Читать книгу HASSO - Legende von Mallorca - Wolfgang Fabian - Страница 5
3. Strafeinheiten für die Fronten
ОглавлениеEs vergingen nur wenige Tage in Freiheit, als Hasso von zwei Männern in Zivil abgeholt und in die Kaserne nach Hamburg-Fischbek gebracht wurde. Seinen Vater in Kenntnis
zu setzen, war ihm verwehrt worden. Nun kurz gesagt: In Hasso, gerade aus dem KZ entlassen und endlich wieder freie Luft atmend, überschlugen sich düstere Ahnungen, die ihm die Brust eng werden ließen; und sie sollten sich bewahrheiten: denn von der Gestapo wurde er nach wie vor als ein sich entwickelnder Feind des Systems eingestuft.
In der Kaserne wurde Hasso mit vielen anderen frei und nicht frei gelassenen Häftlingen kurzerhand in schlichtes Feldgrau gesteckt, aber nicht bewaffnet. Hier traf Hasso auch wieder auf Georg Mohr. Ferdinand Georg hingegen war nicht unter den Ausgesonderten des KZ's (die genaue Zahl ist uns nicht bekannt), die hier zu einer uniformierten, aber wohl kaum zu nennenden militärischen Einheit zusammengefasst und gleich darauf der Strafdivision 500 unterstellt wurden. Strafeinheiten, Strafbataillone! ... Das waren Einheiten für besondere Einsätze. Sie bekämpften – dann selbstverständlich bewaffnet – beispielsweise Partisanen, gingen vor als Stoßtrupps, mussten – dann wieder ohne Waffen – Stellungen und Bunker bauen, Minen verlegen und verminte Gebiete räumen, Leichen von den Schlachtfeldern bergen und vieles mehr. Es waren Einsätze sehr oft unter Feindbeschuss, den sie, einen Gefallenen auf der Trage, selbst nicht überlebten.
Es mag niemanden verwundern, dass mancher Gruppen- oder Zugführer einer Strafkompanie von Untergebenen erschossen oder erschlagen worden ist, wenn beispielsweise Schikanen überhand nahmen.
Die Strafeinheiten wurden nach einem Führererlass aufgestellt, der besagte, dass verurteilte Zivilisten – viele von ihnen glaubten, mit Straftaten dem Kriegsdienst zu entgehen –, von Wehrmachtsgerichten verurteilte Soldaten sowie KZ-Insassen in Sondereinheiten zusammengefasst werden sollten. Der erste Verband wurde Mitte 1941 aufgestellt: die Strafdivision 500, der nun auch Hasso angehörte. Später beschickte die deutsche Militärjustiz zusätzlich sogenannte Feldstrafgefangenen-Abteilungen. Als berüchtigste Einheit im Verband tat sich das Bewährungsbataillon 999 hervor.
Die Personalstärke der Bewährungstruppen lässt sich auf 29.700 Männer nachweisen, wovon 5.400 zum Stammpersonal gehörten. Es ist aber davon auszugehen, dass insgesamt über 33.000 Männer diesen Einheiten angehörten und starben, auch unter ihnen zuvor zum Tode Verurteilte. Manch ein Vorgesetzter in derlei Einheiten hatten sich ebenfalls zu bewähren. Homosexuelle kamen als Wehrunwürdige jedenfalls vorerst nicht an die Fronten, sie litten und starben, wie auch Zigeuner, weiterhin in Konzentrationslagern.
Bei den nicht vorbestraften Angehörigen der Stammgruppen handelte es sich um ausgesuchte, oft schlichtdenkende, auf nichts Rücksicht nehmende niedere Dienstgrade, entschlossen, für ihren Führer Adolf Hitler durch die Hölle zu gehen. Sie drillten ihre Untergebenen oft unmenschlich, schonten sich selbst aber auch nicht. Mancher Offiziers- oder Unteroffiziersdienstgrad, wegen Feigheit vor dem Feind verurteilt und degradiert, bewies, um wieder freizukommen, als Vorgesetzter in einer Strafeinheit das Gegenteil. Es ist nicht verwunderlich, dass der eine oder andere Peiniger von seinen Untergebenen umgebracht worden, dass andrerseits eine große Zahl von Sträflingen zu den Sowjets übergelaufen ist. Auch in Bewährungs- oder Strafeinheiten waren, wie in den regulären Truppenteilen, Standgerichte integriert. Verhängten sie Todesurteile, dann wurden sie sofort vollstreckt. Diese Gerichte fällten in den Einheiten der Bewährungsdivision 500 nachweisbar 136 vollstreckte Todesurteile. Nach allen Erkenntnissen waren es insgesamt weit über 300. Die Soldaten wurden nicht nur durch gefahrvolle Einsätze belastet, sondern gleichermaßen durch verschärfte Bedingungen in normalen Tagesdiensten. Reguläre Einheiten, die nach verlustreichen Kampfhandlungen frischer Soldaten bedurften, wurden zwecks Erholung und Neuaufstellung oft in kampffreie Rückräume verlegt, nicht so Überlebende von Strafeinheiten.
