Читать книгу LINKS – Aktualisierung eines politischen Schlüsselbegriffs - Wolfgang Endemann - Страница 4
Vorwort
ОглавлениеWenn man die Geschichte der Menschheit als Emanzipationsgeschichte liest, ist es naheliegend, die „linke“ Perspektive auf die Welt als Radikalisierung der bürgerlichen Revolution zu verstehen. Hier ist der Entstehungsort der linken Idee, die im gesellschaftlichen Gärungsprozeß zu einem treibenden Pol wird. Die Revolution endet auf dem Papier mit dem Geltungsanspruch auf gleiche Rechte und Pflichten für alle Bürger, und spätestens jetzt beginnt sich die Linke zu distanzieren, weil für sie der Anspruch nicht oder nicht hinreichend eingelöst wurde. Das liegt unter anderem daran, daß er aus partikularen Interessen bis zur Wirkungslosigkeit verwässert wurde oder gar nicht so radikal gemeint war. Und mit dem Sieg über das ancien régime tut sich eine immer größere Kluft auf zwischen konsolidierendem, restaurativem Bürgertum und einer radikalen Freiheitsbewegung. Wenn die Linke auf deren unbescheidene Ziele verzichtet, macht sie sich selbst überflüssig. Die Abschaffung der Feudalherrschaft bzw. die Aufwertung des dritten (und später des vierten) Standes hat – gemessen an ihren Ansprüchen - keine zufriedenstellende Gleichheit und Befreiung von Not gebracht, anstelle der Brüderlichkeit finden wir Gruppenegoismen und die Konkurrenz aller gegen alle, jeder kocht sein eigenes Süppchen, individuelle Freiheiten muß man sich dabei leisten können, die sozialen Lebensformen sind im großen und ganzen vorgegeben, unverfügbar. Soweit der Stand von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Allerdings hat sich die bürgerliche Gesellschaft im Laufe der Zeit bemerkenswert verändert, ein Unterschied, der sich auch in ihrer Kritik deutlich niederschlagen muß.
Es gibt sehr verschiedenartige Typen dieser Kritik, konservative, die eine verbindliche Wertordnung für die Menschen einfordern, individuelle, auch eskapistische, die die Unabhängigkeit, Freiheit einer inneren Spiritualität beanspruchen, sich dem System entziehende Subkulturen. Am kompromißlosesten widerspricht die Linke mit ihrer sozialistischen Utopie, die an der ökonomischen Basisstruktur ansetzt, dem Kapitalismus, der die gesellschaftlichen Charakteristiken durchdringend bestimmt. So hat sie sowohl tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaftsstrukturen, als auch die psychosoziale Erneuerung der Individualität und ein anderes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Sinn. Für die Differenz von früh- und spätkapitalistischer Systemkritik der Linken werden hier die Begriffe Notsozialismus und ästhetischer Sozialismus vorgeschlagen, da im Manchester-Kapitalismus der alles andere in den Schatten stellende Skandal die menschenverachtende und -vernichtende Ausbeutung war, heute aber der Schwerpunkt des linken Einspruchs sich von der ethischen auf die ästhetische Ebene verlagern muß. Denn die Formen des Zusammenlebens unterschreiten weniger unsere Moralmaßstäbe, als daß sie dem widersprechen, was wir schon heute mehrheitlich als würdevoll und wohlgestaltet oder einfach als angemessen empfinden. Immer noch sind die materiellen Lebensbedingungen vieler Menschen demütigend defizitär, der widerwärtigste Makel liegt aber in der unverschämten Diskrepanz zwischen den das Allgemeinwohl und die immateriellen Bedürfnisse fördernden produktiven Möglichkeiten der Gesellschaft und der tatsächlichen, mit einem minimalen, oft mit überhaupt keinem Nutzen für Einzelne verbundenen Zerstörung, Schädigung, Verunstaltung, Verschwendung des natürlichen Reichtums und der menschlichen Kräfte und Fähigkeiten. Dieser Kapitalismus ist trotz der Zustimmung, die ihm noch entgegengebracht wird, trotz aller Fortschritte eine Beleidigung der Vernunft.
