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ZUSAMMENHALT: Die Schildkröte auf dem Skateboard
ОглавлениеEine alte, weise Schildkröte war auf dem Standstreifen einer befahrenen Landstraße unterwegs. Ihr Panzer war so zerkratzt wie eine alte Autostoßstange. Sie hatte einen langen Hals aus faltiger Haut und ihr Maul war zahnlos und eingefallen. Die Augen der Schildkröte sahen müde, aber gutmütig aus.
Vor kurzem hatte die Schildkröte ihre beiden Vorderbeine bei einem Unfall verloren. Nachdem alles wieder verheilt war, hatte sie jemand mit Gurten auf ein Skateboard geschnallt, damit sie sich trotzdem fortbewegen konnte. So stieß sich die Schildkröte mit ihren Hinterbeinen vom Asphalt ab und rollte auf diese Weise langsam vorwärts.
Doch sich fortzubewegen fiel ihr noch schwerer als zuvor. Jedes Steinchen auf der Straße zu überrollen war eine Kraftanstrengung. Und außerdem war sie sehr ausgehungert.
Seit Stunden hatte die alte Schildkröte nichts gefunden, was sie hätte essen können. Neben dem Standstreifen wuchs zwar Gras, aber ihr Maul war so alt und kraftlos, dass sie es nicht abbeißen konnte. „Jetzt geht es wohl zu Ende mit mir“, dachte die Schildkröte und blieb einfach stehen, während die Autos dicht an ihr vorbeirasten.
Da entdeckte sie in etwas Entfernung auf dem Standstreifen einen Vogel. Immer wieder flog der Vogel auf und ließ dabei etwas Glitzerndes aus seinem Schnabel auf die Straße fallen. Dann landete er und wiederholte den Vorgang. Die Schildkröte sammelte die letzten Kräfte und rollte auf den Vogel zu.
Als sie endlich nähergekommen war, sah sie, dass der Vogel offenbar einen guten Fund gemacht hatte: Um ihn herum lagen weit verstreut kleine Verpackungen aus silberner Plastikfolie.
Der Vogel war ein junger Wellensittich. Sein Köpfchen war schwarz-weiß gestreift, am Bauch hatte er türkise Federn. Als er die Schildkröte heranrollen hörte, flatterte der Wellensittich ängstlich auf ein Straßenschild.
Die Schildkröte sprach mit lahmer Zunge: „Hab... keine Angst... Ich nehme dir... nichts weg.“
„Die Verpackungen sind von einem Laster gefallen“, erklärte der Wellensittich und flog wieder nach unten. „Auf den Tüten sind Erdnüsse abgebildet. Ich versuche schon die ganze Zeit, eine zu öffnen. Aber sooft ich auch daran reiße, es gelingt mir nicht.“
„Vielleicht... schaffe ich es“, schnaufte die Schildkröte und nahm den Zipfel einer Verpackung ins Maul. Doch die Verpackung glitt immer wieder aus dem Maul, die Schildkröte konnte sie einfach nicht halten.
„Wir sind beide zu schwach“, stellte der Vogel traurig fest. „Mir fehlen die Finger – und dir leider auch. Dabei sehen die Erdnüsse so lecker aus!“
Die beiden schauten sich an und schwiegen dabei. Da lagen Leckereien in Hülle und Fülle vor ihnen, doch sie kamen nicht an sie heran.
Doch dann kam der alten Schildkröte eine Idee: Langsam fuhr sie mit einer ihrer Skateboardrollen über eine Erdnusstüte. Die Luft darin staute sich, bis die Verpackung durch den Überdruck aufplatzte und unzählige goldbraune Nüsse über den Asphalt kullerten.
Als der Wellensittich das sah, hüpfte er vor Freude von einem Bein auf das andere. Die Schildkröte lächelte müde und öffnete mit ihren Rollen alle Verpackungen, bis ein wahres Festmahl vor ihnen lag.
Während der Vogel hastig nach den Erdnüssen hackte, versuchte auch die Schildkröte, einige Nüsse vom Asphalt zu fressen. Aber so sehr sie sich auch bemühte – die Nüsse sprangen immer wieder von ihrem zahnlosen Maul weg. Sogar wenn sie ganz langsam mit der Zunge versuchte, eine Nuss aufzulecken, kullerte diese davon.
Als der Wellensittich bemerkte, wie die Schildkröte sich vergeblich bemühte, flatterte er an ihre Seite. Rasch pickte er eine Nuss auf und legte sie der Schildkröte behutsam ins Maul.
Auf diese Weise fütterte der Vogel die Schildkröte, bis auch sie so satt war, wie schon lange nicht mehr.
Als sie den Wellensittich dankbar aus ihren müden Augen anblickte, sagte dieser: „Du hilfst mir und ich helfe dir! Das ist doch selbstverständlich.“
Nachdem sie zusammen die letzte Erdnuss verspeist hatten, fühlten sich beide gestärkt. Der Wellensittich hüpfte auf den Panzer der Schildkröte und dachte darüber nach, wie schön es war, dass sie sich getroffen hatten. Alleine hätte schließlich keiner von beiden die Erdnusstüten öffnen können.
„Weißt du, wir sind zwar nicht perfekt, aber wenn wir uns zusammentun, können wir trotzdem so einiges schaffen“, murmelte der Wellensittich zufrieden.
„Freunde?“, fragte die Schildkröte. „Freunde!“, bejahte der Wellensittich, und gemeinsam rollten sie auf dem Skateboard in die Ferne.