Zurück zu den ehemaligen KZ-Insassen in der Pionierkaserne in Fischbek. Hasso und seine Kameraden hofften, dass sie jetzt, vor ihrer Verlegung nach sonstwo, ihre Familien von ihrer Situation in Kenntnis setzen durften. Doch die SS-Schinder lachten nur. Für irgendwelche Benachrichtigungen wäre ihre neue Einheit zuständig, nämlich dann, wenn sie es für notwendig erachte ... das sei dann immer noch früh genug. Was sie damit sagen wollten, war nicht schwer zu verstehen. Hassos Trostspender war Georg Mohr, Anhänger islamischen Glaubens und ohne Angehörige. Beide wollten unter allen Umständen darauf achten, nicht getrennt zu werden.
Es war ein ziemlich langer Transport mit rund achthundert verurteilten Soldaten, wenn man Kz'ler und Kriminelle aller Art als Soldaten bezeichnen kann. Die Güterwaggons waren überbelegt, sodass auch Hasso und Georg Mohr sich mühten, ausreichend Platz zum Liegen zu gewinnen. Die Vorgesetzten dieses Sträflings- und KZ-Bataillons belegten für sich einen Personenwagen, angekoppelt etwa in der Mitte des Zuges. In den beiden letzten Waggons lagerten Karabiner, Munition, Handgranaten und Seitengewehre, im drittletzten Waggon waren vier Reitpferde untergebracht. Hielt der Zug, wurde die Zeit genutzt, um die Pferde zu versorgen und ihren Waggon auszumisten. Verpflegung, für die ein Waggon an die Personenwagen gehängt worden war, wurde seltener ausgeteilt, die Trinkwasserversorgung hingegen war vordringlicher.
In jedem Mannschaftswaggon stand in jeder Ecke ein Fäkalienkübel. Das war die ganze Einrichtung. Offene, hoch angebrachte Klappfenster sorgten für nur geringe Helligkeit. Hasso, Georg Mohr und alle anderen Männer aus dem KZ Neuengamme waren komplett in zwei Waggons eingesperrt. Wahrscheinlich hielten es die Zug- und Gruppenführer für unbedenklicher, wenn Verbrecher jeglicher Art von Kzlern getrennt untergebracht waren.
Tage später geriet der Zug nach Überfahren der Grenze zur Ukraine unter Partisanenbeschuss, dem einige Waggoninsassen zum Opfer fielen, etliche andere wurden verwundet. Viele Opfer hatte nach Abfahrt des Transports in Hamburg im Übrigen auch die Verpflegung gefordert. Neben Brot bestand sie hauptsächlich aus fetter Wurst und viel Speck. Diese anfangs sehr begrüßte, aber ungewohnte Nahrung war den an erbärmliche Schmalkost gewöhnten Mägen der Häftlinge ganz und gar nicht bekommen. So war es nicht verwunderlich, dass sich viele Männer in Krämpfen wanden und alles, was sie gegessen hatten, wieder von sich gaben. Andere wiederum erreichten den Fäkalienkübel nicht rechtzeitig. Es muss nicht genauer beschrieben werden, welche Maßnahmen getroffen wurden, wenn der Zug Zwischenstopps einlegte. Jedenfalls mussten dann nicht nur Kübel entleert, Wasser und seltener Kohle nachgebunkert und Pferde versorgt, sondern auch Menschen entsorgt werden. In den ersten Haltezeiten war dann durchgesickert, dass nicht nur ehemalige KZ-Insassen der gehaltvollen Nahrung zum Opfer gefallen waren. Vorteil danach für die Männer, die das erste große fette Fressen halbwegs überstanden. Sie verfügten über mehr Platz, wenn sie nach dem nächsten Halt ihre toten Kameraden aus den Waggons entfernt hatten. Der Gestank hingegen war das Unerträglichste, dem sie ausgesetzt waren. In dem Waggon, in dem Hasso und Georg untergebracht waren, hatte es nur einen Verpflegungstoten gegeben, achtzehn Erkrankte erholten sich wieder.
