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Die neue Heimat
ОглавлениеMartin wurde am Sonntagmorgen sehr spät wach. Durch die geschlossenen Fensterläden drang an einer Stelle ein schmaler Streifen goldenen Lichtes. Darin tanzten Sonnenstäubchen. Stille umgab ihn, nichts regte sich, dabei ging es vielleicht schon auf Mittag zu. Alles um ihn war fremd. Das sollte Ursulas Zimmer sein, in dem er nun wohnen durfte! Gestern hatte sie ihm das gesagt. Nun sah er sich von seinem Bett aus zum erstenmal darin genauer um.
An der Wand, ihm zu Füßen, hing ein Bücherbord. In einem Erker dahinter befand sich eine Waschgelegenheit auf einem niedrigen Schrank. Daneben stand ein eiserner Ofen. Ein größerer Tisch mit mehreren Stühlen, eine gemütliche Couch, sowie ein Kleiderschrank vervollständigten die Einrichtung des Raumes. Den Tisch zierte eine Schale mit Äpfeln, die sicher aus dem Garten stammten. Aber was war darauf auf einer Schiene aufgebaut, ein Personenwagen einer Spielzeugbahn? Martin stand neugierig auf und öffnete die Fensterläden. Sonnenlicht durchflutete den Raum. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Helligkeit. Der Wagen schien denen aus dem Zug zu gleichen, mit dem er gestern gekommen war.
Der Junge wusch sich schnell und zog sich an. Seine Gastgeber fand er im Erdgeschoss. Den Opa, der auf einer Couch saß und Radio hörte, Ursulas Mutter, die für ihn seit seinem ersten Besuch Tante Käte war und Ursula. Alle begrüßten ihn herzlich. Heiße Milch und Honigbrot standen bereit, und Ursula aß zur Gesellschaft noch mal ein Stückchen mit. Schon gestern hatte Martin gespürt, wie gut hier alle zu ihm waren.
Nach seinem Frühstück zeigte Ursula ihm Haus und Garten. An vieles konnte er sich noch erinnern, aber manches war ihm doch neu und fremd.
Draußen erwartete sie ein strahlender Wintertag. Im Hausschatten schien strenger Frost zu sein, jedoch in der Sonne konnte man bei der Windstille glauben, es sei herrlich warm.
Auf dem schneegeräumten Hof tummelten sich einige Hühner. Das Mädchen bat den Jungen, recht behutsam zu gehen, denn bei dem grellen Licht würden die Tiere schneeblind und dadurch schreckhaft sein.
In einem größeren Anbau an Haus und Veranda waren der Stall und die Sommerküche untergebracht. Die Stalltür hatte unten ein kleines, verschließbares Schlupfloch. Dahinter führte eine schmale Leiter an einer ehemaligen Schweinebox vorbei zu den Hühnerschlafplätzen hinauf.
Martin erfuhr, dass sich in der Decke darüber eine Luke befände, durch die man in einen geräumigen, mit einem Dachfenster versehenen Bodenraum gelangen könne. Dort läge das Winterheu für die Kaninchen. Die Luke, verborgen in den Deckendielen, würde er allein aber bestimmt nicht finden.
In der Sommerküche würde Ursulas Mutter in der warmen Jahreszeit das beim Obstbaumschnitt anfallende Holz zum Kochen verbrauchen. Dann gäbe es auch oftmals wohlschmeckende Waffeln, weil das altertümliche, noch zu wendende Eisen auf dem in der Wohnungsküche befindlichen Elektroherd nicht verwendbar sei. Heute standen in dem kalten Raum zwei Paar Skier.
In dem Anbau lag auch das Klo. Ursulas Eltern hatten längst im Haus ein Badezimmer geplant, aber der Kriegsausbruch war dazwischengekommen.
Den Abschluss des Hofes zum Garten bildete ein geräumiger Schuppen, in dem neben Brennmaterial Opas Werkstatt untergebracht war. Martin vergaß vor lauter Interesse an deren Ausstattung ganz, dass ihr Rundgang hier noch nicht zu Ende war.
Hinter dem Schuppen, zu erreichen auf einem an Büschen und Bäumen vorbeiführenden Gartenweg, lag ein großer, hochumzäunter Hühnerauslauf. Gleich neben dessen Eingang befand sich ein auf Pfählen abgelegtes Paddelboot.
Neu für Martin war der vom Opa gezimmerte, aus 10 Boxen bestehende, an den Schuppen unter einem weitausladenden Dach angebaute Kaninchenstall. Zur Zeit bewohnten ihn nur drei rasselose Häsinnen, ein Rammler und ein sehr hübsches Angorakaninchen. Alle Tiere wurden vom Opa betreut.
Ursula setzte das Angorakaninchen behutsam neben sich und den Jungen auf eine Bank. Es beschnupperte neugierig die Kleidung der Kinder. Zaghaft strich Martin ihm über das saubere, lange Fell. Um die Kinder herum schilpte erregt das vorher von ihnen aufgescheuchte Spatzenvolk und wollte in seinen Unterschlupf vor den Ställen zurück. Sollte es warten! Erst als Mutter zum Essen rief, verließen sie ihren Platz.
In der Küche war aufgedeckt. Der Opa sprach das Tischgebet. Dann gaben sich alle die Hände und wünschten einander guten Appetit.
Nach dem Essen wuschen die Kinder ab und stellten das Geschirr in die Schränke zurück. Ursula schien dabei traumwandlerisch sicher zu sein.
Anschließend wurde Martins Zimmer aufgeräumt. Dann ging das Mädchen zum Bettenmachen in das angrenzende Elternschlafzimmer, in dem es seit Vaters Soldatenzeit neben seiner Mutter schlief.
Bei so viel häuslichem Fleiß, der von Ursula und nun sicher auch von ihm erwartet wurde, gewann Martin den Eindruck, dass Tante Käte sehr streng sein müsse. Jedoch Ursula, die er danach befragte, nahm sie in Schutz. Erst Vaters Einberufung, die für Mutter manche zusätzliche Arbeit und viele Sorgen um ihn nach sich zog, hätte sie so streng werden lassen. Beschämt durch die Antwort, versuchte der Junge dem Gespräch eine Wendung zu geben und fragte nach der Herkunft des Eisenbahnwagens neben den Äpfeln. Ursula berichtete ihm von ihres Vaters Geschenk. Martin war über eine so interessante Spielmöglichkeit sichtlich erfreut. Dann probierten beide von Tante Kätes Äpfeln.
Gleich danach sprangen sie wieder die Treppe hinab. Ursula hielt warnend einen Finger auf ihren Mund, weil der Opa auf der Couch ein wenig schlief. In der Küche saß Tante Käte vor einem an ihren Schwager gerichteten Brief. Die Nachmittagssonne schien auf den Tisch. An der Wand dahinter war auf einem, wie eine Schiebetür zur Seite rollbaren Fensterladen eine Russlandkarte angebracht. Der Frontverlauf war darauf mit buntköpfigen Nadeln markiert. Im Krieg, draußen in der Wirklichkeit, würde jetzt sicher Ursulas Vater an einer dieser markierten Stellen stehen.
Die Skier wurden aus der Sommerküche geholt. Nachdem die Bindungen des Paares, das dem Vater des Mädchens gehörte, Martins Schuhen angepasst waren, stand dieser unsicher darauf. Vorsichtig fuhr er hinter Ursula von Hof. Für ihn war es nicht leicht, die Straße zu überqueren, denn die von den Obusreifen glattgewalzte Schneedecke bot kaum einen Halt. Dahinter lagen dann jedoch ein zugewehter Graben und ein verschneites Feld. Darüber hinwegzugleiten machte schon Spaß, besonders dann, wenn der Vordermann die Spuren zog und gegen alle Anfängerdummheiten Rat und Hilfe bot.
Bald hatten die Kinder den zum Eichwalder Forst führenden Trakisweg erreicht. Die Endhaltestelle des Busses mit dem unter alten Linden stehenden Wartehäuschen lag am Anfang davon. Hinter der Haltestelle war der Weg tief verschneit. Nur wenige Schlittenspuren markierten ihn. Den Bürgersteig hatten die Anwohner jedoch geräumt
Balzats und Lobinskis wohnten hier in den letzten Doppelhäusern am Ortsausgang. Deren Kinder, nach denen Ursula fragte, waren mit ihren Schlitten im Badewäldchen auf dem Rodelberg. Martins Führerin zögerte einen Augenblick. Der Weg dorthin war nicht weit, aber der Abhang für ihn wohl noch zu steil. Auch schien ihr die dort herumtollende Dorfjugend einem Anfänger gegenüber nicht rücksichtsvoll genug zu sein. So zogen sie allein zum Ortsausgang weiter.
