Читать книгу Das Unvorstellbare wagen - Wolfgang Kulow - Страница 9

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Die Existenz als Fliesenleger war hart. Umso ausgiebiger nutzte ich die kurze Zeit am Samstagabend, um wenigstens einmal in der Woche mit meinen Freunden so richtig abzufeiern. Frisch geschniegelt und top gestylt traf man sich damals im Parkhotel, einem riesigen Tanzschuppen mitten in Heiligenhafen. Der Club war das Partyzentrum der damaligen Jugend. Von überall kamen die Tanzwütigen herbeigeströmt: Von Fehmarn, Oldenburg, Hamburg, ja selbst aus dem fernen Berlin reisten scharenweise junge Leute an, um einen ausgelassen Abend zu erleben. Anfangs als Geheimtipp gehandelt, hatte es sich schnell herumgesprochen, dass man hier die besten Partys mit den hübschesten Mädels der gesamten Region feiern konnte. Auch viele Soldaten der Umgebung verschlug es dorthin – und ausgerechnet die waren für uns Jungs eine äußerst harte Konkurrenz beim Werben um die anwesenden Schönheiten.

Ein Mädchen stand ganz besonders in meinem Fokus. Sie sah hammermäßig aus und hatte eine Figur wie ein Filmstar. Ihre dunklen Haare waren immer perfekt gestylt, und an jedem Wochenende trug sie ein anderes wunderschönes Kleid. Ihr Name war Brigitte, das hatte ich schnell herausgefunden. Auch dass dies im Keltischen „die Erhabene“ heißt. Dass ihr Name Programm war, bekam ich recht bald zu spüren.

Bereits früh hatte ich gelernt, dass es Ende der 1960er Jahre auch als Mann extrem wichtig war, gut tanzen zu können. Es spielte eine bedeutende Rolle dabei, Frauen auf unkomplizierte Weise näherzukommen. Aber nicht nur die korrekten Tanzschritte waren wichtig, die gesamte Etikette musste beherrscht werden. Der Mann hatte nicht nur die Aufgabe, die Tanzpartnerin an ihrem Tisch aufzufordern und gekonnt über die Tanzfläche zu lenken, sondern auch nach dem Tanzen wieder wohlbehalten an ihren Platz zurückzubegleiten. Voller Scham denke ich noch heute an meine erste Tanzveranstaltung zurück: Ich saß schon wieder munter schwatzend auf meinem Stuhl, als ich das Mädchen, mit dem ich eben getanzt hatte, noch immer verdutzt auf der Tanzfläche stehen sah. Das war mir so peinlich, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Natürlich hatte ich danach nicht mehr die geringste Chance auf einen Tanz mit ihr, aber aus diesem Fauxpas habe ich schnell gelernt.

Kaum nahm die Live-Band im Parkhotel ihre Instrumente in die Hand, flogen die Stühle in hohem Bogen nach hinten, und die Jungs schnurrten los, um die Frau ihrer Begierde zum Tanz aufzufordern. Man musste auf der Hut sein, denn die Verehrer kamen auch schon mal von drei Seiten gleichzeitig angerannt. Schnell laufen zu können, war ja schon immer meine Stärke und nun mein großes Glück, denn insbesondere Brigitte war auch bei den anderen Jungs heiß begehrt. „Willst du mit mir tanzen?“, fragte ich völlig außer Puste, als ich als Erster vor ihr stand und sie mir mit ihrer Schönheit auch noch den letzten Atem raubte. Ruhig stand sie auf und reichte mir, ohne zu zögern, ihre Hand. „Aber sicher“, sagte sie vollkommen gelassen und schritt vor mir zur Tanzfläche. Ich war sofort verzaubert. Wie ein Traum fühlte es sich an, diese Topfrau in den Armen zu halten und mit ihr über die Tanzfläche zu schweben. Ich spürte sofort eine gewisse Verbundenheit, doch Brigitte bewahrte Contenance. Auch wenn es ihr damals genauso ging, ließ sie sich zunächst nichts anmerken.

