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2. Das Problem theologischer Ethik im Pluralismus
Оглавлениеtheologische Ethik vs. autonome Moral
Theologische Ethik muss sich damit auseinander setzen – nicht erst seit unserer Zeit –, kritisch betrachtet zu werden. Die berühmte, sich bei Platon findende so genannte Euthyphron-Problematik bringt die Frage zum Ausdruck, ob das Sittliche sittlich ist, weil es sittlich fromm ist und deshalb von den Göttern geliebt wird, oder ob es sittlich ist, weil es geliebt wird.3 Gegenwärtig wird diese Problematik als Redundanz oder Destruktivität der theologischen Ethik diskutiert.4 Mit Redundanz ist gemeint, dass theologische Ethik nur eine überflüssige, aber keine eigentliche Begründung für die Ethik zu geben vermag, denn auch Atheisten verfügen über moralische Urteile. Wenn theologische Ethik das moralisch Richtige oder Falsche nur zum Willen Gottes ins Verhältnis setzt, dieser Wille aber nichts anderes als allgemeine moralische Normen aussagt, tritt die Überflüssigkeit dieser Ethik hervor. Will man diese Konsequenzen vermeiden und den Willen Gottes eindeutig den moralischen Normen überordnen, dann verlieren die moralischen Normen ihre Eigenständigkeit. Jetzt ist der Wille Gottes entscheidend, auch wenn er – als den Menschen verborgene Macht – etwas gebietet, das autonomen Moralsetzungen widerspricht. In diesem Fall zerstört eine theologische Ethik jede autonome Moral. Diese Problematik verschärft sich in der Gegenwart durch den generellen Pluralismus der Ethik und die Nichtverträglichkeit ihrer jeweiligen Ansätze.5 Für eine theologische Ethik ist deshalb eine genaue Begründung notwendig, wenn sie etwas anderes als redundant oder destruktiv sein soll.
Pluralismus und Multikulturalität
Der Pluralismus muss als Situationsbeschreibung der Gegenwart ernst genommen werden, wenn zeitgemäße Ethik generell auf die Probleme ihrer Zeit reagieren will. Die westliche Kultur gibt kein verbindliches Zentrum des Lebenszusammenhanges mehr vor, sondern liefert nach Richard Rorty nur die „Hilfsmittel zur Neubeschreibung und Neugestaltung unseres Ichs und unserer Umwelt“ (231: 11).6 Dieses ist ein unabschließbarer Prozess, der ohne ein prädeterminiertes Ziel auskommen muss. In einer solchen Situation stellt sich die Frage, ob sich trotz der Vielzahl menschlicher Daseinsformen ohne Dominanz einer Gruppierung oder Kultur eine staatsbürgerliche Ordnung noch gewährleisten lässt, oder ob die Gesellschaft wegen des mangelnden Bezuges ihrer Einzelgruppen in einen fortwährenden Kampf gegeneinander zerfällt. Diese Problematik, an der sich kulturelle Pluralität und ethische Kompetenz bewähren müssen, lässt sich gut an der gegenwärtigen Debatte über den Multikulturalismus studieren, die beispielhaft zwischen Charles Taylor und Jürgen Habermas geführt worden ist (siehe 239) oder als Frage nach dem Vorrang des Guten vor dem Rechten die Auseinandersetzung zwischen Kommunitarismus und politischem Liberalismus7 prägt.
Die modernen demokratischen Verfassungen des Westens – und das sei als Voraussetzung ihrer Kultur festgehalten – setzen die individuelle Integrität voraus und garantieren sie. Der Staat beschränkt sich auf die prozedurale Sicherung eines fairen Umgangs seiner Bürger/-innen und ihrer Gleichbehandlung. Die autonomen Menschen können eigene Vorstellungen von ihrem guten Leben entwickeln und realisieren. Der Staat legt keine Lebensziele substantiell fest, sondern bleibt auf der Lebensidealebene neutral und vertritt den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung anderer Auffassungen. Eine auf dieser Basis entwickelte Gerechtigkeitsvorstellung ist nicht moralisch gemeint, sondern regelt die Belange der Bürger/-innen politisch auf der Grundlage der von ihnen anerkannten Grundsätze, wie es heute maßgeblich von John Rawls (223, 224, 225) vertreten wird.
