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Zur Kritik der Medienethik*
ОглавлениеWas ist Medienethik? Die Verwendung des Begriffs »Ethik« ist mehrdeutig. Häufig ist von »Medienethik« die Rede, wenn es um die »Moral« der Massenmedien geht: also darum, was dort als üblich, sittlich geboten und erwünscht gilt – oder als illegitim, verachtenswert und empörend. Dies entspricht der Rede von der »Wirtschaftsethik«, verstanden als Arbeitsmoral – als Werte und Handlungsnormen, die man in der ökonomischen Welt für rechtschaffen und erstrebenswert hält. Zugleich bezeichnet der Begriff »Medienethik« aber auch die wissenschaftliche Untersuchung der Moral, die dem Betrieb der Massenmedien inhärent ist. Die äquivoke Verwendung von »Medienethik« entspricht der Unterscheidung zwischen »Moral« und »Ethik«. »Moral« ist ein Sammelbegriff für die Überzeugungen der Einzelnen, was gut oder gerechtfertigt ist, sowie für die Sitten in einer Gemeinschaft.1 Unter »Ethik« wird hingegen die »Reflexionstheorie der Moral«2 verstanden. Allerdings nicht, wie Luhmann meinte, im Sinne einer Theorie, die rein deskriptiv verfährt, ihren Gegenstand bloß wie ein Spiegel reflektiert und keine begründete normativ-kritische Stellung dazu einnehmen kann. Luhmanns Definition ist falsch, weil sie unterstellt, dass sinnvollerweise nur deskriptive Ethiken formuliert werden könnten und weil sie die Möglichkeit normativer Moralphilosophie leugnet. Arbeitet man jedoch mit einem anderen Begriff der Reflexion als Luhmann, nämlich mit einem philosophischen, kann »Reflexionstheorie der Moral« als Synonym für »Moralphilosophie« verwendet werden. Als Terminus ist »Ethik« dann gleichbedeutend mit »Moralphilosophie«.
Philosophische Ethik fragt, wie Moralprinzipien begründet werden, ob die Begründungen stichhaltig sind und welche moralischen Überzeugungen gerechtfertigt werden können. Wenn es um »Medienethik« im Sinne der Berufs- und Standesethiken geht, wie zum Beispiel im Ethik-Kodex des Deutschen Presserates,3 sollte man deshalb lieber von »Medienmoral« sprechen. Wenn im Folgenden von »Medienethik« die Rede ist, sind moralphilosophische Analysen von Wertorientierungen und Handlungsnormen bei der Produktion, Distribution und Rezeption von Massenmedien gemeint. Dies folgt dem Sprachgebrauch in Philosophie und Medienwissenschaft. Unter Medienethik versteht man dort die »wissenschaftliche Beschäftigung mit der vorhandenen Medienmoral und Kommunikationskultur«4. Einen ausgearbeiteten philosophischen Begriff des Mediums findet man in den Entwürfen der Medienethik in der Regel allerdings nicht. Ein »Medium« ist dort sozusagen die Einzahl von »Medien«, und dieses Wort wiederum wird im Sinne der journalistischen Rede von »den Massenmedien« verwendet (Presse, Radio, Fernsehen und Internet). Als deskriptive Ethik fragt Medienethik, was in der dort gängigen »Medienpraxis« als moralisch gerechtfertigt gilt. Als normative Ethik bewertet sie die Medienpraxis und fragt, welche Werte und Normen hier vernünftigerweise gelten sollten.
Mir geht es nicht um die Darstellung aller Positionen, die gegenwärtig in der Medienethik vertreten werden, sondern um den Versuch, ihre Grundlagen zu skizzieren. Für diese ist es zunächst von elementarer Bedeutung, ob es ihren Vertretern zu zeigen gelingt, dass es überhaupt einer eigenen, bereichsspezifischen Teil-Ethik für mediale Produktion, Distribution, Konsumtion und Applikation bedarf. Werden die hier relevanten moralischen Kriterien nicht bereits in zureichendem Maße von der allgemeinen Ethik reflektiert? Hier scheiden sich die Geister. Im medienethischen Diskurs wird immer wieder auf die Besonderheiten hingewiesen, welche die neuen Kommunikations- und Kulturtechniken mit sich bringen, und zwar unter dem Aspekt der speziellen Verantwortlichkeit, die es in der Herstellung und im Umgang mit Medienprodukten zu beachten gelte.