Sie überquerten einen kleinen Bach, der so langsam floss, dass er eine geschlossene, von Luftblasen durchsetzte Eisdecke trug. Rechts neben ihrem Weg lag ein Erlenbruch, in dem der Bach entsprang. Dahinter stiegen sie eine sanfte Anhöhe hinauf. Von hier aus sah man weit in das winterliche Land.
Im Südwesten, wo jetzt die Sonne niedrig am Himmel stand, kreuzte in der Ferne die Bahnlinie nach Tilsit das zu ihren Füßen liegende, breite Tal und den Fluss. Durch die fünf Bogen der Insterbrücke leuchtete gleißendes Licht. Jenseits des Tales, welches der Fluss in einer von Eis und Schnee bedeckten, kaum wahrnehmbaren Vertiefung in gewundenem Lauf durchzog, lag ca. drei Kilometer von ihnen entfernt das kleine Dörfchen Insterblick. Nach Osten gesehen, wo hinter dem Horizont die Inster entsprang, schien die Welt endlos zu sein. In diese weiße Ebene hinein, hinab ins Tal, führte ihr von alten Kopfweiden beidseitig umsäumter Weg bis hin zum Wald.
An die Anhöhe angelehnt, befand sich am Flussbett ein einsames Gehöft. Ursula berichtete Martin von dem darin wohnenden, betagten Ehepaar, den beiden Urbschats und dessen an der Front stehenden Sohn. Sie schilderte die drei Menschen ihrem Begleiter in einer sehr warmen Art und fügte erklärend hinzu: „Immer ist Frieden in deren Haus, ich gehe gern zu ihnen hin.“ Martin erfuhr dabei, dass Herr Urbschat nicht nur Bauer, sondern auch Fischer sei. Als Vater noch zu Hause war, hätte dort unten während der Sommermonate Grafs Paddelboot an einer Boje im Fluss gelegen. Dann wies das Mädchen noch auf das große Nest auf dem Scheunendach hin. In jedem Sommer würde darin ein Storchenpaar mehrere Junge aufziehen.
Nach dieser Schilderung gab sich Ursula auf dem abschüssigen Weg einen Schwung und glitt ins Instertal hinab. Martin blieb nichts anderes übrig, als es ihr gleichzutun. Auch er kam in der vorgezeichneten Spur unten gut an und freute sich darüber. Ursula bemerkte das und änderte ihren Plan, mit ihm zunächst nur Laufen zu üben.
Der Wald mit der davor liegenden Zigeunerwiese, die alte Holzbrücke über den auch bei strengem Frost durch sein warmes Quellwasser offenbleibenden Bach, der einsame Friedhof am Waldesrand und die Kiesgruben beim Ritter Neusaß, all das hatte auch noch Zeit. Sie stiegen wieder die Anhöhe hinauf und übten das Hinuntergleiten, bis die Dämmerung kam.
Vom Wald her näherten sich Stimmen. Bald danach hielten zwei Skiläufer, etwa so alt wie sie, bei ihnen. Ursula machte Eva und Rudi mit Martin bekannt. Dann fuhren sie noch einige Male gemeinsam ins Tal hinab, und Martin erhielt von den Hinzugekommenen ein erstes, bescheidenes Lob.
Als es dunkel und kalt wurde, schlugen sie im Flusstal den Heimweg ein. Durch ein Fenster des Bauernhauses schimmerte schwaches Licht. Der Rodelberg am Badewäldchen war schon verwaist. Bald sah man auf der Anhöhe die ersten Dächer Sprindts. Am Schulwäldchen trennten sie sich. Rudi, der in der Vogelweide wohnte, fuhr im Tal weiter. Evas Familie lebte im Lehrerhaus der Alten Schule, und bis zu Grafs war es auch nicht mehr weit. Martin kam müde, aber innerlich froh, mit Ursula zu Hause an. Sie hatte ihn auch durch den zweiten Tag seines Hierseins geführt.
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Am Montag meldete sich Martin in der Insterburger Oberschule an. Frau Graf hatte das zwar schon vorher getan, aber noch ohne bestimmten Termin. Ursula begleitete ihn auf seinem ersten Weg dorthin und nahm, um selbst nicht zu spät zum Unterricht zu kommen, einen Bus früher als sonst.
Beide stellten sich, wie es meistens die Fahrschüler taten, hinten auf den Perron, denn der Bus war zu dieser Zeit mit Berufstätigen voll besetzt. Das Mädchen freute sich, als Martin sogleich interessiert durch die Rückscheibe des Wagens den Lauf der Stromabnehmer zu verfolgen begann, besonders, wenn es durch Kurven oder über Weichen in der Oberleitung ging. Das Geschehen am Bahnübergang wurde ihm dadurch sicher gar nicht erneut bewusst. Am Alten Markt stiegen sie aus und kamen am Rathaus, der früheren Arbeitsstätte Ursulas Vaters, vorbei. Durch Nebenstraßen erreichten sie ihr Ziel.
In der Forchestraße, wo Martins Schule lag, trennten sie sich. Martin hatte es so gewollt. Ursula blickte ihm nach, bis er den Haupteingang betrat und setzte dann ihren Weg zum nahen Lyzeum fort.
Martins Erledigung der Anmeldeformalitäten verschlang viel Zeit, weil er dabei auch alle von ihm benötigten Lehrbücher, die es längst im Handel nicht mehr gab, leihweise aus dem Schulbestand erhielt. Danach wurde er zu seinen zukünftigen Mitschülern geführt.
Der Unterricht hatte längst begonnen, und der Lehrer, ein schon älterer Herr, war über die Störung durch den hinzukommenden Jungen nicht erfreut. So unterblieb Martins offizielle Einführung. Jedoch Helmut nahm sich als Klassensprecher seiner an und erklärte ihm das Wichtigste über den Unterrichtsablauf sowie die Lehrerschaft.
Bald nach Kriegsbeginn, als die Altstoffsammlung eingeführt wurde, hatte man Papierreste in einem stillgelegten Ofen verbrannt. Durch ein daraus im Dachstuhl des Hauptgebäudes entstandenes Feuer wurden die Physik- und Chemiesäle im Obergeschoss und auch die Aula mit den imposanten Gemälden über die Irrfahrten des Odysseus zerstört. Der Krieg hatte die Wiederherstellung dieser Räume blockiert. Deshalb fand der Unterricht in den beiden naturkundlichen Fächern im Lyzeum statt, natürlich von den Mädchen streng getrennt. Als Aulaersatz wurde die Turnhalle mitbenutzt.
Der früher ausschließlich aus Männern bestehende Lehrkörper war jetzt überaltert. Neuerdings wurde er durch junge Frauen, die ihre Berufsausbildung gerade abgeschlossen hatten, aufgefrischt. Ohne größere Unterrichtsausfälle wurde hier fast noch wie im Frieden gepaukt. Jedoch häufig erhielten Schulabgänger nur noch das Notabitur, da der Krieg die älteren Jahrgänge immer früher zu den Soldaten rief.
Auch in anderen Dingen, die Martin selbst betrafen, wusste Helmut Rat. Zum Beispiel, dass sich gleich neben der zerstörten Synagoge ein Fotogeschäft befand, das noch nicht wegen der Einberufung des Besitzers geschlossen war. Man konnte sich dort Passbilder für die Schülermonatskarte der hiesigen Verkehrsbetriebe anfertigen lassen. Schulhefte gab es nicht weit davon in einem winzigen, von einer alten Frau geführten Laden. Martin solle diese artig bitten, dann bekäme er dort auch ohne die Ablieferung alter Hefte das Nötigste bestimmt.
Eigentlich lief an diesem ersten Tag in der Schule alles recht gut. Das blieb auch so. Zwar stürmte auf Martin täglich noch viel Neues ein, sodass er gar nicht zum Nachdenken kam, jedoch Schwierigkeiten mit dem Lehrstoff hatte er kaum. Die geliehenen Bücher nützten ihm viel, und wenn notwendig, so sprangen auch einmal Helmut oder daheim Ursula helfend ein.
Dennoch gab es für ihn ein immer deutlicher werdendes Problem. Der Anschluss an seinen Klassenverband fiel ihm schwer. Zwar hatte er sich auch früher nie sonderlich um Freundschaften bemüht, die ergaben sich meistens von selbst und hielten dann gut, jedoch hier bahnte sich nichts dergleichen an. Er blieb der Fremde aus dem Reich.
Als Martin einmal mit Helmut darüber sprach, ermunterte der ihn, mehr aus sich herauszugehen. Helmut schien ihn also zu verstehen, aber wie stellte sich dieser denn so etwas vor? Er konnte doch nicht einfach vor die anderen treten und sie bitten, ihm gegenüber nicht mehr so gleichgültig zu sein.
