Читать книгу Mein Ostpreußen - Wolfgang Konig - Страница 3

Martin verliert seine Eltern

Оглавление

Räder müssen rollen für den Sieg! Diese Parole hatten Hitlerjungen in großen Buchstaben an einem Hügel, gut einsehbar von der Bahnstrecke Berlin - Königsberg, in den Neuschnee getreten. Nun fielen die letzten Strahlen der Abendsonne des 28. Januar 1944 darauf. Der Himmel war klar und versprach eine frostige Nacht.

Aus der Reichshauptstadt kommend näherte sich ein Zug. Er wurde von einem „Halt“ zeigenden Signal gestoppt. Seine Räder kamen zum Stehen, und die immer länger werdenden Schatten der Wagenreihe überdeckten schließlich die Schrift. Noch bevor das Signal wieder die Strecke freigab, kroch die Dunkelheit heran und verschlang Parole und Bahn.

Die Abteile des Zuges waren überwiegend mit Soldaten besetzt, die in dem nun schon mehr als vier Jahre dauernden Krieg langersehnten Heimaturlaub erhalten hatten. Jetzt fuhren sie zu ihren Einheiten an die Ostfront zurück. Die Männer sprachen kaum, aber schliefen nicht. Im spärlichen Licht der Verdunkelungslampen konnte man hin und wieder das Aufglimmen einer Zigarette sehen. In ihrer Urlaubszeit hatten sie gehört und erlebt, wie der Luftkrieg auch die Heimat immer mehr zur Front werden ließ. Nun nahmen sie die Sorge um ihre Lieben daheim als drückende Last in ihre Einsatzorte mit.

In einem der Abteile saß auf einem Fensterplatz ein Junge. Martin war 15 Jahre alt. Er versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Nun schob er den Fenstervorhang etwas zur Seite und preßte seine Stirn gegen das beschlagene Glas. Die Kälte der Nacht, die durch die Scheibe drang, tat gut, aber die Gedanken an den Tod seiner Eltern verscheuchte sie nicht. Der Junge blickte hinaus in die Dunkelheit. Nirgends sah er ein tröstendes Licht.

Seit den frühen Morgenstunden war Martin unterwegs. Sein Patenonkel hatte ihn in einem Vorort seiner Heimatstadt zur Bahn gebracht. Von dort wurden nach den schweren Luftangriffen Ende Juli die Fernzüge nach Berlin eingesetzt. Es war Mittag, als der Junge über Wittenberge auf dem Lehrter Bahnhof in der Reichshauptstadt eintraf. Er hatte damit die erste Umsteigestation seiner weiten Reise erreicht.

Für ihn als Großstadtkind hätte es leicht sein müssen, selbst in einem fremden Ort über dessen Schnellbahnnetz zum Schlesischen Bahnhof zu gelangen, aber der Luftkrieg hatte gerade in den letzten Monaten auch Berlin schwer heimgesucht. Martin atmete erleichtert auf, als er dann doch noch den Anschlusszug nach Tauroggen bekam.

Sein Ziel war das kleine ostpreußische Städtchen Insterburg, in dessen Vorort Sprindt der verheiratete Bruder seines Patenonkels lebte. Grafs, die er seit dem Kriegsausbruch nicht mehr gesehen hatte, boten ihm dort ein neues Zuhause an.

Noch immer fuhr der Zug durch die Nacht und erreichte schließlich Küstrin. Der Stationsname ließ sich bei der schwachen Beleuchtung nur erraten, die Stimme des Ausrufers war jedoch in der Stille gut zu verstehen. Eine Pumpe an der Lokomotive verursachte dann lange das einzige Geräusch, bis irgendwo Türen schlugen, und die Fahrt mit Verspätung weiterging.

