Читать книгу Das Unvorstellbare wagen - Wolfgang Kulow - Страница 11

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Die 1980er Jahre stellten alles auf den Kopf. Nicht nur gründete ich eine Familie und ließ mich nieder. Es war auch die Zeit, in der das Fliesenlegergeschäft zu stagnieren begann. Schwimm- und Hallenbäder waren gebaut, Krankenhäuser fertiggestellt, Küchen und Bäder von Ein- und Mehrfamilienhäusern vollständig gefliest. Der große Run war plötzlich vorbei, und die Auftragslage meines Arbeitgebers ging deutlich zurück. Mich störte das weniger, hatte ich doch in den letzten Jahren erfolgreich die Sahne des Booms abgeschöpft. Vor allem finanziell.

Just in dieser Zeit hörte ich von einer freien Stelle bei der Bundeswehr. Die Stelle eines Sicherheitsmitarbeiters im Aufklärungsturm, der sich im nahegelegenen Klaustorf, nur wenige Kilometer von Großenbrode, befand, sollte neu besetzt werden. Der „Spökenkieker“, wie der Turm auch von den Einheimischen genannt wurde, war für die elektronische Aufklärung im Osten zuständig. Neben der Luftwaffe beherbergte der 75 Meter hohe Turm auch eine Abteilung der Marine und der Bundesstelle für Fernmeldestatistik (BFSt). Zunächst zögerte ich. Mein geliebtes Fliesenlegen war immer mein Leben gewesen. War ich wirklich bereit, dies aufzugeben? Schließlich hatte mir dieser Beruf ermöglicht, alle meine materiellen Träume zu verwirklichen. Gleichzeitig spürte ich, dass ich nicht mehr mit Leib und Seele bei der Sache war und dem Dauerstress sicher bald Tribut zollen würde. Ich überlegte hin und her, diskutierte lange mit Brigitte das Für und Wider. Auf der einen Seite würde ich deutlich weniger verdienen, auf der anderen Seite reizten mich die geregelten Arbeitszeiten.

Im Alter von 32 Jahren wechselte ich 1981 schließlich zur Bundeswehr. Bis zu meinem Eintritt in den öffentlichen Dienst war ich geschäftlich jahrelang auf Hochtouren gelaufen. Mein Leben war auf die Sekunde genau getaktet gewesen, rund um die Uhr von Hektik und körperlicher Arbeit geprägt. Immer war ich in Action gewesen und hatte ständig unter Strom gestanden. Im Turm erwartete mich nun eine ganz andere, bis dahin sehr fremde Welt. Alles ging ruhig vonstatten. Auf den Fluren herrschte eine Gelassenheit, die mir anfangs sehr seltsam vorkam. Plötzlich waren andere Dinge wichtig: Umsicht, Sorgfalt und Besonnenheit. Ich saß nun den ganzen Tag an meinem Schreibtisch, hatte klar definierte Arbeitszeiten und war vom Megastress der letzten Jahre meilenweit entfernt. Diese Umstellung war zunächst gar nicht so einfach. Ständig hatte ich den Gedanken, ich müsste jetzt mal etwas „Richtiges“ arbeiten. Und zudem ein schlechtes Gewissen, wenn ich dann doch eher ausgeruht meinen Arbeitsplatz verließ. Ich fühlte mich wie ein Rennpferd, das ungezähmt in eine viel zu kleine Box gesperrt wurde.

Meine Aufgabe war es, für die Sicherheit des Turms zu sorgen und die Zugangsberechtigungen der Mitarbeiter zu erstellen. Verschiedene Sperrzonen in den einzelnen Räumen erforderten differenzierte Sicherheitsvorkehrungen. Der Turm war damals ein einziger Hochsicherheitstrakt, es wimmelte nur so von Abhörprofis und Verschlüsselungsspezialisten. Mein Büro war voller Sicherheitstechnik, was anfangs ziemlich ungewohnt war, worin ich mich aber sehr schnell einfuchste. Das Beste aber war, dass der Turm für seine Mitarbeiter viele Freiheiten bereithielt. Durch meinen 24-Stunden-Dienst hatte ich jeden zweiten Tag frei und dadurch natürlich sehr viel mehr Zeit für mein anspruchsvolles Training. Zu meiner großen Freude konnte ich mir diese auch noch frei einteilen. Meine Lebensqualität steigerte sich spürbar. Ich war ausgeglichener und um ein Vielfaches leistungsfähiger.