Eike Bohlken hat vor mehr als zehn Jahren argumentiert, dass die Begründung einer Teilethik für den Medienbereich auf der Basis des Verantwortungsbegriffs nur im Hinblick auf die Medienmacher erfolgen könne, und nicht im Hinblick auf die Nutzer.5 Zwei sehr verbreitete, intuitiv einleuchtend wirkende Argumentationsweisen seien gerade nicht dazu tauglich, eine Verantwortungsethik des Mediengebrauchs zu begründen: der Verweis auf die Informationspflicht der Bürger und die moralische Bewertung medialer Inhalte sowie des Umgangs mit ihnen. Denn die Pflicht, sich angesichts von Handlungsentscheidungen, die stets auch andere und häufig das Gemeinwesen betreffen, sachkundig zu machen, um verantwortungsvoll handeln zu können, lasse sich aus allgemeinen ethischen Grundsätzen ableiten. Und ebenso reichten allgemeine Moralprinzipien völlig aus, um beispielsweise den Konsum menschenverachtender Medieninhalte und -formen negativ zu bewerten und mit guten Gründen zurückzuweisen. Nach Bohlken ist einzig und allein im Hinblick auf die Medienproduzenten von einer spezifischen Verantwortung auszugehen, deren Art und Umfang im Rahmen einer Medienethik auszuarbeiten sei. Denn im Verhältnis von Medienproduzenten und Medienrezipienten fehle jene strukturelle Symmetrie, welche für »die basale Anerkennung des anderen als moralisches Subjekt bzw. als Verantwortungsinstanz«6 vorauszusetzen sei. Wenn moralische Verantwortung verpflichtenden Charakter habe, dann deshalb, weil sie aus der wechselseitigen Verwiesenheit von sozialen Akteuren aufeinander erwachse. Diese allgemeinethische Norm müsse aufgrund der »Asymmetrie der zumeist einwegigen massenmedialen Kommunikation«7 durch bereichsspezifische Anwendungsnormen ergänzt werden. Dann lasse sich postulieren, dass Medienmacher dazu verpflichtet sind, Mediennutzer als moralische Subjekte anzuerkennen.
So weit, so gut – aber muss es nicht auch Begründungen geben, die über den formalen Verweis auf die Unerlässlichkeit wechselseitiger Anerkennung hinausgehen und der Begründung einer Medienethik als Verantwortungsethik inhaltliches Gewicht geben? Im Folgenden werde ich mich, um den entsprechenden Begründungsansatz nachzuzeichnen, hauptsächlich auf den Medienethiker Rüdiger Funiok beziehen. Funiok geht es weniger um ein eigenes medienethisches Argumentationsmodell, als um einen konsensfähigen Extrakt aus der Debatte der letzten zwei Jahrzehnte;8 seine Schriften genießen Anerkennung unter Fachleuten, und seine Arbeit wird auch in der Medienöffentlichkeit wahrgenommen.
Maßstab ist für Funiok und andere »das Gelingen medienvermittelter demokratischer Kommunikation«9, durch die Öffentlichkeit entsteht: eine Sphäre für die Selbstvergewisserung mündiger Menschen über ihre Lebensformen und -inhalte. »In den modernen Massendemokratien«, resümiert Funiok die Sozialgeschichte der Medien,
»ist der Willensbildungsprozess auf die Vermittlung von (repräsentativen) Meinungskundgaben in Zeitungen, später auch im Radio und Fernsehen angewiesen. Die Herstellung von Öffentlichkeit für Themen von allgemeinem Interesse und die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität stellen seither eine grundlegende Funktion der Medien dar.«10
Medien haben demnach den »gesellschaftliche[n] Auftrag […] demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen und zu fördern«11, damit die gegenwärtige »Mediengesellschaft« eine »demokratische Wissensgesellschaft bleiben oder werden«12 könne. Adressaten der Medienethik sind Personen und Institutionen, die Medien produzieren und verbreiten. Postuliert wird ein Bewusstsein der Verpflichtung zum verantwortlichen Handeln, das Funiok (mit Bernhard Debatin) eine »innere Steuerungsressource«13 nennt. Wenn diese, oder, in traditioneller Terminologie: wenn das Pflichtbewusstsein fehlt, ist das Rechtssystem mit seinen Verboten zuständig. Aber nicht allein das Konzept der Pflicht schaffe Handlungslegitimation, sondern vor allem das der Verantwortung.14 Grundlage der Bewertung ist in der Medienethik also nicht mehr die individualethische Frage, ob »aus Pflicht« gehandelt worden sei, sondern die sozialethische, ob sich jemand für sein Handeln im Hinblick auf legitime Ansprüche anderer verantworten könne. Jeder Medienakteur solle »über die Güte seines Handelns verantwortlich entscheiden«15, heißt es im Handbuch Medienethik aus dem Jahre 2010.