Gegen dieses prozedurale Modell wendet sich Taylor mit dem Vorwurf, hier werde allen Menschen eine homogene Form der Kultur aufgezwungen. Ist der auf Kant zurückgehende Liberalismus in Wirklichkeit eine hegemoniale Bestrebung, „ein Partikularismus unter der Maske des Universellen“ (239: 35) der Menschenwürde? Als Gegenmodell verweist Taylor auf das frankophone Gebiet um Quebec. Hier ist, im Gegensatz zum Liberalismus mit seiner Neutralität auf der Lebensidealebene, als gemeinsames Gut ein Bündel von Sprachgesetzen zugunsten der französischen Sprache erlassen worden (239: 45). Diese zentrale Festlegung der Kultur lehnt die Gleichwertigkeit aller Kulturen mit dem Hinweis ab, sie führe zu einer Beliebigkeit, die auch die verschiedenen Phasen der jeweiligen Kulturen nicht berücksichtigt. Stattdessen bemüht Taylor eine nicht rechtlich, sondern letztlich religiös begründete Vorstellung vom Respekt gegenüber anderen Kulturen (239: 62 – 71). Die Vielfalt der Kulturen wird mit der göttlichen Vorsehung in Verbindung gebracht, die eine größere Vielfalt auf der Welt intendiere. Daraus folgen für Taylor einmal die Unmöglichkeit der Absolutsetzung der eigenen Kulturauffassung und andererseits Respekt vor den jeweils kulturell vermittelten Bedeutungsräumen anderer Menschen. In der Konsequenz dieser Auffassung liegt ein Nebeneinander der gesellschaftlichen Gruppierungen, deren Relationen über den Sachverhalt des bloßen Respektes hinaus ungeklärt bleiben.
Habermas sieht durch Taylor zu Recht den individualistischen Kern des modernen Freiheitsverständnisses in Frage gestellt. Er möchte gleichermaßen die Achtung vor der unverwechselbaren Identität jedes Individuums ebenso anerkennen wie diejenigen Handlungsformen, die bei den Angehörigen der jeweiligen Gruppen Ansehen genießen, also die Menschen in ihrer privaten und öffentlichen Autonomie verstehen. Folglich gipfelt seine Kritik an Taylor in dem Vorwurf einer paternalistischen Interpretation des nicht länger neutralen Gesetzes (239: 153). Zudem ist das System der Rechte weder „gegenüber ungleichen unsozialen Lebensbedingungen“ noch „gegenüber kulturellen Differenzen blind“, vorausgesetzt, man schreibt den Trägern „subjektiver Rechte eine intersubjektivistisch begriffene Identität“ (239: 154) zu. Da Habermas die Rechtsnormen als Interaktionszusammenhänge bestimmter Gesellschaften versteht, sind sie sowohl Ausdruck bestimmter pluraler Lebensformen als auch als universaler Gehalt der Grundrechte gedacht, womit Einzelnes und Allgemeines vermittelt sind. Aufgrund der kontingenten Zusammensetzung eines Staatsvolkes kann sich mit der Zustimmung zu Rechtsnormen kein gemeinsamer Wertkonsens über den Gehalt eines gemeinsamen guten Lebens verbinden. Vielmehr müssen sie in der Pluralität als „Konsens über das Verfahren legitimer Rechtssetzung und Machtausübung“ (239: 179) formal bleiben.
