Читать книгу Lieber die ganze Welt gegen mich als meine Seele - Wolfgang Sonnenburg - Страница 9

Verhungert im Schlaraffenland

Оглавление

Es gibt Schönheiten, die sind zeitlos. Die verbinden Kraft mit Eleganz, Provokation mit Versprechen. Männer mögen diesen Mix. Dann schwärmen sie, dann begehren sie. Für eine kurze Sequenz geben sie sich ihren Emotionen hin, bevor die Ratio nach den Daten fragt: 300 PS, zwölf Zylinder,1,8 Tonnen, ein Motorengeräusch wie Musik in den Ohren. Wunderbar. Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick zu einem Götterauto: dem Powercoupé 850i. Damals erfand BMW das Fahren neu, baute eine Sehnsucht aus Stahl und Glas mit Technologie vom Feinsten. Der Wagen berührte Männer, Männer wie mich.

Vor rund 25 Jahren schwang ich mich auf den Fahrersitz, tippte auf das Gaspedal und donnerte meiner Freiheit entgegen. Dachte ich. Heute weiß ich: Der Besitz dieses Autos symbolisierte lediglich einen Mangel in mir. Vielleicht regte sich schon damals eine innere Stimme, die mir davon erzählen wollte, aber die leisen Töne waren nicht meine Tonalität. Ich sah gerne auf das, was ich erreicht hatte: eine Kanzlei in bester Hamburger Lage mit Mandanten aus der High Society. Ich war angesagt als Anwalt. Und hatte noch viel vor. Das Auto, so fand ich, passte zu mir, zu meinem Image, das ich pflegte, als erfolgreicher Macher. Die Blicke der anderen waren wie Balsam im Stress. Da traf es sich gut, dass ein Mandant aus dem Filmbusiness mich am Ende eines vertrauensvollen Gespräches fragte: „Ich habe noch ein ganz besonderes Anliegen: Morgen kommt mein Boss aus Hollywood. Ich weiß, er ist Autoliebhaber, schwärmt geradezu für ein Auto wie Ihres. Also … könnte ich mir Ihr Auto für einen Tag ausleihen und den Boss aus L.A. beeindrucken?“ Ich wusste, dass es den Wagen auf dem amerikanischen Markt noch nicht gab – und fühlte mich an meinem Stolz gekitzelt. Ich nickte meinem Mandanten zu – und gab ihm den Schlüssel mit großer Geste. Erfolg ist teilbar, dachte ich, und blickte dem blitzstartenden Hollywoodmann hinterher. Er hatte Staub aufgewirbelt, die Ruhe durchdröhnt, er schoss um die Ecke, als gehöre die Straße ihm. Ein ungutes Gefühl schlich in mir hoch, und meine innere Stimme spottete: „Willst du so wirken?“ Dieses Mal hörte ich hin. Sehr genau, sehr kritisch. Das Ergebnis war der Zweifel.

Brauchte ich eine solche Show? Jubelte ich den Motor ebenso nach oben, damit andere dachten: „Wow, der Typ hat es geschafft!“? Es war, als würde ich zu meinem eigenen Beobachter, und was ich sah, gefiel mir nicht. Ich fragte mich: Was sagt ein Auto über den Menschen aus? Der Fahrer kann ein Mechaniker einer Werkstatt sein, gerade auf einer Testfahrt unterwegs. Er kann ein Luxussöhnchen sein, dessen Mutter das Auto finanzierte. Er kann ein Mensch sein, der sein letztes Geld zusammenkratzt, nur um die Leasingraten zu bezahlen. Alles ist möglich – im Leben gibt es keine verlässlichen Koordinaten, keine äußerlichen Symbole für Glück. Wer anderes behauptet, der baut eine Fassade auf, um seine Leere zu verdecken. Je teurer, imposanter, höher diese Fassade ist, desto armseliger gestaltet sich der Raum dahinter. Eine traurige Einsicht, fand ich, und hielt das Bild dennoch in mir fest.

