzlosen Strähnen bis zu den Schultern herab. Er gab ein Bild zum Erbarmen ab. Das sollte Valentin sein? Ihr jüngerer Bruder, der voller Energie vor zwei Jahren das Elternhaus verlassen hatte? Bereit, mit seiner Jugend die Welt zu erobern? Was Véronique erblickte, war nichts als ein verzerrtes Abbild ihrer Erinnerung an ihn.

Er streckte seinen Arm nach ihr aus. Die Finger krallten nach ihr wie Dornenranken. Véronique rutschte auf dem Po zurück, bis die Zimmerwand sie stoppte. Fassungslos über den Anblick, den Valentin ihr bot, schüttelte sie den Kopf.

„Was ist geschehen? Was ist mit dir geschehen?“

Am späten Nachmittag verließen Jacques Dufaux, Delaby und Zabou Argenteuil und machten sich mit dem Zug auf den Rückweg nach Montmartre. Die Freunde scherzten und alberten ausgelassen und hatten es gar nicht so eilig, vor Einbruch der Dunkelheit in die vertraute Gegend zurückzukommen.

Jacques und Alban nahmen Zabou in ihre Mitte, weil sich das Mädchen entschlossen hatte, die Augen beim Laufen zu schließen, und schubsten sie von Schulter zu Schulter, um ihr die jeweiligen Richtungswechsel anzuzeigen. Das hatte natürlich zur Folge, dass sie weder flott noch sehr geradlinig zurückgingen. Auf einer Steinbrücke, die nahe des Bois de Boulogne über einen Bachlauf führte, öffnete Zabou wieder die Augen und überlegte, sich ins Wasser zu stürzen. Alban und Jacques besprachen Vor- und Nachteile eines solchen Sprungs.

Die Dämmerung brach herein, und mit ihr kam frische Abendluft. Zabou fröstelte. „Lass mich unter deine Jacke, Jacques“, bat sie.

„Oh ja, mich auch“, rief Alban und schüttelte sich in arger Übertreibung.

So zusammengerückt unter Jacques‘ weit geworfener Jacke gingen sie wie ein Wesen mit sechs Beinen und drei Köpfen die steilen Gassen hoch.

„Sie war hübsch, nicht wahr?“, sagte Zabou plötzlich.

Jacques stolperte. Woran nur hatte Zabou gemerkt, dass er die ganze Zeit über an seine Begegnung im Park dachte? „Wen meinst du?“

„Stell dich nicht dumm, mein Lieber. Du weißt genau, von wem ich rede. Diese feine Dame, mit der du dich im Park unterhalten hast.“

„Ein freundliches Wort schadet nicht“, sagte Jacques.

„Es müssen wohl tausend freundliche Worte gewesen sein, so heftig wie ich nun dein Herz an meine Rippen schlagen spüre, kaum dass ich nach ihr frage.“

„Ich bin außer Atem, da schlägt ein Herz schon mal schneller.“

Alban lachte schallend auf. Er schlüpfte unter der Jacke hervor und setzte sich zwei Schritte seitlich ab.

„Jacques, mein Freund und Trinkgefährte, mir ist auch nicht verborgen geblieben, dass du dich nicht lösen konntest von diesem zarten Geschöpf.“

„Ich schlug ihr vor, sie zu malen. Das war alles.“

„Und? Sagte sie zu?“ Zabou schlüpfte auf der anderen Seite seiner Jacke hervor.

Das fragte sich Jacques selbst. Hatte sie nun abgelehnt oder es offengelassen? So eindeutig hatte sie sich gar nicht entschieden. Auf jeden Fall hatten ihre funkelnden Augen etwas anderes gesagt als ihr Mund.

Sie bogen in die Rue de Victor-Massé ein. Vor dem Le Chat Noir hatte sich eine laute Menschenmenge versammelt, die wild gestikulierte und in helle Aufregung versetzt war.

