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3. Zur Begründung einer modernen Ethik
ОглавлениеIm Folgenden kann ich zwar nicht die Umrisse einer modernen Ethik nachzeichnen, die auf metaphysische oder religiöse Begründungen verzichten muss. Aber ich kann auf die Möglichkeit verweisen, eine universal verstandene Moral zu begründen, die ihrerseits den Gegenstandsbereich der Ethik abgibt. Damit wird eine Voraussetzung erarbeitet, von der später über die vermutete Redundanz und Destruktivität theologischer Ethik entschieden werden kann. Bei der in Frage stehenden Darstellung schließe ich mich an Ernst Tugendhat11 an, der in besonderem Maße den Ansatz einer Ethik ohne metaphysische oder religiöse Anleihen vertritt und damit auf die Herausforderungen der Moderne eingeht.
traditionalistische vs. moderne Moral
Eine traditionalistische Moral ist auf überempirischen Eigenschaften gegründet, zum Beispiel Kind Gottes zu sein, in der Tradition einer Autorität zu stehen oder wesentliche Eigenschaften der Menschen zugrunde zu legen. Dies bedeutet, dass moralische Normen auf religiösen, metaphysischen, transzendentalen, nationalistischen oder ökologischen Voraussetzungen ruhen, an die man glaubt oder glauben muss. Wenn diese Voraussetzungen in der Moderne fraglich werden, sich aber gleichzeitig viele Menschen ihrer moralischen Gefühle als „Entrüstung, Groll und Schuldgefühl“ (242: 11) bewusst werden, selbst wenn sie die dazugehörigen Normen als unbegründet ansehen, wird deutlich, dass moralische Normen den Menschen gegenüber begründet werden müssen, wenn sie sie als legitim empfinden sollen. Tugendhat bezieht dabei die moderne Moral – im Unterschied zur traditionalistischen Moral – auf etwas Wirkliches, mit dem sich Menschen identifizieren können und von dem aus ein gemeinsames Selbstverständnis der Individuen in einer moralischen Gemeinschaft denkbar ist. Damit können „nur die empirischen Interessen eines jeden“ (242: 8) die Begründungsinstanz dieser instrumentalistischen Position sein, wobei die Normen „gegenüber jedem Mitglied der Gesellschaft“ (242: 12) zu begründen sind.
Das spezifisch Moralische12 ist durch den Bezug auf eine intersubjektive Lebenspraxis gegeben, an der teilzunehmen Menschen ein Motiv haben können, wobei sie unterstellen, „dass auch alle anderen das gleiche Motiv haben“ (242: 22). In diesem formalen Verständnis kann man als Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft diejenigen verstehen, „die an dem wechselseitigen Forderungssystem […] teilnehmen, und das ist nur denkbar, wenn alle es für gleichermaßen für sich und alle begründet ansehen“ (242: 22). Kurz: Eine moralische Norm ist begründet, „wenn ihr alle in einer bestimmten Weise zustimmen können“ (242: 23), und zwar mit Rücksicht auf die eigenen Interessen.13 Ein Instrumentalismus innerhalb einer Moralauffassung bedeutet keine radikale Nutzenmaximierung mit der Option, grundsätzlich die Alternative zu wählen, die den größten Nutzen verspricht. Für die Moral ist es vielmehr wesentlich, dass jemand Gründe hat, in der gemeinsamen Lebenspraxis die Nutzenmaximierung einzuschränken, sich also gegen einen reinen Utilitarismus auszusprechen. Ferner ist es im Sinn des Instrumentalismus denkbar, sich gegenseitig ein Gewissen zuzugestehen. Dabei wird eine Gewissensmoral als „eine Moral mit internen Sanktionen“ verstanden, „die wechselseitige Verlässlichkeit impliziert“ (242: 32 f.). „Das heißt aber eben, wir wollen voneinander wechselseitig, dass wir ein Gewissen haben oder, noch einmal anders formuliert, dass die Sanktionen, auf die sich das Normative der Normen aufbaut, das Zusammenspiel der moralischen Gefühle ist und nicht nur die Angst vor der Vergeltung“ (242: 33). Die Sanktionen sind Schutzmechanismen, die einen Ausschluss aus der moralischen Gemeinschaft verhindern sollen.
Für Tugendhat nehmen die moralischen Gefühle von Empörung und Groll, Scham und Schuld eine sehr wichtige Rolle ein, da sie die Norm aufrechterhalten, also eine konstitutive Bedeutung für die Moral haben. Sie beschreiben keine natürlichen menschlichen Affekte, sondern sind Zeichen für die Mitgliedschaft in einer moralischen Gemeinschaft, in die man einsozialisiert wird. Von einem solchen Verhalten unterscheiden sich die Trittbrettfahrer (242: 43 – 45). Als radikale Nutzenmaximierer verstehen sie die Moral nicht als gemeinsame Lebenspraxis, die für alle gleichermaßen begründet ist, da sie sich entschieden haben, die Regeln des Systems nicht im Sinn der Gerechtigkeit auch auf sich anzuwenden.