Hinter Schneidemühl begannen Eisblumen auf dem vorher beschlagenen Fenster zu erblühen. Draußen musste es noch kälter geworden sein. Martin lehnte seinen Kopf an die Abteilseitenwand. Was nützte das Grübeln und in die Dunkelheit Schauen? Dadurch beschwor er doch nur die schrecklichen Bilder, die ihn seit dem Tode seiner Eltern verfolgten, aufs neue hervor. Gerade davor aber hatten ihn die Ärzte nach seiner Schockbehandlung in der Klinik gewarnt. Bewusst kämpfte der Junge gegen die ihn belastende Erinnerung an, bis ihm die Müdigkeit nach diesem langen Tag zu Hilfe kam. Schon im Einschlafen spürte er noch, wie der neben ihm sitzende, fremde Soldat fast väterlich seinen Militärmantel um ihn schlug.

~~~

Heute früh hatte Herr Graf sein Patenkind zum Zug gebracht. Nun fuhr er mit einer Nebenbahn in das weit außerhalb der Stadt am Fluss liegende Kraftwerk zurück. Er war als Maschineningenieur der Leiter des Werkes und wohnte auch dort. Familie besaß er nicht.

Es war windstill und nicht sehr kalt. Die Sonne schien auf den nachts reichlich gefallenen Schnee und tauchte die Gegend in freundliches Licht. Aber Herr Graf nahm das alles kaum wahr. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem Jungen zurück.

Seine langjährige Freundschaft mit dessen Vater, dem Elektroingenieur im Werk, hatte zu der Patenschaft geführt. Als der Polenfeldzug begann, bewahrte die Aufgabe der beiden Männer diese zunächst vor dem feldgrauen Rock. Später, nach dem Fall von Stalingrad, als Goebbels den totalen Krieg ausrief, wurde jedoch auch Martins Vater Soldat.

Für den technisch interessierten Jungen änderte sich dadurch vieles sehr. Die Quelle, aus der er sein Wissen geschöpft hatte, war nun versiegt. Zwar besuchte er manchmal seinen Patenonkel im Werk, aber für die anschaulichen Erklärungen seines Vaters war das nur ein geringer Ersatz. So hatte sich Martin auch aus diesem Grunde sehr auf dessen Urlaub im Dezember 1943 gefreut.

Was am Tag nach Vaters Urlaubsantritt geschehen war, musste sich Herr Graf von Martins Nachbarn und den ihn behandelnden Ärzten erfragen. Der Junge sprach nicht darüber, selbst nicht, als es ihm wieder besser ging.

Martin hatte den am nächsten Vormittag erfolgten Luftangriff in der Oberschule seines Wohnortes erlebt. Als die Schüler den schützenden Keller verlassen durften, lag dunkler Rauch über mehreren Teilen der Stadt. In solchen Situationen fiel der weitere Unterricht aus, damit die Kinder sich zunächst Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen beschaffen konnten.

Auch Martin war nach Hause geeilt. In dem von Sprengbomben getroffenen Reihenhaus seiner Eltern fand man ihn später völlig verstört in den Schlafräumen des Obergeschosses. Seine Mutter hatte man während des Angriffes nicht in dem Sammelschutzraum am Ende der Straße vermisst, da sie oft beim Roten Kreuz im Bahnhofsdienst aushalf. Auch wusste keiner der Nachbarn, dass ihr Mann bereits seit dem Vorabend bei ihr war. Beide Eltern waren nun tot.

Herr Graf hatte Martin, so oft es sein Dienst und die außerhalb der normalen Arbeitszeit schlechten Zugverbindungen zuließen, im Krankenhaus besucht. Die ersten Male war der Junge kaum ansprechbar, wenn er nicht sogar die Besuchszeit verschlief. Das Begräbnis seiner Eltern, das Weihnachtsfest und auch den Beginn des neuen Jahres erfasste er nur in einer Art Dämmerzustand. Endlich hatte dann aber doch die ärztliche Kunst, vielleicht unterstützt von der Zeit, über Martins Krankheit gesiegt. Seine Entlassung kam ins Gespräch.

Herr Graf sah die zukünftige Bleibe seines Patensohnes bei ihm im Werk. Bestimmt würde er ihm ein guter Ersatzvater sein! Der Chefarzt jedoch widersprach. So schrieb der enttäuschte Mann noch am selben Tag seiner ostpreußischen Schwägerin und bat diese, Martin zu sich zu nehmen.

~~~

Die Nacht im Zug verging. Bis zum Morgengrauen hatte dieser den ehemaligen Polnischen Korridor durchfahren sowie die großen Brücken bei Dirschau über die Weichsel und bei Marienburg über die Nogat passiert. Elbing war die nächste Station. Kalte, würzige Winterluft strömte durch das herabgelassene Fenster und verdrängte im Abteil den immer stickiger gewordenen Zigarettenqualm.