Immer wieder forderte ich sie zum Tanzen auf. Immer wieder schwebten wir gemeinsam über die Tanzfläche, bis es mir schließlich gelang, Brigitte auch außerhalb des Parkhotels zu treffen. Ich setzte alle mir verfügbaren Hebel in Bewegung, um sie näher kennenzulernen. Ich vernachlässigte sogar meinen Job, um jede freie Minute mit ihr verbringen zu können. Sie vollkommen für mich zu haben, kostete mich jedoch eine enorme Anstrengung. Ja, es war geradezu stressig, sich mit ihr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die männliche Konkurrenz war riesig und zudem äußerst penetrant. Die Jungs hupten laut, wenn sie mit ihren Autos an Brigitte vorbeifuhren, oder riefen ihr flotte Sprüche hinterher. Besuchten wir gemeinsam eine Veranstaltung, ging ein Raunen durch die Menge, die Köpfe flogen herum und alle starrten Brigitte mit offenen Mündern an. „Sie ist eigentlich eine Nummer zu groß für dich“, schoss es mir durch den Kopf, wenn mich eine Situation mal wieder völlig überforderte. „Wolfgang, wo bleibst du?“ Brigitte schien von alledem nichts zu bemerken und ging erhobenen Hauptes ihres Weges. Was andere dachten oder taten, interessierte sie nicht im Geringsten. Sie hatte damals bereits eine bewundernswerte Stärke, von der ich mit meinen 18 Jahren noch weit, weit entfernt war.


Brigitte mit unserem Opel GT

Ein gutes Vierteljahr sollte es dauern, bis ich Brigitte endgültig für mich gewinnen konnte. Ich war damals schon sexuell aktiv und wollte dies mit ihr ausleben, aber Brigitte hatte ihren eigenen Kopf und wies mich lange Zeit rigoros zurück. Diese „Rumschnorr-Phase“, wie ich sie heute nenne, war zwar spannend, aber auch sehr mühevoll. Doch Brigitte registrierte, wie viel ich bereit war zu geben. Sie spürte, dass ich ernsthaft an einer Beziehung und nicht nur an Sex interessiert war. Am Ende konnte auch sie sich nicht länger dem Gefühl verschließen, denn es war offensichtlich: Wir passten perfekt zusammen und ergänzten uns optimal. Auch für meine sportlichen Aktivitäten hatte sie Verständnis. Wenn ich am Wochenende tauchen oder surfen ging, war sie immer an meiner Seite. Sie hat zwar selbst nicht mitgemacht und saß lieber wartend am Strand, aber ich war mächtig stolz, dass eine tolle Frau wie Brigitte meine Freundin war.

Unterwasserleben

„Ich kann nicht glauben, dass du mich so lange hier sitzen lässt“, schleuderte Brigitte mir eines Tages aufgebracht entgegen, als ich aus dem Wasser stieg. „Ich habe mir Sorgen gemacht“, rief sie wütend, als ich schnell meine Tauchausrüstung ablegte. „Es hätte dir was passiert sein können!“ Mit roten Wangen stand sie am Strand und sah mich vorwurfsvoll an. Ich blickte erschrocken zur Uhr. War die Zeit wirklich so schnell vergangen, seitdem ich abgetaucht war? Aus einer „kleinen Tauchrunde“ waren urplötzlich drei Stunden geworden. Ich wusste, ich konnte nichts zu meiner Verteidigung beitragen. Denn wie sollte ich jemandem, der selbst nicht tauchte, diese Faszination erklären? Wie konnte ich ihr, die es nie gesehen hatte, das geheimnisvolle und zugleich spannende Leben unter Wasser nahebringen? Sobald ich abtauchte, war ich in einer völlig anderen Welt. Ich war dermaßen gefesselt von dem Anblick, der sich mir bot, so vollkommen im Einklang mit mir und der Natur, dass ich darüber nicht nur komplett die Zeit, sondern auch einfach alles andere um mich herum vergaß.

Ich wusste, alle Entschuldigungen der Welt könnten meine Empfindungen nicht ausdrücken. Also trat ich auf Brigitte zu, zog sie zu mir und nahm ihren zitternden Körper fest in meine Arme. Sanft hob ich ihr Kinn und küsste sie zärtlich auf ihre vollen Lippen. Langsam entspannte sie sich und erwiderte zaghaft meine Küsse. „Ich habe mir ernsthaft Sorgen gemacht“, murmelte sie mir leise ins Ohr und ließ sich von mir zu unserer Picknickdecke tragen. Trotz des Schocks verzieh mir Brigitte recht schnell an diesem Nachmittag. In den folgenden Jahren lernte sie diese und einige weitere meiner Macken zu akzeptieren und zwangsläufig mit ihnen zu leben.