Man kann „links“ als kategorischen oder als Relativbegriff benutzen. Es gibt viele Individuen, Kollektive und Organisationen weltweit, denen man die Selbstzuschreibung, im absoluten Sinne links zu sein, aus begrifflichen Gründen verweigern muß, weil sonst die wesentlichen Distinktionsmerkmale des Begriffs verloren gingen. Mit gutem Grund unterscheidet man demnach z.B. Sozialismus und Sozialdemokratie, denn obwohl letztere die Lage der Schwachen in der Gesellschaft verbessern möchte, stellt sie den Kapitalismus nicht infrage. Auch ökologische Bewegungen zielen meist nur auf ein radikales Umdenken in Bezug auf unsere natürliche Umwelt, ohne ihre Ideen auf die Gesamtgesellschaft, auf das Soziale zu verallgemeinern. Und selbst das wäre keine genuin linke Position, die erfordert nämlich, daß das Soziale das Ökologische impliziert, nicht umgekehrt. Die Linke ist antikapitalistisch (und – weniger strikt - ökologisch), damit ist sie aber völlig unzureichend bestimmt. Sie ist antikapitalistisch in emanzipatorischer Absicht, oder, um es griffiger zu formulieren: sie ist radikal emanzipatorisch, und das schließt den Kapitalismus noch in seiner gezähmtesten Variante ebenso aus wie Totalitarismen jeglicher Art einschließlich autoritärer Herrschaftsformen, die sich das Etikett sozial oder kommunistisch anhängen und dabei die Menschenwürde ignorieren und die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten wie der gesellschaftlichen Möglichkeiten vernachlässigen.
Menschenwürde setzt Angstfreiheit und gesellschaftliche Anerkennung voraus, damit aber eine existenzielle Grundversorgung und ein gewisses Maß an Gleichheit. Das kann zufallsunabhängig nur durch Institutionalisierung des Sozialen, durch einen starken Sozialstaat gewährleistet werden. Mindestens ebenso wichtig wie die Institutionalisierung des Sozialen für die Menschenwürde ist die individuelle Orientierung am Sozialen für die Emanzipation. Der Weg, den die Linke hier einschlägt, ist dem entgegengerichtet, den die bürgerliche Gesellschaft geht: statt auf Entfesselung des individuellen Eigeninteresses und die als natürlich empfundene Privatisierung aller Lebensaspekte setzt sie auf Altruismus und Kooperation. In der Auflösung des Zusammenhangs von Individuellem und Sozialem sieht sie eine törichte, irgendwann sehr aufwändig zu revidierende Fehlentwicklung, die die Menschen von ihren emanzipatorischen Möglichkeiten abschneidet.
Dabei ist die Formel Kapitalismus = Individualismus und Sozialismus = Kollektivismus so falsch wie plakativ. Denn der Kapitalismus ist selbst ein (antagonistisches) Sozialsystem, seine bürgerliche Ordnung unterstützt institutionell, fördert und sozialisiert einen Individualismus der allgemeinen Konkurrenz und der Orientierung am Eigennutz. Wenn die Bürger ihrem Ideal des homo oeconomicus immer ähnlicher werden, wo bleibt ihre Individualität? Wird hier nicht Individualität mit Egozentrik oder gar Egoismus verwechselt? Die Linke möchte die Entwicklungsrichtung umkehren, wünscht sich eine Ordnung, die die Individualisierung, Verinnerlichung des Gemeinschaftlichen, Allgemeinen fördert. Statt Sozialisierung des Individualismus also Individualisierung des Sozialen. Wenn man den Gegensatz von Kapitalismus und ästhetischem Sozialismus pointiert beschreiben will, ist ersterer der unversöhnliche Widerstreit, letzterer die fruchtbare Durchdringung von Individuellem und Sozialem.
Die bürgerliche Gesellschaft glaubt an ihre unwiderstehliche Anziehungskraft, weil sie freiheitlich, demokratisch und pluralistisch sei. Daß das bis auf die (vor)revolutionäre Frühphase eine Selbsttäuschung beziehungsweise nur eine vordergründige Beschreibung ist, hat die Linke bis heute nicht ausreichend einsichtig machen können. Auch nicht, daß sie in der Lage und willens ist, einen vernünftigeren Begriff von Freiheit zu vertreten, Pluralismus auf weniger oberflächliche Weise anzuerkennen, Demokratie der Klischeehaftigkeit und des hohlen Pathos' zu entkleiden und zu einem angemessenen, selbstverständlichen wie begrenzten Mittel der Meinungs- und Willensbildung zu machen. Die Linke muß die bürgerlichen Propagandabegriffe, die nach wie vor ihr manipulatives Potential ausschöpfen können, entzaubern, delegitimieren oder wenigstens umdefinieren. Wenn ihr das gelingt, kann sie Mehrheitsgesellschaft werden. Auch dann wird die Gesellschaft sich nicht in ein Paradies verwandeln, das kann eine Linke so wenig versprechen wie die bürgerlichen Optimisten. Aber ein Sozialismus wird wesentlich mehr inneren und äußeren Frieden bieten und seinen Bürgern größere kollektive und individuelle Autonomie ermöglichen.