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Einzelhaft

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Wenn ein Mensch stirbt, dann nimmt er sein Lachen, seine Tränen, seine Ängste und Hoffnungen mit. Alles, was die Persönlichkeit aus Verstand und Gefühl, aus einer schier unendlichen Gedankenwelt prägte, alles erlischt. Wenn ein Mensch stirbt, dann verschwindet ein ganzer Kosmos. Mit einem Schlag ist diese Welt ärmer. Manchmal aber erfolgt dieser Abschied schleichend. So wie bei Marlene Dietrich. Sie lud den Tod in ihr Pariser Appartement ein, indem sie die Öffentlichkeit ausschloss. Sie versteckte ihr Alter, ihre Krankheit, sie baute sich eine Fassade aus einer Illusion. Der Illusion von ewiger Schönheit, von ewigem Ruhm. War einst die ganze Welt ihre Bühne, so applaudierte ihr am Ende niemand. Ihr Raum wurde klein und kleiner, schrumpfte auf ein Format von 1,20 Meter mal 2,40 Meter – Marlene verließ 13 Jahre lang ihr Bett nicht mehr. Dort trank, aß, las und schlief sie. Das war ihr Schutzwall vor dem Altern, vor der Häme der anderen. Dafür entschied sie sich, gemeinsam mit dem Tod, denn der ist mitunter ein geduldiger Geselle. Marlene Dietrich wollte aus ihrem Kosmos einen Mythos machen. Es gelang ihr, aber der Preis war hoch.

Sie war eine Frau mit Charisma. Endlos lange, schlanke Beine. Wespentaille. Eine Haut wie Alabaster. Rauchig-erotische Stimme, dazu ein geheimnisvoller Blick hinter langen Wimpern.Männer liebten ihren Sex-Appeal, Frauen bewunderten ihre Extravaganz. Und ihre klare, abweisende Haltung, dem Nazideutschland den Rücken zu kehren, verlieh dieser Frau einen Nimbus.

Als Sängerin Lola verdrehte sie in „Der blaue Engel“ 1930 ihrem Kinopublikum den Kopf. Von da an ging es steil bergauf mit der Karriere: An der Seite von James Stewart in „Der große Bluff“ gelang ihr der internationale Durchbruch, sie landete auf dem Gipfel des Filmolymps, in Hollywood. Von dort oben steigerte sie den Takt des Erfolges, und die Glanzleistung in der Billy-Wilder-Inszenierung „Zeugin der Anklage“ beeindruckt bis heute die Filmbranche. Es schien, als wären Schönheit, Ruhm, Talent und Glück die Ingredienzen ihres Lebens. Das sollte sich ändern.

Marlene Dietrich war 73 Jahre, bereits gezeichnet vom Alkohol, als sie stürzte. Von der Bühne in den Orchestergraben. Oberschenkelhalsbruch. Die schönen Beine trugen sie nicht mehr ohne Krücken. Sie litt, stemmte sich gegen das Schicksal und trat 1978 noch einmal vor die Kamera. Dieser Film mit David Bowie mutete wie eine Verzweiflung an: „Ich bin noch begehrenswert, verführerisch, so wie damals.“ Die Visagisten taten ihr Bestes, trugen Schicht um Schicht von Schminke auf, um die Falten zu verspachteln – heraus kam eine Maske. Bewegungslos. Hoffnungslos. Sich klammernd an eine Rolle, die ihr nicht mehr entsprach.

Dieser letzte Film wurde ein Flop. „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ war wie eine Parodie auf eine einstige Diva. Doch die Kritik der Medien rüttelte sie nicht auf, sondern schlug sie in die Flucht. Marlene verschwand endgültig in der Avenue Montaigne 12, in ihrem Appartement, in ihrem Bett. Die Begleiter durch diese Tristesse waren Alkohol, Tabletten und dunkle Gedanken. Marlene hatte nicht verstanden, dass die Schönheit des Alters anders strahlt. Die braucht keinen atemberaubenden Augenaufschlag, keine inszenierte Erotik. Die braucht Falten und eine Blässe. Die kommt in sanfter Balance von innen daher.