Das Konzept »Verantwortung« stammt bekanntlich aus dem Rechtssystem und hängt mit dem Haftbarmachen eines Täters zusammen. In der Ethik, die es seit geraumer Zeit adoptiert hat, versteht man unter Verantwortung eine »sozialethische Verpflichtung«16, die mit Max Weber17 wie folgt definiert wird: Jeder Akteur muss für die voraussehbaren Folgen des eigenen Handelns aufkommen können. Verantwortung ist im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte allmählich zu einem »Schlüsselbegriff des modernen Lebens geworden«, wie Hans-Ernst Schiller resümiert: »Verantwortung heißt […] Antwort zu geben auf die Anklage, dass man etwas getan hat, was religiösen und moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen widerspricht.«18
Die Medienethik arbeitet dabei nicht mit dem dramatisierten Verantwortungsbegriff von Hans Jonas, der seine Ethik mit dem Verweis auf die »exzessive[…] Größe unserer Macht« begründet hatte. Zwiespältige Errungenschaften wie Atomkraft oder Gentechnologie hätten irreversible Folgen, und daher forderte Jonas »eine neue Art von Demut«19: Wir sollten von Neuem »Ehrfurcht und Schaudern«20 lernen, um uns »vor den Irrwegen unserer Macht [zu] schützen« und »das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit«21 zu fördern. Für Jonas hieß das: Im nachreligiösen Zeitalter von Wissenschaft und Technik sollte »die Kategorie des Heiligen«22 wieder hergestellt werden: Wir sollten handeln, als ob die Natur ein Heiligtum wäre, vor dem wir uns zu verantworten haben. – Eine höchst zwiespältige Strategie: Das Heilige ist kulturgeschichtlich stets mit Gewalt verbunden und, wenn es authentisch empfunden und nicht bloß künstlich heraufbeschworen wird, mit Angstgefühlen besetzt. »Ehrfurcht und Schaudern« löst das Heilige nur aus, wenn es nicht begriffen wird. Dies ist keine gute Basis für freies, vernunftbestimmtes Handeln – das Heilige als moralische Kategorie passt eher in eine autoritäre Ethik, die das Handeln heteronomen Vorschriften unterwirft, anstatt Wege zu zeigen, wie man zu autonomen Entscheidungen kommt und lernt, »die Verantwortung für sich selbst«23 zu übernehmen.
Zurück zur Medienethik. – Funiok empfiehlt mit Blick auf den neueren philosophischen Verantwortungsdiskurs, die Frage entsprechend zu differenzieren: Wer trägt Verantwortung? Was muss verantwortet werden? Was sind die Folgen, wofür trägt der Handelnde Verantwortung? Wer sind die Betroffenen, wem gegenüber trägt er Verantwortung? Wovor muss er sich verantworten, oder: Welche Instanzen sind zuständig? Das Gewissen, die Öffentlichkeit? Weswegen muss sich der Handelnde verantworten, was sind jeweils die Kriterien, Normen und Werte?24
Bei aller Diversität der einzelnen Positionen steht für die Vertreter der Medienethik eines außer Frage: Der oberste Wert, aus dem heraus der Verantwortungsbegriff seinen spezifischen Sinn erhält, ist die demokratische Öffentlichkeit. Sie ist der Wert schlechthin, die letzte Instanz normativer Orientierung und Kritik. Das halte ich für problematisch. Doch bevor ich ausführe, inwiefern, soll das Konzept der Verantwortung noch etwas genauer betrachtet werden.