Gerechtigkeit
Die Frage der Gerechtigkeit (242: 58 – 82) ist ein integraler Bestandteil einer Moral. Ein Individuum, das wegen instrumenteller Gründe eine Moral eingeht, partizipiert an einer Lebenspraxis, die gleichermaßen für andere begründet ist. Befinden sich die Regeln, die die Individuen voneinander fordern, aus der Perspektive aller gleichermaßen in einer Ausgewogenheit, kann man sie als gerecht bezeichnen. Als Maß des Gerechtigkeitsstandards nimmt Tugendhat den Egalitarismus an, der durch den Begründungsbegriff der Moral selbst dargelegt werden kann. Da eine Moral zu begründen heißt, sie gleichermaßen allen gegenüber zu begründen, ist die Gleichheit bereits in der Moral impliziert. Dies belegt noch einmal, dass eine radikale Nutzenmaximierung nicht mit der Gerechtigkeit kompatibel ist (241: 364 – 391). Auf das Problem der Verteilung, der distributiven Gerechtigkeit, bezogen, bedeutet dies, unter Einbeziehung des Pluralismus und der für ihn notwendigen allgemeinen Zustimmungsfähigkeit,14 dass jedes Individuum ein gleiches Recht auf einen fairen Anteil am gemeinsamen Gut einer Gesellschaft hat. Dagegen ist es ein Kennzeichen traditionalistischer Moral, eine autoritär begründete Ungleichverteilung vorzunehmen.
Universalismus
Eine moderne Moral ist universalistisch, da ihre Normen wechselseitig mit Rücksicht auf die Interessen begründet werden. Dies impliziert nicht zwangsläufig ihre universale Verbreitung, sondern nur, „dass ihre Normen Normen gegenüber jedermann sind“ (242: 113). Aufgrund rationaler Entscheidung partizipiert man an der Moral, nicht aber aufgrund a priori anthropologischer, transzendentaler, empirischer oder entwicklungsmäßig gegebener Voraussetzungen (242: 114). Allerdings bleibt ein dezisionistischer Rest auch in dieser Auffassung übrig, der in dem Verständnis der Wechselseitigkeit der Moral und ihres daraus folgenden Gemeinschaftsbezuges besteht.15
vs. Partikularismus und Traditionalismus
Mit diesen Aussagen ist ein entschiedener Einspruch gegen Ausprägungen partikularistischer und traditionalistischer Moral (242: 83 – 119) formuliert. Der Partikularismus bezieht sich dabei auf ein Wir-Gefühl, von dem gemeinsame Normen im Sinne einer „Konvention“ (242: 95) abgeleitet werden und die dem Machterhalt einer Gruppe dienen. Dagegen lässt der Universalismus eine Ungleichheit nur zu, wenn ihr alle zustimmen können. Diese Zustimmung ist im Interesse eines jeden, da sie Ausgrenzungen verhindert, die sich durch den Partikularismus bilden.
Auch eine traditionalistische Moral, die Tugendhat an religiöser Moral exemplifiziert (242: 115 f.), ist nicht mit dem Bezug auf die Interessen aller begründet und deshalb ungerecht. Sie kann einer partikularischen Moral inhaltlich entsprechen und ist durch den Glauben – soweit er geteilt wird – abgesichert. Allerdings kann schwerlich „über glaubensmäßige Grenzen hinweg“ versucht werden, sich „moralisch und menschenrechtlich“ zu verständigen; dies gelingt nach Tugendhat nur auf der „kulturunspezifischen Basis des Universalismus“ (242: 119).
Die Frage nach der Motivation zum moralischen Verhalten (242: 120 – 143) beantwortet Tugendhat im Anschluss an Adam Smith, der moralische Gefühle als Handlungsmotive versteht. Es erscheint als „anthropologisches Faktum“ (242: 123), dass Menschen diese Gefühle haben, weil sie moralisch geschätzt und schätzenswert sein wollen. Die letztgenannte Position bezeichnet die eines moralisch autonomen Gewissens, das sich selbst nicht verachten will und zusammen mit der Empörung der anderen zu einer nicht-instrumentellen Motivation16 auf der Basis eines Selbstverständnisses führt, die „sich durch die instrumentell eingeführte Dimension des gleichen normativen Urteilens erst ergibt“ (242: 127). Damit ist das Interesse die instrumentalistische Klammer einer universalistisch ausgerichteten postmetaphysischen und postreligiösen Moral, die eine gemeinsame moralische Lebenspraxis ermöglicht. Daraus leiten sich formal Normen ab, denen alle gleichermaßen zustimmen können, womit ein egalitärer Gerechtigkeitsbegriff impliziert ist. Zugleich ermöglicht dieser formal bleibende Ansatz die Zulassung verschiedener inhaltlicher Ethikkonzepte. Durch die nicht-instrumentell gedachte Motivation ist einem autonomen Selbstverständnis Rechnung getragen, wie es der Moderne entspricht, ohne essentialistische Aussagen über die Natur des Menschen in ethischer Absicht tätigen zu müssen.