Wie anders wären ihre letzten 13 Jahre verlaufen, hätte sie am Montmatre die Nase in die Sonne gehalten, das Kinn in die Pariser Luft gestreckt, hätte sie ihre Lebenslinien im Gesicht der Welt gezeigt. Hätte sie gedacht: „Ich bin dankbar, demütig gar, für das, was ich erschaffen habe.“ Diese Denkweise hätte ihre Lebensqualität entscheidend verbessert. Stattdessen war sie bereit für eine Lebenslüge.

Ich kenne viele Marlenes, Menschen, die Ruhm und Ehre erreichten – und doch unglücklich sind. Wenn Sie diese Menschen aufmerksam betrachten, bemerken Sie deren Aura der Rastlosigkeit: immer auf der Jagd nach dem nächsten Schatz, um eine innere Leere mit einer Anerkennung von außen zu füllen. Anselm Grün, spiritueller Mönch und Autor, verfasst reihenweise Bücher zu diesem Thema. Dass sie Long- und Bestseller sind, zeigt, wie groß die Sehnsucht seiner Leser nach Authentizität ist. Nur in diesem Zustand können wir uns pur erleben. Ohne Schminke. Ohne die große Inszenierung auf einer Bühne. „Wer in Berührung ist mit seinem Selbst, der ist unabhängig von der Meinung der anderen. Er findet zu sich selbst, zu seiner eigenen Würde. Und er wird fähig, bei sich zu bleiben, es bei sich auszuhalten“, so Anselm Grün. (2013, S. 25)3

Auch Earl Nightingale, US-Radiokommentator und Unternehmer, verstand es, Menschen zu motivieren, aus ihrem Leben das Beste zu machen. Für sich selbst und für die Gesellschaft. Das war seine Botschaft. Für ihn war Erfolg eine stetige Aufgabe, in sich hineinzuhorchen und die Signale anzunehmen. Nicht Rastlosigkeit, sondern das bewusste und stetige Setzen der Schritte zählte für ihn: Erfolg sei die fortschreitende Realisierung eines wertvollen Ideals. Jeder Gedanke, jede Handlung, alles, was wir sind und tun, hat Folgen. Wenn wir dies verstehen, dann erkennen wir, dass wir zu 100 Prozent folgenreich sind. Was wir gestern gesät haben, ist unsere Ernte von heute. Mit dem Wissen um diese Kausalität kann ich die volle Eigenverantwortung annehmen, kann ich das Feld der Illusionen verlassen. Eine kraftvolle Vorstellung: Ich beginne für mich zu säen, weil ich die Folgen als einen Prozess des Wachsens erwarte. Ich höre auf, den Ergebnissen die größte Bedeutung beizumessen, richte stattdessen meinen Fokus auf meine Fähigkeit, den Samen zu streuen und den Acker zu pflegen. Ich vertraue auf die Wirkung des Naturgesetzes.

Freiheit ist niemals bequem

Vor diesem Hintergrund mutieren Streiks und Demonstrationen zu Aktionismus: Sie werden zu einem Handeln gegen die Wirkung, zu einem Versuch, Nichtgesätes zu ernten. Welcher Bauer würde gegen eine schlechte Ernte demonstrieren? Er weiß, wenn er Besseres will, dann muss er seinen Acker anders bestellen. Und mit dieser Gedankenkette landen wir mitten in der Politik, mitten in der Diskussion um den frisch etablierten Mindestlohn in Deutschland. Politiker denken hier in Wirkungen: Statt den Boden zu bereiten für Leistung, für Motivation, für Eigenverantwortung, grenzen sie die Fläche ein und versprechen einen Hungerlohn. Dafür erwarten sie sogar Wahlstimmen und Medienlob. „Wählt uns, wir verstehen euch. Wir steigern euren Lohn von drei Euro auf gesetzlich verankerte 8,50 Euro.“ Übersetzt in das Naturgesetz aus Ursache und Wirkung bedeutet dieses Mindestlohngesetz: „Wir halten euch in der Abhängigkeit. Oder: Ohne uns schafft ihr nicht den kleinsten Schritt zu Wachstum und Erfolg.“ So entstehen Gedankengefängnisse.

