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Kapitel 1

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Tag 3, frühmorgens

Unterwegs auf der Autobahn A28 (Rtg. OL)

»91/02 für die Wache!«

Die junge Kommissarin Swantje Benninga griff im Streifenwagen nach dem Hörer des neuen Digitalfunkgerätes. »91/02. Was hast du?«

Schichtleiter Rolf Berger drückte auf der Wache die Sprechtaste. »Mehrere Verkehrsteilnehmer haben Rehe in Höhe Apen auf der Bahn in Richtung Oldenburg gesehen. Schaut doch mal nach. Die Rundfunkdurchsage läuft!«

»Geht klar, Rolf.«

Ihr Streifenkollege und Bärenführer3 Mark Rode auf dem Fahrersitz beschleunigte und wechselte auf den Überholfahrstreifen. Er schaltete Blaulicht und Martinshorn an und konzentrierte sich auf den vorausfahrenden Verkehr.

Swantje sah ihren Kollegen verunsichert von der Seite an. »Rehe sind gar nicht gut, oder? Blöde Viecher. Können die nicht auf der Wiese bleiben …«

Mark bremste stark ab, weil ein vorausfahrender Pkw-Fahrer den Streifenwagen zu spät bemerkt hatte. Offensichtlich hatte der Mann zum Überholen ausgeschert, ohne in den Rückspiegel zu schauen. Der Pkw-Fahrer beschleunigte jetzt nicht etwa und beendete sein Überholmanöver, nein, er latschte voll auf die Bremse.

Das ABS-Bremssystem des Streifenwagens schaltete sich ein und Mark fluchte. »Vollpfosten!«

Er gab wieder Gas und Swantjes rechte Hand krampfte sich um den Haltegriff an der Tür.

Mark war hochkonzentriert. Sein Adrenalinspiegel stieg zusammen mit der Geschwindigkeit. Er blieb mit ihrem Einsatzfahrzeug auf dem Überholfahrstreifen. Auf dem rechten Hauptfahrstreifen voraus fuhr ein Lkw. Hinter dem Lkw befand sich ein Pkw.

Vor zwei Tagen war Mark mit Tempo 200, ebenfalls bei Blaulicht und Musik auf der linken Spur, unterwegs zu einer Unfallstelle gewesen, als ein alter Golf hinter einem Lkw ausgeschert war und den Überholfahrstreifen blockiert hatte. Trotz Vollbremsung war ihm ein Zusammenstoß unvermeidbar erschienen. Aber dank ABS und dem genialen elektronischen Stabilitätsprogramm war der Streifenwagen lenkfähig geblieben und Mark war mit circa 180 Sachen über den schmalen Standstreifen an den vorausfahrenden Fahrzeugen vorbeigerauscht.

Sie hatten Glück gehabt.

»Swantje, hat ein Autobahnpolizist so viele Leben wie eine Katze? Was meinst du?«

»Mit den neun kommen wir auf keinen Fall aus.« Swantje atmete bewusst ruhig ein und aus. An diese Einsatzfahrten musste sie sich noch gewöhnen. Sie war erst seit vier Wochen bei der Autobahnpolizei.

Kurz vor Apen verringerte Mark das Tempo und fuhr mittig auf der Autobahn. Er schaltete die Warnblinkanlage ein. So verlangsamte er den nachfolgenden Verkehr vor der Gefahrenstelle.

Swantje sah die Tiere zuerst: »Da links am Mittelschutz! Zwei Rehe.«

Inzwischen fuhr der Streifenwagen im Schritttempo und die nachfolgenden Autofahrer waren gezwungen, ebenfalls langsam zu fahren. Die Tiere nutzten die Gelegenheit und liefen zurück über die Fahrbahn. Sie verschwanden im Grünstreifen zwischen Fahrbahn und Rastplatz.

Das Problem war damit nicht erledigt, denn den Parkplatz trennte ein Wildschutzzaun von den Wiesenflächen. Die Tiere konnten so den Parkplatz von außen nicht erreichen, ihn aber in diesem Fall von innen auch nicht wieder verlassen.

Als Mark auf den Parkplatz fuhr, sah er die Tiere über die gepflasterten Flächen laufen und hinter dem Toilettengebäude zwischen Bäumen und Büschen verschwinden.

PP Uplengen-Süd, Rtg. OL4.

Mark und Swantje stiegen aus.

Er verriegelte die Türen des Streifenwagens und überlegte. »Swantje, wir teilen uns auf. Du gehst zu einem Ende des Parkplatzes, ich zum anderen. In der Grünanlage am Zaun entlang gehen wir dann mittig aufeinander zu.«

Swantje marschierte los. Mark ging in die entgegengesetzte Richtung. Kurz darauf verschwanden die Polizisten zwischen den Bäumen und Büschen.

