Читать книгу Ich seh den Wald vor Bäumen nicht - Wolf Stein - Страница 6
Das Bäumepflanzen
ОглавлениеEine ebene Fläche, glatt und gut gepflegt wie ein Fußballfeld, mit butterweicher, fast sandiger Muttererde, in die man sanft seinen Spaten sticht, von leichter Hand ein kleines Loch freischaufelt, in das der niedliche Baumnachwuchs dann nahezu von selbst und ohne Widerstand hineingleitet ...
Wer denkt, Tree Planting in British Columbia sehe so aus, sollte ganz schnell zurück zu Mama. Dieser Job ist kein Zuckerschlecken. Im Gegenteil, es ist einer der härtesten der Welt. Man kann sehr gutes Geld damit verdienen, doch dieses Geld hat seinen Preis: körperliches und mentales Durchhaltevermögen. Kanada ist der größte Holzexporteur der Welt. Um den globalen Bedarf an Papier und Baumaterial zu stillen, werden dort pro Jahr fast 1 Million Hektar Wald dem Erdboden gleich gemacht. Seit 1996 besteht für die kanadische Holzindustrie die Verpflichtung, für jeden gefällten Baum einen neuen zu pflanzen. Das macht allein für British Columbia jährlich zirka 200 Millionen Setzlinge. Die müssen die Baumpflanzertrupps im Akkord in die Erde bringen. Eine Studie der Universität Vancouver besagt, dass Tree Planting zum Anstrengendsten zählt, was ein Mensch überhaupt tun kann. Schwer bepackt rennt man jeden Tag kilometerweit bergauf und bergab. Die Belastung des Körpers entspricht dabei fast der eines Marathonlaufs. Ökologisch betrachtet sind die Strapazen der Wiederaufforstung nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Zwar kann dadurch der Baumbestand insgesamt stabilisiert werden, dem Verlust der Artenvielfalt in einem Jahrtausende alten Ökosystem hat sie jedoch wenig entgegenzusetzen. Denn trotz verschiedener Schutzabkommen sind große Teile der kanadischen Wälder, der letzten zusammenhängenden Regenwälder außerhalb der Tropen, zur Abholzung freigegeben. Wer mit dem Job als Tree Planter die Welt retten will, der scheitert. So manches Mal hält einen nur der Gedanke ans Geld auf den Beinen. Entweder liebt man diese Arbeit oder man hasst sie. Als ich zum ersten Mal meinen künftigen Arbeitsplatz betrachten durfte, glaubte ich noch an einen schlechten Scherz.
Früh um sechs. Ich saß mit meinen Kollegen im Transporter und sah nachdenklich aus dem Fenster. Es war ein schöner Morgen, sehr kalt, aber gerade deswegen auch schön. Durch die Kälte bot sich mir ein Bild, so bezaubernd, wie ich es noch nie gesehen hatte. Die Sonne schob sich über die Berge, aus deren Wäldern und Tälern sich weißer Morgennebel erhob. Auf den davor ruhenden Wiesen und Feldern hatten die Bauern bereits ihre Bewässerungsanlagen in Betrieb. Durch die zerstäubten Fontänen des Wassers schossen die ersten Sonnenstrahlen. Unzählige feine regenbogenfarbene Lichtschleier wurden dadurch zum Leben erweckt. Die Grenzen der Felder markierten Laubbäume, die zu dieser Jahreszeit noch keine Blätter trugen. Stattdessen glitzerten sie wie Diamanten. Die Kälte und der feine Wasserstaub der Sprinkler hatten Zweige und Äste mit einer funkelnden Haut aus Eis überzogen. Manche waren komplett vereist, manche nur zur Hälfte. Ein surreal schönes und fragiles Bild. Ich glaubte, zu träumen. Doch das glaubte ich auch, als wir am Block ankamen und ich zum ersten Mal sah, auf was ich mich da eingelassen hatte. Nachdem wir die Hauptstraße verlassen hatten und gute 45 Minuten über abgelegene Waldpisten geholpert waren, hielten wir inmitten einer gigantischen gerodeten Schneise. Wir stiegen aus dem Wagen und bildeten einen Kreis. Audrey erklärte, dass dies unser erster Einsatzort sei.