Aber Tauchen war für mich nicht nur Sport. Tauchen hieß auch harte Arbeit. Damals gab es noch wenige Taucher. Vor allem wenige, die unter Wasser zusätzlich noch körperlich schwere Arbeit leisten konnten. Da ich zu jener Zeit in unserer Region der Einzige war, der mit professioneller Ausrüstung tauchte, erhielt ich oftmals verzweifelte Anrufe vom Hafen, in dem auch Brigittes Vater als Leiter der hiesigen Eisfabrik arbeitete. „Wir haben Probleme“, schrien die Fischer lautstark in den Hörer, um die Schiffsmotoren im Hintergrund zu übertönen. „Wir brauchen dich … Und am besten sofort!“ Die Fischer riefen immer dann um Hilfe, wenn sich alle möglichen sperrigen Gegenstände in den Schiffsschrauben von Fischerbooten oder Fährschiffen verfangen hatten. Verhedderte Netze, schwere Ankerketten, Fahrräder oder sonstiger Müll, der in der Ostsee zu finden war. Es gab viele solcher Vorfälle, die die Schiffe lahmlegten und am Weiterfahren hinderten.

Eine Möglichkeit wäre gewesen, das betroffene Boot nach Kiel in die Werft zu schleppen und dort reparieren zu lassen. Das hätte Standzeit und somit viel Geld gekostet. Oder aber man rief Wolfgang Kulow an, der diese Reparaturen problemlos und meist über Nacht erledigte. Egal bei welchem Wetter, egal bei welchen Temperaturen. Reparaturen im Winter, wenn dicke Eisschollen im Hafen trieben, waren meine Spezialität. Je schwieriger das Problem war, desto mehr Spaß hatte ich dabei. Oftmals war ich von der geschilderten Situation so begeistert, dass ich nach Feierabend alles stehen und liegen ließ, um das Problem umgehend zu beheben. Für mich war das die perfekte Herausforderung. Meine Motivation war es, die Arbeit so schnell wie möglich durchzuführen. Das pushte mich ungemein. Das Hantieren an den messerscharfen Schiffsschrauben oder bei tiefschwarzer Nacht im unbeleuchteten Hafenbecken war keine ungefährliche Sache, aber gerade das erhöhte den Reiz.


Unterwasserarbeiten im Hafen: je kniffliger, desto besser

„So ein verdammter Mist“, entfuhr es mir. Erst beim Auftauchen spürte ich, dass meine Beine wie gelähmt waren. Es war tiefster Winter, das Wasser war eisig, und nach stundenlanger Arbeit in starrer Position konnte ich meine Beine nicht mehr bewegen. Ein kurzer Blick verriet mir, dass dies nicht mein einziges Problem war. Viel schwerwiegender war eine andere Tatsache: Ich war vollkommen allein. Die Fischer hatten sich still und leise verdrückt. Bei minus 17 Grad und starkem Schneesturm aus Ost war es ihnen offensichtlich zu kalt geworden, um auszuharren, bis ich mit der Reparatur fertig war. Als ich registrierte, dass ich von außen keinerlei Hilfe zu erwarten hatte, überkam mich ein leises Gefühl der Panik. Was sollte ich tun? Wie sollte ich mit meinen unbeweglichen Beinen nun alleine aus dem Wasser kommen?

Längst verdrängte Erinnerungen kamen wieder hoch: Mit 16 war ich mit dem Tauchklub bei meinem ersten Arbeitstauchgang an der Schraube eines größeren Schiffes zugange. Das war eine große Sache. Leute standen in Scharen um das kaputte Schiff, und beim Auftauchen bemerkte ich einige Mädels, die neugierig auf der Kaimauer saßen und mir kichernd verstohlene Blicke zuwarfen. Cool wollte ich mein Können demonstrieren, tauchte ein weiteres Mal ab und mit kräftigen Stößen Richtung Hafenmitte. „Jetzt zeige ich denen mal, was ich wirklich drauf habe!“, dachte ich großspurig. Was ich jedoch nicht registrierte: Ein großes Passagierschiff erreichte in diesem Moment in zügigem Tempo die Hafenzufahrt.