Ich hatte es nicht geschafft, auch wenn andere das dachten. Jener innere Raum füllt sich nicht durch 70 Stunden Arbeit in der Woche, nicht durch Aktionismus, Designermöbel im Büro und den BMW vor der Tür. Freunde hatten mich schon viel früher gewarnt, und es gab auch damals bereits meterweise Bücher über den wirklichen Sinn des Lebens. Als nette Lektüre habe ich sie sogar gelesen, aber sie haben mich in der Tiefe meines Bewusstseins nie berührt. Das war plötzlich anders. Denn diese Einsicht war völlig losgelöst von fremden Ratschlägen. Sie krabbelte in mir hoch, vom Bauch durchs Herz in den Verstand, und pochte immerzu: „Ich habe nicht das Leben gelebt, das ich wollte.“ Mir wurde übel – und doch war es eine Sternstunde des Glücks, denn ich startete neu auf einem Weg hin zu mir selbst.

Außen golden, innen hohl

Erfolg und Ansehen sind keine Garantie für Zufriedenheit und Glück im Leben. Das habe ich an jenem Montagmorgen vor über 25 Jahren in einer der schönsten Hamburger Straßen schmerzlich gespürt. Was meine ich damit?

Ich fuhr wie auf Schienen durch mein Leben, dachte, ich müsse einem Fahrplan folgen, den andere entworfen hatten als einen Plan für Erfolg. Er mochte sich millionenfach bewährt haben, mochte für viele Menschen ein Traumziel bieten, für mich war er anstrengend und einengend geworden. Ich wollte raus aus dieser Spur, wollte die Weichen verstellen. Aber wo war der Hebel, um das Tempo zu drosseln? Wo war eine Haltestelle, um auszusteigen, um wieder die Weite im Leben zu erkennen und die Stille zu atmen? Wo war mein vergessener Zukunftsplan? Ich suchte eine andere Art der Freiheit, die kein Coupé, kein Goldschmuck, keine feine Adresse auf der Visitenkarte versprechen kann. Langsam, ganz langsam blubberten meine Ideen aus Kindertagen wieder an die Oberfläche. Ich spazierte ein Stück diese schöne Straße entlang, fand eine Bank und tat etwas, das mir viele Jahre nicht mehr in den Sinn gekommen war: Ich setzte mich. Am helllichten Tag, zur besten Arbeitszeit. Ich streckte die Beine weit von mir, sah in den Himmel und ließ meine Gedanken ziehen wie die Wolken über mir. Welch ein Luxus. Ich begann meine Zukunft umzudenken. Was anfangs nur ein Gedankenspiel war, nahm Konturen an. Ich saß lange auf dieser Bank.

Stellen Sie sich vor, Sie bauen sich Ihre ideale Zukunft auf. Sie sind der Architekt, der über Fassade und Raumgestaltung entscheidet. Sie überlegen sich, wer Sie in 10 oder 20 Jahren sein wollen, wie Sie leben wollen – und malen sich das Bild bunt und detailreich aus. Dann setzen Sie sich, so wie Sie es vermutlich gelernt haben, für die nächsten fünf Jahre Zwischenziele. Die sollen Sie zu diesem idealen Ich führen. Voller Ehrgeiz, Disziplin und Engagement marschieren Sie los. Jeden Tag nähern Sie sich Ihrem Ziel ein wenig mehr: Sie schließen Ausbildung oder Studium zügig ab, gehen zur nächsten Stufe über, schichten Ihre Berufstätigkeit genau so auf, wie es Ihrer Vision entspricht, schließen brav Bausparvertrag, Lebensversicherung und Co. ab – und haben nach einigen Jahren Ihre Ziele erreicht oder sogar übertroffen. Ja, Sie sind dort angekommen, wo Sie ankommen wollten.

Und dann? Das Gefühl der Zufriedenheit stellt sich nicht ein, denn dieses Ziel ist nicht wirklich Ihr Ding. Wenn Sie jetzt einen Moment stehen bleiben, den Blick nach innen richten, dann werden Sie wahrnehmen: Das Erreichte fühlt sich sogar fremd an. Ein erschütterndes Gefühl. Und doch eine Alltäglichkeit.

