Читать книгу Der späte Besucher - Wolfgang Brylla - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеEs war der 31. Dezember. Albert hätte nicht sagen können, warum er der Meinung war, dass dieser Tag ein besonderer werden würde. Eigentlich glaubte er es in diesem Moment auch nicht bewusst, sondern meinte erst später, es gespürt zu haben. Er unternahm einen wundervollen Spaziergang entlang des Seeufers. Die Sonne schien wieder strahlend vom blauen Himmel. Es war ein Winterbilderbuchwetter, eiskalt und klar. Er musste die Augen zusammenkneifen, um sehen zu können. Er hatte keine Sonnenbrille auf die Reise mitgenommen, was er nun bereute. Der Schnee hatte bis zum Wasser, welches kontrastreich das Blau des Himmels angenommen hatte und träge ans Ufer waberte, die Landschaft ringsherum in ein weißes Kleid gehüllt. Alte herrschaftliche Villen säumten seinen Weg, die den Reichtum ihrer Besitzer aus vergangenen Zeiten ahnen ließen. Albert stellte sich vor, in einer dieser Villen mit Park zu gelebt zu haben. Wie er dort wilde Feste gefeiert und viele Frauen gehabt hätte. Die Leute hätten über ihn geredet und in den Klatschspalten wäre er ein häufiger Gast gewesen. Eine junge Frau mit sehr kurzem Rock lenkte seine Aufmerksamkeit von den alten Gemäuern auf die Lust der Zeit. Er blickte ihr nach, was sich an sich nicht gehörte, wie er dachte, aber sie war zu schön und sexy, um es nicht zu tun.
Bald erreichte er Lindau, ein altes Städtchen auf einer Halbinsel, in dem er zwar nicht hätte leben wollen, da es ihm zu provinziell erschien, welches ihn aber wegen seiner alten Häuser und Gassen und der idealen Lage am See begeisterte. Er schlenderte durch die Maximilianstraße, die zugleich Fußgängerzone und Hauptstraße der Inselstadt war. Gut erhaltene Bürger- und Handwerkerhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit ihren Laubengängen, Brotlauben, den geschnitzten Fenstersäulen, Erkern und den teilweise überputzten Fachwerkfassaden fanden sein fachliches Interesse. Die Straßen waren in dieser Jahreszeit wenig belebt. Er sah ein paar Holzbuden auf dem Bismarkplatz vor dem alten Rathaus. Das Rathaus war 1422 gotisch erbaut und 1576 mit einem Treppengiebel in Renaissance-Stil erweitert worden. Ihn faszinierte die kitschige Ausprägung dieses Gebäudes. Die Fassade war zudem von einer großen, überdachten, ursprünglich hölzernen Freitreppe geschmückt, die in einen Erker mündete. Noch kitschiger sprangen ihm die üppig historisierenden Malereien an der Südfront entgegen, mit denen im 19. Jahrhundert landestypisch die Fassade geschmückt worden war und welche die Lindauer Geschichte darstellten. Direkt daneben befand sich das Neue Rathaus. An einem der vom Weihnachtsmarkt übrig gebliebenen Stände kaufte er sich eine heiße Bratwurst und einen Glühwein.
Während er trank, stellte sich ein seltsames Gefühl ein. Es war, als wäre etwas Bekanntes in seinen Gesichtskreis gelangt. Er schaute sich verwundert um, sah jedoch niemanden. Was war das für ein Gefühl, altbekannt und seltsam fremd? Er trank den Becher leer und ließ ihn noch einmal mit Glühwein auffüllen. Zufällig schaute er, während er an dem heißen Getränk nippte, über den Platz hinweg auf die andere Seite. Dabei blieb sein Blick an einem der alten Häuser kleben, in denen unterschiedliche kleine Läden und Geschäfte in Miniaturschaufenstern ihre Produkte und Dienstleistungen bewarben. Hinter der Fensterscheibe eines der Häuser sah er ein Bild, welches er aus seinem Traum zu kennen meinte. Da wusste er, was dieses Gefühl hervorgerufen hatte. Es waren die Tempel von Karnak, dem heutigen Luxor. Daneben hing ein Bild der Nofretete und daneben der Sonnenuntergang über dem Tal der Könige. Vielleicht war es auch der Sonnenaufgang. Er dachte nicht weiter darüber nach, sondern nahm den halb vollen Glühweinbecher in seine Hand und ging mit zögerlichen Schritten auf das Schaufenster zu, so als könnte sich das Haus jederzeit in einen Tempel verwandeln und der Junge im schmutzig-weißen Kaftan aus der Türe treten. Für einen Moment fragte er sich, was denn nun Realität sei, das, was er im Traum erlebt hatte und nun sehr lebendig in ihm zutage trat oder das, was er jetzt hier sah. War er der Albert, der in Ägypten träumte, durch Lindau zu spazieren oder war er derjenige, welcher in Lindau träumte, in der ägyptischen Wüste sein junges Selbst zu treffen?