Ich gönne den Arbeitnehmern diesen Mindestlohn – und noch viel mehr. Aber der Weg, den die Politik geht, ist der falsche. „Mit 8,50 Euro kann man zwölf Liter Milch kaufen, ein Musikalbum bei iTunes oder vier Paar Socken. Richtig viel ist das nicht. Dennoch sollen acht Euro und 50 Cent das Land umkrempeln. Sie sollen für Gerechtigkeit sorgen, für Würde und für ein Leben ohne Armut“, fasste die Redaktion von Zeit Online ihre Kritik an diesem Gesetz zusammen und spricht mir damit aus der Seele.4

So wird das wunderbare Naturgesetz zu einem passiven Verfahren, das den Empfängern des Mindestlohns suggeriert: „Ich warte mal ab, was die in der Politik für mich säen, das nehme ich. Nicht mehr und nicht weniger steht mir zu.“ Eine Selbstaufgabe. Eine Resignation ans Leben, ein Wegwerfen von Chancen. Freiheit entsteht, wenn man selbst in den Saattopf greift und den Reifeprozess mit allen körperlichen und geistigen Mühen begleitet. Freiheit ist nicht bequem. Sie kann zuweilen schmerzen. Aber: Sie ist das Gegenteil von Einzelhaft. Sie bedeutet, sich auf dem Feld der Möglichkeiten eigenverantwortlich zu bewegen. Und doch fühlen sich sieben Millionen Menschen gefangen in einer Realität der Armut, warten auf den Retter von außen, der für sie sät.

Stellen Sie sich einmal vor, sieben Millionen Menschen könnten ihre Kraft bündeln, sich auf ihre Fähigkeiten, ihre Energie besinnen und dieser Gesellschaft einen wirtschaftlichen Schub geben. Aber sie jammern und leiden. Warten auf Gesetze wie dieses, das den Anschein einer Befreiung bietet und doch die Tür zur Eigenverantwortung verschließt. Das ist für mich ein Verstoß gegen Artikel 1 des Grundgesetzes, gegen die Würde des Menschen. Das ist keine Freiheit.

Wie anders handelt Professor Muhammad Yunus, Banker und Friedensnobelpreisträger aus Bangladesch. Seine Idee der Mikrokreditvergabe hat Modellcharakter. Konsequent verhilft er den Armen zur Selbständigkeit. Mit Geld und aufmunternden Sätzen. Mit Zielen und Vereinbarungen, die ein Wachstum besiegeln. Er will die Menschen in die Würde bringen. Hilfe zur Selbsthilfe. Bettler ermuntert er zum Aufbau einer Kochküche am Straßenrand. Frauen gibt er einen Kredit, um sich eine Kuh zu kaufen, diese zu melken, Käse zuzubereiten, Geld auf dem Markt zu verdienen, ihr Rollenbild zu erweitern, ihre Selbstachtung zu steigern, Respekt zu ernten, die Raten zurückzuzahlen und unabhängig zu werden. So sieht die Befreiung aus. Es ist wie ein Schubs, das eigene Potential zu leben.

Was hindert Menschen daran, dieses eigene Potential selbst zu erkennen und zu fördern?