In den Massenmedien, sagen die meisten Medienethiker, ist es nicht immer leicht, einzelne Akteure mit Verantwortung zu benennen. Herstellung, Verteilung und Nutzung sind arbeitsteilig und unübersichtlich. Wenn man zunächst bei der Herstellung und Distribution bleibt, stelle sich die Frage, wem ein Medien-Angebot letztlich zuzurechnen ist. Den Journalisten, die Nachrichten und Berichte verfassen? Den Drehbuchautoren und Regisseuren im Bereich der Unterhaltung? Oder den Mitarbeitern einer Werbe- oder PR-Agentur? Und gibt es nicht auch die »strukturellen Akteure« im Mediensystem, also Sender, Verlage, Firmen und Konzerne? Um all dies zu berücksichtigen, unterscheiden Medienethiker analytisch zwischen individueller und korporativer Verantwortung; und sie legen Wert darauf, auch das Problem der »geteilten Verantwortung« zu beachten.25
Das kann man sich anhand von drei Beispielen klarmachen. Ein Fernsehsender verlangt von Mitarbeitern reißerische Berichterstattung, um die Zuschauerquote zu heben, und dies hat zur Folge, dass ein Journalist unseriös mit den Informationsquellen umgeht und die Zuschauer manipuliert. Dies ist insofern ethisch problematisch, als er damit gegen die Verpflichtung verstößt, bei der demokratischen Urteilsbildung zu helfen. Oder nehmen wir an, der Fernsehsender will sensationelle, moralisch bedenkliche Unterhaltung bringen; sein ökonomisches Ziel ist die Erhaltung von Marktmacht, Unternehmensgewinn und Arbeitsplätzen, und das Mittel dazu ist Aufmerksamkeit. Wenn daraufhin ein Bild von der Welt produziert wird, das gegen das verbreitete moralische Empfinden verstößt, weil es menschenverachtend und frauenfeindlich ist, Gewalt verherrlicht und die Weltsicht der Zuschauer, besonders der jugendlichen, negativ beeinflusst, ist das ebenfalls ethisch problematisch. Es hindert Menschen daran, andere in ihrer Andersheit zu respektieren und friedliche Konfliktlösungen anzustreben. Drittes Beispiel: das Foto des verletzten und gedemütigten Jan Philipp Reemtsma, das seine Entführer im Kellerverlies aufgenommen hatten. Es wurde gegen seinen ausdrücklichen Willen in einer Boulevardzeitung veröffentlicht. Das Interesse des Publikums an schauerlichen Details stand gegen den Wunsch des Opfers eines Verbrechens, seine Privatsphäre zu schützen und selbst zu bestimmen, welche Bilder die Öffentlichkeit von ihm kennt.26
In allen Beispielen wird man weder das Unternehmen, dem der Sender oder das Blatt gehört, noch die angestellten Macher von Verantwortung freisprechen können; ganz zu schweigen von den Ermittlungsbeamten, die sich bestechen ließen und das Foto herausgaben. Aber ihre Verantwortlichkeit liegt offenbar auf unterschiedlichen Ebenen. Die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit eines »Großakteurs« unterscheidet sich erheblich von der, die »Kleinakteure« besitzen, und ihre Macht ist, aufgrund unterschiedlicher Reichweite, nicht gleich groß.
Berufsethische Instanzen wie der Ethikkodex des Deutschen Presserats setzen meist individualethisch an und fokussieren die korrekte Gesinnung der Einzelnen in Relation zu ihrer Ausbildung, Berufserfahrung usw. Der Ethikkodex des Deutschen Presserats sieht in der »Pflicht, im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen Gesetze das Ansehen der Presse zu wahren«, die vornehmste Aufgabe einer »Berufsethik der Presse«27. Aber das geschieht in einem strikt individualethischen Rahmen. Das Ergebnis sind aus der Sicht von Rüdiger Funiok unzureichende ›individualethische Verantwortungsappelle‹. Sie müssten durch eine sozialethische Perspektive erweitert werden. Denn soviel ist Funiok klar: »Bedingungen und Entscheidungsspielraum der Einzelakteure« sind »entscheidend vom strukturellen und organisatorischen Kontext bestimmt«28.
Aber auch die Verantwortung des Publikums der traditionellen Massenmedien ist aus Sicht einiger Medienethiker ebenso wenig als Individual-Verantwortung zu verstehen wie die Verantwortung der Nutzer der neuen online-Medien. Mediennutzung erfolgt ja stets »in einem sozialen Kontext«29: Familie, die Gruppe der Gleichaltrigen, Schule, Hochschule usw. Alle, die mit der Herstellung, Verbreitung und Nutzung von Medien zu tun haben, tragen daher Verantwortung: Journalisten, Rundfunk- und Fernsehleute, Mitarbeiter der Werbe- und PR-Branche, Kommunikationsgestalter – auch im Webdesign –, Berufsverbände, Unternehmen, Konzerne – also die »Besitzer und Betreiber von Massenmedien«30 –, ebenso wie das Publikum und alle einzelnen Nutzer. (Bohlkens oben referierte Ansicht, nur den Produzenten könne Verantwortlichkeit zugeschrieben werden, wird von den meisten Medienethikern nicht geteilt.) Und auch die sozialen Instanzen, die für die Rahmung und Kritik der Medien zuständig sind, nämlich (in erster Linie) Gesetzgeber und eben die vielbeschworene Öffentlichkeit, sind Funiok zufolge Verantwortungsträger; zumal dann, wenn sie als »Leserräte«, als »Media-Watch-Initiativen«31 oder als Ethik-Kommissionen institutionalisiert sind. Ob es um gesetzliche Kontrolle geht, um freiwillige Selbstkontrolle der Medienmacher oder um ein medienkritisches öffentliches Bewusstsein der Mediennutzer: Immer müsse das Ziel eine weitgehende »korporative Selbstverpflichtung«32 sein. Diese soll, wie gesagt, in sozialethisch haltbare Verantwortung münden, weil im Zentrum der medienethischen Begründung ja nicht mehr der Begriff der Pflicht steht. Nur ein solchermaßen gerechtfertigtes Handeln könne das nachhaltige Vertrauen schaffen, welches für soziales Handeln unabdingbar ist. »Damit Institutionen sich das Vertrauen ihrer Mitglieder und der Öffentlichkeit erhalten, müssen sie ihre korporative Verantwortung wirklich ernst nehmen«, schreibt Funiok, »z. B. dadurch, dass im Leitbild und in Strategiekonzepten Wertprioritäten formuliert werden, dass neben unternehmensstrategischen auch gemeinwohlorientierte Zielsetzungen Gültigkeit besitzen und klare Verantwortungsbegrenzungen getroffen werden.«33
Der ›strukturelle und organisatorische Kontext‹ medialen Handelns basiert freilich auf ökonomischen Bedingungen; über deren Vorhandensein ist sich Funiok zwar völlig im Klaren, aber er stellt sie ebenso wenig in Frage wie andere Medienethiker. Diese Grenze kann eine normativistische Handlungsreflexion offenbar nicht überschreiten – auch nicht als sozialethische.
