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DIE FREUNDE

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Doch gehen wir erst mal ein paar Jahre zurück in das Dorf meiner Jugendzeit. Unter meinen Freunden befanden sich einige „Weihwasserfrösche“, wenn man so sagen kann, wohnten wir doch in Bayern. Hier war jeder mehr oder weniger katholisch, außer den wenigen Protestanten. Aber diese gingen auch in die Kirche, ein eher schlichter Versammlungsraum am anderen Ende des Dorfes gelegen. Und diese hatten auch ihren eigenen Friedhof, im Nachbarort gelegen, denn der katholische war ihnen nicht erlaubt. Ging ein Katholischer in seiner Verzweiflung mal in die Iller oder nahm den Strick, oder starb ein Nicht-Gläubiger, so wurde dieser auf dem evangelischen Friedhof beigesetzt, ebenso diejenigen, die eingeäschert wurden. Dort war man toleranter, was den letzten Ruheplatz auf Erden betraf, er war sogar für Heiden geöffnet! Sicher war man hier auch großzügiger, was den Zugang zum Himmel betraf… Die Verbrennung der Verstorbenen hatte die katholische Kirche streng verboten, da es in ihren Augen eine Leugnung der Auferstehung von den Toten mit Fleisch und Blut war.

Wenn wir Jugendlichen uns trafen waren meistens Katholische und Evangelische gemischt. Standen irgendwo ein paar zusammen, so gesellte man sich dazu oder ging zu einem anderen Platz oder Wohnblock, wo man sicher war, Gleichaltrige zu treffen oder klingelte einen Freund heraus. Es gab immer etwas zu besprechen oder einfach nur rumzualbern. Wen von uns jungen Leuten kümmerte schon die Religion? Zumindest hängte man sie nicht an die große Glocke. Wir hatten andere Themen: Mädchen, Mode, Autos, Radtouren, Schwarzfischen, Unsinn machen, Schlagersänger… Eigentlich waren hauptsächlich Buben beieinander. Zumindest abends. Mit den Mädchen hatten wir es noch nicht so. Irgendwie trauten wir uns nicht ran, waren zu schüchtern. Uns nervte, wenn sie zusammenstanden, auf uns zeigten und untereinander gickerten wie Hühner. Wir streckten ihnen die Zunge raus oder drehten ihnen den Rücken zu.

Anfangs hatten mein Bruder und ich es schwer, die anderen zu verstehen, da wir von Norddeutschland kamen und fast alle hier Dialekt sprachen. Natürlich verarschte man uns deshalb und nannte uns die ‚Preußen‘ oder gar die ‚Saupreußen‘. Nach einer Weile störte uns das nicht mehr und sie nannten uns mit dem Vornamen oder dem Familiennamen mit der Vorsilbe ‚klein‘ oder ‚groß‘ davor. Was uns aber sehr überraschte, fast störte, waren die Flüche, die jeder zur Bekräftigung seiner Worte gebrauchte. Wir im Norden benutzten auch Kraftausdrücke. „Scheiße“ und „verdammt, beschissen, verflixt, saudumm, Mist, Kacke, Arschloch…“ Aber in Bayern glichen die Flüche eher einer religiösen Litanei. Die Evangelischen waren darin etwas zurückhaltender. Vielleicht, dass ihr Pastor mehr Gewicht auf das zweite Gebot legte, „Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren“, während die katholischen Pfarrer sich im sechsten Gebot festgebissen zu haben schienen: „Du sollst nichts Unkeusches tun, denken oder reden“. Manchmal versuchte man sich im Fluchen gegenseitig zu übertrumpfen. Einmal organisierten wir einen Wettbewerb im Fluchen, wo natürlich Peter, ein Katholischer, gewann mit dem längsten je ausgesprochenen Fluch: „Himmelherrgottsakramentkreuzkruzifixhallelujascheisshureglump verrecktsjamileckstamarschdudamscherjahrgangdusaudummesblödessäckeldu!“

Aber in wieweit war ich überhaupt katholisch? Da mein Bruder und ich nicht im Dorf geboren waren und auch nicht hier die Volksschule besucht hatten, besaßen wir keinen festen Platz in den Kirchenbänken. Denn anfangs schickten uns die Eltern sonntags in die Kirche. „Was sollen die Leute denken!“, war ihre Begründung, „und außerdem haben wir ja ein Lebensmittelgeschäft! Da sollten wir uns schon etwas nach den Bräuchen richten…“ Sollten wir zwei quasi als Werbung in die Kirche gehen? „Warum geht ihr nicht, warum nur wir?“, meinten wir zwei, uns einmal einig, was sonst selten der Fall war, etwas aufgebracht. „Wir Erwachsenen brauchen das nicht! Und außerdem kann euch das nicht schaden!“, wurden wir zurechtgewiesen.