Ein Mensch, viele Persönlichkeiten

Um das zu erklären, benutze ich in meinen Coachings das Rollenmodell der „Subpersonalities“. Darunter verstehe ich Unterpersönlichkeiten, von denen jeder Mensch vielleicht viele hundert in sich vereint. Jede dieser Subpersonalities steht für eine bestimmte Rolle, die der Mensch darstellen kann. Aber die meisten entscheiden sich für nur eine dominante Rolle.

Diese Hauptrolle nimmt so viel Platz ein, dass die Nebencharaktere von der Bühne gedrängt werden. Dann ist der Investmentbanker der Karrierist, nahezu 24 Stunden täglich. Dabei schlummern noch andere Subpersonalities in ihm, die er zum Leben erwecken könnte: Zu Hause im Kinderzimmer seines kleinen Sohnes wäre er Vater und Spielgefährte, in der Küche beim Zubereiten des Abendessens wäre er Koch und später der zärtliche Liebhaber seiner Frau. Wenn er gerne Saxophon spielte, wäre er zu diesem Zeitpunkt Musiker. Und wenn er seinen Lieblings-Fußballverein im Stadion anfeuerte, wäre er in erster Linie sportbegeisterter Fan.

Der Investmentbanker ist also – um in der Theatersprache zu bleiben – ein Schauspieler, der unterschiedliche Persönlichkeiten verkörpern kann. Damit die Auswahl und das Zusammenspiel der Rollen gelingen kann, muss der Regisseur seine Aufgaben wahrnehmen. Der dirigiert die einzelnen Charaktere, gibt ihre Einsätze vor. Maz ab, Büro, 8.00 Uhr: Der kühle Kopf, der knallharte Analytiker. Maz ab, zu Hause, Kinderzimmer, 19.00 Uhr: Der lustige Spielgefährte. Maz ab, Kneipe, 21.00 Uhr: Der verlässliche Kumpel zwischen Freunden. So weit, so gut. Der Schauspieler stellt die Rolle dar. Der Regisseur bestimmt den Einsatz. Doch woher weiß der Regisseur, wann ein neuer Einsatz erfolgt? Vom Drehbuchautor! Nur wenn der ein schlüssiges Konzept vorlegt, klappt der Ablauf. Ein Drehbuchautor schreibt also das Stück für den Regisseur und damit den Ablauf im Leben. Das ist Ihre eigene Verantwortung. Sie suchen die Worte, die Geschichten, die Erfolge im Drehbuch aus, Sie selbst ziehen Ihren roten Faden durch den Text. Viele Menschen sind sich dieser wunderbaren Aufgabe nicht bewusst, und damit erkennen sie auch ihre Subpersonalities nicht. Sie verinnerlichen einzig ihre dominante Rolle. Alle anderen bleiben im Verborgenen und führen dort ein Schattendasein. Der Mensch verdrängt seine eigene Vielfalt und presst sich selbst in eine enge Form. Er lebt sich nicht aus. Er gibt sich und seinen Potentialen keine Chance. Warum klammern sich viele Menschen an nur eine, alles bestimmende Rolle und machen ihr Leben zu einem Monolog?

Eine Frage des Chemiezustandes

Wenn ich eine Subpersonality intensiv lebe, dann gewöhne ich meinen Körper an einen Chemiezustand. Und das kann bekanntlich süchtig machen.

Mit diesen chemischen Stoffen meine ich keine Suchtmittel wie Koks, Nikotin oder Alkohol. Ich spreche nicht von rund 74.000 Alkoholtoten und von den geschätzten 24 Milliarden volkswirtschaftlicher Folgekosten, nicht vom Krebs durch Nikotin oder von Herzinfarkten durch Koffein. Nein, ich denke an eine Sucht, die in mir, in Ihnen, in jedem Menschen steckt. Bekannt als Hormone, die unsere Körperfunktionen lebendig halten, und als Neurobotenstoffe, die unser Denken beeinflussen. Die sind unsere Sucht. Denn wir alle sind Chemie.