»Meine Güte, die Holzfäller haben ja hier alles liegen lassen! Wann räumen die denn die ganzen Baumstämme und das Gerümpel weg, damit wir anfangen können? Das sieht ja aus wie nach einem Bombenangriff!«
So wie mir geht es den meisten Frischlingen, wenn sie ungläubig vor dem stehen, was sehr stark an die Hinterlassenschaft einer Naturkatastrophe erinnert, sich aber schnell als genau das Gelände herausstellt, durch welches man sich von nun an Tag für Tag todesmutig kämpfen soll.
»Wie? Das räumt gar keiner weg? Das bleibt alles so liegen? Da bricht man sich doch die Beine!« sagte ich zu Audrey.
Ich übertrieb keineswegs. Vor uns lagen große Baumstämme, kleine Baumstämme, Äste, Zweige, übereinander, untereinander, nebeneinander, hinten, vorne, überall. Eben und glatt war hier rein gar nichts. Mal ging es bergauf, mal ging es bergab, mal steil, mal weniger steil. Da verlor man schon die Lust am Pflanzen, bevor man den ersten kleinen Baum überhaupt in der Hand hielt. Es ist schwer zu beschreiben, welche Bandbreite an unterschiedlichsten Terrains eine Pflanzsaison in Kanada zu bieten hat. So etwas muss man gesehen haben. Und selbst wenn man es gesehen hat, kann man es immer noch nicht glauben. Von sumpfigen Niederungen über extrem steile Hänge bis hin zu felsigen und knochenharten Böden - es ist so gut wie alles dabei. Je schwieriger der Waldboden zu bepflanzen ist, desto höher der Preis, den man pro Baum bekommt. Bei relativ leichten Böden bekamen wir 16 oder 17 Cent pro Baum, bei sehr steinigem Untergrund oder extremen Steigungen konnten schon mal 25 bis 30 Cent herausspringen. Doch es gab auch Stücke, die aufgrund der Masse des gerodeten und liegengelassenen Materials so schwierig zu bepflanzen waren, dass sie einen gehobenen Baumpreis verdient hätten, jedoch nur mit lumpigen 16 Cent vergütet wurden. Da fragten wir uns dann schon, welche Sichtpunkte der jeweiligen Bewertung zu Grunde lagen.
Eine alte Tree-Planter-Weisheit lautet: Es gibt keinen schlechten Untergrund, es gibt nur schlechte Preise.
Das sagt alles. Letzten Endes ist es reines Glück, für welches Stück man eingeteilt wird. Ein Block ist meistens so riesig, dass er sich über geologisch verschiedene Bodenabschnitte erstreckt. Bei der Festsetzung des Preises werden jedoch nur Teile des gesamten Gebietes kontrolliert. Werden diese als schwierig eingestuft, geschieht selbiges mit dem ganzen Block. Umgekehrt funktioniert es genauso. Wer der Meinung ist, sein Stück wäre unterbewertet und viel schwieriger zu bepflanzen, als es der angesetzte Baumpreis vermuten lässt, kann zum Vorarbeiter gehen und ihm die Situation schildern. Manchmal geschieht es dann tatsächlich und er wird 2 oder 3 Cent nach oben gesetzt. Bei tausend bis zweitausend Bäumen pro Tag macht das schon einen Unterschied.
Rock, einen der Baumpflanzer aus Matts Crew, überraschte die anstrengende Art des Pflanzens in British Columbia ebenso wie mich als Anfänger. Er war es gewohnt, in Quebec viel Geld als Tree Planter zu verdienen.