Wir waren in Heiligenhafen, und der Ort verfügt lediglich über ein schmales Hafenbecken. Ohne mich zu bemerken, hielt der Dampfer direkt auf mich zu. Selbst wenn er mich gesehen hätte, hätte der Kapitän keinerlei Ausweichmöglichkeiten gehabt. Dies wusste auch der Vorsitzende des Marine-Tauchklubs, der unseren Arbeitsauftrag koordiniert hatte. Er erfasste die drohende Gefahr sofort. Ohne zu zögern sprang er mit einem beherzten Kopfsprung und in voller Montur ins Wasser. Ich sehe es noch heute, wie er in Wildlederjacke, Jeans und Schuhen in hohem Tempo auf mich zu taucht. Bevor ich mich auch nur eine Sekunde darüber wundern konnte, packte er mich am Kragen des Taucheranzugs und schob meinen Körper mit einem kräftigen Ruck zur Kaimauer. Erst dann hörte ich es auch: das schaurig laute Dröhnen des Dieselmotors. Nur wenige Augenblicke später und ich wäre unweigerlich mit dem Schiff kollidiert. Vor den messerscharfen Blättern der Schiffsschraube hätte es kein Entrinnen gegeben. Sie hätten meinen Körper zerstückelt wie ein Fleischwolf. Eiskalte Schauer überzogen mich. Das hätte mich mit Sicherheit mein Leben gekostet. Und alles nur, weil ich besonders cool sein wollte. Lange blieb mir das Ereignis im Gedächtnis. Von nun an stürzte ich mich nicht mehr so unbedarft wie zuvor in Projekte.

Doch jetzt hatte ich keinen Marinetaucher, der mich retten konnte. Ich war einzig und alleine auf mich selbst angewiesen. Unter allergrößter Kraftanstrengung versuchte ich mich über die Stahlleiter auf die Kaimauer zu hieven. Keine Chance. Erst nach mehreren Anläufen und mit einer gehörigen Portion Wut schaffte ich es, mich aus dem Wasser zu kämpfen. Tropfnass und vollkommen erschöpft lag ich schwer atmend auf der Kaimauer. Eine bleierne Müdigkeit legte sich über meine Glieder. Jetzt einfach einschlafen, dachte ich schon halb benommen, bis mir im nächsten Moment ein wahrer Geistesblitz vermutlich das Leben rettete. „Wolfgang, du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten: Du kannst jetzt hier auf dem harten Boden schlafen und damit dein Leben aufs Spiel setzen oder dich unter einer heißen Dusche vor einer üblen Unterkühlung retten.“ Erst viel später wurde mir bewusst, wie gefährlich diese Situation war und wie fatal sie hätte enden können.

Mit den Schiffsreparaturen konnte ich gutes Geld verdienen. Bis zu 600 DM brachte mir ein solcher Job in der Nacht. Eine Summe, für die damals so mancher einen ganzen Monat arbeiten musste. Der Preis für das viele Geld war jedoch hoch. Neben der gefährlichen Arbeit, die mich körperlich und mental bis aufs Äußerste herausforderte, wurde meine freie Zeit immer weiter beschnitten. Ich arbeitete rund um die Uhr als Fliesenleger und nahm nebenbei diverse Jobs im Hafen an. Aber wo blieben eigentlich meine Bedürfnisse? Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Der Preis, den ich für den guten Verdienst zahlte, war letztendlich meine eigene, kostbare Freiheit.

Große Freiheit Bundeswehr

Dass ausgerechnet die Einberufung zur Bundeswehr mir ein erstes Gefühl von Freiheit gewähren und den Grundstein für meine Leidenschaft zum Extremsport legen würde, hätte ich im Traum nicht gedacht. Mit 19 Jahren trat ich neugierig und voller Motivation meine 18-monatige Grundausbildung bei der Marine an. „Hey Mike!“, rief ich lautstark über den Flur, als ich gleich am ersten Tag meinen Tauchfreund Mike Malich traf. Er war nun Bootsmann, aber ich kannte ihn ja noch aus meinen Jugendtagen bei der Marine in Großenbrode. Dort waren wir fast täglich gemeinsam getaucht und hatten riesigen Spaß zusammen gehabt. Im gleichen Augenblick wurde mir jedoch schlagartig bewusst, dass er nun in den nächsten Monaten mein Vorgesetzter sein würde. Und so schluckte ich einen weiteren lockeren Spruch, der mir bereits auf den Lippen lag, schnell hinunter.

