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Kapitel 3

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Tag 3, nachmittags

Stadt Leer, Beerdigungsinstitut Erdmann

Der weiße Bulli der Spurensicherung hielt auf dem Parkplatz vor dem Beerdigungsinstitut. Jan Broning und Stefan Gastmann stiegen aus, nahmen ihre Ausrüstung und klingelten an der Eingangstür.

Erdmann öffnete. »Ah, die Herren von der Kriminalpolizei. Ehrlich gesagt, Ihren Kollegen hatte ich heute Morgen irgendwie nicht so recht verstanden … Aber kommen Sie doch rein.«

Gemeinsam gingen sie in den kleinen Andachtssaal. Jan Broning sah sich um. Rund 50 Stühle standen in Reihen vor einem Rednerpult, dahinter große Kerzenhalter und eine alte Heimorgel.

Erdmann bemerkte Bronings Interesse. »Viele Menschen sind aus der Kirche ausgetreten«, erklärte er mit seiner Singsang-Stimme. »Hier geschieht im Prinzip aber nichts anderes als bei einer Trauerzeremonie in der Kirche. Wir bieten Voll-Service an. Das bedeutet, wir kümmern um alles. Vom Abtransport bis zur Beerdigung. Ich führe hier die Andachten durch. Je nachdem, wie es gewünscht wird. Sie können Musik von der Orgel oder von einer CD bestellen. Ich habe extra an Kursen für die Andachten teilgenommen und meine feierliche Stimme … sagen wir mal: trainiert.«

Daher die Singsangstimme, dachte Broning.

Erdmann ging weiter und öffnete eine Tür. »Meine Herren, bitte folgen Sie mir in den Behandlungsraum!«

Durch einen langen Flur gelangten sie schließlich in einen kühlen Raum. In der Mitte lag der offene Leichensack auf einem Chromtisch mit Lichtstrahlern darüber. Die beiden Kriminalbeamten waren beeindruckt. Die starken Strahler, der etwas höher angebrachte Organtisch und die Ablage mit den Instrumenten sahen exakt so aus wie in der Gerichtsmedizin.

Erdmann entging ihre Reaktion nicht. Nun wollte er noch einen draufsetzen und schaltete die Lichtstrahler und ein spezielles Belüftungssystem an. Der Ventilator brummte leise.

Der Bestatter konnte sich etwas Stolz in der Stimme nicht verkneifen. »Meine Herren, Sie sehen, hier ist alles vorhanden, was man für eine Außensektion benötigt. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie dieses neue Angebot einmal wahrnehmen würden. Sie können die Räume anmieten. Das Team der Rechtsmediziner könnte hier ohne Probleme arbeiten. Unnötige Transportwege könnten verkürzt werden.«

»Das wäre für alle Beteiligten eine gute Sache«, erwiderte Jan Broning, »aber derzeit sollen die Obduktionen noch in der Gerichtsmedizin Oldenburg durchgeführt werden.« Er bemerkte die Enttäuschung beim Bestatter und beeilte sich, hinzuzufügen: »Ich gebe Ihren Vorschlag gerne an die Polizeiverwaltung weiter, aber Sie wissen ja, das kann dauern. – Für die erste genaue Inaugenscheinnahme des Leichnams sind Ihre Räume hervorragend geeignet«, lobte er.

Erdmann strahlte wieder. »Danke, Herr Broning. Für die spätere Identifizierung der Leichen dürfen Sie mein Institut auch gerne benutzen.«

»Danke, Herr Erdmann!« Jan fand, dass jetzt genug Höflichkeiten ausgetauscht worden waren. »Können wir jetzt …?«

»Aber natürlich.« Erdmann holte eine kleine Flasche mit Pfefferminzölkonzentrat aus der Hosentasche. Er rieb sich etwas davon unter die Nase. »Möchten Sie auch? Ist vielleicht besser.«

Stefan und Jan benutzten es ebenfalls. Die Gerüche von Pfefferminz und einsetzender Verwesung vermischten sich im Raum.

»Ich habe mir erlaubt, den Reißverschluss des Leichensacks zu öffnen, damit der Inhalt trocknen kann«, erklärte der Bestatter unaufgefordert.

»Sehr gut, Herr Erdmann!«, lobte Jan Broning.

Stefan Gastmann nahm die Digitalkamera aus dem Fotokoffer und fotografierte die Leiche zunächst von allen Seiten. Jan Broning entfernte vorsichtig die Plastiktüten von den Händen des Toten. Diese Tüten sollten verhindern, dass Fremdspuren auf die Hände gerieten. Außerdem sollte Spurenmaterial, das sich während des Transportes der Leiche löste, aufgefangen werden. Jan Broning sah sich das Innere der Tüten genau an. In einer lag ein ausgerissener, blutiger Fingernagel, der sich beim Transport von der Hand gelöst hatte. Broning versiegelte die Tüte und nahm einen speziellen Stift aus dem Spurensicherungskoffer. Er beschriftete die Tüte mit: Rechte Hand/ausgerissener Fingernagel.