Stephen Covey, Bestseller-Autor, Unternehmens- und Lebensberater, beschreibt in seinem Buch „7 Wege zur Effektivität“1 dieses Phänomen des Ankommens ohne Gefühl von Glück. Dazu interpretiert er Veröffentlichungen der vergangenen 50 Jahre und stellt fest: „Sie bezogen sich auf die Wahrnehmung des sozialen Images, boten Techniken und Patentlösungen – soziale Pflaster und Aspirin für akute Probleme. Manchmal half dies sogar vorübergehend, aber die grundlegenden, chronischen Wunden schmerzten weiter und brachen immer wieder auf.“ –Eine „Image-Ethik“ also, die uns fortführt von unserem Ich und hin zu den Diktaten anderer. Er wäre nicht Covey gewesen, hätte er hier den Schlusspunkt gesetzt. Als Professor für Business-Management wollte er den wahren Grund für Glück und Erfolg erforschen. Er nahm sich ältere Texte vor, verglich Charakterstudien, die vor mehr als 150 Jahren erschienen waren. Und was er las erinnerte an Tugenden, die wir heute unter ihrem Staub kaum noch sehen – und doch liegt darunter der Schlüssel zum spürbaren Glück. Es war, so Covey, „die Charakter-Ethik als Voraussetzung für Erfolg; sie basiert auf charakterlichen Eigenschaften wie etwa Integrität, Demut, Treue, Mäßigung, Mut, Gerechtigkeit, Geduld, Fleiß, Einfachheit und Bescheidenheit.“ (ebd. 2013, S. 27)

Wie oft tappen wir in die Falle der „Image-Ethik“, anstatt die Persönlichkeit strahlen zu lassen. Wie oft verbiegen wir uns, um anderen zu gefallen, weil wir dieses Muster verinnerlicht haben? Image aber ist ein Lack, unter dem das innere, das wahre Glück erstickt. Auch ich bin nur einer Idee hinterhergelaufen, die wie Erfolg aussah, und baute eine Fassade, die eigentlich nichts mit mir selbst zu tun hatte. Ich hatte mich verloren über die Jahre. Das schmerzte.

Auf dieser Bank in Hamburg überklebte ich den Schmerz nicht mit einem Pflaster. Ich ließ ihn zu, indem ich meine Gedanken genau darauf fokussierte und der inneren Stimme endlich wieder zuhörte: Ich hatte meinen Ehrgeiz, mein Talent und meine Fähigkeiten investiert, um etwas aus mir zu machen –war stattdessen aber wie zersplittert: außen der erfolgreiche Unternehmer, innen mehr ein kleines, hilfloses Kind. Das war der Moment, in dem ich realisierte: Erfolg im Außen ohne innere Erfüllung ist kein Reichtum, sondern Armut. Ich hatte nach einem Schlaraffenland gestrebt und drohte innerlich zu verhungern. Was war meine Motivation zu diesem Leben? Der Grundstein lag in der Kindheit, und es erfordert Mut, diesen wieder freizulegen und zu betrachten, denn niemals wieder sind Menschen so verletzbar wie in ihren ersten Lebensjahren.

In meiner Kindheit in den 1950er Jahren war in meiner Familie – anders als bei manchen Klassenkameraden – das Geld stets knapp. Wir sparten und verzichteten, andere schienen im Überfluss zu leben. Sie bauten sich ein Unternehmen auf, waren angesehene Geschäftsleute, sie strahlten für mich Sicherheit aus. So habe ich mir gemerkt: Wenn du dir ein Geschäft aufbaust, ist es wie im Schlaraffenland, alles ist immer ausreichend da. Man kann sich sinnbildlich unter die Bäume legen, den Mund öffnen und eine Frucht fällt hinein.

Gehirnforscher betonen: Was Kinder erleben, das bleibt nie ohne Wirkung. Denn in diesen ersten Lebensjahren formieren sich die Gehirnstrukturen, entsteht die neurobiologische Grundlage, auf der wir denken und handeln – es wächst die Sprache zwischen unseren Zellen, und tief darin wohnt unsere Seele. Vor diesem Hintergrund ist es eine logische Folge meiner Prägung, dass ich später immer wieder zu meiner Frau sagte: „Nur noch dieses eine Invest. Das brauchen wir. Dann sind wir durch.“ Waren wir nicht. Wir investierten weiter, immer hoffend, das Ende der Spirale sei erreicht. Diese Idee treibt viele scheinbar erfolgreiche Menschen, insbesondere die sogenannten Superstars. Sie hecheln den Auszeichnungen hinterher – einmal noch gewinnen, und dann ist die Karriere gesichert. Ein Trugschluss. Das Schlaraffenland gibt es nicht. Es ist ein Bild aus der Kindheit, ein Märchen zum Festklammern. Wer hofft, es werde Wirklichkeit, wird früher oder später desillusioniert. „There is no free lunch“, sagen die Amerikaner. Richtig. Nichts ist umsonst. Das Leben läuft nicht linear. Das Drehbuch sieht vielmehr Stolpern und Aufstehen, Enttäuschung und Freude vor und nicht die Sattheit unter Bäumen. Leben bedeutet: sich bewegen, sich anstrengen, Grenzen überwinden, sich spüren bis in die einzelnen Zellen hinein. Reichtum ist ein Gefühl – und kein Kontostand.