Da wir keine festen Plätze hatten, stiegen wir also auf die Empore, eine Art Balkon, über dem sich auf einem noch höheren Niveau die Orgel befand und der Platz des Kirchenchores, der sonntags beim Hochamt in Aktion trat. Das Innere der Kirche, nachts nur von dem winzigen Flämmchen des ewigen Lichtes erhellt, hatten wir mit Freunden, von denen einige evangelisch waren, schon mehr oder weniger heimlich ausgekundschaftet, da die Kirche ja nur nachts abgeschlossen wurde, und das auch nicht immer. Diese seit Luthers Reformation (31. Oktober 1517, mein Namenstag!) vom wahren katholischen Glauben Abgefallenen waren Kinder von Kriegs-Flüchtlingen oder später zugezogenen „Preußen“, also Norddeutschen, die in unserer Nachbarschaft in einer neugebauten Siedlung wohnten.

Ich hatte einen sehr guten Freund, Manfred, der katholisch war und mir des Öfteren vorschlug, mit in die Sonntagsmesse zu gehen. Er war ein guter Kumpel, etwas über ein Jahr älter als ich. Eigentlich hatte ich seine Schwester vor ihm kennengelernt, die Christa, die öfters das Mädchen unserer Nachbarn besuchte, und mit ihr spielte. Dadurch kamen wir zusammen und ich spielte mit. Mich wunderte, dass meine Eltern nichts dagegen hatten, wie es sonst üblich war. Wahrscheinlich hatten sie von unserer Freundschaft gar nichts mitbekommen, da sie die ersten Jahre nach unserem Umzug sehr mit ihrem Lebensmittelladen und Geldverdienen beschäftig waren. Christa hatte ein kleines Schönheitsmal auf ihrer linken Wange, was meinen Blick automatisch auf sich zog. Wir waren noch Kinder, und sie war vorne noch so flach wie ich unterm Bauch und unsere Zärtlichkeiten und Spiele waren die von Kindern.

Ihre große Schwester hingegen, die ich bald kennenlernen sollte, die Lindis, etwa 5 Jahre älter, hatte einen enormen Vorbau, war ziemlich groß und sehr schlank. Man hätte meinen können, dass sie als Modell für die Barbie-Puppen gedient hatte, die langsam in Umlauf kamen. Diese Schwester hatte einen Freund mit einem dicken BMW-Motorrad, der sehr dem Ken, dem Freund Barbies, ähnelte. Wenn die zwei auf ihrer Maschine durchs Dorf tuckerten – ganz in schwarzes Leder gezwängt, sie ihn an der Hüfte umklammernd – war es sicher, dass jeder sich nach ihnen umdrehte. Auch war da noch eine kleine Schwester in der Familie, blond, ein liebes Ding und eben der Manfred, damals ein Freund meines Bruders, da sie das gleiche Alter hatten und in dieselbe Schule gingen.

Als ich das erste Mal mit in ihre Familie kam, war ich überrascht von dem herzlichen Umgangston. Sie wohnten schräg gegenüber in einer der Sozial-Wohnungen auf engstem Raum. Das Gemeinschaftsbad für alle Hausbewohner befand sich im Keller. In dem Maß, wie Christa an Rundungen zunahm, fand sie mich zu kindisch, was ja auch stimmte, denn mit ihren Hormonen war sie mir mindestens um zwei Jahre voraus. Vor allem wusste ich bald nichts mehr mit den zwei Freundinnen anzufangen, unsere früheren Spiele begeisterten sie nicht mehr. In Bezug auf Schwofen war ich eine Niete und es fehlte mir, ehrlich gesagt, auch an Mut, denn einmal, als ich ihr zu nahegekommen war, hatte sie mir eine geknallt. Bald hatte sie einen neuen Freund und ich auch, ihren Bruder.