Meine neu gewonnene Zeit investierte ich vollständig in meine Hobbys. Meine Leidenschaft zum Sport, meinen unbändigen Bewegungsdrang konnte ich nun nach Herzenslust ausleben. Ich war total in meinem Element und genauso viel unterwegs wie zuvor. Nur dass ich jetzt nicht mehr rund um die Uhr beruflich, sondern sportlich gefordert war. Plötzlich führte ich ein völlig neues Leben. Und erst sehr, sehr viel später merkte ich, dass ich mich dadurch immer weiter von meiner Familie entfernte.


Windsurfen bei Sturm in Heiligenhafen: Meinen unbändigen Bewegungsdrang konnte ich nach dem Wechsel zur Bundeswehr nach Herzenslust ausleben.

Aller Anfang ist schwer

„Heute Nachmittag haben wir Gäste“, erinnerte mich Brigitte, als ich meine Schwimmsachen greifen und zur Tür eilen wollte. „Du erinnerst dich, dass wir gleich gemeinsam mit unseren Freunden grillen wollen?!“ Ihre Stimme klang mahnend, meine Stimmung sank augenblicklich auf den Nullpunkt. Nicht auch das noch! Unruhig rutschte ich eine Stunde später auf meinem Stuhl hin und her und schielte unablässig auf die Uhr. „Wie lange bleiben die denn noch?“, schoss es mir durch den Kopf. „Ich will doch noch schwimmen gehen.“ Mittlerweile hatte ich nämlich neben dem Tauchen und Surfen mit einer weiteren Sportart begonnen: dem Dreikampf – besser bekannt als Triathlon. Die neue Trendsportart war Anfang der 1980er Jahre aus den USA nach Deutschland herübergeschwappt und hatte mich vollkommen in ihren Bann gezogen. Erst Schwimmen, danach Radfahren und am Ende Laufen. Ein Marinesoldat erzählte mir, dass es auf Hawaii einen Triathlon mit unvorstellbar langen Distanzen gab, den man Ironman nannte. Das war völlig abgefahren. Denn bei uns war zu diesem Zeitpunkt die olympische Distanz – die man damals natürlich noch nicht so nannte – das Maß aller Dinge: 1,5 Kilometer Schwimmen, 40 Kilometer Radfahren und 10 Kilometer Laufen. „Das einmal in einem Wettkampf zu schaffen, wäre ein Traum“, sagte ich begeistert zu Brigitte. Damals ahnten wir nicht im Geringsten, wie der Triathlon unser Leben verändern würde.

Mit Schwimmen, Radfahren und Laufen waren nun drei weitere Sportarten hinzugekommen, die ich neben Job und Familie bewerkstelligen musste. Da passte ein Grillnachmittag überhaupt nicht in meinen strikten Zeitplan. Heute hätten Intervalle auf meinem Trainingsplan gestanden. Vielleicht könnte ich diese später noch nachholen, überlegte ich. Wie lange unser Besuch wohl noch bleiben wollte? „Wolfgang?!?“ Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. „Kümmerst du dich um die Getränke?“ Drei Augenpaare schauten mich vorwurfsvoll an. Erst jetzt registrierte ich die leeren Gläser auf dem Tisch, in die unsere Freunde wohl schon seit einer kleinen Ewigkeit starren mussten. Meine Anspannung wuchs und blieb den anderen natürlich nicht verborgen. So konnte von einem lustigen Nachmittag keine Rede sein. Als sich unsere Freunde schließlich befremdet von mir verabschiedeten, atmete ich erleichtert auf. Schnell schnappte ich meinen Neoprenanzug und düste auf dem Rad davon. Immerhin konnte ich jetzt wenigstens noch in der Dämmerung meine Runden in der Ostsee ziehen.

Ich war wie infiziert. Dem ersten Zehn-Kilometer-Volkslauf 1971, bei dem ich ohne jegliche Erfahrung wie ein Irrer lossprintete und am Ende mit Platz sieben im Gesamtklassement belohnt wurde, folgten bald meine ersten Marathonversuche. Auch der erste Volkstriathlon sollte nicht lange auf sich warten lassen. Dort reihte ich mich beim Schwimmstart mit einer gehörigen Portion Selbstvertrauen gleich in der ersten Reihe ein. Schließlich war Wasser mein Lebenselixier. Und Schwimmen konnte ich ja von Kindesbeinen an. Als der Startschuss fiel, setzte ich mich in Bewegung. Ich war noch keine zehn Meter weit gekommen, da wurde ich bereits unter Wasser gedrückt. Andere Athleten schwammen ohne Skrupel über mich drüber. Ich japste, ruderte mit den Armen und kämpfte mich durch den See, bis ich mit blankem Entsetzen feststellte, dass ich im letzten Drittel des gesamten Starterfeldes aus dem Wasser stieg. Wütend rannte ich zu meinem Rad. Aber dort angekommen, zierte ich mich ein wenig. Ich hielt den vorgeschriebenen Helm in meinen Händen, und es war mir peinlich, diese hässliche Haube auf meinen Kopf zu setzen. Linkisch schielte ich zu meinen Konkurrenten hinüber. Zu meiner Erleichterung zogen sie diese komische Plastikgallone ebenfalls über den Kopf. Ich tat es ihnen nach und schämte mich fürchterlich, als ich damit auf die Radstrecke fuhr.