Wenn ich von Reichtum spreche, denke ich nicht nur an Vermögen, sondern an alles, was wir besitzen, was wir uns erarbeitet haben, und darüber hinaus an alles, was wir sind mit unseren Genen und Prägungen, mit unserer Persönlichkeit. Mit dieser Sichtweise erhält Reichtum einen dualen Charakter aus äußerlichen und innerlichen Werten. Die äußerlichen Merkmale sind messbar. Vom Einzelnen bis zur Gesellschaft. Ich denke an Titel, Ehrungen, Arbeitsergebnisse genauso wie an Häuser, Autos, Luxusgüter. Ich denke an die Summe aller geschriebenen Rechnungen in Unternehmen, an Produktvielfalt und Dienstleistungen und somit an das Bruttoinlandsprodukt, über das sich der gesellschaftliche Wohlstand definiert. Ich rede darüber hinaus von den Paradigmen eines gesellschaftlichen Glücks, die die Vereinten Nationen seit nunmehr 25 Jahren in ihrem „Report über die menschliche Entwicklung“ veröffentlichen. Dort fügen sich Bildung und die Aussicht auf ein langes Leben zum finanziellen Reichtum hinzu. Und in diesem Kontext spielt der Schutz unserer Erde, die intakte Umwelt, in der wir uns bewegen, eine immer wichtigere Rolle für das Wohlergehen. In Zeiten von Katastrophen und Krisen schält sich zudem ein Wert heraus, den wir im Alltag vergessen, der aber in schwierigen Zeiten überlebenswichtig sein kann: Resilienz.

Es ist ein Wort für eine innere Stärke, getragen von Disziplin und Demut. Es ist die Gabe, sich in Krisen wieder aufzurichten.Egal wie schwer die Umstände wiegen, egal wie hart Schicksalsschläge treffen. Resilienz befähigt einen Menschen, sich einen Satz zum Festhalten zu formen: „Was immer mir genommen wurde, welche materiellen Güter auch immer zerstört wurden, eines ist mir geblieben: das Leben. Ich kann mich weiterhin für meine Wünsche und für die Bedürfnisse der anderen einsetzen.“ Mit dieser Haltung wird Resilienz ein nationales, ein weltweites Anliegen, denn im Blick auf die Katastrophen in der Welt kann dieser eine Satz ungemeine Kräfte bündeln, um selbst den schlimmsten Auswirkungen die Stirn zu bieten. „Um die Bürger auf eine weniger risikoanfällige Zukunft vorzubereiten, muss die intrinsische Widerstandskraft der Gemeinwesen und Länder gestärkt werden“, heißt es im Vorwort des aktuellen Berichtes2, und ich füge aus Überzeugung hinzu: Diese Widerstandskraft beginnt beim Einzelnen, jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr – ein Leben lang.

Anders als in vielen Ländern dieser Erde muss in Deutschland niemand verhungern, unter der Brücke schlafen oder um medizinische Hilfe bangen, weil Rechtssicherheit, Gesundheits- und Sozialsysteme zu den politischen Grundlagen zählen. Auch wenn sie nicht optimal funktionieren: Es gibt sie! Niemand fällt durch ein Netz ins Bodenlose. In einem Land wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz können Menschen unter Hunderten Berufen wählen, können entscheiden, ob sie in einer hetero-, homo- oder bisexuellen Beziehung leben, ob sie angestellt oder selbständig arbeiten wollen, ob sie ein eigenes Unternehmen gründen oder aussteigen und nach Brandenburg, Bombay oder an den Baikalsee ziehen wollen. Alle Türen stehen offen. Jeder kann aus sich und seinem Leben machen, was er will. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Der Mythos ist allgegenwärtig, und diese Freiheit zählt zu den kostbarsten Geschenken.