Auf der Weiterfahrt erlebte Martin, wie sich im Südosten der leichtverhangene Himmel durch langsam heller werdendes Licht von dem schneebedeckten Land abzuheben begann. Raureif lag auf den die Strecke begleitenden Telegrafendrähten und dem in der weiten Ebene vereinzelt stehenden Gebüsch. Ein einsames Gehöft inmitten einer Baumgruppe glitt in der Ferne vorbei. Aus dem Schornstein des Wohnhauses stieg Rauch steil in den windstillen Tag empor.

Nun durchquerten die Schienen einen tiefverschneiten Wald, hinter dem die Sonne als rotleuchtende Scheibe emporzusteigen begann. Sie tauchte zuerst die Wolken, dann die Wipfel und schließlich alles Weiß in ihre Pracht.

Dann sah man auf der Gangseite des Abteiles in der Ferne als riesige, eisbedeckte Fläche das Frische Haff. Der Junge verließ seinen Platz und blickte über das erstarrte Wasser hinweg. Ob ganz hinten am Horizont die Nehrung lag?

Noch begriff er dieses Land mit seiner endlos scheinenden Weite, seinem klaren Licht und seinen geheimnisvollen Wäldern nicht, aber alles, was er jetzt in sich aufnahm, vertrieb in ihm immer mehr die düsteren Schatten der stundenlang durchwachten Nacht. Gegen Mittag fuhr der Zug dann in Ostpreußens Hauptstadt Königsberg ein.

Im Sommer 1939 hatte Martins Mutter ihn am Schluss der großen Ferien von Grafs nach Hause geholt. Auf der Rückreise machten sie hier Station. Es war ein sonnendurchglühter Tag Ende August. Sie hatten einen ausgiebigen Stadtbummel gemacht und manche Sehenswürdigkeit besucht. Martin schien damals, dass Königsberg seiner Heimatstadt ähnlich sei. Der Hafen war fast wie bei ihnen zu Hause und auch dessen langer Wasserweg ins offene Meer. Auf seine Fragen danach gab seine Mutter ihm aber nur unter Vorbehalt Recht. Die wechselvolle Geschichte, die diese Stadt im Grenzland geprägt hatte, besaß seine Heimatstadt nicht.

Abends hatten sie dann müde von dem Erlebten ihre Reise fortgesetzt. Die Kühle der Nacht war wohltuend. Bei der Fahrt durch den Korridor schlief Martin schon fest. Erst kurz vor Berlin wurde er von seiner Mutter am nächsten Morgen wieder geweckt. Ganz deutlich erinnerte er sich jetzt an die so weit zurückliegende unbeschwerte Zeit.