Und doch ging Martin diesen Weg, nicht freiwillig, sondern von einem, der stärker als er war geführt.
Im Deutschunterricht stand Schillers „Glocke“ auf dem Programm. Der Lehrerin, die nichts vom Auswendiglernen langer Gedichte hielt, kam es darauf an, dass möglichst viele ihrer Schüler zu einem Thema des darin beschriebenen Geschehens aus heutiger Sicht, vielleicht sogar auf eigenen Erlebnissen aufbauend, Stellung nahmen.
Das Handwerk und Familienleben, immer im Vergleich zwischen damals und jetzt, boten sich leicht dazu an. Darüber war es in den Stunden davor zu interessanten Gesprächen gekommen. Nur zu der von dem Dichter so packend beschriebenen Feuersbrunst fehlte es an einem passenden Parallelbeispiel, denn der Dachstuhlbrand am Kriegsanfang nahm sich dagegen recht harmlos aus. Vielleicht konnte hier der neue Schüler aus dem Reich helfend einspringen? Der hatte bei einem Luftangriff bestimmt schon mal ein größeres Schadenfeuer gesehen. Die Lehrerin fragte ihn danach.
Martin trat aus seiner Bank. Er saß als einziger in der Klasse allein, da sich nach seinem Dazukommen die Schülerzahl nicht mehr durch zwei teilen ließ. Was sollte er tun? Bisher wusste sicher nur Helmut vom Tod seiner Eltern. Den anderen und auch der Lehrerin hatte er nichts davon gesagt. Die Lehrerin hätte ihm sonst bestimmt auch nicht dieses Thema gestellt. Ihm fiel die Aufgabe schwer, jedoch sie sollten seinen Bericht über das Höllenfeuer aus Menschenhand hören, an dessen Ende es nicht wie im Gedicht tröstend hieß: „Und sieh, ihm fehlt kein teures Haupt.“
Seine Mitschüler merkten auf. Was der Neue vortrug, war nicht nur interessant, es war mehr, so als berichte er über sich selbst.
Da standen Nacht für Nacht am Rande einer Millionenstadt Oberschüler, nur ein Jahr älter als er und sie, in luftwaffenblauer Uniform zusammen mit Soldaten an Flakgeschützen und Peilgeräten auf Wacht. In einer Julinacht kam dann der Feind. Funkmessgeräte hatten ihn schon an der Küste erspäht, als er über See einfliegend auf ablenkenden Umwegen schließlich Kurs auf Martins Heimat nahm.
Die Geschütze reckten, gelenkt von den durch die Dunkelheit, ja selbst durch Wolken schauenden „Himmelsaugen“, ihre Mündungen zu den anfliegenden Maschinen hinauf, und die Scheinwerfer, noch ohne Licht, nahmen die gleiche Richtung an. Von nahen Flugplätzen stiegen Abfangjäger auf, auch diese vom Boden aus bis auf Sichtweite an die feindlichen Verbände herangeführt. Wie schon oft, verlief auch diesmal alles nach Plan.
Jedoch dann fielen auf rätselhafte Weise die Peilgeräte aus und erweckten den Eindruck, als wären die angreifenden Bomber plötzlich überall. Gleich danach erblickte man über der Stadt einen mehrfarbigen Schein. Pfadfinderflugzeuge hatten Zielmarkierungen gesetzt. Dann erfolgte Detonation auf Detonation. Nach einem ausgeklügelten Programm fielen Luftminen, Brand- und Sprengbomben auf das vorher gekennzeichnete Gebiet.
Endlich schoss die Flak, jedoch noch immer ungeführt. Scheinwerfer suchten den Himmel ab, und Jäger verfolgten Flugzeugverbände, die sich oft in nichts auflösten.
Noch immer war die deutsche Abwehr blind. Aus den gegnerischen Flugzeugen abgeworfene Metallpapierstreifen, Lamettafäden gleich, die langsam zur Erde schwebten, hatten das erstmalig in diesem Krieg vollbracht. Fast schutzlos bot die Stadt sich dem Feind.
Schwere Bomben deckten Häuser ab oder rissen am Boden Kabel- und Rohrnetze entzwei. Brandbomben zündeten tausendfach, und ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf, sodass man noch am nächsten Tag die Sonne nicht sah.
Aber damit war es nicht genug. Zwei Nächte danach brach im erneuten Bombenhagel ein Feuersturm los. Der durch die Hitze aufsteigende Wind hatte gebieterisch von allen Seiten Luft herangesaugt und dadurch die Einzelbrände zu einem riesigen, von orkanartigen Stürmen gepeitschten Feuermeer vereint. Daraus gab es kein Entrinnen.
Die Menschen in den Luftschutzkellern wagten sich nicht in die über ihnen tobende Hölle hinauf. Wenn doch, so liefen sie in den sicheren Tod. Die meisten blieben in ihren Verstecken und hörten, wie draußen alles zerbarst. Es war dunkel um sie und wurde unerträglich heiß. Trotzdem griff eine seltsame Müdigkeit nach ihnen, bevor sie durch Sauerstoffmangel bewusstlos wurden. Nur wenige erwachten wieder aus diesem Schlaf und erblickten oft erst nach Tagen rettendes Licht. Fast alle, die man fand, als endlich die Glut in den Trümmern erlosch, waren gestorben.
Der von dem Dichter beschriebene Brand war durch ein Naturgeschehen entstanden. Dieses Feuer jedoch, welches so viele Menschen tötete, wie Insterburg Einwohner zählte, wurde durch menschlichen Wahn entfacht.
Der fremde Junge hatte seine Aufgabe erfüllt, aber er setzte sich nicht. Sein Gesicht war fahl. Ohne einen Grund anzugeben, verließ er schleppenden Ganges den Raum, als trüge er an einer schweren Last. Hinter ihm schloss sich fast lautlos die Tür. Helmut stand auf und ergänzte kurz, dass Martin bei einem der letzten Angriffe vor wenigen Wochen seine Eltern verloren hatte.
Die Lehrerin erschrak und forderte ihn auf, Martin wieder hereinzuholen, jedoch im gleichen Augenblick korrigierte sie sich und ging selbst hinaus. Sie fand den Jungen auf einer Fensterbank sitzend. Behutsam sprach sie ihn an und entschuldigte sich. Martin blieb still, aber er sah in das zu ihm hinuntergebeugte Gesicht und bemerkte die Anteilnahme und Sorge darin. Er war mit seinem Kummer nicht mehr allein, das gab ihm Kraft.
Als seine Lehrerin nach einer Weile vorschlug, doch zusammen mit ihr zu den anderen zu gehen, stand er willig auf. In der Klasse wurde es still, und Helmut bat ihn zu sich. Der Platz neben diesem war plötzlich leer. Martin zögerte noch, dann setzte er sich. Von dieser Deutschstunde an gehörte er fest zu seinem neuen Klassenverband.
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Die Zeit verging. Fast drei Wochen war Martin nun schon bei Grafs. In sein Leben kehrte allmählich der Alltag ein.
Morgens wurde er von Ursula geweckt. Wenn beide ins Erdgeschoss hinunterkamen, hatte Tante Käte bereits den Frühstückstisch gedeckt. Manchmal war auch der Opa schon aufgestanden und aß dann mit ihnen.
Danach gingen die Kinder noch im Dunkeln zum Bus, der auch bei hohem Neuschnee oder strengem Frost recht pünktlich fuhr. Nur Raureif auf den Oberleitungen machte ihm Schwierigkeiten. Die Stromabnehmer gaben dann keinen guten Kontakt und zogen lange Funken hinter sich her.
Martin lernte durch seine Begleiterin schnell alle Sprindter Fahrschüler kennen. Am Alten Markt stiegen sie aus und gingen dann in getrennten Gruppen zu den verschiedenen Lehranstalten.
Wenn der Stundenplan günstig war, trafen sich beide Kinder mittags wieder im Bus. Sonst wartete Tante Käte mit dem Essen auf den letzten.
Nach dem Mittag, wenn es draußen noch hell war, fuhren sie meistens ein Weilchen Ski. Nicht weit, nur soviel, dass man nach der Schul- und Zimmerluft mal richtig zum Durchatmen kam. Der Junge hatte vorher noch in seinem bei den Schularbeiten von ihnen gemeinsam benutzten Zimmer den Ofen angeheizt. So war es bei ihrer Rückkehr schon warm.
Nach den Schularbeiten fingen ihre kleinen, nicht schweren häuslichen Pflichten an. Martin bekam sogar Freude daran, wenn er beispielsweise dem Opa beim Schneeräumen helfen konnte.