Ich denke, ich hatte schon immer ganz gute Voraussetzungen, um Extremsport zu betreiben. Mit 14 war es mir noch peinlich, dass ich anscheinend leistungsfähiger war als meine Klassenkameraden, und ich habe versucht, dies zu überspielen. Besonders deutlich wurde mir die Leistungsdiskrepanz zu anderen aber bei der Bundeswehr vor Augen geführt. Als Teil der Grundausbildung sollte meine Gruppe einen 30-Kilometer-Marsch mit voller Ausrüstung und schwerem Rucksack absolvieren. Es ging munter dahin, bis wir nach fünf Kilometern schlagartig registrierten, dass wir in die falsche Richtung marschierten. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Einige Kameraden rissen vor Wut ihren Rucksack vom Rücken und schmissen ihn in den Graben. Andere trockneten sich entsetzt ihren Schweiß vom puterroten Gesicht und blickten resigniert auf den Boden. Allen war klar, was das bedeutete: fünf Kilometer zurücklaufen plus die ursprünglich geplanten 30 Kilometer, die wir eigentlich absolvieren sollten. Also insgesamt 40 Kilometer Fußweg bei sengender Hitze. Das war zu viel für die Nerven meiner Kameraden.

Ich sehe mich noch heute am Rand des Geschehens stehen und erstaunt beobachten, welche Aggressivität plötzlich in der Luft lag. „Warum korrigieren wir das nicht einfach, anstatt hier lange herumzudiskutieren?“, war mein ruhiger Einwand. „Warum drehen wir nicht einfach um, anstatt uns darüber zu ärgern?“ Der Satz war noch nicht über meine Lippen, schon schlug mir die geballte Wut der gesamten Gruppe entgegen. „Dann geh doch alleine zurück, wenn du das unbedingt willst“, schrie einer meiner Kameraden und kickte vor Wut einen großen Stein in die Luft. Alle wussten, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als umzukehren, aber keiner traute sich, als Erster diese Tatsache auszusprechen. Genervt machten sich die Ersten nach einigen Minuten auf den Rückweg. Ich selbst versuchte mich gar nicht mehr um die anderen zu kümmern und zog mit großen Schritten von dannen.


Meine Zeit bei der Marine legte den Grundstein für meine Extremsportleidenschaft.

An diesem Tag wurde mir zum ersten Mal so richtig klar, dass ich über eine körperliche Konstitution und mentale Stärke verfüge, die bei anderen längst nicht so ausgeprägt sind. Auch körperliche Schmerzen zu ertragen und sich bei Rückschlägen neu zu fokussieren, ist für mich kein Problem. Bei den meisten meiner Kameraden lag die Schmerzgrenze sehr viel niedriger, und es brauchte enorme Überzeugungsarbeit, sie zum Weitermachen zu motivieren. Ich genoss die körperliche Herausforderung, während andere lieber jammerten. Und so traf ich am Abend ausgesprochen munter und bestens gelaunt als einer der Ersten unserer Gruppe am Zielort ein. Die Letzten taumelten erst Stunden später durch das Kasernentor und fielen vollkommen erschöpft in ihre Betten.


Ich (vorne, 3.v.l.) genoss das Kasernenleben in vollen Zügen.

Während der Bundeswehrzeit schieden sich recht früh die Interessen der Soldaten: Die einen wollten abends feiern und Bier trinken. Die anderen, zu denen auch ich gehörte, gingen nach Dienstschluss laufen und anschließend in den Kraftraum. Noch heute kann ich sagen, dass die Grundausbildung für mich maßgeschneidert war. Ich konnte mich austoben und war vollkommen in meinem Element. Ich machte so viel Sport, wie ich wollte, und musste nicht alle Aktivitäten aufs Wochenende verschieben. Zudem hatte ich geregelte Arbeitszeiten und schlug mir die Nächte nicht beim Fliesenlegen in irgendwelchen Großküchen um die Ohren. Für mich war das Erholung pur, und ich wunderte mich immer wieder aufs Neue, wenn meine Kameraden über das Kasernenleben schimpften.