Wir zwei unternahmen Radtouren miteinander, er spielte außerdem sehr gut Mundharmonika. Später überließ ich ihm meinen Gitarren-Fernkurs, mit dem er in ein paar Woche so gut spielen lernte, dass er eine Band gründete, während ich es gerade mal schaffte, eine Melodie mit Akkorden zu begleiten. Er hatte nur einen Fehler, er war ein ziemlicher Angeber. Er musste bei den Radtouren immer der erste sein, was mich nicht störte, da ich so seinen Windschatten ausnutzen konnte. Er war halt ein schlechter Verlierer, und versuchte eher zu bescheißen, als auch mal zweiter zu sein. Aber sonst war er korrekt und wir machten nie Schweinereien miteinander, wie es mit den evangelischen Freunden vorkam, die da viel toleranter waren, wahrscheinlich, weil sie nur eine Gemeinschaftsbeichte ablegten und nicht direkt ihre Schandtaten dem Pastor sagen mussten.

Kurz und gut, mit Manfred herumzuhängen, duldeten meine Eltern und auch, dass ich bei ihnen Fernsehen schaute, obwohl in ihren Augen sonst kaum ein Umgang gut genug für mich war. Sie hielten sich nun mal für etwas Besseres und wollten vor allem, dass aus uns zwei Kindern nochmal was Besseres würde. Nur einmal fiel er bei meiner Mutter in Ungnade und mir wurde verboten, ihn zu treffen, woran ich mich aber nicht hielt, da ich es schnell genug gelernt hatte, elterliche Gebote (wie auch die Gebote Gottes) unauffällig zu umgehen. Ich glaube nicht, dass meine Mutter den Vater davon unterrichtet hatte (oder vielleicht doch?). Und das kam so: Als ich abends zum Essen heimkam - Vater rackerte sich auswärts bis spät in die Nacht für uns ab, damit wir es später einmal besser haben sollten, er machte Versicherungen - fragte die Mutter: „Na, wo warst du denn heute?“ Ich: „Beim Manfred!“ „Und, was habt ihr da gemacht?“ Sollte ich ihr wirklich erzählen, was wir alles getrieben hatten, und dass auch der Jürgen, ein Evangelischer, ziemlich älter als ich, ein Freund meines Bruders dabei waren und auch mein Bruder? Lieber nicht, sie würde bestimmt irgendetwas Verbotenes daran finden, alleine schon, dass die anderen älter waren. Und vor allem würde mein Bruder das als ‚Petzen‘, also Verrat, auffassen.

„Witze erzählt!“, antwortete ich ihr und hoffte, dass es damit abgetan sei. Aber nein, sie hakte nach. War das Geschäft in ihrem Laden so mies gewesen, dass sie Aufheiterung brauchte? Denn meistens kamen die Kunden erst gegen Monatsende zu uns einkaufen, wenn sie bei den anderen Krämern im Dorf keinen Kredit mehr bekamen. „Erzähl mir doch einen, ich möchte auch mal was zum Lachen haben!“, forderte sie mich auf. Ich fing an zu schlucken. Die Witze, die die Großen erzählt hatten, waren nicht für Kinderohren gewesen und sicherlich auch nichts für die Ohren Erwachsener, zumindest der eigenen Eltern. Obwohl ich mir vorstellen konnte, dass sie sich auch solche erzählten. Einer war gewesen: „Was ist der Unterschied zwischen einer Autobahn und einem Nylonstrumpf?“ Wir rieten herum und fanden keine Lösung, bis dann der Jürgen sagte, „die Autobahn führt durch den Urwald, der Nylonstrumpf geht bis zum Urwald“. Wir brachen alle in Lachen aus, als hätten wir uns das denken können. „Was denn für einen Urwald?“, fragte ich leise den Manfred. „Na, die Muschi der Mädchen, die Schamhaare, du Säugling du!“ Jetzt kapierte auch ich.