Georg Mohr schlug alle paar Stunden als Teppichersatz seine Wehrmachtdecke auf, ließ sich auf die Knie fallen und betete gen Mekka. Ob jeweils die Richtung stimmte, darüber diskutierte man gelegentlich. Jedenfalls legte Georg Mohr keinen Wert mehr darauf, unbemerkt zu seinem Gott zu sprechen. Manch einer bewunderte ihn sogar und fühlte Ruhe in sich aufkommen; und niemandem kamen lästernde Bedürfnisse in den Sinn.
Ziel des Sträflingszuges war die Stadt Charkow in der Ukraine.
Es war um die Mittagszeit, als der Transport sein Ziel erreichte. Niemand hatte sich gemerkt, wie viele Wochen oder Tage sie unterwegs gewesen waren, niemand kümmerte es. Auf dem weiten Gelände neben einem Vorortbahnhof Charkows begrüßte der Krieg das unweit des Zuges lagernde Bataillon, deren Kompanieführer darauf warteten, was weiterhin mit ihnen geschehen solle. Die Musik des Krieges! Hier war sie nicht das gelegentliche Gewehrfeuer versteckter Partisanen, hier erschreckte sie mit in der Lautstärke sich ständig überschlagenden tiefen, platzenden Tönen die gerade unfreiwillig angekommenen Zuhörer. Die ungewohnten Geräusche und der Anblick der Zerstörungen und des östlichen Horizonts wühlten in den Sträflingssoldaten fast panische Ängste vor dem noch für sie Unbekannten auf, hinterließen zudem das Gefühl, als zittere der Boden unter ihren Stiefeln. Kein lautes Reden war zu hören, die Männer lauschten und hingen ihren Gedanken nach, wobei sie dorthin starrten, wo sich für sie der Krieg zwar noch fern, aber in brutaler Deutlichkeit offenbarte. Flackernde, blitzende Lichtkaskaden untermalten die Melodie des Krieges und grüßten in teuflischer Verzückung herüber: eine Aufführung des Grauens auf brennender Bühne. Den Männern wurde offenbart, was sie erwartete, hier verfolgten sie eine Ouvertüre des Dramas. Sie lagerten ohne Waffen und Munition. Sollten sie mit Steinwürfen den Feind bekämpfen? Sie wollten beides nicht: weder Waffen und Munition empfangen noch mit Steinen werfen. Unweit von ihnen lagen die Bahnhofsgebäude fast sämtlich in Schutt und Asche und soweit erkennbar, auch Teile der diesseitigen Vorstadt. Und als die Dämmerung langsam heraufstieg, verstärkte sich der gespenstische Anblick, wenn stehen gebliebene Schornsteine verbrannter Häuser, überwiegend ehemalige Holzbauten, sich zuckend vor dem Glut wabernden Horizont erhoben, so als lebten sie und jemand versuche mit starker Hand, auch sie zu stürzen.
Bis in die Innenstadt Charkows hätte der Zug nicht fahren können, denn nur bis hier hatten deutsche Pioniere demolierte Gleise gegen noch brauchbare ausgetauscht. Zu Pionierarbeiten wurden im Übrigen bald auch Angehörige von Bewährungseinheiten eingesetzt.
Das Strafbataillon wartete auf Befehle. Sollte es in dieser Gegend Stellung beziehen, um die Rote Armee aufzuhalten? Einerlei, welche Befehle die Sträflingstruppe erreichen sollte, jedem der hier Lagernden, der halbwegs imstande war, Situation und Verhältnisse zu überblicken, wurde schnell klar, am Ende seines Lebensweges angekommen zu sein. Sollten sie nicht nur mit ihren Körpern den Sowjets Paroli bieten, mussten Waffen und Munition ausgegeben werden. Aber auch dann konnte nicht möglich sein, die angreifenden Sowjets auch nur für eine Stunde aufzuhalten, denn kaum jemand wusste mit Karabiner und Handgranaten umzugehen. Nun, Waffen und Munition wurden nicht verteilt, lagerten nach wie vor in einem Waggon. Die Lokomotive indes stand weiterhin unter Dampf. Bald fuhr ein geschlossener Kübelwagen vor, vom Bataillonsstab angefordert, der Waffen und Munition übernahm. Danach setzte der Zug zurück, um an einem Weichenbereich die Lokomotive abzukoppeln und als Zugmittel wieder anzukoppeln.