»In Quebec bekommen wir zwar nur 7 Cent pro Baum, doch dafür schaffe ich dort auch 3.000 Stück in wenigen Stunden. Denn dort ist alles eben und weggeräumt. Außerdem wird die Erde durch vorausfahrende Traktoren gelockert. Man rennt hinter den Maschinen her und braucht noch nicht einmal einen Spaten. Die Bäume werden einfach mit der Hand in den Boden gestopft und fertig. Das geht sauschnell. Aber an die Gegebenheiten hier muss ich mich erst gewöhnen. Ich schaffe überhaupt nichts und muss dazu noch aufpassen, dass ich mir nicht die Knochen breche.«
Quebec hieß also das gelobte Land, in dem die Wurzelballen der nächsten Baumgeneration sich fast von allein in die Erde pflanzten. Warum war ich nicht dort gelandet? Dies zu hinterfragen, brachte nichts. Hier, in der Gegend um Clearwater, fuhr jedenfalls kein Traktor vor uns her und lockerte die Erde auf. Hier ging es mit reiner Mannes- und Frauenkraft in abgeholzte Wälder, in verbrannte Wälder und in niedergeschredderte Wälder, deren Bäume den Großangriff des Borkenkäfers nicht überlebt hatten. Aufgrund der spitzen Baumsplitter, die das Schreddern hinterlassen hatte, mussten wir in diesen Gefilden zusätzlich Schutzbrillen tragen, um uns nicht im Pflanzwahn aus Versehen die Augen auszustechen. In den verbrannten Wäldern war es wiederum Pflicht, einen Schutzhelm aufzusetzen. Die verkohlten Stämme der verbrannten Bäume schwankten wie wacklige Spitzpfosten im Wind. Ich bezweifle zwar, dass der etwas störende Helm viel gebracht hätte, wäre so ein Stamm direkt auf meiner Rübe gelandet, aber Sicherheit geht vor. Unser Einsatz im verkohlten Wald war übrigens kein alltäglicher. Es handelte sich dabei um einen sogenannten Helikopterblock. Das heißt, das Pflanzgebiet lag so weit abseits der Fahrzeugrouten, dass es nur per Hubschrauber erreicht werden konnte. Normalerweise werden nicht nur die Bäume, sondern auch die Pflanzer auf den Block geflogen. Deshalb freute ich mich sehr an jenem Morgen. Wir fuhren über windige Pisten einen Hügel hinauf. Plötzlich konnten wir das typische Schmettern der Rotorblätter eines herannahenden Helikopters in der Ferne vernehmen. Er näherte sich schnell und landete auf einer kleinen Bergkuppe. Diese bildete gleichzeitig das Ende des befahrbaren Forstweges. Wir hielten neben dem Flugobjekt an und stiegen aus. Sofort ging es an die Arbeit. Die Kisten mit den Bäumen mussten in große Transportnetze verpackt werden. Mit Hilfe der altbewährten Menschenkette ging dies recht schnell. Ein zügiger Wind herrschte dort oben, der nicht vom Antrieb des Hubschraubers stammte.
Als es hieß: »Alle wieder ins Auto!«, dachte ich mir schon, dass aus dem Personenflug wohl nichts werden würde. So war es auch. Nur ein Vorarbeiter durfte mitfliegen. Wir hingegen fuhren einmal um den Berg herum bis zu einer mit roten Bändern versehenen Stelle, die den kürzesten Weg zum Block markierte. Den kürzesten Fußweg! Während die Bäume gemütlich am Transportseil durch die Luft schwangen, durfte unsereins mit Sack und Pack und Helm auf dem Kopf mehrere Kilometer durchs Unterholz stiefeln. Na toll! Schöner Helikopterblock! Das hatte sich gelohnt!
Nach dem anstrengenden Fußmarsch dauerte es eine ganze Weile, bis wir unsere Bäume hatten. Jedes Mal, wenn der Hubschrauber über unsere Köpfe flog, stieg die Hoffnung: «Jetzt sind bestimmt endlich wir an der Reihe.«
Doch falsch gedacht! Uns blieb nichts, als zu warten. Es gab vier Abladeplätze und mehrere eingeteilte Pflanzgruppen. Und ich stand mit meiner Gruppe offensichtlich am Ende der Welt, das zuletzt beliefert wurde.