Doch dieser ganze Reichtum an Möglichkeiten und Chancen führt merkwürdigerweise nicht zu mehr Lebensglück.Studien diverser Krankenkassen belegen, dass die Zahl der psychischen Leiden wächst, allen voran die Depression. Diese Ergebnisse nähren die Tatsache, dass über 67 Prozent der deutschen Arbeitnehmer Dienst nach Vorschrift leisten und dass 17 Prozent innerlich gekündigt haben. Bei diesen Zahlen fällt es schwer, von Wohlergehen und Erfüllung zu sprechen. Vielmehr drängen sich das innere Leid, die innere Zerrissenheit der Menschen in den Fokus. Das ist kein Paradies.

In den reichen Ländern der Erde definiert sich Armut anders. Wenn das Leben nach außen hin glatt, vielleicht sogar erfolgreich wirkt, die innere Zufriedenheit aber nicht fühlbar ist, dann ist das für mich die andere Seite der Armut. Dann bedeutet Armut nichts anderes, als „arm an Mut“ zu sein.

Mut bedeutet, an sich zu glauben. Sich zuzutrauen, anders zu sein, einen Weg abseits der Schienen zu finden. Ich war damals nicht mutig. Ich lief perfekt auf den von der Gesellschaft gelegten Schienen, studierte, arbeitete und stellte diesen Rhythmus nicht in Frage. Ich habe die Bank reich gemacht, gearbeitet für Vergängliches, und kompensierte doch nur die innere Leere. Aus diesem Dilemma entsteht wohl die Sehnsucht nach einem Schlaraffenland. Wir schaffen uns dieses Bild, um wenigstens die Hoffnung aufrechtzuerhalten, nicht am falschen Platz zu kämpfen. Bei Reichtum glauben wir, wir können uns diese Türe selbst öffnen. Bei Armut, mangelndem Mut, hoffen wir, dass andere diese Verantwortung für uns übernehmen. Im wahren Paradies aber leben wir in voller Eigenverantwortung. Der Sinn dafür entsteht in der Kindheit. Dort beginnt der innere Reichtum.

Von Kindesbeinen an

Wie wächst ein Kind auf? Nachdem es den ersten Schrei in diese Welt gebrüllt hat, wird es gemessen, gewogen, bewertet. Per Apgar-Score ermitteln die Mediziner nach der ersten, fünften und zehnten Lebensminute die Körperfunktionen. Die Note 10 ist die beste. Gut gemacht. Alle sind zufrieden. Was folgt, ist Programm: Die Mutter versorgt das Baby mit Nahrung. Wenn es stark genug ist, macht es die ersten Schritte. Wenn es den Drang verspürt, sich auszudrücken, sagt es die ersten Wörter. Kurz darauf sind Stuhl, Gras, Regenwurm, Treppe oder Stift und Zettel die große, weite Welt. Jeden Tag gibt es eine neue Entdeckung. Das kleine Kind darf tun, was Freude macht. Spielzeit. Das erste klimpert auf dem Xylophon, das zweite schraubt die Armaturen im Bad auseinander, und das dritte pantscht im Garten mit Wasser und Sand.

Mit sechs Jahren wird es ernst. Dem Kind wird ein Ranzen auf den Rücken geschnallt. Schulzeit. Auf dem Stundenplan stehen Lesen, Schreiben, Rechnen. Aber niemand fragt das Kind, ob es lesen, schreiben oder rechnen will. Wichtiger als der Wille ist die Note, sie spannt den Bogen von eins bis sechs, und damit wird das Kind wieder bewertet, damit erhält es ein Urteil zwischen Obolus oder Hausarrest.

