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Einleitung: Politik als Handeln und Denken in Alternativen
ОглавлениеIn der politischen Standortbestimmung gibt es keine häufiger verwendeten oder einleuchtenderen Kennzeichnungen als das Begriffspaar rechts-links resp. die Triade rechts-mitte-links (R,M,L). Das gilt auch, wenn man heute öfters hören kann, es gäbe kein rechts und links mehr, nur noch richtige, fortschrittliche, funktionierende Politik oder eben falsche, ideologische, veraltetem Denken verhaftete, etc. Denn diese Alternativen ausschließende Eingrenzung des Handlungsspielraums von Politik ist dumm und zielt nur auf die Affirmation eines pragmatischen „weiter so“ durch Tabuisierung der rechten und linken Ideenkonkurrenz. Sie unterstellt nämlich, daß es eigentlich gar nichts zu wählen gibt, daß es die eine Wahrheit gibt, die in Form von Sachzwängen, i.e. kapitalistischen Sachzwängen die richtige Politik leiten muß. Das wäre überhaupt das Ende der Politik, da nicht zu entscheiden wäre, wie die Menschen ihr Leben und Zusammenleben gestalten wollen, es müßten bei allen die gleichen Interessen vorausgesetzt und alle Veränderungen aus Wissensfortschritten begründet werden. Wie sanft sie immer wäre, es bedeutete die Diktatur der Wahrheit.
Durchaus möglich, daß heute noch eine Mehrheit der Weltbevölkerung, neben einer großen Gruppe naiver Rationalisten etwa die Anhänger der monotheistischen Religionen, aber sogar Linksorientierte, die den Gedanken des wissenschaftlichen Sozialismus, eines wissenschaftlich basierten Gesellschaftsentwurfs, so überzogen haben, daß sie Sozialismus mit Wissenschaft gleichsetzen, daß solche Mehrheit sich einem absoluten Wahrheitsanspruch unterwerfen bzw. unterstellen würde. Jedoch gibt es dafür weder ausreichende Übereinstimmung, schon die „religiösen Wahrheiten“ lassen sich nicht unter einen Hut bringen, noch wäre der „Wahrheitsanspruch“ allen anderen aufzuzwingen. Blickt man nur auf die westlichen Staaten, ist das Meinungsspektrum deutlich enger. Konservative Positionen können sich nur noch in Ausnahmefällen durchsetzen, es bleibt abzuwarten, ob eine zunehmende Krisenanfälligkeit der Wirtschaft die Empfänglichkeit für rechte Gedanken nachhaltig steigern kann. Konsequent linke Einstellungen sind immer noch exotisch, sie unverfälscht in die Realität umzusetzen oder wenigstens tendenziell nationalstaatlich zu verordnen ist auf allseits bekannte Weise gescheitert.
Ein weiteres Motiv, die Rechts-Links-Polarität zu leugnen, ist die schöne Idee von der integrierten bzw. nivellierten Mittelstandsgesellschaft, in der sich immer schon und heute mehr denn je Wunschdenken statt Realitätssinn manifestiert. Da wird zunächst R-M-L mit Oben-Mitte-Unten gleichgesetzt, ein Kurzschluß, der auch vielen Linkssympathisanten unterläuft. Während letztere dann den Unterschichtenbauch beklagen, betrachten Bürger den Mittelschichtsbauch als ihren größten Trumpf, die schmalen Ausschläge nach unten und oben als quantité négligeable. Politik müsse – welch ein kurzsichtiges Mißverständnis des Politischen – nur noch für die Mitte gemacht werden, da werden Wahlen gewonnen, Oben und Unten, also R und L, seien abgeschlossene Geschichte. Man kann natürlich die Klassen immer so definieren, daß die Mitte am stärksten ist; wovon wir auch ausgehen, die Schwerkraft der Sozialordnung zieht die Masse nach unten. Der Bauch wird zum Hängebauch. Das spürt die Mittelschicht und ist zunehmend verunsichert.
Die Homogenität geteilter Wahrheit oder geteilter objektiver Interessenlage ist eine Illusion. Auch ist nicht damit zu rechnen, daß eine wachsende, selbst eine zusammenwachsende Gesellschaft keinerlei Fliehkräfte freisetzt. So ist die Grundlage des Politischen die Pluralität, wohlgemerkt nicht die Demokratie, die nur eine Form ist, Pluralität zu organisieren. Und um Mißverständnisse zu vermeiden, muß auch bemerkt werden, daß das Wahrheitskriterium für Politik keineswegs obsolet wird, nur relativiert sich, was als Wahrheit eingebracht wird. Einfache universell gültige Wahrheiten sind uns kaum bekannt, die unter Prämissen stehenden Wahrheiten widersprechen sich partiell, ihre Anwendbarkeit ist problematisch und ihre Konsequenzen sind schwer zu überblicken. Vielfach müssen Einschätzungen und Hypothesen zugrunde gelegt werden. Einsichten vermischen sich mit subjektiven Vermutungen, Werturteilen und Neigungen.
