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Ich lasse mich treiben, in einem Meer aus tausend Farben und Gerüchen, umgeben von unzähligen Gesichtern, umschlungen von Geräuschen und Musik. Wäre ich ein Maler, schüfe ich Symbiosen aus Surrealismus und Impressionismus. Farben flössen ineinander, so wie meine Sinne verschmelzen und ich nicht mehr in jedem Augenblick zu erkennen und unterscheiden vermag, was um mich herum geschieht. Manchmal meine ich, Gesichter zu sehen, denen ich früher schon einmal begegnet bin, höre Rhythmen und Melodien, die vertraut und fremd zugleich sind, und atme Düfte ein: abstoßend, anziehend, verführend. Wie ein Tier schnuppere ich in die Luft, lausche und lasse mich immer tiefer in das Fremde hineinziehen.

Seit gestern bin ich in Marrakesch. Die alte Königsstadt empfing mich mit einer schier unglaublichen Hitze, die mich die Gangway hinunterstolpern ließ. Es folgte eine nicht enden wollende Passkontrolle, bei der mir der Schweiß in Strömen die Schläfen hinab lief. Dann endlich war ich im Exil angekommen.

Der Mann am Wechselschalter staunte nicht schlecht über das Bündel Scheine, das ich ihm durch die Sicherheitsschleuse schob. Ich hatte so viel Geld wie möglich mitgenommen, denn aus guten Gründen erschien es mir nicht ratsam, meine Kreditkarte zu benutzen. Den noch gewaltigeren Packen an Scheinen, den ich zurückbekam, verteilte ich auf Rucksack und Hosentaschen. Verstohlen blicke ich mich nach allen Seiten um, ob mich jemand dabei beobachtet hatte. Aber alle anderen Reisenden schienen nur mit sich selbst beschäftigt zu sein.

Durch das schmutzige Fenster des klappernden und quietschenden Taxis suchte ich vergeblich nach orientalischer Märchenpracht. Die Stadt sah nicht wie ein Eldorado für Aussteiger, sondern wie jede moderne Großstadt irgendwo auf der Welt - fern all der Bilder, die ich aus den Reiseführern kannte.

Jetzt stehe ich auf dem Djemaa el Fna, dem Platz der Gaukler. Langsam versinkt die Sonne hinter den Minaretten und Häuserdächern und langsam weicht auch die Hitze. Immer mehr Menschen strömen auf den Platz, hungrig, lachend und feixend.

Die Menge reißt mich mit, ziellos wandere ich über den Platz, bleibe schon bald fasziniert an der Auslage eines fahrenden Dentisten stehen. Auf Arabisch und Französisch preist ein handgeschriebenes Schild seine Fähigkeit an, jeden Zahnschmerz zu beseitigen. Zangen in verschiedenen Größen, ausgebreitet auf einem niedrigen Tisch, geben seine brachiale Therapie überdeutlich kund; ich fröstele ein wenig. Unbewusst lasse ich die Zunge über meine Zähne gleiten und vergewissere mich, alle noch schmerzfrei beisammen zu haben.

Kopfschüttelnd setze ich meinen Weg fort, um wenige Meter später erneut stehen zu bleiben. Zuerst kann ich nicht erkennen, warum sich die vielen Neugierigen versammelt haben. Ich recke den Hals über die Schultern der vor mir Stehenden hinweg und dann sehe ich sie: die Schlangenbeschwörer. Ein unsichtbarer Magnet zieht mich weiter nach vorne. Ich zwänge mich zwischen anderen hindurch. Zwei Schritte nur, und doch zwei zu viel, denn mit ihnen überschreite ich eine undefinierte, und einem Fremden wie mir unbekannte Grenze.

Plötzlich steht einer der schmuddeligen, bärtigen Männer so dicht neben mir, dass ich seinen sauren Schweiß riechen kann. Mit einer flinken Bewegung versucht er, mir die gelblich-grüne Schlange, die er eben noch selbst um den Hals getragen hat, über die Schultern zu legen. Erschrocken weiche ich zurück, er setzt mir nach und mir bleibt nur die Flucht, welche abrupt endet.

Aus voller Wucht des beginnenden Laufs pralle ich auf einen Mann, der hinter mir steht und sich wie ein Fels in der Brandung keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Unbeeindruckt zieht er an einer Zigarette.

„Sorry“, stammle ich.