Einige Jahre später stehen die großen Lebensfragen im Raum. Was tun, damit aus dem Kind was wird? Studium oder Ausbildung? Einzig die Bildung bestimmt die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, lautet die Maxime. Ein guter Schulabschluss ist das Mindeste. Alles unter Abitur ist zweite Wahl. Was der Jugendliche wirklich will, spielt bei der Zukunftsfrage keine Rolle mehr. Vergessen ist, was einst begeisterte: die Schrauben, das Xylophon, der Zettel und der Stift. Wenige nur erinnern sich an diese Kindesherrlichkeit, als sie sich diesen Dingen widmeten und dabei Zeit und Raum vergaßen, weil etwas entstand, das sie erfüllte – ein Flow der Seligkeit. Vorbei. Es geht um die nächste Weiche. Die andere stellen. „Folgen“ lautet die Devise. Das Leben ist kein Spiel. Oder doch? Glücklich ist, wer an dieser Stelle den ersten leisen Zweifel spürt. Die meisten aber hetzen ihn nieder. Es geht weiter, immer den Erwartungen der Eltern, der Schule, der Gesellschaft nach. Und so steht dann mit 20 Jahren ein junger Erwachsener da, dessen Ziel es ist, ein hervorragendes Examen hinzulegen. Summa cum laude für einen Wisch mit einem Stempel, für eine Berufsbezeichnung wie Jurist, Ingenieur oder Mediziner. Und die Familie applaudiert. Erst einmal. Rund zehn Jahre später wundern sich die Eltern aber, dass ihr Sohn, ihre Tochter in der Sinn- oder Identitätskrise steckt.

Diese Krisen haben ihren Ursprung darin, dass der Mensch früh in seiner Sozialisation durch Erziehung, Schule, Ausbildung oder Studium von seinem Weg abgekommen ist. Er hat äußerliche Erfolge gesammelt und Bewunderung erfahren – aber sein eigenes Naturell verraten. Die innere Armut kommt schleichend. Wenn der Applaus ertönt, dann ist die Entfernung vom eigenen Kern bereits groß. An diesen Kern zurückzugelangen ist umso schwieriger, je tiefer er begraben ist und je weiter die Erinnerung an ihn zurückliegt.

Ein mir bekannter Psychologe versucht bei seinem neunjährigen Sohn genau diesen Kern zu erhalten und ihn nicht mit seinen eigenen Wünschen und Erwartungen zu überdecken. Er ahnt: Der Sinn liegt in einem anderen Umgang mit Lob.

Wenn Daniel, sein Sohn, mit einer guten Schulnote nach Hause kommt, nickt er ihm freundlich zu. Mit überschwänglichem Lob aber hält er sich zurück. Kinder nähmen nicht nur die Freude der Eltern über die erbrachte Leistung wahr, betont der Psychologe. Sie denken nicht nur: „Oh, Papa freut sich über meine Zwei in Mathe.“ Sondern sie fürchten gleichzeitig: „Wenn ich keine Zwei in Mathe schreibe, dann hat Papa mich nicht mehr lieb.“ Sie leiten aus einem überschwänglichen Lob eine allgemeine Regel ab: „Bin ich gut in der Schule, dann haben meine Eltern mich lieb. Je besser ich in der Schule bin, desto lieber haben sie mich. Bin ich also schlecht in der Schule, ist die Liebe nicht sicher.“

Hintergrund dieser Selbstdisziplin meines Freundes ist also die Vorsicht, bei Daniel nicht die Verknüpfung von Leistung und Liebe entstehen zu lassen. So schaut er nach Gelegenheiten, wenn sein Sohn entspannt ist, nichts leistet, um dann zu ihm zu gehen und zu sagen: „Ich liebe dich.“ Das ist ein Geschenk. Liebe, gerade Elternliebe, soll bedingungslos sein. Der Autor und Gesellschaftsforscher John Demartini brachte diese Weisheit auf den Punkt: „Gleich was du getan oder nicht getan hast, du bist es wert, geliebt zu werden.“

Dass wir aufwachsen, ohne die Trennung zwischen Sein und Verhalten zu verinnerlichen, ist eines unserer Hauptprobleme im Leben. Daraus ergeben sich viele Fehlleitungen. Wie war es bei Ihnen zu Hause, gab es da auch solche Formulierungen wie „Du bist ein böser Junge“, „Du bist ein braves Kind“, „Du bist ein liebes Mädchen“ usw.? Wer hat schon in seiner Kindheit gehört: „Ich liebe dich und werde dich immer lieben, aber dein Verhalten, das ist nicht o.k.“? Auf diesem Wege kann der Kontakt zu unserem Inneren, zu unserem Kern verschlossen werden. Das belegt ein Versuch, den Wissenschaftler an der Harvard-Universität initiierten:

Sie teilten die Kinder in drei Gruppen ein.