Mein Rennrad war mein ganzer Stolz. Drei Tage vor dem Triathlon hatte ich es beim Radhändler erstanden und entsprechend wenig Zeit zum Einfahren gehabt. Dass dies gelinde gesagt etwas ungünstig war und man bei einem Wettkampf kein neues Material testen sollte, lernte ich erst sehr viel später. Damals spürte ich nur sofort: Mein Rad war schnell. Verdammt schnell. Und da ich die verlorene Zeit vom Schwimmen aufholen musste, trat ich mächtig in die Pedale. Vor allem bergab ließ ich es ordentlich krachen und sammelte einen nach dem anderen meiner Konkurrenten wieder ein. Ich spürte den Fahrtwind in meinem Gesicht, grinste zufrieden vor mich hin und vergaß dabei für einen Moment sogar den schrecklichen Helm auf meinem Kopf.


Im schicken neuen Triathlon-Einteiler bei meinem ersten Volkstriathlon in Malente 1987

Leider sah ich im Temporausch viel zu spät, dass die lange Bergabpassage in eine heimtückische Spitzkehre mündete. Mein Rennrad schien außer Kontrolle und steuerte direkt auf die parkenden Autos zu. „Aahhhhh!“, schrie ich entsetzt und ging komplett in die Eisen. Die Wucht der Vollbremsung drehte mein Rad um 180 Grad, ich flog mit und konnte mich mit letzter Kraft auf dem Sattel halten. Laut schnaufend kam ich entgegen der Fahrtrichtung zum Stehen. Mein Herz pochte mir bis zum Hals. Das war zum Glück noch mal gut gegangen, dachte ich schockiert. Das Publikum am Straßenrand hatte dagegen seinen Spaß. Die Leute klatschten und johlten lautstark über meine ungeplante Stunteinlage.

Als ich vom Rad stieg, waren meine Beine wie Stöcke. Zudem hatte ich mir diesen schicken neuen Triathlon-Einteiler angezogen, der eng an meinen Beinen rieb und unbequem im Hintern zwickte. Aber was war das denn? Ich schaute nach unten und mit Entsetzen sah ich, dass sich meine gesamte Männlichkeit komplett eingequetscht, aber sehr offensichtlich durch den dünnen Stoff abzeichnete. Scham stieg in mir auf. So konnte ich unmöglich auf die Laufstrecke gehen! Rasch zog ich meine Startnummer davor, um das Schlimmste vor den Zuschauern zu verbergen.

Steif wie Eisenpfähle fühlten sich meine Beine an, und von einem dynamischen Laufen konnte längst keine Rede mehr sein. Ich war immer ein schneller Läufer gewesen, doch diesmal schleppte ich mich vollkommen leer mit letzter Kraft ins Ziel. Ich konnte mich nicht mal darüber freuen, dass ich es geschafft hatte, und war nur noch erleichtert, dass der Wettkampf endlich zu Ende war. Mein erster Triathlon war solch ein Desaster, dass mir augenblicklich der Gedanke durch den Kopf schoss: Das mache ich niemals wieder! Doch auf der anderen Seite wurmte es mich, dass ich kein besseres Resultat erzielt hatte und den anderen Athleten schlichtweg hinterhergehinkt war. Ich war verärgert, dass ich so gelitten hatte, und wusste, dass es nur eine Lösung gab, um das zukünftig zu verhindern: intensiver und vor allem zielgerichteter trainieren.