Das Schaufenster gehörte zu einem Laden, in dem man alten Schmuck, Räucherstäbchen und dergleichen unnötigen Kram, wie er fand, kaufen konnte. Obwohl er keinen Bedarf an solchen Dingen hatte, betrat er den Laden. Der Geruch von Räucherwerk und das Klingeln einer Glockenkette über der Tür empfingen ihn wie einen Eindringling in eine Märchenwelt. Eine Frau vom Typ „Eso" saß hinter einem kleinen Schreibtisch und blätterte in einer Illustrierten. „Tag", sagte sie, ohne aufzuschauen. Albert erwiderte ihren Gruß nicht, sondern blickte sich verlegen um und fühlte sich unwohl dabei, in solch einem Laden zu stehen. Was würden seine Bekannten sagen, wenn sie ihn hier sähen? Und was würden sie erst sagen, wenn sie ihn auf dem Seminar gesehen hätten? Na, sie wussten es ja nicht, und das beruhigte ihn. Wahrscheinlich wäre es ihnen auch egal, denn er hatte ja keine richtig guten Bekannten mehr und Freunde schon gar nicht. Wie jedes Mal, wenn er sich irgendwo nicht wohl fühlte, wollte er die Flucht ergreifen, raus und weg und noch einmal von vorne anfangen. So wollte er sich gerade umdrehen, um den Laden zu verlassen, als sein Blick auf eine Vitrine fiel, in der verschiedene Schmuckstücke ausgestellt wurden. Und mitten zwischen Ringen, Ketten und Ohrringen sah er ihn. Er sah aus wie im Traum, so als hätte der kleine Araber ihn dort abgelegt. Es war ein Skarabäus, der dem aus seinem Traum zum Verwechseln ähnlich sah. Vor Staunen hielt er inne. Begeisterung stieg als leichtes Zittern in ihm bis in seine Fingerspitzen auf. „Hallo", rief er. Die Frau las weiter, ohne ihn zu beachten. „Das ist jetzt die Rache dafür, dass ich sie nicht beachtet habe", dachte Albert. „Darf ich sie einmal kurz stören", setzte er erneut an. „Ich würde gerne etwas kaufen." „Natürlich dürfen Sie mich stören, dafür sitze ich ja hier. Aber sie dürfen mich auch grüßen." Das hatte gesessen und Albert spürte, wie er rot wurde. „Die blöde Eso-Kuh, die hat auch noch nichts von Kundenfreundlichkeit gehört. Die hat es wohl nicht nötig, etwas zu verkaufen", dachte er und am liebsten hätte er umgehend das Geschäft verlassen. Aber er wollte den Skarabäus. Also riss er sich zusammen und wartete, bis die Frau zu ihm kam. Er zeigte auf den Jadekäfer und sie holte ihn heraus. Während sie den Käfer in eine kleine weiße Papiertüte tat, sagte sie beiläufig: „Glückskäfer, heiliger Käfer, wurde den Göttern zugeordnet, damals in Ägypten."
Nachdem er gezahlt und das Wechselgeld entgegengenommen hatte, sagte er beim Hinausgehen: „Ich weiß. Hab' schon mal einen in Luxor gesehen." Mit diesen Worten verließ er den Laden und wunderte sich nicht einmal über das, was er gesagt hatte. Er war nie zuvor in Luxor gewesen.
Albert lief noch ein wenig durch die Straßen des Inselstädtchens. Als Architekt interessierten ihn gewohnheitsgemäß die typischen Bauwerke jeder Stadt.