Er grinst aus einem blonden Vollbart heraus, bläst einen leicht süßlich riechenden Rauch aus dem Mund und sieht mich mit dunklen, neugierigen Augen an, die nicht recht zum Rest seiner Gestalt passen wollen. Sein dichtes, blondes und nur von wenigen grauen Strähnen durchzogenes Haar fällt ihm fast bis auf die Schultern. Die gebräunte Haut ist von Sonne und Wind gegerbt. Über einer weißen, weit geschnittenen Leinenhose trägt er ein ebenso weißes Hemd, die Füße stecken in Sandalen, die unverkennbar nicht aus Massenproduktion stammen.

„Das erste Mal in Marrakesch?“

Ich nicke schüchtern, wohl wissend, einen typischen Anfängerfehler gemacht zu haben, was der Blonde mit einem amüsierten und zugleich entschuldigenden Lächeln beantwortet.

„Hast du gut gemacht. Lieber weglaufen. Ich sage immer: Schlange um den Hals, Beschwörer am Hals.“

Er lacht und nimmt erneut einen Zug. Mir fällt ein massiver Silberring an der rechten Hand auf: eine gewundene Schlange, deren Augen von zwei grün funkelnden Steinen gebildet werden.

Er sieht meinen fragenden Blick. „Normalerweise bekommen die Kerle zehn Dirham für ein Foto“, erklärt er. „Aber wenn sie dir das Vieh umgehängt haben, wollen sie natürlich viel mehr und sind sogar mit fünfzig nicht zufrieden.“

Wieder nicke ich nur.

Er muss mich für einen Idioten halten, wie da vor ihm stehe mit hängenden Schultern und unsicherem Blick. Und tatsächlich mustert er mich abschätzig.

„Gestern angekommen“, sagt er nur.

Eine Feststellung, keine Frage. Im letzten Moment, gerade als ich meinen Kopf wieder zu einem dümmlichen Nicken nach vorne klappen will, presse ich ein „ja“ heraus. Gleichzeitig frage ich mich, woher er das wissen kann. Ich glaube nicht, dass er im gleichen Hotel wohnt wie ich.

Beim Gedanken an die Luxusunterkunft, die ich mir eigentlich nicht leisten kann, überkommt mich eine leichte Übelkeit, was aber genauso gut an der schier unerträglichen Hitze liegen könnte.

Der Blonde lacht jetzt aus vollem Hals und legt mir eine Hand auf die Schulter. Erstaunlich kräftig dreht er mich unvermittelt in Richtung der Schlangenbeschwörer, die mich sofort wieder ins Visier nehmen. Ich bekomme einen Stoß und taumle vorwärts, direkt auf einen kleinen Araber mit strubbeligem Bart zu. Er trägt eine schwarze, gefährlich aussehende Natter in den Händen, fixiert mich kurz, hebt die Arme und hält mir das Tier entgegen. Das Reptil züngelt, als es mich wahrnimmt. Ich spüre, wie Panik in mir aufsteigt, gepaart mit dem Impuls, davonzulaufen. Schweiß rinnt mir in kleinen Bächen die Schläfen hinab.

Vor mir die Schlange, hinter mir der Blonde, von dem ich fürchte, er würde mich wieder zurückstoßen. Verzweifelt überlege ich, was zu tun ist, aber schon sehe ich der Schlange in die Augen.

Schlangen sind Kaltblüter, sie empfinden keine Gefühle, sage ich mir selbst. Und doch ist da ein böses, zynisches Blitzen in den kleinen schwarzen Augen der Bestie.

Dann geschieht etwas Seltsames. Eine Stimme, die der meinen täuschend ähnelt, aber viel energischer klingt, ruft: „No! Stop!“.

Verdutzt hält der Schlangenmann in seiner Bewegung inne, seine dunklen Augen verengen sich für einen kurzen Moment, bevor er in ein kehliges Lachen ausbricht und auf Arabisch etwas zu mir sagt, das in meinen Ohren abfällig klingt. Dann wendet er sich neuen Opfern zu, einer Familie, die ebenfalls aus zu großer Neugier die imaginäre Grenze zum Revier der Schlangenbeschwörer überschritten hat.

Ich atme durch und bemerke erst jetzt, dass meine rechte Hand erhoben ist. Schnell lasse ich sie sinken und befürchte, eine Geste gemacht zu haben, die man hier besser nicht machen sollte.