Der schmale Grat zwischen Leidenschaft und Sucht

Dirk Aschmoneit war damals der Guru im Triathlon. Ein Hammertyp, der bei der Bundeswehr im Maritimen Fünfkampf* äußerst erfolgreich gewesen war und diese Erfolge nun als Profi-Triathlet fortsetzte. Er war der erste deutsche Athlet, der einen Ironman gewann und die Neun-Stunden-Marke unterbieten konnte. Nun gab der „German Rambo“, wie er in den Medien genannt wurde, Trainingspläne für Triathlon-Interessierte heraus. Anhand dieser wollte ich mich ganz intensiv auf den nächsten Triathlon vorbereiten. Doch die Pläne waren hart. Sehr hart sogar. Sie gingen von einem ganz anderen Ausgangsniveau als dem meinen aus. Ich hatte höchste Mühe, die Einheiten zu absolvieren. Nach 14 Tagen konnte man mich schier ins Bett packen, so ausgelaugt war ich. Ich spürte, dass das auf Dauer nicht funktionieren konnte. Also gestaltete ich nach und nach das Training für mich um und passte es meinen körperlichen Fähigkeiten an. Das war genau der richtige Weg. Mir ging es gut, ich fühlte mich stark, und mit der Zeit wurden meine Leistungen immer besser.

So stand auch bald mein erster Start bei einem Ironman auf dem Programm. Dieser sollte im August 1989 in Rødekro in Dänemark stattfinden. 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen mussten optimal vorbereitet werden. Also fuhren Brigitte, André und ich wenige Wochen vor dem Start mit dem Wohnmobil ganz in die Nähe des Austragungsortes, damit ich vier Wochen lang äußerst intensiv für den Wettkampf trainieren konnte. An einem Morgen schwamm ich im See, fuhr anschließend den ganzen Tag Rennrad, um abends noch eine kleine Runde zu laufen. Am nächsten Tag durchquerte ich kraulend die fünf Kilometer durch den See, um danach in die Dunkelheit hinein bis zum Campingplatz zurückzulaufen, denn da wartete ja schon lange meine Familie auf mich. Am Ende der vier Wochen war ich so gut vorbereitet, dass ich schon fast das Gefühl hatte, meinen ersten Langdistanz-Triathlon gewinnen zu können. Als ich am Wettkampftag mit einer Zeit von elf Stunden 21 Minuten das Ziel erreichte, war ich unglaublich happy und nahm stolz meine Medaille entgegen. Nun war ich ein Ironman.

Als wir am nächsten Tag mit dem Wohnmobil nach Hause fuhren, fragte Brigitte: „Weißt du eigentlich, dass du dich gestern für den Ironman Hawaii hättest anmelden können?“ Das hörte sich zwar verlockend an, doch das war mir ziemlich egal. „Ich fahre doch nicht für einen Wettkampf rund um die Erde“, antwortete ich vollkommen desinteressiert und ahnte noch nicht, wie schnell sich meine Einstellung ändern würde.

Einen Ironman absolviert zu haben, war ein einmaliges Hochgefühl. Doch mit einem Ironman-Finish war ich längst nicht zufrieden. Rasch meldete ich mich für die nächste Langdistanz in Roth an. Brigittes Verständnis dafür war zwar begrenzt, aber ich ließ mich nicht beirren und erhöhte mein Trainingspensum auf 40 Stunden pro Woche. Morgens lief ich bereits vor sechs Uhr meine erste Runde und fuhr dann mit dem Rennrad zur Arbeit. In der Mittagspause absolvierte ich erneut ein Zehn-Kilometer-Lauftraining oder ging in den Kraftraum der Bundeswehr. So kam ich auf drei bis vier Trainingseinheiten – pro Tag. Ich war leistungsbereit ohne Ende, körperlich fit und mental absolut gut drauf.

Wenn ich heute zurückblicke, kann ich nur sagen: Ich war damals regelrecht besessen. Ich hatte nur noch meinen Sport im Kopf und wurde schon unruhig, wenn ich eine Einheit nicht oder nur verspätet absolvieren konnte. Anfangs beschwerte sich Brigitte nicht darüber. Als dann aber später meine Lauf- und Triathlon-Wettkämpfe hinzukamen und ich deswegen wochenlang in Übersee unterwegs war, wurde mir klar: „Eigentlich passt das nicht so richtig zum Familienleben, was du da machst.“ Mein Verhalten war grottenschlecht, das war mir im Prinzip bewusst, aber der Drang, jede freie Minute meine Leidenschaft auszuüben, überwog und war schlichtweg nicht zu bremsen. Obwohl die Leute hinter meinem Rücken bereits tuschelten: „Der ist ja verrückt, wie hält die Frau das nur mit dem aus?“, hielt mir Brigitte auch hier den Rücken frei. Sie buchte meine Flüge, übersetzte Anmeldeunterlagen, wechselte Geld, organisierte Reiseschecks und packte zu guter Letzt auch noch meinen Koffer. Ich brauchte mich um nichts zu kümmern. Meine Sportkollegen beneideten mich darum, dass meine Familie alles mitmachte, mir die Zeit zum Trainieren ließ und mich sogar bei vielen Events betreute. Aber richtig würdigen konnte ich das damals nicht. Vielmehr hatte es sich irgendwann so eingespielt, dass es für mich ganz normal und vollkommen selbstverständlich war.