Ökonomische Bedingungen, die subjektübergreifende Zwänge schaffen, sind sowohl durch konfligierende Interessen der Akteure als auch durch systemische Imperative gekennzeichnet. Der Markt als Ort konkurrierender Angebote zwingt zur Konzentration und Ballung von Macht, zur Oligopol- und Monopolbildung.
Funioks Fachkollege Christian Schicha konstatiert an diesem Punkt, dass »die Imperative der Ökonomie im Medienwettbewerb eine zentrale Rolle« spielen und »ggf. konträr zu den medienethischen Idealnormen stehen«34 können. Idealnormen könnten aber »keine praktische Hilfe bei konkreten Handlungsentscheidungen liefern«, weil sie »zu allgemein, zu unbestimmt und zu rigide«35 sind. Deshalb müsse man näher an die »Lebenspraxis«36 herankommen und einen »Kompromiss« finden »zwischen den idealen Ansprüchen und der legitimen Anpassung an die faktischen Gegebenheiten«37. Dazu weicht Schicha auf die »anthropologischen und psychologischen Realitäten«38 aus, die man berücksichtigen müsse, um nicht zu rigide und jenseits des Zumutbaren zu argumentieren. Niemand solle überfordert werden, aber andererseits dürfe man sich auch nicht »zu stark an opportunistischen Gepflogenheiten in der Praxis […] orientieren«39. So geht Schicha den Imperativen der Ökonomie, die er gerade eben noch benannt hatte, sogleich wieder aus dem Wege.40
Funiok wiederum argumentiert traditionell philosophisch – er verlässt sich auf den inneren Zusammenhang von Macht, Verantwortlichkeit und Freiheit. Er meint: Auch wenn die »freie Konkurrenz des Marktes« durch »die hochgradigen Konzentrationsprozesse« weitgehend stillgestellt ist, hätten »Medienunternehmer […] Handlungsfreiheit und […] politische Macht, wirtschaftliche, kulturelle und technologische Macht über die physische Umwelt wie über Individuen.«41 Und weil man sich für Macht ja immer verantworten muss, gilt nach Funiok die Formel: »Je mehr Macht, desto größer sind die Freiheitsgrade.«42 Daher muss man sich für seine Macht nicht nur verantworten, sondern man kann es auch, weil man ja frei ist.
Diese Lösung erinnert an einen ontologischen Gottesbeweis. So versuchten Philosophen einst, das theologische Ordnungsprinzip gegen aufkommende Kritik zu immunisieren. Sie argumentierten: Wir besitzen den Begriff des allervollkommensten Wesens. Da Vollkommenheit logischerweise auch Existenz einschließt – ein nur gedachtes Wesen wäre ja im Vergleich zu einem real existierenden unvollkommen –, folgt aus dem Begriff von etwas Vollkommenen auch sein wirkliches Sein. Es wäre also widersinnig anzunehmen, dass dieses Wesen nicht auch außerhalb unserer Köpfe existiert.
Funiok scheint entsprechend zu argumentieren: Aus dem Konzept einer Verantwortung aus Freiheit folgt, dass sie in der Realität wirkmächtig ist. Gemeint ist natürlich: Wirkmächtig ist die Idee der Verantwortung als handlungsleitendes Motiv, das durchaus kontrafaktisch sein kann. Dagegen ist nichts einzuwenden – die Frage ist nur: Wie weit kommt man, wenn man sich auf das normative Leitbild der demokratischen Öffentlichkeit verlässt?