Stefan schaltete die Kamera auf Naheinstellung um. Jan bewegte die Hände des Toten so, dass sein Kollege sie von allen Seiten fotografieren konnte. Im Blitzlicht der Kamera sahen die Verletzungen noch grausamer aus. Auf dem Handrücken war das Fleisch teilweise bis auf die Knochen aufgerissen. Die weißen Knöchel waren im Kontrast zur blutverschmierten Haut überdeutlich zu sehen.

Stefan legte die Kamera zur Seite und suchte den Blickkontakt zu seinem Kollegen. Jan Broning ahnte, was in seinem Kopf vorging. »Ja, ich weiß, Stefan, die Hände sehen entsetzlich aus. Diese schweren Verletzungen können eigentlich nur bei einem verzweifelten Kampf ums Überleben entstanden sein.«

Er versuchte, die Bilder zu verdrängen, die in seinem Kopfkino entstanden, und nahm eine Pinzette und mehrere durchsichtige Plastiktüten aus dem Tatortkoffer. »Lass uns erst die Spuren unter den Fingernägeln sichern.«

Die beiden Kriminalbeamten begannen systematisch und konzentriert mit ihrer Arbeit. Stefan beschriftete die Tüten und Jan untersuchte nacheinander die Finger. Sobald er Holzsplitter oder anderes Spurenmaterial entdeckt hatte, entfernte er diese Spuren vorsichtig mit der Pinzette. Stefan hielt ihm jeweils eine bereits beschriftete Tüte hin.

Der billig aussehende Ring am kleinen Finger bereitete Jan erhebliche Probleme, weil er sich nicht vom Finger lösen ließ.

Der Bestatter hatte die Arbeiten der Ermittler aus dem Hintergrund still verfolgt und bemerkte das Problem. Er ging in einen Nebenraum und kam mit einer Dose zurück. »Hier, Herr Broning.« Erdmann hielt dem Polizisten die Dose hin. »Versuchen Sie es doch einmal mit Flutschi!«

Jan nahm die unbeschriftete Dose entgegen, öffnete den Deckel und betrachtete etwas skeptisch den Inhalt. Sie war mit einem farblosen Gel halb gefüllt.

»Ein Gleitmittel.« Erdmann räusperte sich und grinste verschmitzt. »Vaseline.«

Jan wollte sich nicht vorstellen, zu welchem Zweck Erdmann es benutzte. Zum Glück trug er noch die Latexhandschuhe. Er zögerte kurz, dann nahm er mit spitzen Fingern etwas von dem Gel und strich damit den kleinen Finger des Toten und den festsitzenden Ring ein. Jan zog noch einmal an dem Ring, und der ließ sich endlich vom Finger lösen. Stefan hielt ihm eine geöffnete Tüte hin, und Jan ließ den Ring hineinfallen.

Die beschriftete und versiegelte Tüte hielt er ins grelle Licht der Deckenstrahler. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Goldring. Innen befand sich sogar ein Echtheitsstempel. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich aber um ein anderes poliertes Metall, vermutlich Messing.

Neben den Geräuschen des Ventilators hörte Jan die Singsangstimme des Bestatters. Erdmann summte die Melodie eines Kirchenliedes. Der Mann irritierte Jan ein wenig.

»So, Herr Erdmann, Sie können den Toten jetzt vorsichtig ausziehen.«

Der Bestatter entfernte behutsam die Kleidung des Toten. Dabei summte er einen anderen Choral. Stefan sah Jan an und verdrehte die Augen. Er legte die Kleidungsstücke in spezielle Plastiktüten.

Schließlich lag der Tote nackt auf dem Chromtisch. Seine rote Gesichtsfarbe wollte nicht zur Situation passen.

Jan Broning nahm eine kleine Taschenlampe und ein Holzstäbchen aus dem Spurensicherungskoffer und öffnete vorsichtig den Mund der Leiche. Er leuchtete die Mundhöhle aus und drückte die Zunge etwas herunter. Die kirschrote Farbe der Schleimhäute war nicht zu übersehen. Er legte die Lampe weg. »Wir müssen den Toten zur Seite drehen. Pack mal mit an, Stefan.«

Gastmann und der Bestatter hielten den Toten in der Seitenlage fest und Jan trat einige Schritte vom Tisch zurück. Die roten Totenflecke waren gleichmäßig auf dem Rücken verteilt. Er machte zunächst einige Aufnahmen mit der Kamera, dann legte er sie weg und betrachtete jeden Körperteil aus der Nähe. Am Nackenbereich fielen ihm zwei Abdrücke in einem Abstand von fünf bis sieben Zentimetern voneinander auf. Sie sahen aus wie zwei Nadelstiche.