Bald danach kam der Zug um Stunden verspätet in Insterburg an.

~~~

Für Frau Graf in der Bismarckstraße 126 in Sprindt hatte der Briefträger heute zweimal Post. Mühsam stapfte er mit seinem Schäferhund durch den tiefverschneiten Vordergarten des Siedlungshauses und klingelte an der sonst nur von Fremden benutzten Tür. Zwar gab es auch den bequemeren, schneegeräumten Hintereingang durch die Veranda, aber dieser wurde von dem als Amtsperson in Uniform erscheinenden Postboten wohl absichtlich übersehen. Frau Graf öffnete ihm, wobei etwas von der draußen liegenden, weißen Pracht auf den sauberen Fußboden des Treppenhauses fiel und dort zu Wasser zerrann. Jedoch das kleine Übel bemerkte sie kaum, wichtig war jetzt allein der unfrankierte Feldpostbrief. Das Datum auf dem Stempel über Adler und Hakenkreuz lag nur drei Tage zurück. Da hatte ihr Mann noch gelebt und konnte ihr schreiben. In dieser unheilvollen Zeit war das ein wirklicher Grund zum Freuen! Zwar sagte die immer kürzer werdende Laufzeit der Ostfrontpost noch etwas Anderes, Bedrohliches aus, aber daran dachte Frau Graf jetzt nicht und las.

Danach öffnete sie den zweiten Brief, der aus dem Reich gekommen war. Die Freude in ihrem Gesicht erlosch, als sie in dem Bericht ihres Schwagers das Schicksal dessen Patenkindes erfuhr. Frau Graf erschrak. Würde sie der ihr angetragenen Aufgabe gewachsen sein, sie allein ohne ihren Mann? Aber wenn sie ablehnend antworten würde, käme Martin wie auch andere Kriegswaisen bestimmt in irgendein nazistisch geführtes Heim, denn Verwandte besaß er nicht.

Frau Graf musste an Martins letzten Ferienaufenthalt hier vor dem Krieg zurückdenken. Diesmal würde das kein zeitlich begrenzter Besuch sein. Sicherlich würde der elternlose Junge bis zu seiner Selbständigkeit viele Jahre bei ihnen bleiben. Günstigstenfalls bekäme sie vielleicht in ihm einen Sohn und Ursula das manchmal ersehnte Geschwisterkind. Jedoch gewiss war das nicht. Was sollte werden, wenn Martin sich in ihrer Familie nicht einleben konnte? Die jetzt von ihr erwartete Zusage würde später nur schwer korrigierbar sein!

Sie stellte sich den Jungen von damals vor. Er war wie Ursula ein Einzelkind, aber offenbar viel derber als diese. Heimweh hatte er nicht gekannt, obgleich er oft von seinen Eltern sprach. Die beiden fast gleichaltrigen Kinder hatten gut miteinander gespielt. Auch zu dem Opa, ihrem Vater, hatte er wissbegierig und geschickt schnell Kontakt bekommen und ihm viel in dessen Werkstatt helfen dürfen.

Martin war damals ein unkomplizierter, gut zu leidender Junge gewesen. Sicher würde er das auch jetzt noch sein. Jedoch, was war mit ihm beim Tod seiner Eltern geschehen? Ihr Schwager schrieb von einem erlittenen Schock und einem danach erforderlich gewordenen Klinikaufenthalt. Auch hatte man Martin deshalb für ein ganzes Jahr von jedem vormilitärischen Einsatz befreit. Wie schlimm es da um ihn stehen musste! Frau Graf beschloss, den Waisenjungen in ihre Familie aufzunehmen und war sich dabei auch der Zustimmung ihres Mannes gewiss.

Um die Mittagszeit kam Ursula mit dem Obus aus dem Insterburger Lyzeum heim. Ihre Mutter hatte heute noch häufiger als sonst nach ihr durch das Küchenfenster Ausschau gehalten. Nun hörte sie noch bevor die Verandatüre ging wie die Fünfzehnjährige auf der Außentreppe zum Hof mit Gepolter den Schnee von ihren Schuhen abtrat. Gleich danach stand das Mädchen mit einem frohen Gruß bei ihr.

Auch der Opa hatte aus seiner Werkstatt, dem Holzstall, Ursula kommen gesehen. Er legte den fast fertiggeschnitzten Löffel auf die Hobelbank und ging zum gemeinsamen Essen ins Haus.

Gleich nach der Mahlzeit besprach Frau Graf mit ihrem Vater und ihrer Tochter Onkel Hermanns Brief. Ihr Vorschlag, Martin aufzunehmen, wurde von beiden Zuhörern unterstützt. Als Ursula fragte, welcher Art Martins Krankheit sei, antwortete ihre Mutter nur allgemein. Alle hier sollten gut zu ihm sein, dann würde er bestimmt bald wieder gesund!

Der Opa war an seine Schnitzarbeit zurückgekehrt. Ursula hatte ihre Skier angeschnallt und fuhr den Weg abkürzend über die verschneiten Felder und Gräben zur Post. Wie lange brauchte eigentlich ein Telegramm bis zu seinem Empfänger im Reich, und wie lange dann Martin, bis er bei ihnen war? Dem Mädchen ging jetzt alles nicht schnell genug.

Damals, in den letzten Sommerferien vor dem Krieg, hatte Martin einmal nur mit einer alten Taschenlampenlinse und einem Stückchen Schnürsenkel auf einem abgeernteten Frühkartoffelfeld zum Abkochen aus Sonnenschein Feuer gemacht und so die fehlenden Streichhölzer ersetzt. Auch hatten sie gemeinsam nach seinen Vorschlägen einen recht eigenartigen, schwanzlosen Drachen gebaut, der schon bei schwachem Sommerwind flog. Eine hübsche, damals nach frischem Gummi riechende Badekappe, die er ihr von seinem Taschengeld kaufte, war sein Abschiedsgeschenk. Sie hatten einander versprochen, sich recht bald wiederzusehen, bei ihm in der großen Stadt oder auch wieder hier in Sprindt. Aber dann war im Herbst der Krieg dazwischengekommen.

Eine Zeitlang hatten sie noch Briefe und Bücher miteinander getauscht, bis auch das immer seltener wurde und schließlich unterblieb. Jedoch sie hatte Martin nicht vergessen. So manches Mal hatte sie ihn sich vorgestellt, größer und nun schon fast erwachsen geworden. Aber das alles war bis zum heutigen Tag lediglich ein Gedankenspiel geblieben. Wenn Martin jetzt Hilfe brauchen würde, wollte sie für ihn da sein, ganz bestimmt !

In der Zeit, in der Ursula zur Post fuhr, schrieb Frau Graf das Geschehene ausführlich ihrem Mann.

Martins Patenonkel erhielt noch am gleichen Tag das Telegramm. Es bestand nur aus einem einzigen Satz, in dem es hieß: „Wir freuen uns auf unser neues Familienmitglied.“ Darunter stand Ursulas Namen.