Als sich dann schließlich doch die schwarze Silhouette des Hubschraubers mehr und mehr vom gleißenden Licht der darüberstehenden Sonne absetzte, war die Freude groß. Obwohl, durch das lange Warten hatten wir fast keine Lust mehr, zu arbeiten. Dazu hatten wir es uns bereits viel zu gemütlich gemacht. Aber um Gemütlichkeit geht es beim Bäumepflanzen leider nicht einmal im Traum. Deshalb schwangen wir unsere müden Knochen vom Waldboden hoch und legten los. Entladen, Bäume greifen und ab. Zu dieser Zeit wusste ich bereits ganz genau, wie man effizient pflanzt. Ich hatte meine eigene Technik und alle Bewegungsabläufe verinnerlicht. Doch auch bei mir galt zu Beginn der Pflanzsaison das Motto: Aller Anfang ist schwer.
Wie hatte ich mir das Pflanzen eigentlich vorgestellt, also die tatsächliche Praxis? Mit ein paar Bäumchen in den Wald ziehen und diese dann einfach dorthin pflanzen, wo ein bisschen Mutterboden hervorblitzt? Ehrlich gesagt, im Vorfeld hatte ich mir darüber gar keine Gedanken gemacht. Ich wollte mich überraschen lassen. Und überrascht wurde ich. Es war mir nicht bewusst, auf wie viele Feinheiten man zu achten hat, damit aus den Bäumen auch das wird, was der Arbeitgeber sich vorstellt. Wie sich herausstellte, war ich Mitglied einer sehr angesehenen Pflanztruppe, die ihren Job äußerst genau nahm und deshalb auch das volle Vertrauen der Brotgeber genoss. Die Jungs und Mädels, allen voran Audrey, hatten einen Ruf zu verlieren - einen guten. Audrey war es gewohnt, dass ihre Leute Qualität abliefern. Das galt für die alten Profis wie für die Rookies. Also durchliefen wir die harte Schule der Pflanzanfänger, paukten das Baumeinmaleins und erlernten die hohe Kunst des Tree Plantings.
»Technik! Auf die Technik kommt es an«, meinte Audrey, »nicht so sehr auf die Kraft. Auf die Pflanztechnik, die Effizienz der Bewegungen.«
Bevor wir uns jedoch effizient in einem flüssigen Bewegungsablauf von Punkt zu Punkt bewegen konnten, gab es noch ganz andere Details zu verinnerlichen. Doch am besten immer schön der Reihe nach.
Zur allgemeinen Ausrüstung eines Pflanzers gehören:
• alte Klamotten, bei denen es nichts ausmacht, wenn sie nach zwei Tagen kaputt sind
• dünne Arbeitshandschuhe, die ebenfalls einem hohen Verschleiß unterliegen
• Caulk Boots, das sind wasserdichte Spezialstiefel mit Keramik- oder Stahlspitzen unter der Sohle
• ein Pflanzspaten
• und ein gepolsterter Hüftgürtel mit drei großen Ledersäcken für die Bäume.
Dazu kommen noch mehrere Rollen blaues oder rotes Flagging Tape, sprich Markierungsband, und ein sogenanntes Plot Cord. Eine Uhr ist ebenfalls von Vorteil, damit man weiß, wann Feierabend ist, und nicht im Wald vergessen wird. Die Bäume befinden sich in Pappkartons. Ein Karton enthält bis zu 360 Bäume, die in 20er-, 15er- oder 10er-Bündel verpackt sind. Mit denen stopft man sich im wahrsten Sinne des Wortes die Taschen voll. Dann wird der zirka 25 Kilogramm schwere Hüftgürtel ruckartig nach oben gehievt und umgeschnallt. So fest es nur geht, damit ihn das Gewicht der Bäume nicht über den Allerwertesten zieht und alles in den Kniekehlen hängt. Einmal tief durchatmen, den Spaten schnappen und los. Aber halt! Etwas zu trinken und eine Extrarolle Flagging Tape nicht vergessen.