Ich war schlichtweg süchtig nach Bewegung. Hinzu kam ein selbst gemachter Leistungsdruck. Denn natürlich wollte ich bei den Wettkämpfen immer schneller und besser werden. Für alles andere, was nicht mit Beruf und Sport zusammenhing, war ich wie blockiert. Die Zeit mit meiner Familie und vor allem mit André blieb vollkommen auf der Strecke. Ich war eh nicht so der Typ, der passiv herumsitzt oder nur im Haus herumwerkelt. Daheim war es mir oftmals zu ruhig und monoton. Da ging es um Themen wie Haus, Garten, Auto, um Schule und Wünsche der Familie. Da ich mich nun im Abenteuerbereich bewegte, war mir das alles einfach zu langweilig. Ich musste raus, weil mir zuhause schier die Decke auf den Kopf fiel. Dennoch versuchte ich, alles unter einen Hut zu bringen, hatte oftmals ein schlechtes Gewissen meiner Familie gegenüber und setzte mich selbst einem Megastress aus. Und ehe ich mich versah, war nicht mehr der Beruf mein Hauptstressor, sondern mein Sport.

Noch immer sehe ich jede Menge Triathleten und andere Sportler, die ebenfalls wie besessen trainieren. Die sich neben ihrer hektischen Managerkarriere, der Familie und dem Eigenheim mit Sport einen weiteren Stressfaktor aufhalsen. Dabei sollte Sport doch eigentlich ein Ausgleich sein. Eine Möglichkeit, sich auszupowern und Alltagsstress abzubauen. Aber noch immer machen viele denselben Fehler wie ich damals und setzen dabei Familie und Gesundheit aufs Spiel. Dabei ist eine ausgeglichene Work-Life-Balance das Zauberwort. Doch in den 1980er Jahren kannte man diesen Begriff noch nicht. Und so ging ich, ohne großartig darüber nachzudenken, munter meines Weges – auch wenn ich hin und wieder diese merkwürdigen Stiche in der Herzgegend spürte.

Mehrere Langdistanzen hatte ich nun absolviert. Um aber bessere Ergebnisse zu erzielen, hätte ich noch härter, noch intensiver trainieren müssen. „Willst du das wirklich?“, fragte ich mich, als ich über der Wettkampfplanung für das neue Jahr saß. Mir war klar, dass der Spaß, den ich bislang am Training hatte, dabei vollkommen auf der Strecke bleiben würde. Und mehr als 40 Stunden pro Woche konnte ich unmöglich in mein Training investieren. Wie es der Zufall wollte, hörte ich eines Tages von einem Double Ironman, der in Huntsville, Alabama, in den USA ausgetragen wurde. Die doppelte Ironman-Distanz? „Mensch, das wär doch was für mich!“ Ich war sofort Feuer und Flamme. Begeistert versuchte ich, an weitere Infos zu kommen. Vielleicht gab es so etwas ja auch in unserer Nähe? Denn das Ganze hatte einen Haken: Der Wettkampf hörte sich zwar spannend an, aber ich war immer noch nicht bereit, für einen Triathlon um die halbe Welt zu fliegen.

BEYOND THE IRON: ULTRA-IRONMAN-DISTANZEN

SchwimmenRadfahrenLaufen
Double (2 x)7,6 km360 km84,4 km
Triple (3 x)11,4 km540 km126,6 km
Quadruple (4 x)15,2 km720 km168,8 km
Quintuple (5 x)19 km900 km211 km
Deca (10 x)38 km1.800 km422 km
Double Deca (20 x)76 km3.600 km844 km
Triple Deca (30 x)114 km5.400 km1.260 km

Zeitgleich lernte ich bei der Deutschen Meisterschaft im 100-Kilometer-Lauf in Neu-Wittenberg Günther kennen, als wir nach dem Lauf gemeinsam unter der Dusche standen. Ich wusste, er hatte schon mal einen doppelten Ironman absolviert, und löcherte ihn mit tausend Fragen. Ich erfuhr von einem Double in Lelystad in den Niederlanden, einem Triple in Fontanil in Südfrankreich, einem Vierfach-Ironman in Ungarn und einer fünffachen Distanz in Den Haag. Günther und ich verstanden uns sofort prima. Wir lagen auf einer Wellenlänge, und ziemlich bald überlegten wir uns: Bevor wir durch die halbe Welt reisen, um an einem Ultra-Triathlon teilzunehmen, könnten wir doch auch selbst einen solchen Wettkampf auf die Beine stellen!?