Fast gleichzeitig erreichte ein Befehl das Bataillon, nicht in die vorgesehenen, bereits in die von den Vorgängern gebauten Stellungen zu marschieren, sondern sich sofort auf den Weg in die nicht weit entfernte Kleinstadt Charlowka zu machen, wo es weitere Befehle abzuwarten galt. Also formierte sich die Einheit und marschierte kilometerweit durch die dunkler werdende Nacht. Hassos Füßen bereitete der Marsch ziemliche Probleme. Georg Mohr klagte er, mit seinen Plattfüßen nicht mehr lange durchhalten zu können, doch er nahm sich zusammen. Als der Morgen dämmerte, hatte das Bataillon sein Ziel erreicht. Es war fast ausschließlich durch lichte Birkenwälder marschiert, in denen der Kübelwagen problemlos vorankam. Er war der Einheit mit vielen Stopps gefolgt und dadurch dem Risiko ausgesetzt, im richtigen Augenblick von dem Marschkörper von Partisanen abgetrennt zu werden.
Auf dem ersten Blick waren keine Zerstörungen in Charlowka wahrzunehmen. Doch von den Einwohnern waren anscheinend nur wenige in ihren Holzhäusern geblieben. Ferner Kriegslärm, wie am Rande der Großstadt Charkow, war nur schwach zu hören, auch nur dann, wenn keine Motorengeräusche in den Ort drangen. Unweit des Stadtrandes verlief eine der sogenannten Rollbahnen, eine äußerst breite das Gelände zerfurchende Streckenführung, verursacht von Vormärschen und Nachschubeinheiten deutscher Verbände. Trotz rasanter Erfolge der Wehrmacht traten natürlich auch Situationen ein, in der gebietsweise die Rote Armee zurückschlug, wie seit Kurzem am Rande Charkows und anderswo. Einige Hundert zerfetzte deutsche Soldaten zusätzlich waren für die Nazi-Führung keine erhabene Sache.
Erst im Februar 1943 raubte der Untergang der VI. Armee, der sich ab Herbst 1942 angebahnt hatte, dem Führer und seinen Generälen den Schlaf. Und es waren nicht wenige Verbandsführer, die das als einen Anfang vom Ende deuteten ... aber nur für sich oder in einem bestimmten Kreis.
In der Zeit der Ankunft des Strafbataillons herrschte auf der Rollbahn nur wenig Verkehr. Bis vor zwei Tagen hatte in dieser Stadt und vor allem vor dem östlichen Stadtrand bereits reguläre deutsche Infanterie in Stellung gelegen, bis die Soldaten dann plötzlich abgezogen wurden. An diesem Tag sollte das Strafbataillon die Infanteristen vorerst ersetzen. Da die Stadt ziemlich menschenleer war, durften sich die Soldaten vorerst in den Häusern einquartieren. Hasso und Georg Mohr fanden Unterkunft in einem einstöckigen Holzhaus, das noch von einer Familie bewohnt wurde, der zwei alte Männer, vier junge und zwei alte Frauen sowie zwei Kinder angehörten. Die beiden Besetzer fühlten sich alles andere als wohl in ihrer Haut, den ukrainischen Hausbewohnern erging es nicht anders. Nach Einmarsch der Wehrmacht in ihr Land hatten sie, wie fast alle ihre Landsleute, gehofft, von den Deutschen vom Stalinregime befreit und eigenständig zu werden, was ihnen anfangs auch vermittelt worden war. Doch nach nur kurzer Zeit verdrängten Enttäuschung und Zorn ihre Hoffnungen: Die Ukraine war für die Deutschen ebenfalls Feindgebiet. Dennoch sahen Tausende von Ukrainern ihren Kampf gegen das Sowjetregime erst am Anfang, was der Wehrmacht sehr gelegen kam. 1943 stellte die SS aus willigen Ukrainern die 14. Waffen-Grenadier-Division auf (SS-Division-Galizien), die aber, aus gutem Grund, nicht in der Ukraine eingesetzt wurde.