Als sich die Bundeswehrzeit dem Ende neigte, bekam ich von meinen Vorgesetzten eine Beurteilung, die ich nicht zu Ende zu lesen vermochte. Sie strotzte nur so von Superlativen, dass ich glaubte, James Bond hätte auch keine bessere bekommen. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte, so peinlich, so unangenehm war mir das. Und dabei hatte ich doch 18 Monate nur meinen Spaß gehabt. „Mensch, Sie wären der ideale Mann für die Marine“, hörte ich meine Vorgesetzten des Öfteren sagen. „Bleiben Sie doch bei uns!“, forderten sie mich auf. Das ehrte mich zwar, aber mein Augenmerk war auf andere, vor allem rein monetäre Ziele gerichtet. Und da lag das Problem. Bei der Marine hätte ich nur ein Drittel des Geldes bekommen, das ich als Fliesenleger verdiente. Dabei wollte ich ein größeres Auto fahren, mit Brigitte eine gemeinsame Wohnung beziehen und zu den Malediven fliegen. Die 1970er Jahre waren sehr konsumorientiert, und man zeigte gerne, was man hatte. Vor allem bei uns in der Kleinstadt. Auch wenn ich spürte, dass die Marine eigentlich mein Leben war – das Meer, die körperliche Belastung, neue Sachen erkunden –, kehrte ich doch zu meinem alten Arbeitsplatz zurück. Denn eines war mir absolut bewusst: Ohne Geld konnte man nichts erleben. Und die Träume, die es noch zu verwirklichen galt, blieben dann erst recht auf der Strecke.

In meiner alten Firma begann der Stress von vorn. Diesmal waren es die Schwimmbäder, die wie Pilze aus dem Boden schossen und gefliest werden mussten. Wieder habe ich rund um die Uhr gearbeitet. Wieder hatte ich keinerlei Lebensqualität und musste die gemeinsamen Stunden mit Brigitte sowie den Sport, den ich sowieso auf ein Minimum heruntergeschraubt hatte, aufs Wochenende verlegen. Doch immer öfter zog es mich nun in Gedanken zur Marine. Und ganz langsam wurde mir bewusst, dass nicht nur meine Gedanken, sondern auch mein Herz nicht mehr zu 100 Prozent bei den Fliesen weilten.

Luxusleben mit Kind

Dank unserer Jobs konnten wir uns einiges leisten. So erkundeten Brigitte und ich im Urlaub die Welt und flogen in Länder, die Mitte der 1970er Jahre als Reiseziele noch eher unüblich waren: Ägypten, Kenia, Mexiko, Sri Lanka, die Malediven. Mit Brigitte an meiner Seite bereiste ich jene Tauchparadiese dieser Erde, von denen ich in meiner Jugend nur träumen konnte. Ich genoss die Unterwasserwelt in vollen Zügen und schilderte ihr am Abend meine Eindrücke in den schillerndsten Farben. Wir genossen unsere neue Freiheit – auch wenn diese nur auf wenige Wochen im Jahr begrenzt war.


Mit Kamera erkundete ich die Tauchparadiese dieser Erde.

Bei meinen Tauchgängen hatte ich jetzt immer öfter meine Unterwasserkamera dabei und filmte das dortige Leben aus meiner Sicht. Gemeinsam mit Peter, einem Berliner, den wir regelmäßig zum Tauchen in Spanien trafen, ging ich im Mittelmeer auf Erkundungstour. „Mensch, was ist das denn?“ In 25 Meter Tiefe stießen wir eines Tages auf einen großen Gegenstand, der über und über mit Korallen bewachsen war. Beim Näherkommen identifizierten wir einen Anker. Aber uns war sofort klar, dass dies kein üblicher Anker war, sondern etwas ganz Besonderes. Ein Bleianker, der, wie sich später herausstellen sollte, bereits über 2.000 Jahre alt war. Wir waren sofort Feuer und Flamme. Der musste geborgen werden. Aber wie? Das Ding war tierisch schwer. Alleine konnten wir dies auf keinen Fall bewerkstelligen. Kein Problem, so dachten wir, schalten wir doch einfach das örtliche Hafenamt in Palamós ein und kontaktieren gleichzeitig das Museum in Girona. Aber wir hatten die Rechnung ohne die spanischen Behörden gemacht. Mit dem Argument, dass dies zu aufwendig und zu teuer sei, wurde unsere Anfrage rigoros abgelehnt. Doch selbst als man uns deutlich machte, dass wir sowieso keinen Finderanspruch stellen konnten, ließen wir nicht locker. Wir wussten, dass unser Fund ein ganz außergewöhnlicher war, und blieben dran.