Er gab Stefan ein Maßstabsdreieck in die Hand, damit man auf dem Foto einen Größenvergleich hatte. Stefan hielt den Maßstab an die Einstiche, während Jan fotografierte.

Er überprüfte die Qualität der Digitalaufnahmen, als sein Handy klingelte. Jan legte die Kamera zur Seite. Brede zeigte das Display an. Jan drückte die grüne Taste. »Broning!«

»Hier Albert. Toter vom Parkplatz identifiziert. Messevertreter Erich Schulte. Vermisst gemeldet von Ehefrau. Alles weitere später.«

Jan schaute erstaunt auf sein Handy. Die Verbindung war getrennt worden. Typisch Brede – bloß kein Wort zu viel.

Er steckte das Handy weg und schaltete die Kamera aus. »So, Stefan, ich glaube, wir haben alles. Lass uns zusammenpacken.«

An der Eingangstür verabschiedete sich Jan vom Bestatter. »Herr Erdmann, vermutlich haben wir die Identität des Toten ermittelt. Wir möchten, dass die Ehefrau ihn identifiziert. Vielleicht schaffen wir es noch heute Abend. Wir rufen Sie rechtzeitig vorher an. Bitte gehen Sie davon aus, dass die Leiche von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und eine Obduktion in der Rechtsmedizin angeordnet wird. Könnten Sie den Transport nach der Gegenüberstellung organisieren?«

»Kein Problem, Herr Broning, dass krieg ich hin. Bis später dann.«

»Gott sei Dank hat das Gesinge jetzt ein Ende«, stöhnte Stefan, als sie ihre Ausrüstung im Bulli verstauten. »Was für ’ne Type, der Erdmann!«

Jan machte sich einige Notizen auf einem Klemmbrett. Er atmete hörbar aus. »Kannste wohl sagen. Aber bei dem Beruf wird man vermutlich etwas schräg. Du, jetzt sind wir ja unter uns … Was ist deine Meinung zu unserem Toten?«

Stefan überlegte einen Moment. »Also, erst mal das Offensichtliche: Todesursache dürfte eine Kohlenmonoxid-Vergiftung sein. Bis auf die Hände haben wir keine gravierenden äußeren Verletzungen gefunden und die roten Schleimhäute im Mund zusammen mit den roten Leichenflecken deuten auf Einwirkung von Kohlenmonoxid hin. Diese rote Gesichtsfarbe haben wir ja schon oft gesehen, wenn sich jemand mit Auspuffgasen in seinem Auto vergiftet hat.«

Jan nickte.

»Jetzt die Hände«, fuhr Stefan fort. »Die Abschürfungen rund um beide Handgelenke: Handschellen, eindeutig. Die abgebrochenen Fingernägel und die Holzsplitter, zusammen mit den massiven Abschürfungen … Man mag es sich nicht vorstellen, aber es sind vermutlich Todeskampfspuren. Der Tote hat sich gegen einen Angriff gewehrt oder er wollte sich befreien. Ja, und dann dieser Ring … Sah zwar erst auf den zweiten Blick billig aus, passte somit aber nicht zur teuren Bekleidung.«

Jan nickte anerkennend. »Und diese parallelen Abdrücke oder Einstiche im Nacken des Toten – hast du eine Idee?«

»Ich komm nicht drauf, vielleicht wissen wir nach der Obduktion etwas mehr. Lass uns zur Dienststelle fahren. Wir müssen mit Brede sprechen, vermutlich kennen wir ja jetzt die Identität des Toten.«

Unterwegs sprachen sie sich über das weitere Vorgehen ab.

Tag 3, abends

Stadt Leer, Polizeidienstgebäude8

Stefan Gastmann parkte den Bulli der Spurensicherung in der großen Fahrzeughalle auf dem Polizeigelände. Sie nahmen die Alukoffer mit der Fotoausrüstung und den gesicherten Spuren heraus und gingen mit jeweils einem Koffer in der Hand ins Polizeigebäude. Im vierten Stock öffnete Jan die Tür zum Büro der Spurensicherung. Die Luft dort war wie immer stickig und roch stark nach Chemikalien. Als Erstes öffnete er ein Fenster, um den Mief zu vertreiben.