Schuldgefühle zum Beispiel verändern Sie chemisch. Das ist messbar. Im Gehirn und am Körper. Angst, Freude, Zorn, Überraschung, Traurigkeit, was immer Sie empfinden, es ist das Ergebnis Ihrer chemischen Mischung. Zwar können Sie diese von außen bekämpfen, zum Beispiel durch Medizin, um eine Depression zu mildern, oder durch Alkohol, um einer Traurigkeit zu begegnen. Aber die Wirkung währt nur kurze Zeit. Langfristig können Sie Ihre Chemie nur selbst beeinflussen. Durch Ihre Gedanken, durch Ihre Sprache, durch Ihr Verhalten. Das ist zunächst eine sehr tröstliche Botschaft.

Wenn Sie sich über viele Jahre in einem Stress-Zustand befunden haben, dann hat sich Ihr Körper an diesen Zustand gewöhnt. Er hat Cortisol und Adrenalin im Überfluss produziert – und auf die Bildung verschiedener Rezeptoren verzichtet, weil andere Botenstoffe wie Serotonin für Entspannung fehlten. So wurden Sie süchtig nach Stresshormonen. Die sind zu Ihrer Chemie geworden. Fragen Sie sich einmal: Wo ist Ihre persönliche Sucht? Sind Sie cholerisch? Eifersüchtig? Stressgeplagt? Lethargisch? Notorisch schlecht gelaunt? Es liegt an Ihrer Chemie. Sie können sie verändern, wenn Sie wollen. Denn Sie sind Eigentümer Ihres Körperhauses. Das Problem ist nur: Eine Sucht zu heilen, bedeutet Entzug, und der wird umso heftiger ausfallen, je stärker sich Ihre Identifikation mit Ihrer Lebensrolle verbindet.

Ich habe, als mir der Zusammenhang zwischen meiner Chemie und meinem Karrieredenken bewusst wurde, eine Nacht an Fieber und Schüttelfrost gelitten. Und das war vergleichsweise harmlos. Denken wir noch einmal an Marlene Dietrich: Sie war nicht zum Entzug bereit, das einsame, lange Sterben schien ihr die erträglichere Wahl zu sein. Die meisten Menschen werden dieses Extrem zwar nicht durchleiden, weil ihre inneren Bilder nicht derart in Stein gemeißelt sind. Aber manche werden ihr wahres Ich nicht leben, weil Selbstverleugnung zunächst einfacher erscheint als eine Veränderung. Um das zu verdeutlichen, zeichne ich noch einmal das Bild eines typischen Investmentbankers, nennen wir ihn Peter.

Peter arbeitet ständig, er macht buchstäblich die Nacht zum Tag – denn die Börse schläft nicht. „Wer mit hohen Summen jongliert“, so denkt er, „hat auch eine hohe Verantwortung.“ Kunden, Vorgesetzte, Investoren erwarten Leistung auf Höchstniveau. Hinzu kommt, dass sein Privatleben, sofern er noch eines hat, nur am Rande stattfindet. Es kam vor, dass sein Handy auf den Stufen zur Oper klingelte, er sich mit einem Kuss von seiner Partnerin verabschiedete – und sie stehenließ. Job geht vor. Wenn ein Kunde ruft, ist der Banker zur Stelle. Das Einzige, was zählt, sind Zahlen.

Durch diese 24-Stunden-Dauerbelastung schüttet Peters Körper vermehrt Cortisol, ein Stresshormon, aus. Selbst zu Schlafenszeiten läuft die Cortisol-Produktion weiter. Gehirn und Körper finden keine Ruhe. Peter wälzt sich am anderen Morgen aus den Federn und fühlt sich angeschlagen. Sein Stresshormon-Spiegel ist bereits bei Tagesanbruch kurz vor dem roten Bereich – er steht unter Spannung, bevor der Job beginnt. Peters erster Gedanke gilt den riskanten Geschäften auf seiner Agenda – damit fügt er seiner Chemie Adrenalin hinzu. Was folgt, ist ein Dauerbeschuss der Hormone. Nun befindet sich der Organismus endgültig im Alarmzustand.