Als ich schon längst nicht mehr daran glaubte, unseren Schatz bergen zu können, erhielten wir schließlich die Genehmigung. Mittels Hebeballon, den man uns zur Verfügung stellte, sollte der Anker vorsichtig aus seiner mehrere Tausend Jahre alten Ruhestätte gehoben werden. Peter wollte die Aktion mit seiner Kamera festhalten und spektakuläre Aufnahmen schießen. Er gab mir genaue Anweisungen, wann ich mich wo zu positionieren hatte. Leider hatte das Ganze einen Haken. Beide verfügten wir über keinerlei Erfahrung mit der Bergung mittels Hebeballon. Aber wir waren voller Tatendrang und diese kleine Nebensächlichkeit sollte uns nicht von unserem Vorhaben abhalten. Ich tauchte also nach unten, befestigte die Leinen des Ballons am Anker und füllte diesen vorsichtig mit der Luft meiner Pressluftflasche. Ich füllte und füllte und wurde schon ungeduldig, weil sich der Ballon nur langsam hob. Also drehte ich den Hahn meines Pressluftreglers etwas weiter auf. Was ich jedoch nicht bedachte: Mit meiner Flasche pumpte ich komprimierte Luft in den Ballon. Diese Luft musste sich erst mal ausdehnen. Und das tat sie dann auch. Sehr schnell sogar.

Mit einem Ruck schoss der Ballon schlagartig nach oben. Wie eine Rakete bahnte er sich seinen Weg durchs Wasser. Mit ihm wurde der Anker nach oben katapultiert, und am Ende des Ankers hing unglücklicherweise ich. Ohne Tauchmaske und mit dem Atemregler in meiner Hand musste ich machtlos mit ansehen, wie mich die Kraft des Ballons in Sekundenschnelle an die Wasseroberfläche und weit in die Luft hinausschoss. Mir wurde heiß und kalt. Als Taucher wusste ich genau, was ein solch rasantes Auftauchen aus der Tiefe bedeutete. Der Begriff Taucherkrankheit hing stets wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen. Die Gasbläschen, die dabei in Blut und Lunge entstanden, konnten im schlimmsten Fall zum Tode führen. All das war mir nur allzu bewusst, als ich auf der Meeresoberfläche heftig schnaufend am Ballon hing.


Für meine Unterwasserfilme wurde ich u. a. mit der Hans-Hass-Medaille in Linz/Österreich ausgezeichnet.

Aber ich hatte verdammtes Glück. Das rasante Auftauchen hatte keine gesundheitlichen Folgen. Auch Tauchen würde ich weiterhin können. Und Peter? Der war glücklich, hatte er doch die spektakulären Filmaufnahmen im Kasten, die er sich von der Bergungsaktion gewünscht hatte. Noch heute steht das Prachtstück für jeden zugänglich im Museum von Girona. Aber damit nicht genug: Auch für meine Unterwasserfilme erhielt ich in den folgenden Jahren immer wieder internationale Auszeichnungen und wurde unter anderem mit der Goldmedaille des berühmten österreichischen Meeresforschers Hans Hass geehrt.

„Du Wolfgang, ich wünsche mir ein Kind“, eröffnete mir Brigitte, als wir bereits zehn Jahre verheiratet waren. Erschrocken blickte ich sie an. Nie zuvor waren Kinder ein ernsthaftes Thema zwischen uns gewesen. „Bist du sicher?“, fragte ich etwas zögerlich. Ich sah in ihre leuchtenden Augen und wusste sofort: Sie meinte es ernst. Schnell fügte ich hinzu: „Warum eigentlich nicht!?“ Aber wollte ich das wirklich? Wäre ich ein guter Vater? Schließlich ließ ich mich von der Idee überzeugen, denn ein Kind gehörte damals nach Auffassung der Gesellschaft zu jeder guten Ehe schlichtweg mit dazu.