Allmählich kannte der Junge jeden Winkel im Haus. Er hatte mit Ursula deren Eisenbahn und das im Keller untergebrachte, kleine Fotolabor ihres Vaters inspiziert. Hier gab es auf lange Sicht vieles, was Spaß machen würde, zu tun.
Das Abendbrot fand dann wieder im Familienkreis in der Küche statt. Anschließend hörten sie Nachrichten. Manchmal wurden danach noch Maiskolben abgepuhlt, Hühnerfutter, das wie vieles hier für Mensch und Tier im Garten wuchs. Dabei erfuhr dann jeder über das Tagesgeschehen der anderen.
Meistens ging der Opa als erster ins Bett. Die Kinder folgten ihm bald. Weil Martins Ofen noch warm war, blieb die Tür zwischen ihren Zimmern auf. Häufig erzählten sie sich noch so lange, bis auch Ursulas Mutter nach oben kam. An einem dieser Abende überdachte Martin vor dem Einschlafen seine bisherige Zeit bei Grafs. Er fühlte sich hier heimisch. Tante Käte war zwar streng zu ihm, aber bestimmt nicht ungerecht oder gefühllos kalt.
Im Gegensatz zu ihr strahlte der Opa Geborgenheit aus. Sein Magenleiden trug er mit Geduld. Auch konnte Martin viel von ihm lernen. Nicht nur handwerkliches Können, sondern auch Bescheidenheit. Bei der Reparatur eines Elektrogerätes hatte ihn der sonst so geschickte Mann um Rat gefragt. Der Opa wurde ihm täglich mehr zum Freund.
Schade, dass Ursula ein Mädchen war, das stand ein wenig zwischen ihnen. Wenn sie Geschwister gewesen wären, hätte ihn ihre deutliche Zuneigung nicht gestört. Jedoch vielleicht sah er das ja auch übertrieben oder gar falsch. Dass sie ihn mochte, war schon gut.
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An einem der nächsten Schultage fiel für Martins Klasse nach der dritten Stunde der Unterricht aus. Alle Jungen, die 1928 oder früher geboren waren, kamen nun auch hier zur Heimatflak. Die Musterung dafür fand in der Turnhalle statt. Ihn selbst erklärte man dabei aufgrund seines Attestes für untauglich.
Martin verlor jedoch nicht wieder seinen Klassenverband. Die wenigen, die aus gesundheitlichen Gründen oder auch altersbedingt nicht tauglich waren, nahmen später an dem Schulunterricht für die Flakhelfer in deren Stellung bei Angerlinde teil. Die Lehrer fuhren mit dem Bus nach einem extra darauf abgestimmten Stundenplan zu ihrer Klasse hinaus.
Martin hatte es von Sprindt zu seinem neuen Schulort nicht weit. Bis zur Schneeschmelze benutzte er auf dem Weg dorthin seine Skier. In der Übergangszeit ging er zu Fuß. Als es Frühling wurde, durfte er das Fahrrad von Ursulas Vater nehmen. Bei Alarm, wenn die Flakhelfer aus dem Unterricht an ihre Einsatzorte eilten, mussten der gerade unterrichtende Lehrer und die vom Wehrdienst freigestellten Mitschüler in den Splittergraben der Stellung. Einmal gelang es Martin dabei, gegen die bestehenden Vorschriften an das Funkmessgerät zu kommen.
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Bald nach der Musterung schlug in der vierten Februarwoche vorübergehend das Wetter um. Der starke Frost ließ spürbar nach. Dann begann es behutsam zu schneien, und in der nächsten Nacht kam heulend von Westen her warmer, regenbringender Wind. Schon am Morgen danach waren die weißen Flächen klumpiger Matsch. In Rinnsalen floss Schmelzwasser die Straßen entlang und machte die noch immer darunter liegende, festgefahrene Schneedecke spiegelglatt.
Die Fahrt mit dem Obus kam einem Abenteuer gleich, so rutschig war es. Dennoch war sie nicht gefährlich, denn andere Verkehrsteilnehmer gab es kaum. Die Fußgänger hatten vor den Straßenfahrzeugen hinter pappigen Schneewällen am Fahrbahnrand einen sicheren Schutz. Schlimmstenfalls bekamen sie Spritzer ab.
Nach dem Mittagessen stapften Ursula und Martin in Gummistiefeln zu Eva und Rudi. Gemeinsam ging es ins Instertal. Dort bot sich ein für Martin überraschendes Bild. In den hohen Fichten des Schulwäldchens heulte noch immer der Wind. Er blies ihnen ins Gesicht und kam über ein wogendes Meer. Zwischen Insterblick und dem Abhang, auf dem sie standen, war nur Wasser zu sehen. Die Bahnlinie am Horizont glich dem Wehr einer darin liegenden Talsperre.
Nun erst verstand Martin, warum sich die Strecke mit solch einer langen Brücke über das sonst recht harmlose Flüsschen schwang. Die fünf großen Bogen, durch welche bei seinem ersten Skiausflug die Sonne geschienen hatte, reichten jetzt kaum zum Durchlass der Wassermassen aus. Hätte man ihm dieses Naturschauspiel vorher geschildert, er hätte solche Ausmaße nicht geglaubt.
Dann gingen die vier zum ehemaligen Schulhof zurück. An einem danebenliegenden, erlenumstandenen Teich vergnügten sich Evas Geschwister und liefen mit anderen Kindern in einer Reihe möglichst im Gleichschritt über das mit Schmelzwasser bedeckte Eis. Biegeeislaufen nannte man das. Richtig gefährlich sah es aus, denn wo immer sich die händehaltende Kinderreihe befand, gab das Eis bedenklich nach. Sonderbarerweise brach es jedoch nicht ein. Wohl deshalb nicht, weil es wie eine von unzähligen kleinen Rissen durchzogene und dadurch elastische Haut auf dem darunter liegenden Wasser schwamm. Trotzdem wurden die Schuhe der Kinder dabei nass, aber das gehörte wohl dazu.
Noch früher als an den frostklaren Tagen davor brach die Dämmerung herein. Ursula und Martin trennten sich von den anderen und gingen nach Hause. Ein Weilchen hörten sie noch das frohe Kinderlachen vom Teich, bis es der Wind verschlang.
In Martins Zimmer war es gemütlich warm. Durch den heute recht kurzen Außenaufenthalt blieb ihnen nach den Schularbeiten noch Zeit, sich die Fotoausrüstung einmal näher anzusehen. Die Chemikalien, Schüsseln und farbigen Lampen im Keller kannte Martin ja bereits, die meisten Gerätschaften lagen jedoch, wie Ursula wusste, im Wohnzimmerschrank. Außer einigen Filmen und Platten, deren Entwicklungstermine längst überschritten waren, entdeckten sie dort neben anderen ihnen noch fremden Dingen auch ein Anleitungsbuch. Jedoch viel lesen mochten sie jetzt nicht, schöner war das Losexperimentieren.
Mit einfachen Abzügen wollten sie beginnen, aber Negative dafür fanden sie nicht. So tat es ein Scherenschnitt auf Fotopapier gelegt und belichtet schließlich auch. Im Entwicklungsbad geschah aber nichts. Bei dunkler, roter Raumbeleuchtung sah man darin als Spiegelbild nur ihre enttäuschten Gesichter. Lag es an dem überalterten Bad, oder hatten sie versehentlich die Rückseite des Fotopapiers genommen? Die Zeit verging. Mutter rief zum Abendbrot, das ihnen heute unwichtig schien.
Sie kamen nur mühsam voran. Jedoch bevor der Opa schlafen ging, lag der erste gutgelungene Abzug des Scherenschnittes noch feucht und sicherlich schlecht fixiert auf dem Küchentisch. Der alte Mann lobte ihr Werk, die Mutter aber spornte die Kinder an, doch möglichst recht bald von Martin ein schönes Foto für Vater fertigzubekommen.
In den Tagen danach führten sie das Anleitungsbuch und weitere Versuche schließlich zum Ziel. Am Sonntag darauf wurden mit einem Plattenapparat im Vordergarten die ersten Familienbilder gemacht.
Da es im Keller jetzt im Winter zu ungemütlich war, benutzten Ursula und Martin ihr Zimmer als Behelfslabor. Die fast lichtdicht schließenden Fensterläden und die früh hereinbrechende Dämmerung begünstigten das. Diesmal konnten sie mit ihren Arbeiten zufrieden sein. Das Trocknen der Negative dauerte ihnen fast zu lange.
So kam es, dass Ursulas Vater bald danach die von seiner Tochter und Martin angefertigten ersten Bildchen in Händen hielt, auf Hochglanzpapier, mit Büttenrand und auch vom fotografischen Standpunkt gar nicht schlecht.