„Was ist denn da los?“, wunderte sich Zabou. „He, Salis, warum so aufgeregt?“

Rodolphe Salis, der Chef und Betreiber des Cabarets Chat Noir, stand vor dem Eingang seines Lokals und diskutierte eifrig mit den Männern und Frauen, die sich auf der Straße versammelt hatten. Unter den Gastwirten, Kellnern, Arbeitern und Wäscherinnen erkannte Jacques auch einige der Straßenmädchen und ein paar Kleinkriminelle, die sonst nur nachts anzutreffen waren. Salis hatte seinen Namen gehört und reckte den Hals. Als er Jacques und die anderen beiden entdeckte, winkte er sie mit einer ausholenden Armbewegung heran. Er wischte sich mit einem Tuch über die hohe Stirn, flüsterte einem seiner Mädchen, die bei ihm servierten, etwas ins Ohr, dann schob er Jacques, Zabou und Alban an der aufgebrachten Menge vorbei ins Lokal und schloss die Tür hinter ihnen. Die durcheinanderschreienden Stimmen drangen gedämpft in das Lokal.

Sie setzten sich an einen der vorderen Tische. Salis ließ eine Karaffe Wein und vier Gläser bringen.

„Ihr wisst es noch nicht?“ Salis leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich sofort neu ein.

„Was sollten wir wissen?“, stellte Jacques die Gegenfrage. „Die Leute da draußen gebärden sich ja, als hätte sich der Teufel persönlich zu einem Umtrunk eingeladen.“

„Für eine von uns ist das auch geschehen“, sagte Salis. Das zweite Glas wurde gekippt. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Es hat Isabelle Plevier erwischt.“

„Belle?“, fragte Zabou.

„Was meinst du damit, sie hat es erwischt?“ Jacques spürte eine Kälte sein Rückgrat hochkriechen, die ihn zwang, sich aufrecht zu setzen.

„Na, wie ich es sage.“ Salis fuchtelte erregt mit beiden Händen. „Erwischt hat es sie. Bei der heruntergebrannten Mühle hat man sie gefunden.“

Jacques packte Salis‘ rechten Arm und drückte ihn auf die Tischplatte, um ihn ruhigzustellen. „Was ist mit ihr geschehen? Sag endlich, was los ist.“

„Der Teufel ist los. Er hat Belle geschlachtet wie die arme Chou-Chou vor zwei Wochen.“

Ruckartig ließ Jacques von Salis‘ Arm ab.

Zabou presste die Hände vor den Mund und die Nase. „Mein Gott.“ Mit schreckensweit geöffneten Augen starrte sie über ihre Fingerspitzen erst Salis an, dann zu Jacques und Delaby, die bleich geworden auf ihren Stühlen hockten. Schließlich griffen sie alle gleichzeitig nach ihren Gläsern und tranken sie aus.

Salis schenkte nach. Seine Hand zitterte, und er goss ein wenig Wein neben das Glas.

„Jemand hat ihr den Bauch aufgeschnitten. Der Kerl muss völlig verrückt sein. Die arme Suzette hat sie heute Mittag gefunden. Das arme Ding ist völlig verstört. Sie ist schreiend die Gasse heruntergerannt. Zwei Mann waren nötig, um sie einzufangen, sonst würde sie immer noch laufen. Zuerst haben wir nicht begriffen, was sie stammelte. Ich habe sogar erst gedacht, die grüne Fee hat sie jetzt endgültig zu sich geholt, aber dann ist einer von uns zur Mühle gelaufen. Als er zurückkam und sich an der Ecke übergab, da erst haben wir alle langsam begriffen, was Suzette versucht hat, uns mitzuteilen.“

Alban trank hastig aus. Er wartete nicht darauf, dass Salis nachschenkte, sondern winkte der Bedienung, sie solle eine neue Flasche bringen.