Peter ist unfähig, seine Unterpersönlichkeiten zu entdecken und einzusetzen. Er ordnet sein ganzes Leben seiner beruflichen Hauptrolle unter, nichts anderes hat in seinem Denken und Handeln einen Platz. Er ist nicht Peter und übt den Beruf des Investmentbankers aus. Er ist Investmentbanker. Die ausgeschütteten Stresshormone versetzen ihn in einen Erregungszustand, in dem er sich zu hundert Prozent mit seiner Rolle identifiziert. Keine Leichtigkeit ist mehr möglich und keine Reflexion seines Handelns. Peter ist süchtig nach seiner Hauptrolle, mit der er Stress und Anspannung verbindet.

Wer auf die Dauer einen bestimmten Chemiezustand des Körpers spürt, hält das für den Normalzustand – und identifiziert sich damit. Aber keine Rolle, die wir spielen, sollte so stark sein, dass jemand sagt: „Das bin ich. Was anderes kann ich nicht.“ Ich vertrete die Position: Wir sind nicht unsere Gefühle, wir haben Gefühle!

Tanz der Marionetten

Ich vermute, Carl Gustav Jung hatte den gleichen Gedankenansatz, als er die Theorie des kollektiven Unbewussten entwickelte. Es sei der „Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch negativ unterschieden werden kann, dass er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist.“5 Diese Theorieform besagt, dass wir in ein kollektives Feld hineingeboren werden. Es mag christlich oder islamisch sein. Von welcher Kultur auch immer wir geprägt sind, wir können uns dieser Prägung nicht einfach entziehen, ohne uns dieser überpersönlichen Tatsache bewusst zu werden. Je unbewusster wir diesem Zustand gegenüber sind, desto mehr funktionieren wir wie eine Marionette an den kulturellen Fäden. Erst wenn wir uns bewusst machen, welche Kraft dieses Unbewusste auf uns ausübt, können wir entscheiden, wie viel Raum wir ihr in unserem Inneren geben wollen. Die Therapieform der Familienaufstellung basiert auf dieser Einsicht. Sie hilft zu erkennen, an welchen Fäden wir hängen und wie wir diese lockern oder lösen können.

Übertragen auf den Alltag bedeutet das: Es gibt verschiedene Stimmungs- und Spannungsfelder, an die der Mensch andocken kann – oder eben nicht. Wenn jemand beispielsweise einen Raum betritt, in dem sich eine lustige Runde aufhält, nimmt er sofort die positiven Schwingungen auf, die von diesen Menschen ausgehen. Es ist nicht seine Empfindung, aber er spürt sie, weil er das Energiefeld der anderen angenommen hat. Wenn der Hereinkommende sich dessen bewusst ist, kann er frei entscheiden, ob er sich dieser Gefühlslage ebenfalls hingibt oder seine eigenen Emotionen gestaltet. Letztendlich heißt das nichts anderes als: „Ich bin nicht meine Emotion, ich habe eine Emotion. Die kann ich meinen Subpersonalities zuordnen – oder meiner Hauptrolle. Ich habe die Wahl.“

Viele Menschen wählen nicht mehr zwischen der Rolle des Regisseurs, Drehbuchautors und Schauspielers. Sie leben mit den Emotionen, die zu ihrer dominanten Rolle gehören. Bis sie sich verselbständigt. Dann gibt der innere Regisseur keinen Einsatz mehr vor, und auch der Drehbuchschreiber sieht nur hilflos zu. Alle anderen Schauspieler schweigen ebenfalls. Es gibt für sie keine Wechselbesetzung mehr, Sie können sich keine Alternativen mehr ausdenken. Wem es nicht gelingt, sich von seiner übermächtigen Hauptrolle zu befreien, der rast wie ein Schnellzug, bei dem die Bremsen versagen, immer weiter auf den Schienen voran. Wird der Zug zu plötzlich gestoppt, fliegt er aus der Kurve. Das fühlt sich an wie Sterben.