Herr Graf sah, wie seine Frau gerade dem Briefkasten vor der Haustür erwartungsvoll die Post entnahm. Auf einem weiteren Foto guckte sich der Opa offenbar interessiert die schon größer werdenden Knospen des an der Hauswand stehenden Spalierobstes an. Ursula lächelte einfach in die Kamera. Einmal war sie allein und einmal mit Martin zusammen. Immer wieder musste er sich die ihm so vertrauten Gesichter anschauen, aber auch den Patenjungen seines Bruders, der sich nun bei seinen Lieben einzunisten begann.
Außerdem hatten ihm alle geschrieben. Seine Frau wie meistens recht sachlich und nüchtern. Vom Opa erhielt er einen herzlichen Gruß. Die Kinder berichteten ausführlich über ihr Experimentieren. Beide fanden wohl große Freude daran. Martin fragte an, ob sie die im Treppenhaus liegende, leer stehende Räucherkammer mit Opas Hilfe als ihr zukünftiges Labor einrichten dürften. Die Idee des Jungen schien ihm gut. Der Raum war dunkel und trocken sowie auch im Winter immer etwas warm. Zum Räuchern gab es schon lange nichts mehr. Natürlich sollten sie das tun!
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Die Tage danach brachten den Winter zurück, diesmal jedoch ohne Schnee. Der Wind schlief ein, der Himmel brach auf, und schon in der ersten Nacht nach dem Tauwetter wurde es bitterkalt. Unzählige Sterne waren zu sehen. Die noch immer überschwemmte Inster überzog sich mit einem kaum überschaubaren, glatten Panzer.
Anfang März wärmte um die Mittagszeit die Sonne schon schön. Ursula und Martin trafen sich wieder bei Brauns im Schulwäldchen und schnallten dort ihre Schlittschuhe an. Mit Eva zusammen holten sie Rudi Thielert ab und benutzten dazu die Abkürzung über das im hellen Licht blinkende Eis.
Martin kam auf den Bogenschlittschuhen, die Ursulas Vater gehörten, zuerst nur langsam voran. Weil sie keine Spitzen hatten, fiel ihm das Abstoßen schwer. Aber schon bald mussten die anderen nicht mehr auf ihn warten. Er bekam immer größeren Spaß daran, auf der riesigen Eisfläche schnell ferne Ziele erreichen zu können.
Zuerst ging es zur langen Eisenbahnbrücke. Sie wagten sich jedoch nicht bis unter die Brückenbogen, denn durch die große Strömung an dieser Stelle war das Eis hier noch nicht fest. Um mehrere, riesige Steinbrocken quirlte sogar noch blankes Wasser. Die Trümmer lagen seit dem Weltkrieg hier, als man den Vorgänger dieser Brücke beim Heranrücken der Russen sprengte. Im Sommer hinderten sie beim Bootsfahren sehr, aber zum Fortschaffen waren sie zu schwer.
Ihre Tour ging weiter nach Insterblick und dann in östlicher Richtung das Flussbett hinauf, dessen Verlauf nur die aus dem Eis herausragenden Büsche markierten. Das breite, überschwemmte Instertal glich einem langgestreckten, aus der Unendlichkeit kommenden, erstarrten See.
Am Südufer blieb der Ort zurück, das dem Schulwäldchen ähnliche Badewäldchen, die Wochenendhäuser am ansteigenden Hang und schließlich auch Urbschats Gehöft. Immer näher kamen sie dem Ersten Wald. Die Kinder liefen nebeneinander fast ohne zu reden in großen Schwüngen auf ihn zu, die Köpfe weit nach vorn geneigt. Ihre Schlittschuhe verursachten dabei ein rhythmisches, surrendes Geräusch.
Am Ersten Bach, der im Wald hinter der hölzernen Brücke entsprang und sich zwischen Weidenbüschen bis zum Flussbett wand, machten sie Rast. Ihr Atem war in der kalten Luft zu sehen. Martin fragte nach den eigenartigen Bezeichnungen. Wurde denn hier alles nummeriert?
Der große Eichwalder Forst besaß mehrere Förstereien. Das von hier ca. 5 Kilometer entfernt liegende Forsthaus Wengerin war das erste von ihnen. Wald und Bach, die dazugehörten, trugen deshalb diese Zahl in ihren Namen.
Sie liefen weiter. Bald war das Forsthaus auf einer Lichtung am ansteigenden Flussufer zu sehen. Von dort oben hatte man bestimmt über Tal und Wiesen
einen herrlichen Blick. Wie schön musste es da erst im Sommer sein!
Hinter der Lichtung begann der Zweite Wald. Ursulas Eltern hatten in einem kleinen Dorf darin Bekannte wohnen. Zu den drei einsamen Gehöften führte ein Hohlweg hinauf. Jedoch so weit wollten sie heute nicht laufen. Martin bekam das zunächst nur erzählt und danach, als sie schon auf dem Nachhauseweg waren, auch die Sage vom Ritter Neusaß, der hier in der Nähe irgendwann auf einer Burg gelebt haben sollte. Die Burg war verschwunden, jedoch der Berg, auf dem sie vielleicht einmal gestanden hatte, wurde noch heute zum Kiesabbau genutzt. Dadurch war an einer Stelle ein kleiner Teich entstanden, in dem an warmen Sommerabenden manchmal geheimnisvoll eine Glocke läutete. Das konnten natürlich auch nur die im Teich lebenden Unken sein. Auch der einsame Friedhof mit den alten Gräbern lag in der Gegend. Wie viele Geheimnisse barg wohl noch dieser große Wald?
Zu Hause zeigte Ursula dem Jungen auf einer Landkarte das winzige Dorf. „Wenn du willst“, sagte sie, „holen wir uns bei passendem Wetter an einem der nächsten Sonntage von Urbschats Schlitten und Pferd. Farndorf ist auch im Winter schön, und Plauschinats freuen sich in ihrer Abgeschiedenheit sicher über unseren Besuch“. Martin fand den Plan sehr gut.
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Am 12. März war wieder alles verschneit. Ihr Ausflug nach Farndorf konnte Wirklichkeit werden. Auf Ursulas Einladung reisten auch Eva und Rudi mit. Die verließen jedoch verabredungsgemäß in der Nähe des Forsthauses Wengerin den Pferdeschlitten und fuhren auf ihren Skiern nach Sprindt zurück, um rechtzeitig zum Mittagessen wieder zu Hause zu sein.
Vor der Weiterfahrt entfernte Ursula die am Pferdegeschirr befestigte Glocke und bot Martin die Zügel an. Nun hörte man nur noch den regelmäßigen Hufschlag und das monotone Geräusch der Schlittenkufen. Rechts von ihnen lag schneebeladen der Wald und bedeckte mit seinem Schatten den Weg. Über dem weißgewordenen Instertal breitete sich Sonnenlicht aus.
Die Kinder saßen warm eingepackt auf der erhöhten Kutscherbank ihres Gespannes. Eine schwere Lederdecke bot ihnen zusätzlich gegen die Zugluft an den Füßen Schutz. Martin lenkte ihren Schlitten durch die Einsamkeit, und Ursula wies ihm den Weg. Sie sprachen kaum. Das vorherige frohe Erzählen mit ihren Begleitern war gut, lustig auch das helle Glockengeläut, jedoch die schlichte Schönheit der vorbeigleitenden Winterlandschaft nahmen sie erst in der jetzigen Stille richtig wahr.
Der Trakisbach kam in Sicht. Bald danach trat der Wald zurück. Das kleine Dorf auf der Lichtung war erreicht. Sie stoppten vor dem bergansteigenden Hohlweg ihre Fahrt. Hier war der Schnee besonders tief. Ihr Zugtier trug ein Fohlen im Leib. Herr Urbschat hatte im Stall zu ihnen gesagt, ein Ausflug wäre für die werdende Pferdemutter gut, nur überanstrengen dürfe sie sich dabei nicht. Deshalb stiegen die Kinder vom Schlitten und führten ihr Gespann die ansteigende Strecke hinauf.
Nach dem Hohlweg dauerte es nicht mehr lange, bis Martin stolz in den großen, von vier Gebäuden umstandenen Bauernhof einfuhr und vor Plauschinats Veranda hielt. Rolf, der Hofhund schlug an und stürmte freudig auf das Mädchen zu, nur durch seine lange Kette gebremst. Dann öffnete sich die Verandatür, und die Besitzer des Gehöftes traten vor das Haus.
Nach der Begrüßung lenkte Ursula den Schlitten zu einem sonnigen Platz auf dem Hof. Herr Plauschinat nahm ihr das Pferd ab und führte es zu den anderen Zugtieren in eine freie Box in einem hellen, modernen Stall. Martin begleitete ihn. Durch die zweckmäßige Einrichtung des Stalles war die Futterfrage für den unerwarteten Gast schnell zu lösen. Nur das Tränkwasser zog man noch draußen in Eimern an einem langen Gestänge aus einem offenen Brunnen hoch. Ein Gegengewicht half dabei. Strom gab es hier noch nicht.