Den Kindern der ersten Gruppe gaben die Wissenschaftler Malstifte und Papier mit den Worten: „Wer ein Bild malt, der erhält dafür eine Urkunde.“

Die zweite Gruppe erhielt Utensilien – und für das fertige Bild generell eine Urkunde.

Die dritte Gruppe erhielt lediglich Stift und Papier.

Alle Kinder malten.

Einige Wochen später wurden die gleichen Gruppen wieder zusammengebracht. Auf den Tischen lagen Stifte und Papier. Es gab keine Vorgaben, keine Versprechungen.

Wie verhielten sich die Kinder?

Die erste Gruppe malte nicht mehr. Die Kinder verbanden Malen mit Leistung, mit einer Urkunde für das Ergebnis – nicht mit innerer Freude. Sie dachten: „Ohne Urkunde male ich kein Bild.“

Die zweite Gruppe malte und hatte Spaß. Die Kinder waren auf die Urkunde nicht konditioniert.

In der dritten Gruppe malten die Kinder, einfach so, aus Freude, wie gehabt aus innerem Anlass. Nicht die Leistung, nicht die Urkunde waren die Motivation, sondern das Gespanntsein auf Farbe, Formen, auf das Bild, das entstand.

Es gibt viele ähnliche Versuche, auch in der Verhaltungsforschung für Erwachsene. Sie alle belegen, dass die Beziehung zur intrinsischen Motivation sich verliert, wenn der Leistungsaspekt leitet. Dieses Faktum scheint in der Unternehmenswelt noch nicht angekommen zu sein. Denn Manager operieren gerne mit Lob und Versprechen. Dahinter jedoch steht nicht die Anerkennung der Person, sondern das Fordern von Einsatz, von Leistung. Es geht um Profit, nicht um Persönlichkeit. Hier beginnt für mich die Manipulation, und es entsteht die Gefahr, dass Mitarbeiter innerlich leer werden.

Dieses Muster aus Lob für Leistung kennt nahezu jeder Mitarbeiter. Er erlebte es als Kind, als Jugendlicher, durch Eltern, Lehrer, Ausbilder. So kann es sein, dass dieses Kalkül der Manager dem Mitarbeiter eine Zeitlang ein Lächeln entlockt. Es mag sein, dass er sich anstrengt, einzig um den alten Glaubenssatz zu bestätigen, der da lautet: „Wenn ich fleißig bin und eine gute Leistung zeige, dann werde ich gelobt und geliebt.“ Aber Achtung: Selbst gutgemeinte Incentives treffen niemals den Kern der Motivation, auf Dauer führen sie zu Fehl- und Schlechtleistungen oder gar zu einer Verweigerung. Betrachten wir die Stürze in der Wirtschaft, so stellen wir fest: Profitdenken tötet jeglichen Unternehmenssinn. Die Folgen beeinflussen die Wirtschaft, die Gesellschaft und jeden Einzelnen. Sie enden in einem Lippenbekenntnis: „Ich bin das, was ich leiste.“ So entsteht eine Leistungsgesellschaft, manipuliert statt selbstmotiviert.

Sie erinnern sich an die Bankenkrise, die sich zur Weltwirtschaftskrise 2009 entwickelte? Diese Bankenkrise beruhte im Wesentlichen auf dem Hochschaukeln von Boni. So hat sich das Finanzwesen von der Realwirtschaft abgelöst. Denn im Denken der Banker gab es keine Werte mehr wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit und einen perspektivischen Blick auf Erfolg. Es gab nur noch den kleinsten Denkradius – und der drehte sich ums Hier und Jetzt, ums Geld.