Eine gewagte Idee. Aber wir waren voller Euphorie. Ich war der Macher, Günther hatte das Know-how. Schließlich war er bereits bei einer doppelten Langdistanz gestartet. Den Gedanken, dass die Organisation eines solchen Wettkampfes vielleicht eine ganz andere Hausnummer wäre, schoben wir beiseite. Also riefen wir im Sommer 1992 den Triple-Ultra-Triathlon in Lensahn ins Leben: 11,4 Kilometer Schwimmen auf einer 50-Meter-Bahn im Lensahner Freibad, 540 Kilometer Radfahren auf einer 10-Kilometer-Wendepunktstrecke, und am Ende sollten die Athleten die drei Marathonläufe von 126,6 Kilometern auf einem 1,3 Kilometer-Rundkurs absolvieren. Aber damit nicht genug. Günther und ich wollten das Ganze nicht nur organisieren, sondern natürlich auch selbst daran teilnehmen. Das Vorhaben war gewagt und die Planung umfangreich, aber das störte uns beide nicht im Geringsten, und wir stürzten uns sogleich in die Arbeit.

Der erste Ultra-Triathlon in Lensahn war sehr provisorisch. Die Ausschreibung und die Startunterlagen waren teils auf Deutsch, teils auf Niederländisch, denn als Vorlage dienten uns die Dokumente von Lelystad. Auch war es äußerst gewagt und unfassbar stressig, als Veranstalter am eigenen Wettkampf teilzunehmen. Aber es funktionierte irgendwie. Am Vorabend saß ich nachts um zwei Uhr noch immer am Wohnzimmertisch und beschriftete die Badekappen für die Athleten, aber morgens um sieben stand ich pünktlich am Start meines ersten Ultra-Triathlons. Ich war total müde und ausgelaugt. Die Vorbereitungen gepaart mit meinem eigenen Training hatten mich am Ende doch mehr Kraft gekostet als gedacht. Dennoch war ich heiß auf den Wettkampf und voller Motivation. Ich wusste, mir blieb nichts anderes übrig, als mich während des Wettkampfes vom Vorbereitungsstress zu erholen. Denn da hatte ich endlich meine Ruhe. Keine Fragen mehr. Keine Probleme zu lösen. Sobald der Startschuss fiel, konnte ich im Schwimmbecken ganz gemütlich meine Bahnen ziehen, ohne dass mir ständig jemand mit organisatorischen Dingen in den Ohren lag.

Ich genoss die ersten Kilometer in vollen Zügen. Wasser war mein Element. Jedoch war ich das freie Schwimmen in der Ostsee gewöhnt und nicht das monotone Kachelzählen im Freibad. Mit jedem Abstoß wurden meine Waden mehr und mehr gefordert. „Wie geht es dir?“, fragte mich Brigitte besorgt, als sie mir eine Banane am Beckenrand reichte und dabei mein zerknirschtes Gesicht sah. „In den Armen habe ich Power, nur die Beine machen Sperenzchen“, antwortete ich vollkommen enttäuscht von mir selbst. Aber es half ja nichts. Schließlich hatte ich erst die Hälfte der 228 Bahnen absolviert. Vorsichtig nahm ich die nächsten 50 Meter in Angriff. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie mir von einer Sekunde zur nächsten ein schmerzhafter Krampf in die Wade schoss. „Jetzt bloß einen kühlen Kopf bewahren“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Aber anfängliche Versuche, den Krampf selbst herauszudrücken, scheiterten kläglich. Also blieb mir nichts anderes übrig, als eine professionelle Massage in Anspruch zu nehmen. Dies bescherte mir zwar eine halbstündige Zwangspause, aber die Wade war danach wenigstens wieder fit.

Auf dem Rennrad fühlte ich mich dann pudelwohl. Der gesamte Stress der letzten Wochen fiel augenblicklich von mir ab. Auch beim Laufen konnte ich meine Stärken ausspielen, so dass ich am Ende mit 49 Stunden und 46 Minuten überglücklich als Vierter im Gesamtklassement ins Ziel einlief.