Doch einen solchen Witz würde meine Mutter wohl noch weniger als ich kapieren. Oder zumindest falsch auffassen. Ich zog es vor, ihn ihr nicht zu erzählen. „Na, dann sind das wohl keine echten Witze gewesen?“, drang meine Mutter weiter, „geniere dich nicht, ich verstehe schon auch Spaß!“ Nun gut, wenn sie Spaß verstand, dann würde sie wohl den anderen Witz kapieren und mit mir darüber lachen. Ich begann: „Das ist eigentlich kein richtiger Witz, sondern eher ein Rätsel, aber zum Lachen“. „Da bin ich ja gespannt!“ „Was ist der Unterschied zwischen einer Telegraphenleitung und einem Sofa?“, fragte ich sie und schaute sie gespannt an. Sie überlegte eine Weile, murmelte vor sich hin, um dann einzugestehen: „Ich find’s nicht, also sag du’s mir!“ „Auf der Telegrafenleitung paaren die Vögel, auf dem Sofa vögeln die Paare!“ Und ich fing an zu lachen. Nur, meine Mutter lachte nicht. Ihr Gesicht wurde rot. „Das ist kein Witz, das ist eine Schweinerei! Von wem hast du das, vom Manfred?“ Ich nickte, konnte doch nicht sagen, dass der vom Jürgen war, denn sonst hätte mein Bruder mich als Petze bezeichnet. So kam es, dass mir der Umgang mit dem ‚Früchtchen‘ Manfred verboten wurde, obwohl der eigentlich der kleinste ‚Dreckbär‘ der Bande war.

Da wir uns offiziell nicht mehr sehen durften, tüftelten wir sogleich aus, wie wir uns trotzdem verabreden könnten. Wir kamen auf die Idee, es mit bunten Papierfähnchen anzuzeigen. War mein Vater zu Hause oder sonst wie dicke Luft, klebte ich mit Tesafilm einen roten Zettel außen an mein Zimmerfenster (Manfred wohnte ungefähr 8O Meter schräg hinter uns. War die Luft rein, pappte ich einen grünen Zettel auf die Scheibe. Ebenso tat er, wenn er mich treffen wollte.

Doch war das alles irgendwie zu umständlich. Denn wir hingen ja nicht immer nur im Fenster. Die Nachmittage strolchten wir durch die Gegend und ‚kundschafteten aus‘. Im Micky-Maus-Heft hatten wir gesehen, wie die drei kleinen Schweinchen mit dem kleinen bösen Wolf mittels zweier Dosen und einer dazwischen gespannten Schnur telefoniert hatten. Wir besorgten uns einen langen Bindfaden, durchlöcherten die Böden zweier Konservendosen (das alles in einem Moment, wo meine Mutter voll in ihrem Laden beschäftigt war), verknoteten die Fäden und versuchten unsere Nachrichten zu übermitteln. Doch klappte es nicht richtig. Nur wenn wir hineinschrien, hörten wir uns. Aber Schreien mussten wir ja vermeiden, damit uns niemand auf die Schliche kam. Wahrscheinlich funktionierte unser System nicht, da die Schnur den Boden berührte. Die Entfernung war einfach zu groß und die Kordel zu schwer.

Irgendwie hatte ich mal einen Telefonhörer eingehandelt, den wohl mal jemand in einer Telefonzelle hatte mitgehen lassen. Manfred besaß einen Kopfhörer, der sicherlich im Krieg in einem Panzer gedient hatte. In der Mittelschule hatte er im Physikunterricht gelernt, dass man mittels zweier Drähte zwischen zwei Kopfhörern kommunizieren kann, ganz ohne Strom und Verstärker. Wir probierten es aus. Und wirklich, es klappte auf kurze Entfernung! Also schmissen wir alle unsere Ersparnisse zusammen, verzichteten einen Monat auf Tabak und Kaugummi und holten beim Elektro-Maier 90 Meter isoliertes Kabel. Dieses band ich abends am Fensterladen-Halter an und entrollte es bis zu Manfreds Schlafzimmerfenster. Der bohrte ein Loch in den Fensterrahmen, zog die Litze hindurch und schloss seinen Kopfhörer an. Ich eilte zurück, schlich durch den Keller ins Haus, dann leise die Treppe hinauf. Mein Bruder hörte wie immer lautstark sein Transistorradio, er war also kein Hindernis. Ich nahm den Telefonhörer, drehte die Drähte zusammen und klopfte auf die Muschel, wie ich es mit Manfred ausgemacht hatte. Und prompt kam die Antwort, ein Klopfen seinerseits! Und dann hörte ich seine Stimme. „Wolfi, hörst du mich?“ „Klar doch! Ich höre dich als würdest du vor der Tür stehen!“ Ihr werdet mir glauben, dass wir stolzer waren als Edison und Bell zusammen!