Kaum Quartier genommen, sollte die Einheit den Ort wieder verlassen. Der Grund war, dass die Sowjets mit plötzlichen Artillerieschlägen die vorgelagerten deutschen Stellungen am Westufer des Donez' gesprengt und dann den Strom überquert hatten. Bei ihrem folgenden Vormarsch mussten sie von den Deutschen bis Charlowka keine Gegenwehr befürchten. (Das Blatt sollte sich aber bald wieder wenden). Und diesen Sowjet-Vormarsch sollte ein Strafbataillon mit Soldaten, die nicht einmal einen Karabiner nach Vorschrift abfeuern konnten, aufhalten und dadurch die Maßnahmen für einen deutschen Gegenstoß ermöglichen? Aufhalten gewiss für eine kurze Zeit, ohne wirkungsvollen Waffeneinsatz wahrscheinlich nur wenige Minuten.
Gleich in der ersten Nacht wurde es in der kleinen Stadt äußerst unruhig. Es wurde zum Sammeln gebrüllt. Der Befehl erreichte rasch auch die letzte Unterkunft. Aus allen Quartieren quoll es heraus und hetzte zum Sammelplatz. Gewehre und Munition sollten jetzt verteilt, die Empfänger dann so schnell wie möglich die bereits vorhandenen Stellungen wenige Kilometer vom östlichen Stadtrand entfernt, beziehen. Es waren ursprünglich von den Sowjets gegrabene Verteidigungsanlagen. Unverkennbar war jetzt: Das Strafbataillon war dazu ausersehen, sich tatsächlich den anstürmenden Sowjets mit Karabinern und Handgranaten entgegenzustemmen, um regulären Einheiten im Hinterland die Zeit für ein erneutes Formatieren zu verlängern. Der Einsatz des Strafbataillons in diesem Frontbereich war nach Anbeginn seiner Aufstellung nicht geplant gewesen. Einsätze wurden je nach Bedarf kurzfristig befohlen. Das Schicksal des Strafbataillons schien jetzt besiegelt zu sein.
Häuser und Bewohner waren wieder schnell frei von ihren deutschen Gästen ... nein, nicht von allen. Hasso und Georg waren auf ihren Schlafplätzen einfach liegen geblieben. Angesichts ihrer anscheinend aussichtslosen Lage waren sie bereits gleich nach ihrer Ankunft in diesem Haus mit sich übereingekommen, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit sich abzusetzen. Die Folgen waren ihnen gar nicht in den Sinn gekommen. Sie hatten nur im Kopf, in den nächsten Tagen vernichtet zu werden, wenn sie ihrer Einheit nicht den Rücken kehrten. Seitens ihrer sich freundlich, aber untereinander sich schweigend verhaltenen Quartiergebern schien ihnen keine Gefahr zu drohen. Die Leute erweckten den Eindruck, als gehe sie das alles nichts an. In Wahrheit litten sie unter der Furcht, in absehbarer Zeit ebenfalls vom Frontgeschehen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Die Absicht der beiden Deutschen hatten sie natürlich erkannt, reagierten aber nicht. Wie hätten sie sich auch verhalten sollen?
Als der Tag heraufzog, war von dem Strafbataillon nichts mehr zu hören und zu sehen. In dem überstürzten Aufbruch war Hassos und Georgs Nichterscheinen auf dem Sammelplatz anscheinend nicht wahrgenommen worden, weil jeder mit sich selbst zu tun hatte. Und auch den Zug- und Gruppenführern interessierten Gesichter und Namen ihrer Männer nicht im Geringsten.
Als Hasso und Georg sich anschickten, das Haus zu verlassen, schreckte sie das plötzliche Auftauchen eines blondbärtigen, fast kahl geschorenen, mit grobem Bauernzeug bekleideten Mannes mittleren Alters zurück. Um seinen Hals hatte er einen gefüllten Patronengurt hängen, an seiner rechten Gürtelseite eine Pistole und an der linken ein in einer Fellscheide steckendes Messer. Ein zweiter Mann in ähnlicher Aufmachung war vermutlich als Wache draußen vor der Tür in Deckung geblieben. Hasso und Georg stockte der Atem. Der ihnen Furcht einflößende Mann erschrak nicht minder beim Anblick der deutschen Uniformen, erkannte dann aber schnell, was es mit der Anwesenheit der beiden Deutschen auf sich hatte. Er wusste sehr genau, wenn an deutschen Uniformröcken weder Schulterstücke, Kragenspiegel oder andere Zugehörigkeits- oder Tätigkeitszeichen angebracht waren, dass deren Träger nicht zu den regulären Truppen gehörten. Und seine Angehörigen indes schienen seit Stunden mehr als ratlos, wie sie mit den Deutschen umgehen sollten.