Die systemische Rationalität der Medien-Marktwirtschaft (die freilich hinter einen unverkürzten Begriff der Vernunft zurückfällt, weil sie instrumentell auf den Zweck der Vermehrung warenförmigen Reichtums fixiert ist und im Hinblick auf die Zwecke wirtschaftlichen Handelns bewertungsabstinent bleibt) lässt Luhmann mit seinem Verdikt über normative Ethik, wenn man so will, als Punktsieger im Wettstreit mit dem medienethischen Normativismus erscheinen. Wenn man aber bedenkt, dass die Konzentrationstendenz von Märkten kein Naturgesetz ist, sondern ein gesellschaftliches Bewegungsgesetz, dann rückt die Sache in ein anderes Licht: Was schlichte, normfreie Faktizität zu sein scheint, ein soziales Subsystem, welche die Wissenschaft mit ethischen Begriffen allenfalls beschreiben kann, erweist sich als implizit normatives Konstrukt. Dessen ideologischen Charakter erkennt nur ein reflexionsamputiertes Denken nicht.
Doch was genau heißt »Ideologie«? In der kritischen Sozialphilosophie der Gegenwart werden Ideologien als Theorien verstanden, die normative Aussagen als deskriptive präsentieren und sich selbst als solche missverstehen. Ideologien treten auf, als würden sie nur beschreiben, aber faktisch konstituieren sie soziale und kulturelle Praktiken. Denn Ideologien legen Auffassungen davon nahe, was die Welt ist und wie in ihr gehandelt werden kann.43 Kritische Theorie erklärt diesen falschen Schein aus seiner Verbindung mit dem falschen gesellschaftlichen Sein.44
Statthalterin der Freiheit ist im medienethischen Konstrukt der demokratische Staat – und zwar nicht nur sein Spielbein, die plurale Meinungsbildung, sondern auch sein Standbein, die Zwangsgewalt. Wenn »die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität« als wichtigste Aufgabe der Medien angesehen wird und deren sozialmoralische Normierung als wichtigste Aufgabe der Medienethik, dann ist Öffentlichkeit der Prüfstein für ihre kritische Reichweite.
Funiok hebt ausdrücklich hervor, dass diese Vorstellung von Öffentlichkeit ein »Leitbild« sei, ein »normatives Konzept«, und er betont: »Die Medienethik kann […] auf diesen normativen Öffentlichkeitsbegriff nicht verzichten.«45 Unschwer sind hier Ähnlichkeiten mit der anthropologischen Theorie der Öffentlichkeit von Hannah Arendt und der diskurstheoretischen von Jürgen Habermas zu erkennen. Nach Arendt sind wir als Privatexistenzen zunächst fremdbestimmte Natur- und Arbeitswesen; erst durch die gemeinsame Praxis des Redens und Handelns in einem republikanischen, öffentlichen Raum werden wir zu freien Menschen.46 Nach Habermas wird der literarische bourgeois in den öffentlichen Räumen, welche die parlamentarischen Demokratien sicherstellen, durch aufgeklärte Meinungsbildung zum politischen citoyen, im Idealfall zum Mitglied einer weltweiten Zivilgesellschaft.47 Solche Vorstellungen unterzieht die dialektische Theorie der bürgerlichen Öffentlichkeit einer – immanent ansetzenden – Ideologiekritik, was ich nun in einem kurzen historischen Rückblick skizzieren möchte.48
Im 18. Jahrhundert etablierten mündige Bürger eine Medienstruktur für aristokratisch und klerikal unkontrollierte Diskurse über Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Bücher, Zeitungspresse und Theater wurden privatwirtschaftliche Medien einer »räsonierenden« Öffentlichkeit im Sinne von Kant. Ihr Schlachtschiff war die Enzyklopädie, die mit modernen Marketingmethoden (nämlich mit Subskription und Haustürverkauf) in ganz Europa verbreitet wurde. Kaum war sie auf dem Markt, sprach der königliche Rat auch schon ein Publikationsverbot aus: Diderot hatte in seinem Artikel über »politische Autorität« dargelegt, dass politische Herrschaft ohne Zustimmung der Untertanen in einem rationalen Unterwerfungsvertrag nicht legitimierbar sei. Im Zuge der Französischen Revolution wurden politische Streitschriften und Pamphlete bestseller. Die Schrift Was ist der Dritte Stand des Abbé Sieyès wurde 300.000-mal verkauft; dort ging es um Toleranz, Steuergerechtigkeit, Menschenrechte und gerechte Behandlung der Landarbeiter. Inspiriert von der Unabhängigkeitserklärung der USA rief die Nationalversammlung in Paris die Menschenrechte aus: das Recht mündiger, männlicher Bürger auf Eigentum und freie Ausübung der Religion sowie die Presse- und Meinungsfreiheit. Als zensurfreie Zone war Öffentlichkeit der zivilgesellschaftliche Überbau der Gewerbefreiheit. Zwei Jahre nach der großen Revolution wurde in Frankreich die Theaterzensur abgeschafft. »Jeder Bürger«, hieß es nun, »darf ein öffentliches Theater errichten und dort Stücke aller Art spielen lassen«49. Gab es Anfang 1791 in Paris neun Theater, so waren es Ende des Jahres bereits 70.