~~~

Einige Tage danach, am Sonnabend vor Monatsende, hatte Ursula in der letzten Schulstunde mit Zustimmung ihrer Lehrerin gefehl, um Martin vom Bahnhof abholen zu können. Jedoch um zwei Uhr nachmittags war der Zug aus Berlin immer noch nicht da. Die Fahrschüler, die nach dem Unterricht hier vorbeigekommen waren, hatten ihr zunächst noch die Wartezeit verkürzt, danach aber wurde diese wirklich lang. Wann wohl würde sie mit Martin in Sprindt zu Hause sein? An Wochenenden fuhren auch nicht mehr die Busse so oft wie sonst.

Sie trat auf den Bahnhofsvorplatz und stieg die Stufen der über die Geleise führenden Fußgängerbrücke hinauf. Das Geschehen auf den Bahnsteigen lag gut überschaubar unter ihr und erinnerte sie an ihre daheim schon fast in Vergessenheit geratene elektrische Spielzeugbahn. Obgleich sie doch ein Mädchen war, hatte Vater ihr, wenn auch ein wenig verlegen, diese zum letzten Weihnachtsfest vor dem Krieg geschenkt. Außerdem hatte sie von beiden Eltern wunderschöne Skier dazubekommen. Vielleicht würde sich nun Martin über die Eisenbahn freuen! Endlich kündete der Lautsprecher die bevorstehende Einfahrt des Zuges an. Ursula lief schnell zum Bahnhof zurück und stand auf dem Bahnsteig, als die mit Eiszapfen behangene Dampflokomotive mit ihren Wagen zum Stehen kam.

An ihr strömten Menschen vorbei. Sie blickte hastig in jedes ihr zu Martin passend scheinende Gesicht, doch alle waren ihr fremd. Es wurde immer stiller um sie, jedoch dort hinten stand ein Junge allein neben seinem Gepäck. Ursula eilte zu ihm. Noch einmal, kurz bevor sie bei ihm war, zögerte sie, bis auch er sie erkannte. Wie groß sie doch in den vergangenen fünf Jahren geworden waren! Die Kinder gingen die letzten sie noch trennenden Schritte aufeinander zu und begrüßten sich freudig.

Martins Gepäck teilten sie untereinander auf. Nachdem Unterführung und Sperre passiert waren, stand zufällig auf dem Bahnhofsvorplatz ihr Bus. Sie bekamen sogar einen Sitzplatz, und warm war es im Wageninneren auch.