Meine besten Ergebnisse erzielte ich immer dann, wenn ich unbedarft und ohne Zeitdruck in einen Wettkampf ging. So auch diesmal. Ich hatte keine Ahnung, was mich während der dreifachen Ironman-Distanz erwarten würde, geschweige denn, wie ich auf die Erschöpfung eines Ultra-Triathlons reagieren würde. Ohne persönlichen Erwartungsdruck bestritt ich einfach nur meinen eigenen Wettkampf und machte mir keinerlei Gedanken über Platzierungen.

Die erste Auflage des Triple-Ultra-Triathlons in Lensahn war ein voller Erfolg. Elf Athleten, davon zwei Frauen, waren 1992 mit dabei. Vier Athleten mussten vorzeitig den Wettkampf beenden, darunter der „Fitnesspapst“ Dr. Ulrich Strunz. Später sollte er mit seinem Buch Forever Young die deutschen Bestsellerlisten anführen. Zum damaligen Zeitpunkt war Strunz für seine zahlreichen Ironman-Starts innerhalb kürzester Zeit in der Triathlon-Szene bekannt. Die beiden Sieger der Erstauflage, Astrid Benöhr (39:51 Stunden) und Karl Kiermeyer (36:57 Stunden), glänzten trotz hochsommerlicher Temperaturen mit hervorragenden Zeiten. Auch Günther erreichte nach 57 Stunden und 52 Minuten das Ziel.


540 Kilometer Radfahren beim Triple-Ultra-Triathlon in Lensahn war für mich die reinste Erholung.

Seitdem hat sich der Triple in Lensahn zu einem jährlich wiederkehrenden Event in der Ultra-Triathlon-Welt etabliert. Bis heute liegt die Erfolgsquote der startenden Athleten bei mehr als 83 Prozent. Von 820 Teilnehmern kamen bis 2015 unglaubliche 686 Triathleten ins Ziel.

Last als Lust

Drei Jahre später startete ich erneut als Organisator bei meinem eigenen Rennen. Der Norddeutsche Rundfunk produzierte aus diesem Anlass eine Dokumentation über meine Vorbereitung und den Verlauf meines Wettkampfes. Zeitgleich wurde Theo, Oberstudienrat für Sport und Mathematik, der ebenfalls als Teilnehmer in Lensahn antrat, mit den Kameras begleitet. Last als Lust war der Titel der Produktion, die dem Zuschauer das Thema Ultra-Triathlon näherbringen sollte. „Was sind das für Menschen, die sich solchen Strapazen aussetzen?“, eine der Fragen, mit denen sich der Regisseur beschäftigte.

„Den Körper zu belasten, ist für mich eine ganz besondere Sache“, antworte ich auf die Frage nach der Motivation, einen solchen Wettkampf zu absolvieren. „Je mehr ich mich belaste, umso wohler fühle ich mich. Ultra-Triathlon ist ein Kampf mit sich selbst und mit dem Inneren – aber ein durchaus positiver Kampf.“ Und obwohl ich versuchte, ganz entspannt in den Wettkampf zu gehen, stand ich durch die Produktion doch im Fokus der Medien und ein Stück weit auch in unfreiwilliger Konkurrenz zu Theo.

25 Männer und eine Frau nahmen an der nunmehr vierten Auflage des Triple-Ultra-Triathlons in Lensahn teil. Mittlerweile hatte ich bei anderen Wettkämpfen einiges an Erfahrung im Ultra-Bereich sammeln können und wusste, dass ich die körperlichen und mentalen Fähigkeiten dazu hatte, auch längere Distanzen ohne größere Pausen durchzustehen. Natürlich verbrachte ich im Vorfeld des Events erneut bis zu 90 Prozent meiner Zeit mit organisatorischen Tätigkeiten, was am Ende ganz eindeutig zu Lasten meines Trainings ging. Dabei ist Ultra-Triathlon kein Pappenstiel. Wenn jemand sagt, das mache ich jetzt mal so nebenbei, dann kann das leicht schiefgehen. Aber ich wusste, dass ich auf meine Erfahrung zurückgreifen konnte, auch wenn ich nicht optimal auf den Triathlon vorbereitet war.

Der Auftakt verlief jedoch nicht gerade vielversprechend. „Das darf doch nicht wahr sein!“, dachte ich missmutig und hielt mich verzweifelt am Beckenrand fest. Da schwamm ich stundenlang in der eisigen Ostsee, aber im Schwimmbad hatte ich erneut nach kürzester Zeit die heftigsten Wadenkrämpfe. Ob dies damit zusammenhing, dass ich nach jahrelanger Tätigkeit als Fliesenleger die Kacheln im Becken nicht mehr sehen konnte?! Was der Auslöser war, bleibt ein ewiges Mysterium. Also schleppte ich mich eher schlecht als recht durch die 11,4 Kilometer lange Schwimmstrecke und war mehr als erleichtert, als ich nach etwas mehr als viereinhalb Stunden endlich auf mein Rad steigen konnte.