Dann machte der Bauer mit ihm einen Rundgang durch das Gehöft. Neben dem Pferdestall lag das Gebäude mit den Maschinen. Was gab es hier alles zu sehen! Ein auf Kufen aufgebauter und dadurch transportierbarer Dieselmotor und eine Dreschmaschine dominierten darin neben einer schmuck aussehenden Kutsche, Heuwendern und vielen Kleingeräten. Auch eine Werkstatt gehörte dazu.
Gegenüber dem Wohnhaus lag die Scheune. Manche ihrer Fächer waren bis unter das Dach mit Stroh ausgefüllt. Hinter den großen Toren des hallenartigen Baues befanden sich auf den Freiflächen ein Schlitten und mehrere Erntewagen. An die Scheune schloss sich im Winkel, wieder zum Wohnhaus gewandt, der Stall für die Kühe und Schweine an. In diesem lebte auch das Federvieh.
Herr Plauschinat schloss ihren Rundgang mit einem kurzen Blick in die Nebenräume für die Milchwirtschaft ab. Martin schien hier alles wie in einem Produktionsbetrieb zu sein. So einen großen, klargegliederten Hof hatte er noch nicht gesehen.
Welch ein Gegensatz dazu bot sich ihm jedoch im Haus! Es war darin gemütlich und sauber, aber alles an und in diesem schien ihm uralt zu sein. Die kleinen Fenster, die niedrige, auf schweren Balken ruhende Zimmerdecke und der riesige Herd in der Küche.
Das Haus war vom Flur aus gesehen in fast symmetrische Hälften aufgeteilt. Eine davon diente als Altenwohnung. Zur Zeit wurde davon nur ein Zimmer von zwei polnischen Landarbeitern genutzt. Die Räume dieser Hausseite enthielten Möbel einer früheren Generation.
Plauschinats bewohnten die nach Westen gelegene Hälfte des Hauses. Von Esszimmer blickte man dabei über das ganze Gehöft. Nun war dort zum Mittagsmahl für das Ehepaar und dessen Gäste gedeckt
Beim Essen erfuhren die Kinder viel von den beiden im Krieg stehenden Bauernsöhnen. Auch sie mussten von ihren Angehörigen und sich selbst berichten. Als das Gespräch auf Martins Schicksal kam, nahm Ursula diesem behutsam manche erklärende Antwort ab, um ihn dadurch möglichst vor schmerzhaften Erinnerungen zu bewahren. Martin spürte das deutlich.
Nach dem Mittagessen gingen die Kinder hinaus. In der Veranda war es durch die Sonne schon herrlich warm. Draußen tropfte Schmelzwasser von den schneebedeckten Dächern der den Hof umrahmenden Gebäude herab. Auf der Eisfläche um die gegen den Frost dick umwickelten Trinkwasserpumpe standen schon Pfützen, aus denen die Gänse zu trinken probierten. Erstes Frühlingsahnen lag über dem Land.
Nicht weit hinter dem Hof begann der Wald, von dem auch ein Teil Plauschinats gehörte. Das Mädchen führte seinen Begleiter in diese Richtung, aber zu hoher Schnee versperrte ihnen bald den Weg. So kehrten sie in den windgeschützten Hof zurück und machten es sich auf ihrem Schlitten bequem. Martin streckte sich auf einer der in Schlittenmitte sich gegenüberstehenden Bänke aus und schloss seine Augen vor dem blendenden Licht. Als Ursula ihm eine Decke anbot, lehnte er diese überheblich ab. Er nähme jetzt ein Sonnenbad, und sie möge ihn dabei bitte nicht stören!
Ursula berichtete ihm darauf von einem ähnlichen Sonntag vor ihrer Konfirmation. Damals hätte die Mutter einer Mitkonfirmandin diese und sie am Tag vor der Abschlussprüfung im verschneiten Garten an der Südseite des Hauses noch einmal abgehört. Sie alle hätten dabei einen richtigen Sonnenbrand bekommen. Das könne ihm heute in so einer Lage auch passieren.
Die Kinder neckten sich im Gespräch ohne Rechthaberei und gegenseitiges Belehren. Oft lachten sie dabei. Sie freuten sich sorglos an ihrer Gemeinsamkeit und genossen den ersten Vorfrühlingstag. Zum Kaffee waren sie dann wieder bei Plauschinats im Haus.
Bald danach wurde mit den Polen zusammen das Vieh versorgt. Die Kinder bekamen dabei den Auftrag, Heu von dem Dachboden über dem Stall zu holen. Sie schoben dies mit großen Gabeln an die Luken heran und warfen es in die Gänge hinab. Ganz zum Schluss sprang Martin einfach hinterher. Ursula erschrak, aber der Junge kroch lachend aus dem großen, den Fall dämpfenden Heuberg hervor und ermunterte sie, es auch zu versuchen. Unten klopften sich dann beide gegenseitig die Kleidung ab. Das Mädchen hatte sogar einige der so schön nach Sommer duftenden Halme im Haar.
Sie wollten nicht zum Abendbrot bleiben. Es dunkelte schon, und die Kälte kam.
Das Pferd wurde vor den Schlitten gespannt. Martin hörte, wie Ursula dabei leise auf das Tier einsprach. Ihm schien, als würde dieses den Sinn ihrer Worte verstehen. Willig nahm es die kalten Eisenglieder des Zaumzeuges zwischen die Zähne, trat wie auf Geheiß in der Deichsel zurück und ließ alles was sie tat wie selbstverständlich mit sich geschehen. Herr Plauschinat brauchte beim Anspannen nicht zu helfen. Zum Abschluss befestigte Ursula die diesmal verlängerte Leine an der Mittelbank, auf der sich Martin gesonnt hatte und legte eine unter dem Sitz verstaute Decke über das Pferd. Anschließend gingen die Kinder noch einmal ins Haus, um sich auch von Frau Plauschinat zu verabschieden.
Nun fuhren sie schon eine Weile durch die sternklare Nacht. Die drei Gehöfte blieben auf der Lichtung als dunkle Schatten zurück und verschmolzen schließlich mit dem am Horizont stehenden Wald. Die Schlittenglocke blieb wo sie war, sie störte nur. Auch die Laterne wurde nicht angezündet, die Winternacht war hell genug.
Im Hohlweg schob der Schlitten durch sein Gewicht sehr nach. Das Mädchen nahm das unruhig gewordene Pferd am Geschirr an die Hand. Martin konnte die Zügel locker lassen.
Dann waren sie wohlbehalten im Instertal. Ursula, die wieder neben Martin saß, hatte die Pferdedecke mitgebracht. Jetzt, wo es schneller ging, brauchte das Tier diese nicht mehr. Sie bot Martin an, sich darin einzuwickeln und auf die mit dem Rücken in Fahrtrichtung stehende Bank zu legen. So könne er noch besser die Sterne sehen.
Sollte er das wirklich tun? Die Decke trug noch die wohlige Wärme des Pferdes an sich. Im Liegen war Reisen auch noch bequemer. Um ihn war Kälte, Einsamkeit und Nacht, jedoch all´ das bedrückte ihn nicht mehr. Im Gegenteil, seit dem Tode seiner Eltern hatte er sich noch nie so geborgen gefühlt. Martin tat, wie ihm gesagt.
Nicht lange, und der Junge schlief. Ursula merkte es an seinem gleichmäßig ruhigem Atmen. In Gedanken durchlebte sie noch einmal den heutigen Tag. Martin hatte seit seiner Ankunft zum ersten Mal richtig herzhaft gelacht. Das war das Schönste daran. Dafür wollte sie dankbar sein.
Schnell, aber behutsam, um ihn nicht zu stören, lenkte sie ihr gemeinsames Gefährt zu Urbschats zurück.
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Martins Klassenkameraden erhielten in der zweiten Märzhälfte den Befehl, sich in der Flakstellung bei Angerlinde zu stellen. Für die meisten von ihnen war das die erstmalige längere Trennung von ihrem Elternhaus. Aber auch die auswärtigen Schüler, die in Insterburg bei Pensionsmüttern wohnten, wurden aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen. Im Unterricht in der Stellung lernten sie nicht mehr viel. So blieb Martin für außerschulische Dinge reichlich Zeit.
Der Winter hielt sich fast noch bis zum Monatsende. Bei immer länger anhaltendem Licht fuhren deshalb Ursula und Martin häufig Ski. Martin hatte dabei durch seine Begleiterin am Rodelberg auch Lobinskis und Balzats Kinder, die jünger als er waren, kennen gelernt. Am liebsten verbrachte er jedoch seine Freizeit mit Ursula, Eva und Rudi zusammen.