Nicht umsonst schalten die meisten in den Kampfmodus, wenn sie Gefahr wittern, demaskiert zu werden. „Ich darf nicht zulassen, dass mir die Hauptrolle genommen wird! Was bin ich denn ohne diese? Eine Null!“ Sie fangen an, um ihr Überleben zu kämpfen – weil sie davon überzeugt sind, dass nur diese einzige Rolle ihr Leben ausmacht. Was entsteht, ist eine verzerrte Wirklichkeit.

Zwei minus eins

Verhaltensforscher gaben einem Affen einen Apfel und beobachteten, wie er sich freute. Das wiederholten die Wissenschaftler eine Zeitlang. Sie gaben ihm wieder und wieder einen Apfel, und der Affe biss mit immer gleicher Freude hinein.

Dann reichte man ihm zwei Äpfel – und nahm einen wieder fort. Das empfand der Affe als Verlust. Er reagierte wütend und wurde traurig, obwohl er einen Apfel besaß, so wie in seinen glücklichen Momenten zuvor. Für ihn zählte dieser eine Apfel nicht mehr. Für ihn überwog der Verlust.

Diesen Algorithmus entdecke ich auch bei Menschen, die sich auf den materiellen Reichtum konzentrieren. Wer Aktienpakete besitzt, der kennt die Ausschläge seiner emotionalen Kurve: Geht der Kurs nach oben, jubelt er, geht der Kurs nach unten, spürt er Verlust und Ärger – selbst wenn die Summe noch deutlich größer als der angelegte Betrag ist. Das Gehirn jagt Adrenalin durch die Adern: Achtung. Höchste Gefahr. Geldverlust. Dabei war dieses Geld nur für kurze Zeit theoretisch vorhanden, nur für eine Sequenz des Ausschlages auf einer Tafel sichtbar. Als Illusion im Bankengeschäft. So ticken wir. Wir straucheln durch verzerrte Wirklichkeiten, fallen auf Trugbilder herein. Wir lassen zu, dass sich unsere Chemie dunkel färbt. Wir sind aber nicht unser Konto, wir haben ein Konto.

Je unbewusster wir sind, je weniger wir uns erlauben, den morphischen Feldern in uns zu begegnen und selbst zu entscheiden, wo wir andocken wollen, welche Stimmungen uns guttun, desto mehr bleiben wir Gefangene in unserer eigenen Gedankenwelt. Das verhindert die Leichtigkeit im Leben sowie die Freiheit, selbstbewusst mit den Gefühlen zu jonglieren. Wir verharren in bekannten Mustern: in unserer Körperchemie und dem kollektiven Unbewussten. Wir hängen an Fäden wie Marionetten.

Die Gruppe bestimmt – wir folgen

Menschen wachsen mehrheitlich nicht „artgerecht“ auf. Selten sieht jemand hin, welche Stärken und Schwächen sie haben. Der Mensch soll funktionieren. Solange er gute Ergebnisse liefert, ist er im Geschäft. Scheitert er, fliegt er aus dem System. Während ich dieses Buch schreibe, sind in Deutschland mehr als 4,2 Millionen Menschen arbeitslos. Darunter Handwerker, Manager, Ärztinnen, Taxifahrer, Menschen, die sich einst aufmachten, diese Welt mit ihren Fähigkeiten zu bereichern. Aber sie verloren diesen Enthusiasmus, passten sich an, um in der Gruppe zu überleben. Denn die Gruppe definiert den Erfolg. –Der hat das Zehn-Millionen-Umsatz-Ziel geknackt. Applaus von den Kollegen und einen Ehrenplatz im Mitarbeitermagazin. Der hat den größten Kunden an Land gezogen. Lob vom Chef und einen Bonus zum Gehalt. Der fährt einen Porsche Cayenne. Neid vom Nachbarn und einen Gruß mit Verneigung.