Unser Fähnchen-System diente von nun an, um anzuzeigen, dass man den anderen sprechen wollte. Auf dem Müllplatz hatten wir beim ‚Auskundschaften‘ zwei Haustür-Klingeln im Dreck gefunden, und, bevor der Wächter der Müllkippe sie fand, schnell unterm Hemd versteckt. Wenn wir nicht telefonierten, hängten wir sie an der Telefonleitung an. Ich brauchte also nur eine Flachbatterie anzuklemmen und beim Manfred läutete es. So hatten wir eine echte Telefonverbindung, noch bevor unsere Eltern einen Anschluss hatten. Später verlängerten wir die Leitung noch bis zum Nori, der drei Blöcke weiter wohnte. Was uns wie ein Wunder erschien, war, dass weder meine Eltern, noch mein Bruder oder die Hausmeister von Manfred und Norbert etwas mitbekommen haben. Jahrelang funktionierte unser System, wenn auch manchmal im Winter unter der Schneelast die Leitung abriss.

Ja, Manfred war schon ein netter Kerl und guter Kumpel, aber, wie gesagt, ein ziemlicher Angeber. Immer eine tolle Frisur, geschniegelte Haare mit einer Welle vorne über der Stirn wie Peter Kraus, von dem gerade der Schlager ‚Wenn Teenager träumen‘ in der Hit-parade auf Nummer eins war. Eines Tages verweigerte ich das Haare-Schneiden durch meinen Vater, der uns, wie die Freunde spöttisch meinten, einen ‚Topfschnitt‘ verpasste, und ließ mir vom Frisör einen ‚Façon-Schnitt‘ machen, so wie Manfred einen hatte, mit Koteletten vor den Ohren. Mein Vater tobte: „Das ist rausgeschmissenes Geld, der hat ja gar nichts abgenommen, der Mrasek, das nächste Mal gehst du zum Kolb!“ Der Kolb, der Stotterer, wie wir ihn nannten, führte einen Monat später auf meine Anweisung auch einen Façon-Schnitt aus, nur mit ein paar Stufen drin, weil er eben, wie jeder Frisör, dauernd quatschte und seine Schere sich seiner Aussprache anpasste. Nur waren meine Haare nicht so pflegeleicht, wie die vom Manfred. Sie widersetzten sich und zeigten in alle Richtungen. Doch die Mutter hatte Abhilfe in ihrem Laden: Fliederduftendes Haaröl, mit dem ich jetzt jeden Morgen meinen Pelz einölte. Da glänzte meine Birne und manchmal lief das Zeug bis in den Kragen. Sie wenigstens stand auf meiner Seite, war sie doch, wie jede Mutter, stolz auf ihre Jungen!

Manfred, der ein richtiges Taschengeld von den Eltern bekam, kaufte ein kleines Transistorradio, das er vorne auf dem Lenker seines Fahrrades befestigte. Da fühlte er sich wie in einem Auto, meinte er stolz. Wir beneideten ihn, reichte doch unser ‚Fuchzgerl‘ pro Monat gerade mal für ein paar Hubble-Bubble, so ein Kaugummi mit Balsam-Geschmack, oder, wenn wir zusammenschmissen, für ein Paket Krüll Tabak oder eine Halbe Bier.

Wir trafen uns normalerweise an Stellen, wo wir alles im Auge hatten. Dort saßen wir auf einem Zaun und beobachteten. An versteckten Plätzen trafen wir uns nur, wenn wir Unsinn vorhatten oder rauchten oder einer ein Pornoheft dabeihatte. Kam ein Mädchen vorbei, so redeten wir ganz wichtigtuerisch und laut unter uns. War sie vorbei (meist wechselte sie früh genug auf die andere Straßenseite hinüber), dann pfiffen manche anerkennend und wir schauten ihr nach, Sie anzureden traute sich keiner. Nori pfiff am lautesten. Er konnte das sogar, ohne die Finger zu benutzen. Wir versuchten es auch. Mit den Fingern auf der Zunge kotzten wir schier, ohne Finger glichen unsere Versuche eher dem Zischen eines Wasserkessels.