Auf der Fahrt durch die Hindenburgstraße zum Alten Markt zeigte Ursula stolz auf die vornehmen, in Bahnhofsnähe stehenden Hotels und auf große Geschäfte, in denen es früher viele verlockende Dinge gegeben hatte. Insterburg war ein Verkehrsknotenpunkt und besaß ein durch Kleinbahnen und Busse gut erschlossenes Umland. Seine großzügigen Sportanlagen im Angerapptal und seine Trakehnerrennen hatten vor dem Krieg viele Gäste hierher gelockt. Nun prägten Soldaten das Straßenbild und wiesen darauf hin, dass der ca. 35.000 Einwohner zählende Ort auch Garnisonstadt war. Neben einem riesigen Flugplatz, besaß er auch noch andere militärische Einrichtungen.

Am Alten Markt, ihrer Umsteigestation nach Sprindt, lenkte Ursula Martins Blicke auf die am Steilufer der Angerapp liegende Lutherkirche mit ihrem Zwiebelturm. In dieser Kirche sei sie getauft worden, und dahinter, in einem der altertümlichen Giebelhäuser hätte einstmals Ännchen von Tharau gewohnt. Die Fahrt ging weiter, vorbei an einer vom Ritterorden erbauten Burg, genannt das Alte Schloss und dann über die Angerappbrücke. Am Wasserwerk bog die Straße in das breite Flusstal der Inster ein. Den eisbedeckten Fluss konnte man jedoch darin nur erahnen, da man ihm hier, um ihn zu zähmen, ein künstliches Bett geschaffen hatte. Auf der gegenüberliegenden Talseite sah man die Georgenburg.

In Martin lösten sich alle Spannungen, die ihm während der langen Reise geholfen hatten, seinen Weg zu finden. Er hatte seinen Zielort erreicht und wurde nun die letzten Kilometer bis zu seinem neuen Zuhause geführt. Trotzdem durfte er jetzt nicht einschlafen. Damit hätte er Ursula, die ihm so begeistert ihre Heimat erklärte, gekränkt. Deshalb hielt er sich auch durch Fragen wach, wenn er etwas in ihren Schilderungen nicht sofort verstand.

So kamen sie zu dem Bahnübergang, wo hinter der Frontkämpfersiedlung die doppelgleisige Strecke Insterburg - Tilsit zusammen mit einer Kleinbahn die Straße kreuzte. Die von Insterburg kommende Streckenführung war vom Busfahrer nicht einsehbar und schwang sich auf der anderen Straßenseite auf einem ansteigenden Damm und einer daran anschließenden Brücke in weitem Bogen über das Instertal. Der Bus hielt. Ein Fahrgast verließ ihn vorübergehend, ging zu dem beschrankten Übergang und signalisierte von dort dem Busfahrer „Freie Fahrt“. Warum diese übertriebene Sicherheit?

Ursula hatte in ihrer Freude über Martin bei ihren Schilderungen den Grund seines Hierseins völlig vergessen. Unbekümmert antwortete sie deshalb auch auf seine letzte Frage. Sie bemerkte zu spät, wie weh sie ihm diesmal damit tat: An einem Sylvesterabend vor Jahren wurde hier ein Omnibus von einem plötzlich heranbrausenden Fernzug erfasst. Ein alkoholisierter Schrankenwärter hatte damals pflichtvergessen vielen Fahrgästen den Tod gebracht und mehrere Kinder in Sprindt zu Waisen gemacht.

Zu spät stutzte Ursula erst bei diesem letzten Satz. Ein kurzer Hinweis, dass es hier schon mal ein Unglück gegeben hätte, wäre ausreichend gewesen. Nun hatte sie ihren Begleiter mit dem ausführlichen Bericht ungewollt an sein eigenes Schicksal erinnert.

Spontan, aber verlegen zugleich glitt ihre Hand zu Martin hin. Dieser griff wortlos danach. Ihm war es, als hätte Ursula ihn an einen tiefen Abgrund geführt, ihn dann aber vor dem Hinabsturz bewahrt.

Die nächste Haltestelle hieß Park Sprindt. Am Ortseingang ihres Zieles lag hier von hohen Bäumen umgeben ein Ausflugslokal. Bald danach kam an der Alten Schule dann auch ihre Station in Sicht. Nur noch wenige Schritte, und die Kinder hatten das von einer hohen Hecke umgebene, große Gartengrundstück erreicht. Als Ursula das Hoftor hinter ihnen schloss, kam schon die Abenddämmerung über das Land.

Mein Ostpreußen

Подняться наверх