Er kam an die älteste Kirche Lindaus, die Peterskirche, auch Fischerkirche genannt, die schon mehr als 1000 Jahre dort stand. Sie war Petrus, dem Patron der Fischer, die früher diesen Platz bevölkerten, geweiht. An der westlichen Langhauswand befanden sich frühgotische Rötelzeichnungen, die den Heiligen Christophorus darstellten. „All diese Heiligen“, dachte er. „Jeder ist für irgendetwas da. Wie einfach kann man sich das Leben machen. Hier hilft dieser, dort jener Heilige. Für jedes Problem gibt es einen Heiligen, der hilft, wenn man ihn nett und inständig darum bittet. Die haben wirklich eine Menge zu tun“.
An der Hafeneinfahrt sah er den Bayrischen Löwen, das Wahrzeichen von Lindau, wenn man von der Seeseite her auf die Stadt zukam. Auf die Vorderpranken gestützt, thront er sechs Meter hoch auf einem dreistufigen Podest und blickt zum Schweizer Ufer hinüber. Ihm vis à vis steht der „neue Leuchtturm“ von 1856 und zeigt den Booten die Einfahrt zum Hafen an. Albert ging weiter zum Lindavia-Brunnen und überquerte den Reichsplatz. Lindavia, wieder so eine Heilige und Beschützerin der Stadt. Sie steht dort Jahr um Jahr bei Sonne, Regen, Schnee und Sturm mit dem Lindenzweig in der Hand. Er versuchte, sich vorzustellen, wie das lebendige Modell zu dieser Figur ausgesehen haben mochte. War sie danach oder während der Arbeiten die Geliebte des Künstlers geworden?
In Gedanken versunken ließ er die Umgebung auf sich wirken, wobei er planlos durch die Straßen und Gassen spazierte, bis der Abend nahte. Hier und dort kehrte er in einer Wirtschaft ein, um sich aufzuwärmen, trank dabei schnell ein Bier und ging weiter. Schließlich machte er sich leicht beschwipst von Glühwein, Bier und den Eindrücken der Stadt auf den Rückweg.
Am späten Abend stand Albert mit den anderen Hotelbesuchern und den Besitzern am kalten Buffet. Er fühlte sich nicht wohl unter den Menschen, trank zu viel Wein und war schon mäßig betrunken, als der Jahreswechsel nahte. Um kurz vor Mitternacht machten sich alle, bewaffnet mit Raketen, Böllern und Sektflaschen, auf den Weg zum Seeufer. Es hatte wieder begonnen zu schneien und eine unberührte Schneeschicht verwandelte die Wiesen und Bäume in eine neuerliche Traumlandschaft. Die ersten Donnerschläge ungeduldiger Menschen hallten über das dunkle Wasser.
Dann war es so weit. Feuerwerk überall, Sektkorken knallten, erleuchteter Himmel, Prost Neujahr, Glückwünsche und gute Vorsätze. Albert prostete mit und umarmte wildfremde Menschen. Er fühlte die Wärme der menschlichen Verbindung in dieser kalten Nacht. Das war angenehm und schön. Zu schön! Denn es machte ihm seine gut verborgene Einsamkeit nur noch schmerzhaft deutlicher. Daher zog es ihn allein an den See. Er ging, eine Flasche Sekt und ein Glas in der Hand, bis er eine ruhige Stelle fand.
„Prost Albert, ich werde dich achten, dir beistehen und dich lieben", versprach er und hob das Glas. Er wusste nicht so recht, was er in diesem Augenblick tat oder was ihn dazu veranlasste. Er stand aufrecht und sagte laut: „Vom heutigen Tag übernehme ich die Verantwortung für mein Leben und alles, was darin ist. Ich nehme es an als meine eigene Schöpfung!" Dann hob er das Glas und hielt es mit ausgestrecktem Arm vor sich hin, sah die Schneeflocken, den dunklen See und verspätete Feuerwerksfontänen. Langsam und bewusst führte er das Glas an seine Lippen und ein unbestimmtes Wissen sagte ihm in diesem Moment, dass von dieser Nacht an vieles anders werden würde. Lächelnd leerte er sein Glas. Er stellte sich vor, wie es werden würde, im Einklang mit sich selbst zu leben. Abwechselnd fühlte er Wärme und Kraft in seinem Körper. Die Kälte um ihn herum nahm er kaum mehr wahr. Jetzt und hier war Albert sich selbst ganz nah. War das der Schlüssel für seine Zukunft?