Die Einteilung des Blocks in meist quadratische Pflanzabschnitte ist relativ einfach und logisch. Man kommt auf dem Block an. Alle versammeln sich. Der Vorarbeiter erklärt, was wie wohin gepflanzt werden soll. Der erste Pflanzer bekommt seine Pappkisten mit genügend Baummaterial für den Tag und fängt an zu pflanzen, indem er mit den Bäumen zunächst eine gerade Linie zieht, die, dank des in kurzen Abständen an Ästen und Stöcken anzubringenden Markierungsbandes, für alle gut sichtbar sein sollte. Dies nennt man `Cutting a line´. Der zweite Pflanzer beginnt dann ein paar hundert Meter jenseits der gezogenen Linie mit seiner Arbeit und cuttet ebenfalls a line. Der Dritte zieht weiter entfernt auch eine Linie und immer so weiter. Erreicht man das Ende seines Stückes, sei es ein Bach, der Waldrand oder wiederum eine bereits markierte Linie, geht man weiter nach rechts beziehungsweise links, immer in Richtung des ersten Pflanzers. Trifft man dann auf dessen Markierungslinie, geht es wieder zurück in Richtung der eigenen gezogenen Linie. So stampft man immer hin und her zwischen den Linien und füllt das Stück langsam von hinten nach vorne mit Bäumen auf. Bis es voll ist, was je nach Größe schon mal mehrere Tage dauern kann. Wer sich noch das allererste Computertennisspiel mit den zwei weißen Balken ins Gedächtnis rufen kann, bekommt eine ungefähre Idee, wie es funktioniert. Man bewegt sich wie der Tennisball von einer Seite zur anderen. Nach jeweils ungefähr drei Schritten wird dabei ein Baum gepflanzt. Dies versucht man, wie schon erwähnt, mit Effizienz zu tun. Auf keinen Fall hinknien, das dauert zu lange. In der einen Hand hält man den Spaten, mit der anderen greift man nach hinten und zieht einen Baum aus der Tasche. Der Spaten wird mit gezielten Stößen zwei-, dreimal leicht schräg in die Erde gerammt, bis das Spatenblatt tief genug im Boden steckt. Jetzt wird der Spaten zum Körper gezogen, wodurch ein perfektes Loch für den kleinen Wurzelballen entstehen sollte. Dieser wird dann, von den Fingern umhüllt, in jenes Loch befördert, das durch eine geschickte Drehbewegung des Spatenblattes nahezu gleichzeitig wieder verschlossen wird. Während des gesamten Vorganges hält der erfahrene Pflanzer bereits Ausschau nach der nächsten guten Einpflanzmöglichkeit, um keine Zeit durch zielloses Suchen zu verlieren. Sobald das Loch versiegelt ist und der Baum perfekt steht, geht man drei zügige, vorzugsweise möglichst kraftsparende Schritte zum anvisierten Punkt, wobei die Pflanzhand schon wieder nach hinten in die Tasche greift und der Spaten zum Einschlag ausholt. Vorher reißt man jedoch noch schnell etwas Flagging Tape ab und schmeißt es auf die Erde, um den gerade gepflanzten Baum sichtbar zu markieren. Ansonsten ist später kaum auszumachen, wo schon gepflanzt wurde und wo nicht - denn im grünbraunen Tarnkleid des Waldbodens verschwindet so ein niedliches Baumkind ziemlich leicht aus der optischen Wahrnehmung. So weit, so gut. Während des gesamten Vorgangs sollten alle Bewegungen fließen wie Wasser im Fluss - herum um alle Widerstände. Und das zehn Stunden am Tag. So sieht der Idealfall aus. Doch bei Anfängern kommt von jetzt auf gleich kein fließender