Das Büro war durch eine Glasscheibe geteilt. Im größeren Teil des Raumes stand ein Drehstuhl an einer Wand, davor eine Kamera mit Stativ. Wie viele Verdächtige hatten schon auf diesem Stuhl gesessen …! Zunächst für die Fotos von allen Seiten, dann kamen die Fingerabdrücke.

Jan und Stefan stellten ihre Ausrüstung auf einem Tisch ab und nahmen die Tüten mit den gesicherten Spuren aus den Kisten.

Stefan begann, die verbrauchten Materialien im Koffer zu ersetzen. Jan schaute zu dem Computer in dem kleinen Nebenraum hinter der Scheibe hinüber. »Ich lege uns erst mal einen Vorgang im Computer an, damit wir eine Vorgangsnummer haben.«

Er ließ die Tür offen und gab die ersten Daten ein. Die vom System generierte Vorgangsnummer notierte er für seinen Kollegen auf einem Zettel.

Albert Brede kam herein, Stefan ließ seine Arbeit liegen und setzte sich zu ihm und Jan in den Nebenraum. Jan gab Stefan den Zettel mit der Vorgangsnummer und sah Albert auffordernd an.

»Hier«, Albert Brede überreichte Jan die Vermisstenmeldung über den Vertreter Erich Schulte. Jan wartete vergeblich auf einen weiteren Kommentar und schaute in die Akte. Zum Vorgang gehörte auch ein Foto des Vermissten. Kein Zweifel: Es war der Tote vom Parkplatz.

Stefan übernahm die undankbare Aufgabe, dessen Ehefrau zu informieren. Er telefonierte mit dem Notfallseelsorger und vereinbarte ein Treffen. Danach sollten Stefan und Albert die Spuren sortieren und mit der Vorgangsnummer beschriften.

Jan ging zu seinem Vorgesetzten Dirksen und besprach die aktuelle Sachlage. Dann telefonierte er mit dem zuständigen Staatsanwalt Grohlich, einem Mann mit einer markanten Stimme und, wie Broning wusste, stattlichen Erscheinung. Grohlich ließ sich die Situation erklären und ordnete wie erwartet die Beschlagnahme und Obduktion der Leiche an.

Jan saß nun wieder in seinem eigenen kleinen Büro. Die Tür zum Flur stand wie meistens offen. Er telefonierte mit der Leitstelle und vergewisserte sich gerade, dass der Mercedes des Opfers zur Fahndung ausgeschrieben war, als Stefan hereinkam. Jan zeigte auf einen Stuhl und beendete das Telefonat.

»Na, wie schlimm war es bei Frau Schulte?«, fragte er.

»Ich war froh, dass der Notfallseelsorger dabei war. Am schlimmsten ist es immer, wenn sie einen erst so ansehen, als ob es vielleicht doch noch Hoffnung gäbe. Aber die gibt es natürlich nicht. Dann fing Frau Schulte an zu schreien und trommelte mit den Fäusten auf die Brust vom Pastor.« Stefan atmete tief durch. »Der Pastor hat einfach super reagiert, der hat Frau Schulte einfach umarmt und sie fest an sich gedrückt. Dann hat sie sich etwas beruhigt und wir brachten sie in die Küche. So einigermaßen konnte man dann schon mit ihr reden. Die Ehe war nicht glücklich, sondern bestand nur noch aus Gewohnheit. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe, denn das letzte Gespräch mit ihrem Mann war ein Streit per Autotelefon. Die Uhrzeit hab ich aus der Anrufliste. Ansonsten ist bei der Befragung nichts Wichtiges für unseren Fall herausgekommen.«

Es lag noch viel Papierkram vor ihnen, bis sie die Lichter im Büro endlich ausschalten konnten.

Stefan stand schon im Flur, als ihm einfiel, dass sie heute Morgen Jan von zu Hause abgeholt hatten. »Soll ich dich nach Hause fahren?«

Jan Broning seufzte. »Nett von dir, aber ich soll mehr zu Fuß gehen. Es ist ja nicht weit.«

Er verabschiedete sich, nahm die Treppen nach unten, ging durch die Schleuse und winkte den Kollegen im Wachraum zu. Draußen überquerte er die Georgstraße. Er ging die Stufen hinunter zum Hafen. Dort blieb er einen Moment stehen und sah über die Wasserfläche.

In Gedanken war er mit Maike am Strand von Sankt Peter-Ording. Sie schauten auf die Nordsee hinaus. Seine Hand griff unbewusst nach dem Lederband mit dem Bernstein, das er seit der Kur um den Hals trug. Morgens hatte er an sie gedacht und jetzt ging der Tag zu Ende und wieder war er in Gedanken bei ihr. Er fragte sich, wo sie jetzt war und ob sie auch gerade an ihn dachte.

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