So sei die Frage erlaubt: Warum keinen zehn Jahre alten Opel Corsa fahren, wenn mein Herz daran hängt? Warum nicht bei Aldi in die Regale greifen oder die Erdbeermarmelade selbst kochen, statt Stammkunde im Delikatessenladen zu sein? Warum nicht den Hype um Labels ignorieren und das verwaschene Lieblingshirt tragen? Oder umgekehrt. Dabei ist der Mix, der sich für Sie persönlich gut anfühlt, attraktiv. Doch bevor Menschen diesen Weg zu sich selbst gehen, verkaufen viele lieber ihre Seele, um gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Dabei sind gesellschaftliche Konventionen ein Gefängnis.

Wie sehr würden wir unseren Aktionsradius erweitern, würden wir diese Gitter sprengen. Es entstünde eine völlig neue Freiheit im Denken. Kaum jemand glaubt daran, eine Million Euro aus eigener Kraft zu verdienen. Stattdessen klammert man sich an die Illusion eines Lottogewinns aus sechs Richtigen plus Superzahl. Und doch liegt die Wahrscheinlichkeit eines solches Tipps bei rund 1:140.000.000. Um wie viel größer ist die Chance, eine Geschäftsidee in sich reifen zu lassen, dem Ziel einer Million auf dem Konto einen Zeitplan hinzufügen, um dann loszulaufen? „Traumtänzer“ ist die Antwort der anderen. Die schütteln den Kopf, und damit ist die Idee gestorben. Die Gruppe akzeptiert sie nicht, also taugt sie nicht, wo ist der nächste Lottoladen? Schade. Denn ganz am Ende des Lebens werden wir zurückblicken auf diese verpassten Ideen, die umso wertvoller waren, je mehr sie unserem Potential entsprangen. Die Krankenschwester Bronnie Ware begleitete mehr als 20 Jahre lang sterbende Menschen und schrieb über deren Reue ein Buch. Sie fand fünf einprägsame Sätze für dieses Drama der verpassten Chancen. Der erste Satz lautet: „Versäumnis Nr. 1: Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.“ (2013, S. 61)6

Bevor ich mich dazu entschloss, mein Leben umzukrempeln, machte auch ich mich abhängig von der Meinung der anderen. Ich fühlte in meinem Innersten, dass ich unzufrieden war, wusste jedoch nicht, warum. Um meine nörgelnde innere Stimme zum Schweigen zu bringen, lief ich schneller, immer schneller in dem berühmten Hamsterrad. Ich ließ mir keine Zeit, zu überlegen, ob ich überhaupt derart strampeln wollte. Ich erhöhte den Takt, hechelte den vermeintlichen Erfolgen hinterher. Das erwarteten meine Partner, meine Angestellten, meine Bank. „Noch eine Firma gründen! Noch ein Jahr durchhalten, noch mehr Mandanten, noch mehr Anerkennung, noch mehr …“ In den USA nennt man das „ratrace“, Rattenrennen. Ich rannte, bis mir klar wurde: Auch der Gewinner des Rattenrennens ist eine Ratte.

Ich stieg aus. Ich sagte mir: „Lieber lebe ich den Rest des Lebens von Sozialhilfe, als dass ich weiter meine Seele verrate.“

Ohne diese Entscheidung hätte ich mein Innerstes verraten, mein Potential verramscht, einzig für ein Lächeln der anderen. Ich wäre in meiner Einzelhaft geblieben, abhängig von anderen, unfähig zur Selbsterkenntnis. Ich hätte ein armes Leben geführt, arm an Mut, so wie die Marlenes dieser Welt.


Lieber die ganze Welt gegen mich als meine Seele

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