Diese Gedanken korrigieren Taylors Behauptung von der Notwendigkeit der Fortführung kultureller Zusammenhänge. So unbestreitbar die Leistung traditioneller Kulturen darin liegt, Menschen eine Überlieferung zu geben und „ihrem Sinn für das, was gut, heilig, bewundernswert ist, Ausdruck“ (239: 70) zu verleihen, so unmöglich ist der Gedanke ihrer Fortführung über alle Zeiten, denn bestimmte Auffassungen lassen sich nicht bruchlos in der Moderne weiterführen. Die Konsequenz wäre eine museale Konservierung bestimmter Lebensformen. Außerdem schränkt Taylors sich an Herder anlehnende theologisch begründete Motivation des gegenseitigen Respektes aufgrund der Marginalisierung der Religionen in der Gegenwart8 den unterstellten allgemeinen Konsens ein. Mit dieser Kritik ist nicht die Möglichkeit sinnstiftender Gruppierungen in den modernen Gesellschaften in Abrede gestellt, wohl aber ihr allgemeiner Anspruch auf überzeitliche Fundierung und Dominanz.
Wenn moderne Gesellschaften multiperspektivisch werden, dann kann es weniger um das Durchsetzen und Erhalten der besonderen Gestalt einer kulturell geprägten Identität gehen als vielmehr um das Miteinander verschiedener Kulturen. So gilt es – auf der Spur Habermas’ und des politischen Liberalismus –, grundsätzlich die Möglichkeit einer Vielzahl individueller Kulturen zu bejahen und ihren Gestaltungen Raum zu gewähren. Eine dieses berücksichtigende multikulturelle Gesellschaft muss ohne ein inhaltlich ausgeführtes, für alle Menschen gleichermaßen gültiges und allgemeines Gut auskommen, gerade um dieses Nebeneinander gewährleisten zu können. Formal aber lässt sich von der Gleichheitsvorstellung des politischen Liberalismus aus die Zustimmung zu einer pluralistischen Gesellschaft als ein Gut verstehen, das auf dem übergreifenden Konsens aller Beteiligten zu einer Gesellschaft beruht, die von einem fairen System der Kooperation ausgeht (siehe 224: 333 – 397).
Ökonomisierung der Lebensverhältnisse
Von diesem Gesichtspunkt aus lässt sich das von vielen gegenwärtigen Soziologen benannte Problem der Ökonomisierung unserer Lebensverhältnisse9 als Dominanzanspruch einer ökonomisch geprägten Kulturform kritisieren. Wenn man den Bereich der Gesamtkultur in die drei Bereiche Wirtschaft, Politik und Individualitätskultur differenziert, ist deutlich, dass sie auf unterschiedlichen Prinzipien beruhen: die Wirtschaft auf der Effizienz, die Politik auf der Gleichheit und die Individualitätskultur auf der Selbstverwirklichung. Dies ist ein Grund für die immer stärkere Segmentierung der Gesellschaft. Da sich die Individualitätskultur zwar außerhalb der sozialen Funktionssysteme von Wirtschaft und Politik verwirklicht, sie aber unter den Bedingungen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft steht, ist der Markt von entscheidender Bedeutung, da er die Individualitätskultur beherrschen kann. Damit kann die kulturell begründete Individualität durch Mechanismen ökonomischer Bezüge dominiert werden (247: 13 – 45). Von dieser Erkenntnis aus ist, wie Wolfgang Welsch betont, nicht „mehr die Situation der Pluralität, sondern der mögliche Verkehr der pluralen Formen untereinander […] zum generellen Problemfokus der Gegenwart geworden“ (244: 72).
Diese Problemsicht macht die Schwierigkeiten einer theologischen Ethik im Rahmen des Pluralismus deutlich, wenn sie weder redundant noch destruktiv sein soll. Würde sie unumstößlich gültige Letztbegründungen für Orientierungen oder Wertmaßstäbe zu formulieren suchen, so wäre damit die Pluralität verletzt und eine Kommunikationsmöglichkeit mit anderen Weltanschauungen oder Wissenschaften nicht gegeben. Was aber hat eine theologische Ethik, unter Aufnahme ihres sozialen Wissensvorrates, etwa zum Problemfeld der Ökonomisierung der Lebensverhältnisse zu sagen, was nicht redundant oder destruktiv ist? Um diese Frage beantworten zu können, ist zuerst zu klären, ob es für die skizzierte Situation des modernen Pluralismus eine allgemeine Ethik gibt.10 Erst dann kann auf die Frage nach der theologischen Ethik eingegangen werden.