Bewegungsablauf zustande. Schon allein deshalb nicht, weil man nach jedem gepflanzten Baum hilflos und umhersuchend dasteht und nicht weiß, wo man das nächste Exemplar hinpflanzen soll. Hat man endlich eine Stelle gefunden, überlegt man trotzdem noch hin und her, ob die auch wirklich gut ist für den Zögling. Denn nicht jeder Baum kann überall hin. Und die Abstände zwischen ihnen müssen ebenfalls stimmen. Es gab vier verschiedene Baumsorten, die ein neues Zuhause suchten. Wir pflanzten Tannen, Kiefern, Fichten und Zedern. Und hier wurde es kompliziert. Jeder Block sollte unterschiedlich bepflanzt werden. Mal mit 50% Kiefern, 30% Tannen, 15% Fichten und 5% Zedern, mal genau umgekehrt und ein anderes Mal wieder völlig anders. Kiefern durften so gut wie überall hin, Tannen dagegen nur auf Hügel oder sonnige Lagen, Fichten und Zedern vermehrt in feuchte Niederungen und an schattige Plätze. Wir sollten uns folglich effizient bewegen, Kopfrechnen können und gleichzeitig die Gegebenheiten des Geländes analysieren. Ich war davon ausgegangen, man schnappt sich die Bäume, stellt das Gehirn ab und marschiert gedankenlos vor sich hin. Weit gefehlt! Und das war noch einmal nicht alles. Die Wurzelballen der Bäume sollten jeweils 3 cm tief eingepflanzt werden, kerzengerade natürlich und nicht etwa krumm wie ein J, bloß weil das Loch nicht tief genug oder der Boden zu steinig war. Hier hieß es fünf Bäume pro Plot, dort vier, da drei pro Plot und so weiter und so fort. Ein Plot bezeichnet einen Kreis mit einem Durchmesser von 6 Metern. Das bedeutet somit, bei einem 5er Plot dürfen immer nur fünf Bäume in diesem Kreis stehen. Ansonsten hat man entweder zu dicht zusammen oder zu weit auseinander gepflanzt. Um dies zu überprüfen, nimmt man sein Plot Cord, eine 3 Meter lange Leine mit Schlaufe, sticht den Spaten irgendwo hin, legt ihm die Schlaufe um, geht einmal mit gespannter Leine ringsumher und zählt dabei die Anzahl der Bäume innerhalb des gelaufenen Kreises.
Klingt alles kompliziert? War es auch, zumindest am Anfang. Doch irgendwann ging durch die ständigen Wiederholungen jedes Detail, jede Bewegung in Fleisch und Blut über.
Kontrolliert wurde unsere Arbeit durch den Checker. Der checkte unregelmäßig, ob die Qualität der Pflanzung stimmte. War dies nicht der Fall, konnte es passieren, dass man alles noch mal neu beackern musste. Dies blieb mir zum Glück erspart, obwohl auch hier und da mal gemeckert wurde, ich solle aufpassen und die Bäume ja tief genug einpflanzen. Hatte ich mich zu Beginn der Saison noch über 500 gepflanzte Bäume pro Tag gefreut, steigerte ich mein Pensum zum Ende hin bis auf 1.300 Bäume täglich. Das war für die erste Saison eine gute Leistung und brachte genügend Geld ein. Ich konnte zufrieden sein. Jeder war selbst für die Zählung der pro Schicht gepflanzten Bäume verantwortlich. Immer wenn ich neuen Nachschub aus meinen Kartons nahm und in die Pflanztaschen packte, schrieb ich in mein Notizbuch, wie viele es waren. Am Ende des Arbeitstages wurde dann zusammengerechnet. So machten es alle. Ehrlichkeit war hierbei Ehrensache. Schrieb man versehentlich mal ein Bündel mehr auf, als es am Ende wirklich waren, stellte das kein Verbrechen dar.