Sie atmeten auf, als sie den wild aussehenden Krieger eintreten sahen. Dieser Mann, sich in gebrochenem Deutsch als Offizier der Roten Armee ausgebend, war bestens informiert davon, diesen Ort wieder frei von deutschen Truppen vorzufinden. Er verschwieg auch nicht, der Ehemann der jüngeren Frau in diesem Haus zu sein. Dass sich die beiden ukrainischen Krieger in dieser Gegend aufhielten und nicht in der Uniform der Sowjets, war für Hasso und Georg nicht schwer zu erraten. Es waren Partisanen, für die es Pflicht war, jeden Deutschen umzubringen, der ihnen in die Hände fiel.
Vermutlich war der Offizier, der sich in diesem weiten Gebiet natürlich sehr gut auskannte, auftragsgemäß und vorübergehend mit einer Partisanengruppe in Verbindung zu bringen. Der Mann, wohl wissend um das wahrscheinlich baldige Eintreffen seiner Waffenbrüder, war sich nicht sogleich schlüssig, Hasso und Georg entweder seiner Truppe als Kriegsgefangene festzuhalten oder sie kurzerhand zu erschießen oder sie sich selbst ihrem Schicksal zu überlassen. Er entschied sich für das Letztere, nachdem er sich hat überzeugen lassen, es tatsächlich mit Fahnenflüchtigen zu tun zu haben. Hassos und Georgs Äußeres bestätigten des Kriegers Vermutung, noch bevor er eine eindeutige Erklärung entgegennehmen konnte, welchem Truppenteil die beiden Gäste angehörten. Und zuletzt war das Foto, dass Hasso vorzeigte, mit ausschlaggebend, dass der Ukrainer nicht lange überlegen musste. Er ließ sich von seiner Frau einen Füllfederhalter in die Hand geben und beschrieb die Rückseite des Fotos. Danach gab er es Hasso zurück und erklärte seine Dokumentation, bis sie von den beiden Deutschen begriffen wurde. Es stehe auf der Fotorückseite der Hinweis, dass es sich bei den beiden Deutschen um Widerstandskämpfer handele. Dieser Hinweis sollte lebensrettend sein, falls die beiden in die Hände sowjetischer Soldaten oder Partisanen gerieten. Insgeheim war er aber überzeugt, dass Hasso und Georg auf ihrer Flucht eher umkommen werden, als in Gefangenschaft zu geraten. Sich der beiden Deutschen mit einigen Schüssen zu entledigen, wäre nicht nur gegen seine Ehre als Offizier. Ihm stand auch vor Augen, sie als Überläufer einer sowjetischen Einheit zu übergeben, jedoch sah er als Partisanenführer darin keine gute Lösung.
Bevor der Sowjet-Offizier sie entließ, wurden sie von den Frauen, beauftragt von dem Offizier, mit jeweils einer Hose und einer Joppe ausgerüstet. Die graubraunen Teile waren fest gewebt, vermutlich schon einige Jahre alt, aber sauber und nicht verschlissen. Ob sie passten, war den beiden Flüchtigen einerlei. Sie beschlossen, ihre Kleider noch nicht zu wechseln, erst dann, wenn es für ihre Flucht notwendig und vor allem, wenn es ohne Zeugen möglich sei. Zum andern war ihnen schnell in den Sinn gekommen, was sich ergeben könnte, wenn sie in Bauernkleidung plötzlich Partisanen gegenüberständen, nicht schnell genug des Offiziers Empfehlung hervorziehen, sich stattdessen auch sprachlich nicht erklären könnten? ... In ihrem Wehrmachtsgrau müssten sie fraglos sofort ihr Leben zur Verfügung stellen. Weder die Bekleidungsfrage noch die Frage, was könnte, wenn … war augenblicklich und unmöglich zufriedenstellend zu beantworten. Also verstauten sie die ihnen großzügig überlassenen Sachen in ihren Rucksäcken, dazu einige in einem Tuch eingeschlagene Kanten Brot, gekochte, jetzt kalte Hühnerteile und eine ziemlich harte Wurst. Sich nun auch noch die Hilfsbereitschaft der ukrainischen Familie zu erklären, dazu fehlte ihnen nicht nur die Zeit, sondern auch das Verständnis der politischen Verhältnisse. Stahlhelm und Gasmaske samt Behälter ließen sie auf Anraten des Offiziers zurück, behielten nur ihre Feldmütze auf dem Kopf. Am Ende erhielt jeder noch eine derbe braune Schlägermütze, etwas zu groß für ihre schmalen Köpfe, aber immer noch besser, sagten sie sich, als zu klein.