Die moderne, mediengestützte Öffentlichkeit hatte von Anfang an zwei Aspekte: Sie galt der Verbreitung revolutionärer wissenschaftlicher und politischer Ideen, und sie war zugleich ein wirtschaftliches Projekt zur Vermehrung der Profite derer, die ihr Kapital auf dem neuen Markt investierten, der ebenso vielversprechend wie riskant war. Ohne kapitalistischen Unternehmergeist hätten sich die aufklärerischen, demokratischen Ideen nicht entfalten können; aber sie konnten sich nur in einer medialen Sphäre verbreiten, in der es primär gar nicht um Inhalte ging, sondern um die mediale Warenform.
In Europa und in den USA florierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Massenproduktion. Der Handel musste mit Anzeigen, Werbung und Design angekurbelt werden; technologischer Fortschritt ebnete den Weg zu deren Medium, der Massenpresse. Ein neues technisches Medium, die elektrische Telegrafie, war die Basis der drei großen kommerziellen Nachrichtenagenturen Hava, Reuters und Wolff’s, die in Paris, London und Berlin gegründet wurden und sich 1870 zu einem Weltkartell zusammenschlossen.50 Rotationspresse und Zeilendruckmaschine steigerten den Erfolg der kommerziellen Massenpresse weiter. Wichtige bürgerliche Ziele waren nun erreicht; der Handel dehnte sich nahezu schrankenlos aus. Der Diskurs über Menschenrechte wurde vom Diskurs über zeitgemäße Außenpolitik als Motor des Exports und Imports verdrängt.
Habermas hat den Übergang zur Massenpresse als Refeudalisierung des öffentlichen Raumes interpretiert. Ihm zufolge sind der »Waren- und der Nachrichtenverkehr« die wesentlichen »Elemente des frühkapitalistischen Verkehrszusammenhangs«51 gewesen, in dem es noch keine öffentliche Sphäre im bürgerlichen Sinne gab; in der postmerkantilistischen Phase des Kapitalismus habe diese Sphäre dann zunächst Autonomie erlangt und später wieder eingebüßt. Im Spätkapitalismus sei das Publikum kein »kulturräsonierendes« mehr, sondern nur noch ein »kulturkonsumierendes«52.
»Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Kommunikation.«53
Doch diese Beschreibung trifft es nicht ganz. Falsch ist daran die Vorstellung, dass die Gesetze des Marktes in die Sphäre des Publikums »eindringen« würden. Sie gehörten vielmehr von Anfang an dazu: als gleichursprüngliche Gegenkraft zur autonomen Kommunikation über Inhalte und Sachfragen. Raisonnement und Konsum sind nicht Stufen des Verfalls, sondern eine widersprüchliche Einheit von Identität und Differenz im Begriff bürgerlicher Öffentlichkeit.54
Deren innerer Widerspruch bestand darin, dass sich – mit den Worten von Arnold Künzli – »ein partikulares Interesse – das des aufstrebenden Bürgertums – mit dem Nimbus der Universalität umgab.«55 »Das Entréebillet zu dieser ursprünglichen liberalen ›Oeffentlichkeit‹ war das private Eigentum, und damit wurde Oeffentlichkeit zu einem Klassenbegriff des Bürgertums«, heißt es bei Künzli. »Was öffentliche Meinung genannt wurde, war die interessierte Meinung dieses Bürgertums, die sich als universelle gerierte und als Gemeinwohl deklarierte.«56
Auch im 20. Jahrhundert, unter den Produktionsbedingungen des Fordismus, war die massenmediale Öffentlichkeit noch privilegierter Ort der Urteilsbildung freier und gebildeter Bürger. Skandale und Sensationen in Zeitung, Radio und Fernsehen waren alltagskulturelle Aufputschmittel für die arbeitsfreie Zeit, einlullende Unterhaltung fungierte als Beruhigungsmittel. Andererseits hörte die Beschäftigung mit politischen, sozialen und kulturellen Fragen aber nicht einfach auf, denn nun fing auch die Klasse der Nichteigentümer der Produktionsmittel an, öffentlich zu »räsonieren«. Ihre Angehörigen hatten ein Interesse daran, über ihre Lebenslage in der Industriegesellschaft zu