Ein Mädchen fiel uns besonders ins Auge. Lange schwarze, zu einem Zopf geflochtene Haare, eine tolle Silhouette. Sie wohnte in der Siedlung und war vor nicht langer Zeit mit ihrer Mutter in eines der neuen Reihenhäuser eingezogen. „Weiß jemand, wie die heißt?“, fragte Jürgen. Niemand wusste es, da sie nicht hier in die Schule gegangen war. „Das ist eine Klumse!“, meinte Nori. „Wieso Klumse?“, wollte ich wissen, „was ist denn das?“ „Na, die Möse, die Büchse, da wo die Fummel sitzt, das kleine Ding, was wie ein Miniaturpimmel aussieht. Ich hab´ da letztens ein Foto in einem der ‚Wichshefte‘ (Pornohefte) von meinem großen Bruder gesehen, schaut aus wie ne offene Muschel!“ „Kannst du das nicht mal besorgen? Würde ick gerne ooch mal sehen!“, meinte sein Cousin. „Nee, geht nich! Alleine schon, wenn der wüsste, dass ich seine Heftle entdeckt habe!“ „Dann nennen wir sie ‚Olgate‘, bis wir ihren richtigen Namen wissen!“, meinte Manne. Wir mussten unwillkürlich kichern. „Klingt ja wie Zahnpaste!“, bemerkte Günther. „Bestimmt riecht sie auch so beim Küssen! Schöne weiße Zähne hat sie ja!“ Also schauten wir ihr vorerst nur interessiert von ferne nach.

Als wir mal zusammen eine Maß Bier beim Tischfußballspielen im Adler tranken, bemerkten wir, dass Olgates Mutter dort bediente. Sie war genauso knackig wie ihre Tochter, trotz des Altersunterschiedes. „Deshalb hat sie also keinen Vater!“, stellte jemand logisch fest. „Das muss wohl einer der Gäste gewesen sein. Aber wie ein Freudenmädchen schaut die wirklich nicht aus!“ Bis dann eines Tages Manfred uns strahlend mitteilte, dass sie Bärbel heißt. Und dass sie eine Weile zusammen gesprochen hatten. „Und worüber?“, wollte Günther wissen. „Na ja, nicht so wie wir untereinander reden, sie ist doch ein Mädchen! Auf jeden Fall treffen wir uns morgen wieder, und zwar, ihr werdet´s nicht glauben, bei ihr zu Hause!“ „Du kohlst uns an!“ „Nein, echt wahr, sie sagte mir, ihre Mutter hat nichts dagegen, wenn sie einen Freund hat, und dass sie ihn mitbringen darf!“ Wir waren baff.

Von jetzt an trafen Manfred und Bärbel sich alle paar Tage, manchmal hielt sie auch bei unserer Gruppe an, wenn Manne dabei war und wir quatschten miteinander. Einmal sah uns meine Mutter. Vielleicht kam sie vom Metzger oder sonst wo her. Sie warf mir einen solchen missachtenden Augenblitz zu, dass ich dachte: „Au weia, das steht noch was bevor!“ Abends dann kam das Gewitter: „Dass ich dich ja nicht mehr mit diesem Flittchen sehe! Ein uneheliches Kind, die Mutter bedient in der Kneipe! Aus der wird mal genau das Gleiche wie ihre Mutter! Das ist kein Umgang für dich! Wenn ich das nochmal sehe, sag ich´s dem Vati und dann kriegste was ab!“ Sollte ich ihr erklären, dass sie die Freundin vom Manfred ist? Und dass sie eine sehr aufgeschlossene Mutter hat? Quatsch! Welchem Kind ist es je gelungen, seinen Eltern etwas zu erklären! Da ist es noch einfacher, im Matheunterricht ein Problem in einen Dreisatz umzuwandeln und zu lösen!


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