Politische Kompetenz, die Verhandelbarkeit von Entscheidungen erfordert demnach die Kenntnis der (für realisierbar gehaltenen) Gestaltungsalternativen. Wie immer man die linke Alternative bewertet, was man darunter inhaltlich zu verstehen habe, scheint in den politisch interessierten Kreisen klar zu sein. Allerdings geben wertkonservative, ordnungspolitisch rigide, dann wieder extrem libertäre sowie technik-enthusiastische und antidemokratische Elemente im Kosmos linken Selbstverständnisses und in der Projektion der Gegner der Linken Anlaß, daran zu zweifeln, und lassen es lohnend erscheinen, nochmals über diese Sicht auf die Welt, über einen angemessenen, nicht von vornherein parteipolitisch verengten Begriff von „links“ nachzudenken.
Die meisten Volksvertreter sehen sich wie die engagierten Bürger in einem Spektrum von rechts- bis linksaußen, wobei die „wehrhafte Demokratie“ die Extremisten auszuschließen sucht. Die Abgeordneten arbeiten also zumindest mit der Relativbestimmung „links“, sie würden sich sehr ungern an der falschen Stelle platzieren lassen. Das zeigt, daß der parlamentarischen Sitzordnung durchaus eine klare Bedeutung beigemessen wird, und diese Ordnung der Parteien wird als linear vorgestellt. Soweit das korrekt ist, kann man bei zwei politischen Aussagen immer entscheiden, welche mehr rechts oder links ist. So einfach ist es freilich nicht. Es ist zu bedenken, ob die eindimensionale Verortung nicht zu sehr vereinfacht und man besser mit einer Lokalisierung in einer multipolaren Ideenwelt ansetzen sollte, mit einer Vielzahl paradigmatischer Ideen, aus denen die jeweilige Weltsicht gewonnen wird. Auch in diesem Fall kann man sich, wie später deutlicher werden wird, bislang auf drei Zentren (R,M,L) beschränken, die aber dann nicht mehr auf einer Linie liegen, was bedeutet, daß sie sich nicht quantitativ, sondern nur qualitativ, bilateral vergleichen lassen.
In drei Abschnitten werden die linken Zielvorstellungen einer solidarischen Gesellschaft (A), einer anspruchsvollen wie verantwortbaren Autonomie (B) und eines ausdifferenzierten wie integrierten Gesellschaftskörpers thematisiert, eines Gesellschaftskörpers, in dem Pluralität und Universalität keine Gegensätze, die Individuen so eigensinnig-kreativ wie interaktions- und kooperationsfähig sind (D). Eingeschoben ist ein Exkurs zum Eigentum, das für die bürgerliche Gesellschaft so bedeutsam ist wie dessen Kritik für den Sozialismus (C). Im ersten Abschnitt geht es um Gleichheit und die Notwendigkeit von Sozialstandards (A1), Gemeinschaftsökonomie und gemeinschaftliche Infrastruktur (A2), existenzielle Basissicherheit und Menschenwürde (A3), Formen des Egalitarismus (A4), das Ausmaß der von der Linken für nötig gehaltenen gesellschaftlichen Umgestaltung (A5), den Umstieg von Konkurrenz zu Kooperation (A6), die Rolle einer geistigen, ethischen und ästhetischen Einstellungsänderung der Bürger (A7) sowie speziell um die Abkehr vom außengeleiteten Konsumismus zu reflexiver Selbstaufklärung und einem intrinsischen Emanzipationsbedürfnis (A8). Der zweite Abschnitt konfrontiert bürgerliche und linke Vorstellungen der Meinungsfreiheit (B1), analysiert die Verkürzung im ökonomischen Paradigma der Handlungsfreiheit (B2) und die Beziehung von freiem Willen zu Willkür (B3), und diskutiert Gestaltungsfreiheit und Selbstbestimmung (B4). Der abschließende Abschnitt geht auf die unterschiedlichen Gesellschaftsmodelle ein, auf ihren Realismus oder Idealismus (D1), auf bürgerliche Legitimierung wie linke Delegitimierung von Gewalt, also das Verhältnis von Macht und Recht (D2), auf die unterschiedlichen Formen der politischen Ordnung, die Vorteile und Schwächen der Demokratie, also das Verhältnis von Wahrheit und Mehrheit (D3). Schließlich wird die Frage gestellt, wie Vielfalt und Einheit einer modernen hochindustrialisierten Massengesellschaft gewährleistet werden können. Es wird der Unterschied von einer auf universelle Verfahren zu einer auf den linken Universalismus autonomer Subjekte gegründeten Gesellschaft beschrieben (D4) und abschließend das linke Konzept eines Frieden und Freiheit sichernden Pluralismus erläutert (D5).