Angst zu sterben

Zürich, Bankenviertel, 2010. Hinter den altehrwürdigen Fassaden geht es hektisch zu. Junge Typen in Armani-Anzügen rennen durch die Säulenhallen. Immer den Blick auf die Aktienindizes gerichtet. Die zucken wie Fieberkurven auf den Bildschirmen. Ein, zwei Punkte nach oben – und schon ein paar Millionen gewonnen. Das macht atemlos. Ein kurzes Zögern und: Peng! Plötzlich kracht die Kurve nach unten. Der Millionendeal ist geplatzt. So geht es weiter. Rauf, runter, rauf, runter. Nichts für schwache Nerven. Dann dreht der Kurs endgültig ins Minus. Jetzt steigt auch beim Händler die Nervosität. Am Ende des Tages die Bilanz: Millionenverlust. Das ist hart.

Mit dem Crash im Investmentbereich gab es viele verlorene Ichs. Die jungen Armani-Träger brachen zusammen, denn innerlich fehlte ihnen der Halt. Sie waren trainiert auf Leistung und Belohnung, nicht auf Resilienz. Da half oft nur noch eins: die schnelle Eingreiftruppe. Ein Team aus Psychologen eilte den Investmentbankern zu Hilfe, um Schlimmstes zu verhindern, damit sie in der Krise der Karriere nicht auch die persönliche riskierten. Diese Psychologen wussten: Der Hautwiderstand der Banker war dünn, wenn es um den eigenen Verlust ging. Selbst ein Bonus von fünf Millionen statt der erwarteten zehn konnte zum Drama werden. Denn es ging nicht um die Kaufkraft, sondern um die Frage nach dem Selbstwert: „Ich bin nicht mehr o.k., wenn ich nur die halbe Leistung bringe.“ Wenn der Applaus fehlt – ob bei Bankern oder Superstars –, dann bricht ein fiktives Ego in sich zusammen. Dieses Gefühl ist existentiell, es hat den Klang von Tod.

Auch ich kämpfte damals mit dieser Angst in mir, als ich ausstieg. Zu jener Zeit arbeitete ich nicht einfach als erfolgreicher Unternehmer und Rechtsanwalt, beschäftigte nicht 20 Mitarbeiter, besaß nicht einen großen Firmensitz an der Alster, fuhr nicht ein Luxusauto, speiste nicht in Sternerestaurants, lebte insgesamt nicht im Luxus. Nein, ich war all dies. Ich, Wolfgang Sonnenburg, war diese Fassade, spielte diese Rollen. Das alles aufzugeben, bedeutete zu sterben. Denn was blieb, war zunächst ein großes Nichts – und doch deutete sich etwas an, das ich als eine vage Hoffnung vernahm, es mag ein Hauch von Selbst-Vertrauen, Selbst-Bewusst-Sein, Selbst-Achtung gewesen ein. Rückblickend war es nicht mein Tod, sondern die Entscheidung zu leben.

Erinnern Sie sich an den Tod des deutschen Unternehmers und Milliardärs Wolfgang Merckle? Durch die Finanzkrise hatte auch sein Imperium Einbußen erlitten und er verzockte sich dann noch an der Börse. Dies bedeutete nicht den finanziellen Ruin, aber einen Imageverlust als erfolgreicher Unternehmer. Aus seiner Sicht mag die von ihm erbaute Fassade ihre Pracht verloren haben. Das rief Todesängste in ihm hervor, und er folgte leider einem tragischen Impuls: Er stürzte sich 2010, inmitten der Krise, vor den Zug. Aus Scham, aus einer Kurzschlusshandlung, aus der verlorenen Fähigkeit, einen Schritt zur Seite zu setzen und sich aus einer anderen Perspektive selbst zu beobachten.

In den Medien schlug sein Fall hohe Wellen, der Selbstmord war schwerlich nachvollziehbar. Für ihn waren diese erlittenen Finanz- und Imageverluste so schmerzhaft, dass er nicht erkannte: Egal wie ein Reichtum sich schmälert, egal wie die Fassade bröckelt, was am Ende geblieben wäre, wäre das Leben gewesen. Doch irgendwann hatte er sich, sein Wesen, verloren und verleugnet. Eine Trennung zwischen seinem Unternehmen und seiner Person gab es nicht mehr. Die Gefahr für sein Unternehmen war die Gefahr für sein Ego. Das Schlimmste an der Tragik: Alles war ein Irrtum, heute steht die von seinen Kindern übernommene Unternehmensgruppe erfolgreich da.


Lieber die ganze Welt gegen mich als meine Seele

Подняться наверх