Mark ging am Zaun entlang in Richtung Parkplatzmitte. Nach etwa 100 Metern sah er, dass der Wildschutzzaun beschädigt war. Das Drahtgeflecht hatte sich von den Pfosten gelöst und war nach unten gefallen. Klarer Fall, hier waren die Tiere durchgelaufen.

Er ging ein Stück zurück und wartete darauf, dass Swantje die Rehe in seine Richtung trieb.

Dies tat sie auch, aber anders als erwartet. Ihr Schrei war nicht von schlechten Eltern und tatsächlich sprangen die beiden Rehe aus dem Dickicht. Mark breitete die Arme aus und schrie ebenfalls. Die Tiere sprangen durch die Zaunlücke und liefen über die Wiesen davon.

»Super, Swantje, gut gemacht!«

Aber seine Kollegin antwortete nicht.

Mark drückte das Drahtgeflecht hoch und schloss damit provisorisch die Lücke im Zaun. Den Rest würde morgen die Autobahnmeisterei erledigen. Er rief nach seiner Kollegin. Sie hätte doch schon längst hier sein können.

Schließlich kämpfte er sich durch das Gestrüpp in ihre Richtung.

Das Geräusch war eindeutig. Dort musste sich jemand heftig übergeben.

Swantje stand vornübergelehnt an einem Baum. Sie würgte, und ihr Gesicht war weiß wie eine Wand.

»Was ist denn los?«, fragte Mark verblüfft.

Sie wischte über den Mund und zeigte mit dem Finger hinter sich. »Da liegt ein Toter.«

»Bleib hier, ich sehe nach.«

Vorsichtig trat er nur dort auf das Gras, wo auch Swantje es mit ihren Schuhen kurz vorher heruntergedrückt hatte.

Zwischen den Büschen lag ein Mann auf dem Rücken. Das Summen der Fliegen verriet, dass ihm vermutlich nicht mehr zu helfen war, aber Mark musste sich vergewissern. Er dachte an den letzten Erste-Hilfe-Lehrgang. Ein sicheres Todeszeichen sei die Leichenstarre, hatte der Dozent gesagt.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, er ging neben dem Körper in die Knie. Zum Glück hatte er noch seine Handschuhe in der Seitentasche der Hose. Jeder Autobahnpolizist hatte Lederhandschuhe dabei. Bei der Bergung von Unfallopfern bewahrte sie das vor Verletzungen durch Glasscherben oder scharfkantige Bleche.

Er zog die Handschuhe über. Die linke Hand legte er auf den Brustkorb des Mannes, mit der rechten umfasste er das Handgelenk. Der Brustkorb bewegte sich nicht. Außerdem ließ sich der Arm nicht anheben. Die Leichenstarre war voll ausgebildet. Kein Zweifel, vor ihm lag ein Toter.

Das Gesicht war unnatürlich rot. Wie hypnotisiert starrte Mark auf die Hände des Toten. Die Finger waren gekrümmt, die Nägel abgerissen und blutig. Das Schlimmste war aber die rechte Hand. Dort, wo sich der Zeigefinger hätte befinden sollen, krabbelten winzige Maden auf einer Wunde.

Mark Rode riss sich von dem Anblick los und ging zurück zu seiner Kollegin.

Er legte den Arm um Swantje. Gemeinsam liefen sie den Weg zurück auf das Parkplatzgelände. Mark Rode ging zum Streifenwagen und griff zum Handy.

Schichtleiter Rolf Berger nahm auf der Wache den Hörer ab. »Na, habt ihr die Rehe gesehen?«

»Die sind wieder da, wo sie hingehören, dafür haben wir aber eine Leiche gefunden.« Mark schilderte, was passiert war. Dabei sah er besorgt seine Kollegin an. Sie sah sehr blass und schockiert aus. Er wusste aus Gesprächen mit ihr, dass sie noch keine Leiche gesehen hatte.

»Du wirst noch viele Tote zu sehen bekommen, aber die erste Leiche vergisst du nie«, hatte sein Bärenführer einst zu ihm gesagt. Das würde Swantje genauso gehen, jede Einzelheit war für immer in ihr Gedächtnis gebrannt.

Mark Rode öffnete den Kofferraum des Streifenwagens und griff sich den Karton mit dem Absperrband. »Na, Swantje, geht’s wieder? Lass uns den Fundort absperren. Rolf weiß Bescheid und kümmert sich.«

3 Polizeisprache für Ausbilder

4 siehe Punkt 7 auf der Karte

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