Eines Morgens, kurz vor der Abfahrt in den Wald, rief uns Steve zusammen. Er erzählte uns, dass gestern unter einem Haufen verbrannter Holzstämme, mehrere verkohlte Kisten aus dem Vorjahr gefunden worden waren. Inhalt: 3.000 halbverbrannte Baumleichen, die eigentlich hätten gepflanzt werden sollen. Da wollte wohl jemand ein paar Bäume mehr auf seinen Zettel schreiben, ohne viel dafür zu tun.
»Ein Glück«, dachte ich, »du warst im letzten Jahr noch nicht hier. Du bist unschuldig.«
Aber auch den anderen traute ich diese Schandtat nicht zu. Dafür waren alle viel zu engagiert und zu ehrlich. Es stellte sich glücklicherweise heraus, dass weder Matts Crew noch Audreys etwas damit zu tun hatten, da sie während der gesamten Saison nicht einmal in der Nähe des verdächtigen Blocks waren. Die weiße Weste blieb somit rein und fleckenlos. Das Team einer anderen Firma wurde stattdessen schuldig gesprochen. Tja, wenn man schon solch einen Mist baut, muss man ihn wenigsten richtig bauen, so, dass keiner was mitbekommt.
Wer jetzt denkt, 2.000 Bäume am Tag zu pflanzen, wäre unter den hier gegebenen Bedingungen ein Ding der Unmöglichkeit, der irrt. Das erledigen die `Highballer´. Während ich mit meinen 1.300 Bäumen eher als Durchschnitt, also als stinknormaler `Baller´ durchgehe, schafft so ein `Highballer´ meist das Doppelte - im Gegensatz zum gemeinen `Lowballer´, der lieber zu Hause geblieben wäre, um seine Zimmerpflanzen zu pflegen. Und dann wären da noch die `Ultrahighballer´. Das sind die völlig Verrückten, die selbst die `Highballer´ um Längen schlagen. `Ultrahighballer´ sind absolut schmerzfrei, lassen ihre ganze Energie im Wald, haben alle Tricks und Kniffe raus und ihre Pflanztechnik bis in den kleinen Zeh optimiert. Zudem ist meist auch ihre Ausrüstung entsprechend aufgemotzt oder aufgepimpt, wie es heutzutage so schön heißt. Manche werden zu richtigen Erfindern und basteln in jeder freien Minute am Equipment. Der billige Plastikverschluss des Hüftgürtels wird zum Beispiel gegen das Metallmodell eines Autogurtes ausgetauscht. Oder man befestigt eine zusätzliche Ledertasche. So ist man in der Lage, noch mehr Bäume auf einmal einzupacken, und kann ohne ständiges Nachfüllen länger als alle anderen im Feld bleiben. Es gibt unbegrenzte Möglichkeiten. Ein ganz eifriger Kollege aus Matts Crew stopfte in seine vier Ledertaschen sogar jeweils einen leichten Aluminiummülleimer. Dadurch waren sie immer kreisrund geöffnet, steif und fassten noch mehr Bäume, die sich umso leichter greifen ließen. `Highballer´ und `Ultrahighballer´ rennen so schon mal mit 600 und mehr Bäumen auf einmal los. Sie rammen sie wie im Wahn ins Erdreich und laden sofort die nächsten 600 Bäume nach. Ein weiterer Trick, um Kraft und Energie zu sparen, ist es, das Blatt des Spatens schmaler zu sägen. Dadurch verliert der Spaten leicht an Gewicht. Das macht bei den unzähligen Wiederholungen der gleichen Bewegung während einer Schicht einiges aus.
Bei mir verlor nicht der Spaten an Gewicht, sondern ich. Ganze 7 Kilo innerhalb von drei Wochen. Viele würden sich darüber freuen, aber nicht ich. Denn 7 Kilo sind eine Menge, bedenkt man, dass ich schon nicht übermäßig Körperfett gebunkert habe. Der Verlust begründete sich schlicht und ergreifend darin, dass ich mir gar nicht so viele Kalorien anfressen konnte, wie durch den täglichen Waldhindernislauf verbrannt wurden.
Und ich kann essen!