Doch dann vernahm er sogleich auch die Einwände in sich. „Wer bist du, dass du sowas glauben kannst. Da machst du dir doch wieder etwas vor. Stehst hier alleine voll von Alkohol und träumst. Morgen wachst du auf mit einem Kater und alles ist wie immer. Außerdem ging es doch bisher auch und du warst zufrieden, meistens jedenfalls, solange du Alkohol hattest. Willst du das verlassen, aufhören und ein Spießer werden? Und schau dir deinen Vater an. Glaubst du, dass es dir besser ergehen kann als ihm, du Spinner? Meinst du Schlaumeier etwa, dass dein zukünftiges Leben vorteilhafter werden kann als das bisherige? Willst du die alte Sicherheit aufgeben für etwas, was du nur erahnen kannst? Und wenn es schief geht? Wie soll das überhaupt sein, wenn du ein anderes Leben hast? So was wird einem doch nicht geschenkt. Da muss man was für tun, hart arbeiten an sich. Willst du das etwa, wo du es dir doch so schön einfach machen kannst?" Albert fühlte einen heftigen Widerstand gegen diese Selbstvorwürfe. So sollte es nicht weitergehen. Da konnte er sich auch gleich umbringen. Er stürzte ein weiteres Glas Sekt hinunter. Ja, vielleicht war das ja die Lösung. Er hatte den Gedanken schon oft gehabt, ihn aber jedes Mal wegen seiner Feigheit verworfen. Selbst dafür fehlte ihm der Mut. „Du Versager", hörte er wieder die Stimme in sich. Alte Ängste stiegen in ihm auf. Er hatte sein Leben wie einen Schutzwall um sich selbst gestaltet. Es waren die Erfahrungen seines Lebens, vor allem die aus seiner Kindheit, die ihn so hatten werden lassen. Er verstand, was die innere Revolte ausgelöst hatte und fragte sich, ob eine andere Zukunft überhaupt gut für ihn sei. Wer sollte ihn da noch beschützen. Wie würde er reagieren, wenn das Leben es wieder einmal schlecht mit ihm meinte? „Was ist das für ein Unsinn? Wie kann das Leben etwas meinen? Ich bin selbst mein Leben und deshalb bestimme ich auch, wie es ist", dachte er trotzig. „Reine Theorie", kam prompt die Antwort. „Hört sich schön an, bringt aber nichts. Am besten, du gehst schlafen und denkst nicht weiter daran." Nicht daran denken, wie sollte das gehen? Wie sollte er jetzt schlafen gehen? Dazu hätte er erfahrungsgemäß noch eine Flasche Sekt oder ein paar Flaschen Bier leer machen müssen. Doch etwas gänzlich Unbekanntes hatte sich in ihm breitgemacht. Es war ihm nicht fremd, seltsamerweise, nur bisher nicht gekannt. Er fasste in seine Manteltasche und hielt auf einmal den Skarabäus zwischen seinen Fingern. War er es? Wollte er ihm etwas sagen? Was hatte sein Traum damit zu tun? Zeigte dieser ihm, dass es nun an der Zeit für ein neues Leben war? Vielleicht war doch alles anders, als er bisher geglaubt hatte. Das beruhigte ihn für's Erste und wie eine geistige Explosion knallte der folgende Gedanke in seinen Kopf. „Bin ich nicht allein der Schöpfer meines Lebens?"
Lange konnte er nichts denken. Er spürte das Gefühl von Kraft und Verbundenheit mit sich selbst. Wenn das jetzt so sein konnte, war sein Leben nicht vergebens gewesen. Dann hatte alles so sein müssen, damit er eines Tages dort ankommen konnte, wo er jetzt war.
Er fühlte sich angenehm ruhig und kraftvoll, nicht euphorisch, nur ganz real. Dieses Jahr hatte verheißungsvoll begonnen und er wusste, dass er diese Chance nicht verpassen wollte. Die Chance, der Schöpfer seines Lebens zu werden.
Ruhigen Schrittes ging er zurück zum Hotel, wo auch die anderen sich wieder eingefunden hatten. „Da ist er ja", hörte er einige rufen. „Wir dachten schon, wir müssten dich im See suchen gehen." Albert lachte: „Nicht nötig, ich habe gerade heimgefunden."
Teil 2
Und plötzlich weißt du:
Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen
und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.
(Meister Eckhart)