Als unser Sohn André 1981 zur Welt kam, erfüllte es mich mit stillem Stolz, dass ich nun Vater war. „Wolfgang, du hast ein Kind gezeugt“, jubelte ich innerlich. „Jetzt bist du endgültig ein ‚richtiger‘ Mann.“ Doch die Euphorie nahm schnell ein jähes Ende. Denn was ich vorher nur geahnt hatte, wurde nun zur harten Realität: Unser Leben verwandelte sich von heute auf morgen von Grund auf. Unsere Freiheit und Beweglichkeit als Paar, die wir insbesondere im Urlaub genossen hatten, wurden zum großen Teil eingeschränkt. Nun gab es andere Prioritäten in unserem Leben. André stand für Brigitte an erster Stelle. Es fiel ihr in dieser neuen Situation nicht leicht, ihren Mann nun immer häufiger mit seinen doch „so vorrangigen“ sportlichen Bedürfnissen teilen zu müssen – aber wie immer arrangierte sie sich damit.

Im Gegensatz zu unserem „Jetsetleben“, das wir jahrelang geführt hatten, wurden wir nun sesshaft. Wir bauten ein Reihenhaus in Heiligenhafen, und mein geliebter Sportwagen wurde kurzerhand gegen eine Familienkutsche eingetauscht. Tagsüber arbeiteten wir zwar beide und André wurde von meiner Schwiegermutter versorgt, aber abends oder am Wochenende mimte Brigitte meiner Meinung nach nun ein bisschen zu sehr die perfekte Hausfrau. Sie legte sehr viel Wert auf Ästhetik und Perfektion. Bei sich, aber auch in ihrem Umfeld. Das war zwar toll, aber ich fand es mit der Zeit etwas übertrieben, wie ausgiebig sie sich um den Haushalt kümmerte. Außerdem ärgerte ich mich, unentwegt alleine unterwegs zu sein. Mir fehlte es einfach, während meiner sportlichen Aktivitäten Zeit mit ihr zu verbringen. Erst viele Jahre später wurde mir bewusst, dass mir Brigitte während all der Jahre ständig den Rücken frei gehalten hatte. Alle anfallenden Arbeiten im Haus, im Garten oder die Erziehung unseres Sohnes managte sie, ohne groß Aufhebens zu machen, und so perfekt, dass ich gar nicht auf den Gedanken kam, sie dabei zu unterstützen. Und dazu ging sie auch noch jeden Tag zur Arbeit, so dass wir finanziell sehr gut dastanden.

Um wenigstens ein Stück unserer Freiheit bewahren zu können, reagierte ich schnell und kaufte einen VW-Bulli mit Hochdach. So konnten wir weiterhin unsere Reisen unternehmen und hatten André immer mit dabei. Nun ging es nicht mehr mit dem Flieger in die weite Welt, sondern mit dem Bus nach Norwegen, Griechenland, Korsika oder Sardinien. Im Schlepptau aber immer das Surfbrett, die Tauchausrüstung und das Rennrad. Doch der Bulli reichte uns auf Dauer nicht aus. So musste ein richtiges Wohnmobil her. Mit separatem Badezimmer, Küche und richtigen Betten. Fast wie zuhause – nur auf vier Rädern.

Auf dem Campingplatz angekommen, wurden umgehend meine Sportutensilien abgeladen. Brigitte hatte kaum das Essen für André vorbreitet, um ihn anschließend ins Bett zu bringen, da stand mein Rad schon für die erste Ausfahrt bereit. Nach einer zweitätigen Anreise erntete ich dafür wenig Verständnis, aber mein Bewegungsdrang war enorm. Tauchen, Surfen, Schwimmen, Laufen oder Radfahren – so ging es an jedem Urlaubstag. Es bereitete mir natürlich auch Schuldgefühle, wenn ich immer alleine unterwegs war. Aber ich lebte einfach auf meiner Spur weiter und ließ Frau und Kind zurück.

„Bist du schon wieder weg?“, fragte Brigitte schließlich nur noch genervt, wenn ich mein Surfbrett schnappte und mich lieber in die Wellen stürzte, als daheim bei der Familie zu bleiben. Aber wie sollte ich es erklären? Noch immer sah ich vor meinem geistigen Auge meinen Vater und meine Onkel, die passiv und geradezu mahnend ihren Platz auf der Couch im Wohnzimmer für sich beanspruchten und nur darauf warteten, dass ich mich zu ihnen gesellte.

Das Unvorstellbare wagen

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