Brigitte und ich waren mittlerweile ein eingespieltes Team, wenn es um meine Extrem-Ausdauer-Wettkämpfe ging. Sooft es die Zeit erlaubte, war sie mit dabei und betreute mich mit vollem Einsatz. Mit unserem Wohnmobil stand sie an der Strecke und bereitete mir all die Speisen zu, nach denen es mir gelüstete. Und ich hatte viele Gelüste während eines Rennens! Aber Brigitte kannte sie genau und wusste, worauf ich Appetit hatte. Sie las mir jeden Wunsch von den Augen ab. „Mein Mann ist ein Vielfraß“, erzählte sie munter den Filmleuten, während wir gemeinsam am liebevoll gedeckten Campingtisch neben der Laufstrecke saßen. Akribisch zählte sie auf, was ich während eines Ultra-Triathlons so alles verputzte: Nudeln, Hähnchenkeule, Schokolade, Riegel, Pudding, Pizza, Schinkenbrot, Hackfleischklößchen, Reis … Die Liste war lang, aber ich hatte meine liebe Not, meine Speicher ständig zu füllen und die Energiekette während des Triathlons nicht abreißen zu lassen. Nur so konnte ich genügend Kraft tanken, um nach dem Radfahren die Laufstrecke von nicht weniger als drei Marathondistanzen zu absolvieren.


Triple-Ultra-Triathlon Lensahn: 126,6 Kilometer Laufen bei 30 Grad im Schatten …

Hinzu kam, dass die Wetterbedingungen mit 30 Grad im Schatten den Triathleten in diesem Jahr das Letzte abverlangten. Dennoch genoss ich die Herausforderung und lebte unter diesen harten Bedingungen förmlich auf. „Wenn Sie einen solchen Wettkampf machen, dann ist alles andere winzig. Probleme im Alltag, im Beruf, einfach alles“, sagte ich zum NDR-Redakteur und sah, wie dem geschlauchten Kameramann die Schweißperlen auf der Stirn standen. „Wenn ich im Job von irgendwelchen kleinen Problemen höre und diese mit der Dimension der Belastung hier vergleiche – mental wie körperlich –, dann sind diese null und nichtig.“

In der Nacht von Samstag auf Sonntag erreichte ich als Sechster im Gesamtklassement das Ziel. „Es ist fantastisch, es zu schaffen“, strahlte ich in die Kameras. „Das ist das schönste Gefühl überhaupt!“ Mit meinen Blicken suchte ich Brigitte, um sie selig in meine Arme zu schließen. Mein Triumph war gleichzeitig ihr Verdienst. Denn auch sie war weit über 40 Stunden auf den Beinen gewesen, um mich – aber auch André, der immer mit dabei war – mit Essen und liebevollen Worten zu versorgen. Auch wenn Triathlon ein Sport für Einzelkämpfer ist, ist der Ultra-Triathlon doch immer auch ein Teamerfolg. Ohne die Menschen an meiner Seite, die mich dabei unterstützen, wäre ein solches Event nicht zu schaffen.

„Jetzt esse ich noch ein Kotelett, bevor ich mich schlafen lege!“ Beim bloßen Gedanken daran lief mir bereits das Wasser im Mund zusammen, aber gleichzeitig spürte ich auch, wie mein Kreislauf mit einem Schlag in die Knie ging. Nach mehr als 41 Stunden in Bewegung war mein Körper den unerwarteten Stillstand nicht gewöhnt. Zudem hatte ich vor der letzten Laufrunde gierig ein ganzes Glas Alsterwasser in einem Zug in mich hineingeschüttet, was mir nun überhaupt nicht gut bekam. Brigitte spürte mein Unbehagen. „Wolfgang, du solltest dich jetzt besser mal hinsetzen“, riet sie und griff meinen Arm. Aber da war es bereits zu spät. In Nullkommanix bahnte sich der halbe Liter Flüssigkeit seinen Weg nach draußen. Ehe ich mich versah, torkelte ich bereits zum Absperrgitter und übergab mich in hohem Bogen in den Zielbereich – direkt vor die Kameras des NDR.

* Maritimer Fünfkampf: Hindernisbahn, Lebensrettungsschwimmen, Hindernisschwimmen, Seemannschaftswettbewerb, Amphibischer Geländelauf

Das Unvorstellbare wagen

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