Hilfesuchend drehe ich mich zu dem Blonden um, doch der Platz, an dem er gestanden hat, ist leer, wenn man das von irgendeiner Stelle des Djemaa el Fna überhaupt behaupten kann. Ich sehe mich nach rechts und links um, sehe Touristen mit weißer Haut, großen Kameras und geschmacklos bunt zusammengestellter Bekleidung, sehe mit Niqab verschleierte Frauen und Männer mit Bärten, afrikanische Händler, anmutige, elegante Marokkanerinnen mit raffiniertem Make-up, das ihre orientalische Schönheit noch hervorhebt, sehe umherstreifendes Volk aller Couleur. Aber einen blonden Mann in weißem Hemd und weißer Hose kann ich nirgends erblicken.

Irritiert setze ich meinen Weg fort. Verlockender Duft gebratenen Fleisches weht von den Garküchen herüber und wird von meinem Magen mit einem fordernden Knurren kommentiert. Geradewegs steure ich die weiße Dunstwolke an, die über den vielen dicht an dicht stehenden Essensständen wabert. Aufkommende Zweifel, ob mein europäischer Magen die dargebotenen Genüsse vertragen wird, wischt jener Bereich des Gehirns einfach beiseite, der für die Bedürfnisbefriedigung zuständig ist.

Aber ich komme gar nicht bis zu den Garküchen. Wieder erregt eine Menschentraube meine Aufmerksamkeit. In ihrer Mitte springt ein etwa siebzigjähriger Mann wild herum und ruft den Zuschauern etwas zu, ohne viel Reaktion hervorzurufen. Das macht ihn noch wütender, er scheint die Menschen um ihn herum zu beschimpfen, bleibt dann abrupt stehen, hebt die Arme gen Himmel und ruft mit einer gespielten Mischung aus Verzweiflung und Wut: „Allah u akhbar!“

Gelächter folgt.

Die Szenerie zieht mich magisch an. Ich möchte wissen, was als nächstes passiert und stelle mich zu den anderen.

Der Alte setzt ein Stirnband auf, an das zwei schmutzige Sohlen von einst weißen Badelatschen geklebt sind. Ich runzle die Stirn, kann mir keinen Reim auf diese Aufmachung machen, bis ich verstehe: Hier tanzt ein arabischer Eulenspiegel und erzählt seine Geschichten.

Ich lache, auch wenn ich seine Worte nicht verstehe. Der Alte läuft immer wilder im Kreis herum, schreit und fuchtelt ekstatisch mit den Armen, als ob er sich in Trance versetzen wollte. Doch dann bleibt er so überraschend stehen, dass man fast hören kann, wie die Umstehenden den Atem anhalten und mit Spannung erwarten, was geschehen wird.

Der alte Gaukler steht wie angewurzelt inmitten des Kreises seiner Zuschauer. Wie ein Pfeil von der Sehne schießt plötzlich sein rechter Arm nach vorne – und zeigt geradewegs auf mich! Ich erschrecke, grinse verlegen und blicke mich um, denn sicher ist ein anderer gemeint. Doch alle Umstehenden starren mich mit offenen Augen an.

Als ich mich wieder dem Alten zuwende, begegnen sich unsere Blicke. Seine Augen funkeln bösartig, dann beginnt er zu schreien. Er schreit mich an, während sein Arm weiter starr auf mich gerichtet ist. Anklagend.

Habe ich schon wieder einen Fehler gemacht? Ich bin mir zwar keiner Schuld bewusst, aber meine Verlegenheit weicht der Angst. Die Menschen neben und hinter mir bedrängen mich. Oder glaube ich das nur? Ich schwitze und friere zugleich, bekomme Platzangst und mein Brustkorb droht aufzuplatzen.

Ich will mich umdrehen, weglaufen, aber ich bin unfähig, mich zu bewegen.

Wie im Fieber sehe ich mir gegenüber in der Menge den Blonden. Er lacht. Dieses Lachen beruhigt mich wie ein Kind, das von der Mutter getröstet wird. Mechanisch bewegen sich meine Arme. Ich krame in den Taschen meiner Jeans, finde einige Münzen, und werfe sie dem schreienden Alten vor die Füße, der augenblicklich verstummt. Er senkt den Arm in Zeitlupe und bückt sich nach dem Geld. Ich weiß nicht, wie viel es war, aber er scheint zufrieden, nimmt seine tanzenden Bewegungen wieder auf und wendet sich dem Rest des Publikums zu.

Eine Stimme neben mit flüstert: „Komm, es wird Zeit“. Mechanisch drehe ich mich um und verlasse den Ring der Zuschauer.

Nacht über Marrakesch

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