Читать книгу Kleider machen Leute von Gottfried Keller: Reclam Lektüreschlüssel XL - Wolfgang Pütz - Страница 4
1. Schnelleinstieg
ОглавлениеEin junger Die HauptpersonenMann macht sich zu Fuß auf den mühseligen Weg in die kleine schweizerische Provinzstadt mit dem verheißungsvollen Namen Goldach, um seinem glücklosen Leben ein neues Ziel zu geben. Er friert, ist völlig ausgehungert, und er besitzt – abgesehen von wenigen Habseligkeiten, zu denen allerdings auch ein Pelzmantel und eine Pelzmütze gehören – nichts, womit sich Essen und Unterkunft bezahlen ließen.
Dies könnte der Beginn einer konventionellen Geschichte sein, wie sie der Kein Prototyp des amerikanischen Traumsamerikanische Mythos vom sozialen Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär erzählt. Dem Muster des American Dream entsprechend, würde der Held, in diesem Fall ein »armes Schneiderlein« (S. 3), alleine durch Mut, Verzicht und Leistung zu Wohlstand und Besitz gelangen.
Doch anders als man erwarten könnte, erzählt die Novelle davon, wie der Protagonist nicht durch eigene Verdienste, sondern durch bloße Zufälle zum Shootingstar einer bürgerlichen Gesellschaft wird, bevor man ihn doch als Der Held als AntiheldScharlatan enttarnt und er noch tiefer als zuvor in den sozialen und existenziellen Abgrund zu stürzen droht. Wenzel Strapinski, so der Name des Schneiders, hat es fast ausschließlich durch sein »edles und romantisches Aussehen« (S. 3) geschafft, von einer leichtgläubigen und sensationslüsternen Öffentlichkeit für jemanden gehalten zu werden, der er in Wahrheit nicht ist, aber gerne sein möchte.
Der berühmte Der Titel der GeschichteTitel von Gottfried Kellers Novelle aus dem Jahre 1873/74 weist bereits auf das zentrale Thema des Missverhältnisses von Schein und Sein hin. Der Satz Kleider machen Leute verkehrt die Subjekt-Objekt-Beziehung der Handlung in ihr Gegenteil: Nicht Menschen produzieren hier textile Gegenstände, sondern sind – dem Wortlaut zufolge – bloße Produkte ihrer Textilien. Das Subjekt wird zum Objekt. Die Kleidung, die getragen wird, steht dabei exemplarisch für alles Äußerliche und Oberflächliche, so also auch für die körperliche Gestalt, für den Besitz, die Herkunft und den gesellschaftlichen Rang ihres Trägers.
Zu einer Täuschung gehören jedoch immer zwei Seiten: Schein und Seinjemand, der täuscht, und jemand, der sich täuschen lässt. Kellers Novelle nimmt beide Seiten in den Blick. Indem sie die moralischen Verwerfungen eines Menschen zeigt, der materiellen Reichtum, gesellschaftliches Ansehen und privates Glück durch Betrug zu erlangen versucht, verurteilt sie die bewusste Produktion von Schein als individuelle Verfehlung. Zugleich aber kritisiert sie auch diejenigen, die dumm oder naiv genug sind, dem Glanz und der Schönheit der Illusion zu trauen und sich blenden zu lassen. Kleider machen Leute ist insofern auch eine Gesellschaftssatire, welche die Leichtgläubigkeit und Verführbarkeit der Menschen als Ausdruck von deren Oberflächlichkeit und Unvernunft offenbart.
Die Geschichte, die Gottfried Keller erzählt, ist außerdem ein Ehrlichkeit und SolidaritätPlädoyer für eine solidarische Gemeinschaft. Wenzel Strapinski wird erst wieder in die Gesellschaft integriert, als er sich nach seiner Demaskierung zu seinen Lügen bekennt, seine Motive offenlegt und Reue zeigt. Die Beichte als symbolische Form der Selbstentkleidung bringt ihn, indem er sich zu seiner Person bekennt, wieder zu sich selbst. Strapinski findet als Ehemann und Geschäftsmann in die bürgerliche Gesellschaft zurück, weil er durch Ehrlichkeit das Vertrauen und die Treue eines anderen Menschen gewonnen hat. Sein Gewinn ist nicht bloß von materieller, sondern auch von zwischenmenschlicher Art.
Auch heute ist die Novelle aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von unveränderter Aktualität. Dies kann der Leser leicht nachvollziehen, wenn er die Selbsttäuschung der Aktualität der NovelleMenschen durch den Glauben an leere Versprechungen in den Blick nimmt. Es bleibt dem heutigen Leser selbst überlassen, entsprechende Glücksverheißungen – wie beispielsweise aus dem Bereich der Mode und der Markenartikel, der (sozialen) Medien oder des materiellen Wohlstands der Konsumgesellschaft – daraufhin zu prüfen. Jedenfalls wird dieser »Glücksbegriff« am Ende der Novelle in Frage gestellt, wenn der »rund und stattlich« gewordene Strapinski dem Leser »so gar nicht mehr träumerisch« (S. 57) erscheint, sondern zu einem biederen Geschäftsmann und Spekulanten geworden ist.