„Es muss in den frühen Morgenstunden passiert sein“, sagte Salis. „Bis zwei Uhr ist Belle noch hier bei uns gewesen, dann ist sie gegangen. Wahrscheinlich wollte sie sich noch ein paar Sou auf die Schnelle verdienen. Da muss sie ihrem Mörder begegnet sein.“

Zabou griff nach Jacques‘ Unterarm. „In den frühen Morgenstunden?“

„Was sagt die Polizei?“, fragte Jacques. „Gibt es schon Hinweise, wer diese schreckliche Tat begangen hat?“

Salis winkte mit einer weit ausholenden Armbewegung ab. „Ach, wo denkst du hin? Unsere beiden Polizisten hier auf der Butte sind die Ersten, wenn es darum geht, die Tresen zu stürmen und sich zur Dämmerstunde im Hinterhof eines guinguettes einen blasen zu lassen. Aber wenn sie ihren Aufgaben nachkommen sollen, dann siehst du keine Schwanzspitze von ihnen. Weder bei einer Messerstecherei, noch bei einem kleinen Diebstahl. Und bei so einer heißen Sache wie der jetzt erst recht nicht. Die beiden haben sich verkrochen. Offiziell haben sie gesagt, sie würden Bericht bei der Polizeipräfektur erstatten, aber wir alle wissen doch, was das heißt.“

Jacques nickte. „Das heißt, dass sich niemand darum kümmern wird. Für Paris ist die Butte doch nichts als ein Schmelztiegel für kriminelle Subjekte und alle anderen Sorten von Menschen, die ihr Dasein im wahrsten Sinne des Wortes am Rande fristen.“

„Stimmt ja auch“, meinte Alban. „Wer hier lebt, ist die Kruste des Brotes.“

„Aber zum abendlichen Vergnügen kommen die feinen Herrschaften sehr gerne hierher.“

„Seien wir froh. So können wir sie beschimpfen und bekommen auch noch Geld dafür.“

Zabous Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Manche von uns bekommen das Geld auch, damit sie sich von ihnen beschimpfen und beschmutzen lassen können, vergiss das nicht.“

„Wie könnte ich“, seufzte Alban. „So manch nettes Mädchen konnte ich nicht in seiner Bettstatt besuchen, weil es gerade feinere Kundschaft verpflegte.“

„Können wir mal beim Thema bleiben“, sagte Jacques. „Oder wollt ihr euch lieber in eurem Leid panieren? Von eurem Trübsinn sieht man nachts im Moulin de la Galette nicht mehr viel, meine Freunde. Wir sollten uns lieber Gedanken machen, was zu tun ist, wenn die Polizei uns im Stich lässt. Und das wird sie. Oder habt ihr in den vergangenen Jahren einmal erlebt, dass sie wegen eines Toten hoch zum Montmartre gekommen sind? Ich kann mich nicht erinnern.“

„Weil so ein kleiner Raubmord zwischendurch einfach zum guten Ton auf der Butte gehört, deswegen nicht.“ Alban hob sein Glas und prostete allen zu.

„Das ist kein Raubmord mehr“, sagte Jacques. „Das ist die zweite Tote innerhalb kurzer Zeit, die aufgeschlitzt wurde.“

Alban ließ das Glas sinken. „Du verdirbst mir wirklich den Geschmack am Wein.“

Rodolphe Salis klopfte mit beiden Händen auf den Tisch und erhob sich. „Jacques hat recht. Was mit Chou-Chou und Belle geschehen ist, geht über unsere Gesellschaft am Montmartre weit hinaus. Sicher, hier gibt’s Gesindel, und das ist der Grund, weshalb die Polizei uns gerne uns selbst überlässt. Bisher haben wir doch auch alles regeln können. Aber das jetzt? Das ist – das –“

Er schüttelte fassungslos den Kopf, als wäre ihm jetzt erst klar geworden, worüber sie sprachen.

„Das ist der Teufel“, ergänzte Zabou mit leiser Stimme.

Die Männer sahen das Mädchen an. Keiner von ihnen hatte eine andere Bezeichnung für den Mörder, die treffender war.

Der Teufel war auf die Butte gekommen, und sie alle fürchteten, dass es ihm hier oben ganz toll gefiel.

Alle Lust sucht Ewigkeit

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