An manchen Abenden trafen sie sich dazu auch im Lehrerhaus bei Brauns. Evas Mutter nahm Martin gern in diesen Kreis auf. Evas Vater war Soldat. Anfänglich machten es Evas um Jahre jüngere Zwillingsschwestern Martin schwer, sie auseinanderzuhalten, aber bald sprach er sie zu ihrem Erstaunen mit dem richtigen Namen an.
Bei Brauns wurde Hausmusik gemacht. Rudi spielte dabei Klavier. Frau Braun hatte ihn dazu ermuntert und ihn unterrichtet. Außerdem besaß er zu Hause eine Ziehharmonika. Eva und Ursula beherrschten ihre Instrumente - eine Geige und Flöte - auch recht gut. Es war schön, diesem Trio zuzuhören!
Martin hätte man gern als vierten Spieler gewonnen. Dieser jedoch hielt die anderen für unerreichbar gut und sträubte sich zu ihrer aller Enttäuschung dagegen. Ursula gab aber so schnell nicht auf. Es gelang ihr, ihm ohne sein Wissen durch die Beziehungen einer Mitschülerin eine Mundharmonika zu kaufen. Zunächst behielt sie dieses Geheimnis jedoch für sich.
Am Rodelwäldchen lag noch immer Schnee. Ein wenig pappte er schon. Unsere Vier hatten im Verein mit Lobinskis und Balzats Kindern eine beachtliche Sprungschanze daraus gebaut. Skier besaß hier fast jedes über 10 Jahre alte Kind. Sie stammten aus der Ende 1941 durchgeführten Spinnstoff-Sammelaktion, als gegen alle Prophezeiungen Hitlers der deutschen Wehrmacht die Niederwerfung Russlands nicht vor dem Wintereinbruch gelang, und viele unserer Soldaten in ihrer Sommerkleidung erfroren. Für den Fronteinsatz waren die damals abgelieferten Skier zu kurz.
Martin stand inzwischen auch im Springen den Dorfkindern kaum noch nach. Zwar hatte er sich dabei einmal böse die Oberlippe aufgeschlagen, aber so schlimm war das nun auch wieder nicht. Im nächsten Winter würde er sicher so gut wie die anderen sein, wenn es für sie hier noch einmal einen Winter geben sollte!
An dem Wartehäuschen der Obusendhaltestelle hatte man seit einigen Tagen das Parteiplakat mit dem schlapphuttragenden, verdächtig aussehenden Mann und der Parole: „Vorsicht bei Gesprächen, FEIND HÖRT MIT“, überklebt. Nun war dort eine eigenartige Landkarte angebracht. „8 Millionen Deutsche zuviel“, stand unübersehbar groß darüber geschrieben. Das auf der Karte abgebildete Deutschland hörte, von Berlin aus gesehen, irgendwo an der Oder auf. In den dahinterliegenden Ostprovinzen lebten dann Russen und Polen. Das hatten angeblich Deutschlands Feinde auf einer Konferenz in Teheran beschlossen.
An einem Abend kurz danach korrigierte Martin auf Grafs Russlandkarte in der Küche den markierten Frontverlauf. Überall steckte er die Nadeln auf die in den Wehrmachtsberichten genannten Orte zurück.
Aus dem vor einem Jahr noch eingeschlossenen Leningrad drängte der Gegner immer weiter hervor. Die Stadt wurde von ihm längst wieder über das Festland versorgt und war dadurch endgültig für die deutschen Truppen verloren.
Auch im Frontmittelabschnitt wichen unsere Soldaten immer weiter zurück. Sie hatten selbst bei den großen Anfangserfolgen 1941 ihr Ziel, Russlands Hauptstadt Moskau , nicht erreicht.
Am schlimmsten jedoch sah es im südlichen Frontabschnitt aus. Selbst das natürliche Hindernis, der breite Dnjepr mit seinen gut zu verteidigenden, westlichen Ufern hatte nicht standgehalten. Kiew, die Hauptstadt der Ukraine, war schon vor Monaten verlorengegangen. In einer Kesselschlacht bei Tscherkassy war es kürzlich fast zu einem zweiten Stalingrad gekommen. Bald war an der Südfront alles Land wieder in russischer Hand. Nur auf der Krim wurde noch gekämpft.
Wehrmachtsberichte und Wochenschauen sprachen immer häufiger von schweren Abwehrschlachten und planmäßigen Absetzbewegungen zur Frontverkürzung. Manchmal schien es, als ständen einzelne Abschnitte bei der immer größer werdenden Überlegenheit der Roten Armee kurz vor dem Zusammenbruch.
Frau Graf war bei der Vorbereitung des Abendessens. Am liebsten hätte sie Martins Tun nicht wahrhaben wollen. Welch eine Bedrohung ging von den heranflutenden, feindlichen Heeren aus! Würden russische Soldaten eines Tages vor Ostpreußens Grenzen stehen und diese vielleicht sogar überrennen? Was würde dann mit den hier wohnenden Menschen geschehen?
Der Opa beobachtete still vom Tisch aus Martins Werk. Ursula hantierte am Küchenschrank. Sie sah das Durchhalteplakat am Wartehäuschen wieder deutlich vor sich. Etwas Bedrückendes lag im Raum.
In diese Stille platzte der Junge mit einer plötzlichen Bitte hinein. „Tante Käte“, sagte er, „auch wenn die Front immer näher kommt, lass´ mich bei euch bleiben.“ Nun war das, was alle heimlich fürchteten, ausgesprochen. Wie konnte Martin so etwas tun! Gab er sein neugewonnenes Zuhause durch dessen Bedrohung schon feige auf oder sah er das Geschehen an der Ostfront nüchterner als sie?
Frau Graf hätte ihn wegen seiner Worte fast gerügt. Aber er hatte sie damit doch auch gleichzeitig gebeten, bei ihnen bleiben zu dürfen! Ihre Familie war ihm zur neuen Heimat geworden, jedoch noch nicht dieses Land. Nein, sie konnte ihm nicht zürnen, sie würde ihn bei sich behalten, es wäre denn, sein Patenonkel würde darüber anders bestimmen. Sie sagte ihm das und sah, wie erleichtert er darüber war.
An diesem Abend kam Ursula vor dem Einschlafen an Martins Bett. Was mochte sie wollen? Bisher hatten sie sich nur von Zimmer zu Zimmer erzählt.
Seine Gefährtin schien ihr Handeln gut überlegt zu haben. Sie knüpfte an Mutters Worte an und meinte, dass Martin nun ganz zu ihnen gehören würde. Wie Geschwister wären sie jetzt. Sie fragte ihn, ob er das auch so sehe; jedoch, als hätte sie vor seiner Antwort Angst, begann sie, ohne ihm dazu Zeit zu lassen, in einer seltenen Eindringlichkeit lieb von ihrem Vater zu sprechen. Martin horchte auf.
Nach Ursulas Schilderung musste Onkel Graf ganz anders als Tante Käte sein. Viel weicher und sehr bescheiden. Hier hatte seine Frau darüber gewacht, dass seine Güte ihm nicht zum Schaden wurde. Jedoch in dem rauen Betrieb einer dicht hinter der Front arbeitenden Waffenmeisterei wurde sein Verhalten sicher auch ausgenutzt. Vielleicht geriet er dadurch gegenüber den anderen sogar manchmal zusätzlich in Gefahr.
Bald spürte Martin, dass Ursulas Bericht eine einzige, an ihn gerichtete Fürbitte war. Dann sprach das Mädchen diese auch offen aus. „Wenn du kannst“, sagte es am Ende ihres gemeinsamen Gespräches, „schließe Vater in dein Nachtgebet ein.“ Der Junge richtete sich auf und gab Ursula darauf die Hand. Mit einem leisen „schlafe recht gut“, das wie ein Danke klang, ging sie in ihr Zimmer zurück.
Martin wiederholte noch einmal still für sich den gerade gehörten Satz. „Wenn du kannst“, hatte Ursula zu ihm gesagt und dabei das Wort Vater so gebraucht, als wäre nicht nur sie, sondern auch er dessen Kind. Woher wusste sie, dass ihm nach dem Tode seiner Eltern kein Gebet mehr gelang? Sein Glauben an Gott war durch Hoffnungslosigkeit ins Wanken gekommen. Warum zwang sie ihn jetzt, indem sie so eindringlich für ihren Vater bat, darin zu einem Neuanfang? Sie war so sicher in ihrem Tun! Wer nur wies ihr darin den Weg und gab ihr den Mut? Martin konnte sich vieles nicht erklären, aber die Liebe, mit der sie ihre Nächsten umgab, erkannte er wohl. Noch bevor dieser Tag zu Ende ging und vor allen Nächten darauf, löste er sein gegebenes Versprechen ein.
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In diesem Jahr ließ sich der März wirklich mit der Vertreibung des Winters Zeit. Erst in den letzten Tagen holte er Regen und südliche Warmluft heran und übergab seinem Nachfolger dann doch noch ein schneefreies Land.
Vor Grafs Haus entstand durch die plötzliche Schneeschmelze in einer Senke auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein flacher Teich. Er besaß keinen natürlichen Abfluss, weil der Boden darunter noch aus einer früheren Frostperiode eine Eisdecke trug. Die Dorfkinder fanden das bald heraus und fuhren auf ihren Schlitten vorsichtig durch die seichte Flut. Dabei dienten ihnen Skistöcke als Flößerstangen. Diese nicht zu verlieren, gab dem Spiel seinen Reiz, denn sonst war man vom Wasser umgeben antriebs- und steuerlos.
Auch Ursula und Martin machten bei dem Vergnügen mit und kamen abends mit lahmem Rücken nach Hause. Ein Schlitten ohne Lehne, bei dem man wegen der unter dem Wasserspiegel gleitenden Kufen ständig die Beine auf der Sitzfläche halten mußte, war nun einmal kein bequemes Gefährt.
Die Eisfläche der vor einem Monat überschwemmten Insterwiesen wurde von dem neuen Schmelzwasser überspült und schwamm auf. Große, noch recht dicke Schollen trieben träge den wieder zum gewaltigen Strom angeschwollenen Fluss hinab. Vor den Brückenbogen stauten sie sich manchmal zu Wänden hoch, bis der dadurch immer größer werdende Wasserdruck sie schließlich mit Krachen zerbersten ließ.
Ursula und Martin sahen sich auch diese neue, noch größere Überschwemmung an. Jedoch, was war denn das da hinten? Vom Rodelwäldchen her kam langsam eine mit Kindern besetzte Scholle angeschwommen. Die Kinder steuerten sie mit Wäschestangen. Manchmal streiften sie dabei leicht das Ufer und drehten sich dann gemächlich im Kreise. Offenbar hatten die Seefahrer an ihrem nicht ungefährlichen Unternehmen großen Spaß, denn sie sangen dabei und tollten auf ihrer schwimmenden Insel herum.
Nun erkannten Ursula und Martin auch die Flößer; Lobinskis und Balzats, vom ältesten bis zum jüngsten Kind. Ob deren Mütter wussten, was hier geschah? Die Scholle war groß, aber vielleicht ja schon morsch! Zwar konnte man in dem überschwemmten Tal notfalls watend das Ufer erreichen, aber im Wasser versteckt lag doch auch noch der Fluss!
Ursula rief zu den Kindern hinüber und forderte sie zum Anlegen auf. Schließlich versuchten diese das auch, jedoch bei dem Stoß brach auf der gegenüberliegenden Schollenseite ein Teil davon ab und trieb langsam mit Alfreds jüngstem Bruder davon. Alfred sprang diesem blitzschnell nach, wobei der kleingewordene Schollenrest bedrohlich zu schwanken begann. Nur in der Mitte konnten beide noch trockenen Fußes stehen.
Der Junge war ohne Wäschestange gesprungen. Elfriede, die älteste der Balzats, kam zum Nachwerfen schon zu spät. Auch hätte sie damit Alfred kaum helfen können, denn nach dem gerade Erlebten wagte der sich bestimmt nicht mehr an den brüchigen Schollenrand. Hilflos kamen beide immer weiter vom Ufer ab und näherten sich der Brücke.
Martin fiel das Paddelboot im Hühnerauslauf ein, jedoch Ursula schüttelte den Kopf. Die ihnen noch verbleibende Zeit war viel zu kurz, die würde nicht einmal zum Herbeiholen eines Kahnes von Urbschats ausreichen. Als Rettungsboot blieb ihnen nur die große, gestrandete Scholle selbst. Martin widerstrebte dieser Plan, aber er wusste auch keinen besseren.
So blieb Elfriede bei den verängstigten Kleinen zurück, und sie fuhren den Schiffbrüchigen hinterher. Sehr vorsichtig steuerten sie die abgebrochene Scholle an und legten dann alle Wäschestangen als Brücke zu dieser hinüber. Alfreds Bruder kroch als erster darauf zu ihnen zurück. Der kleine Kerl hatte nicht einmal geweint. Ursula nahm ihn froh in den Arm. Dann ging auch bei Alfred alles gut. Bald darauf legten sie erleichtert etwas flussabwärts wieder am Ufer an.
Alfred und Elfriede baten, bei ihnen zu Hause nichts von dem Geschehen zu erzählen. Aber eines der Kleinen hatte daheim dann doch wohl gepetzt, denn am nächsten Tag nach der Schule wies Tante Käte ihre beiden auf ein Einweckglas mit Leberwurst hin. Frau Lobinski hätte es als Dank für eine gute Tat gebracht!
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Ursula hatte ihrem Vater zum bevorstehenden Osterfest geschrieben. Herr Graf trug nun den Feldpostbrief bei sich, um ihn nach einem nur kurzen Überfliegen abends allein und in Ruhe zu lesen.
Sie schilderte ihm darin einen Sonntagmorgen zu Hause. Alle saßen am Frühstückstisch. Seine Frau hatte dem Opa Milchsuppe gekocht und selbstgebackenes Brot hineingebrockt. Um das Brot zu strecken, tat man neuerdings etwas Kartoffelbrei und von Plauschinats geschenkt bekommenes, vorher überbrühtes Getreide mit in den Teig. Zwieback, besser für Opas kranken Magen, gab es schon lange nicht mehr. Honig und Marmelade aus eigener Ernte waren jedoch reichlich da.
Vom Frühstückstisch aus konnte man durch das Küchenfenster in dem schon schneefreien Garten zutrauliche Sperlinge, Meisen und ein Dompfaffenpärchen am Futterplatz sehen. Manchmal wurden die kleinen Vögel von einem gefräßigen Specht verdrängt. Der Opa hatte im vergangenen Sommer mit selbstgezogenen Sonnenblumen wieder gut für seine gefiederten Gäste vorgesorgt. Bald würde er aber mit dem Füttern aufhören können, denn Schneeglöckchen läuteten schon den Frühling ein, und erste Krokusse wollten blühen.
Die Hühner wurden aus ihrem Stall gelassen. Nicht schnell genug konnte die kleine, weiße Schar über den sonntags geharkten Hof und unter dem vor Opas Holzstall befindlichen Brückchen hindurch in ihren großen Auslauf gelangen. In diesem Jahr gab es keine Küken, weil deren Aufzucht zu viel schwerbeschaffbares Futter verschlingen würde. Die alten Hennen legten noch fleißig, sodass Grafs trotz des Ablieferungssolls manches Ei für sich behalten konnten.
Die Kaninchen erwarteten den Opa schon mit Ungeduld und schnupperten ihm durch die verdrahteten Stalltüren entgegen. Morgens gab es für sie Rüben und Heu. Eine Häsin zog bereits Junge auf. Noch lagen sie blind in dem mit Mutterfell warm ausgepolsterten Nest. Bei einer anderen stand ein Wurf kurz bevor.
Ursula ging auch auf seine Bienenvölker ein. Alle waren gut durch den Winter gekommenen. Sie hatten nach der langen Ruhezeit bei sonnigem Wetter gerade ihren Entschlackungsflug unternommen und dabei ausgerechnet Mutters draußen aufgehängte Wäsche als Rastplatz missbraucht. Die darauf hinterlassenen „Sommersprossen“ waren durch nochmaliges Waschen aber schon wieder fort.
Seine Tochter hatte ihm auch von Martin berichtet. Offenbar passte er sich gut in die Familie ein und begann das Gewesene zu vergessen. Nur woher glaubte sie, ihn nach dieser kurzen Zeit schon so gut zu kennen?
Herr Graf wurde durch Ursulas anschaulichen Bericht über das Geschehen daheim sehr froh und doch auch nachdenklich zugleich. Er besaß noch ein intaktes Zuhause. Seine Lieben und ihn hatten Unglück und Not noch nicht getroffen, aber in wie viele Familien war der Krieg durch Frontgeschehen und Bombenhagel schon gewaltsam eingebrochen. Martin hatte das bereits bitter erfahren müssen. Und konnte dieses erbarmungslose Ringen nicht auch für Deutschland verloren gehen? Mit Gewalt riss er sich von solchen Gedanken los. Die hatte Ursula mit ihrem Brief bestimmt nicht heraufbeschwören wollen. Nein, er wollte zuversichtlich bleiben. Auch war es von Kuromae, wo seine Einheit jetzt stand, bis Sprindt noch unendlich weit.