kommunizieren und über die Aussichten, sie zu verbessern. Wenn sie in kommerziellen Zeitungen Berichte über Skandale und Verbrechen verfolgten und anschließend darüber diskutierten, war das zumindest ein Teil davon.57 Dies wäre ohne das in sich widersprüchliche, bürgerliche Konzept der Öffentlichkeit nicht möglich gewesen. Denn, wie Künzli zusammenfasst: »Indem das Bürgertum in seinem Emanzipationskampf gegen Feudalismus und monarchistische Staatsautorität für sich Oeffentlichkeit konstituierte und im freien Diskurs eine öffentliche Meinung herausbildete, leistete es, auch wenn es noch nicht Oeffentlichkeit an sich war, einen revolutionären Beitrag zur Emanzipation überhaupt.«58 Und es gab auf der anderen Seite bekanntlich auch das staatliche Rundfunkwesen Großbritanniens und das öffentlich-rechtliche System in der Bundesrepublik, die man als Bastionen der Medien-Domestizierung durch, teilweise steuerfinanzierte, Aufklärung und Bildung der Bevölkerung bezeichnen kann. Diese domestizierten freilich nicht allein den marktwirtschaftlichen Willen zur Macht, der, wenn man so will, die Massenmedien antreibt, sondern auch die Erlebnis- und Erfahrungswelt der Menschen, die ihnen ausgesetzt sind. Oskar Negt und Alexander Kluge haben das in den 1970er Jahren als postkolonialistische innere Kolonisierung der Menschen in den industriellen Zentren der Welt beschrieben. »Die Widersprüchlichkeit des vom Kapitalismus struktrurierten öffentlichen Erfahrungshorizonts schlägt sich auch in den Individuen nieder, die von ihm unterdrückt werden«59: als »Kolonisierung des Bewußtseins«60.
Wenn das Ideal einer Sphäre aufgeklärter Bürger, die im räsonierenden Diskurs politische und soziale Meinungsbildung betreiben, aus der heutigen Medienlandschaft61 verschwindet, handelt sich es aber nicht um Fehlverhalten oder Anzeichen von moralischem Verfall. Medienakteure auf einem globalen Markt sehen sich kaum noch in der Pflicht, mündige Bürger zu erziehen. Sie müssen sich in einem Betrieb erhalten, der – über die mediale Warenform – dabei hilft, aus Geld mehr Geld zu machen. Im Blick auf diesen »Realgrund« haben sie sich zu verantworten – alles andere ist nachrangig. Bei verschärfter Konkurrenz um die Anteile an den Restprofiten einer (offenbar permanenten) Überakkumulationskrise wird dem Appell an die Verantwortung die Geschäftsgrundlage entzogen. Sensationalismus, Pornografie und Reklame sind Überlebensstrategien in einer Epoche, die geprägt ist durch das »Zeitungssterben« und durch eine umkämpfte Neuverteilung der legalen Zugänge zur Ausbeutung der »Ressource Aufmerksamkeit«62. So setzt sich die Kapitallogik durch – auch dort, wo sie partiell suspendiert war: in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern, deren Funktionäre auf hohe Publikumsquoten fixiert sind. Die Massenmedien kehren gleichsam in ihren Grund zurück – Zeitungen waren im Europa der Frühen Neuzeit Werbeprospekte der Buchdrucker und das Radio in seinen Anfängen in den USA ein Reklameorgan der Konsumgüterindustrie. Im Spanischen und Italienischen sind la publicidad und pubblicità heute die Worte für Werbung. Und in den sogenannten social media wird überwiegend Privates ausgetauscht. Es spricht Einiges dafür, dass Slavoj Žižek Recht hat, wenn er mit Blick auf das Internet feststellt: »Der öffentliche Raum verschwindet.«63
Gegen die marktwirtschaftliche Orientierung des Handelns, das an Selbsterhaltung, Selbststeigerung und Überwältigung der Konkurrenten orientiert ist, bringt die Medienethik ihr normatives Bild von Öffentlichkeit in Stellung. Funiok zentriert es um ein Diskursmodell64, das von der Ambivalenz der Öffentlichkeit absieht. In diesem Modell gibt es vier Typen öffentlicher Äußerungen: 1. autoritäre, monologische Kundgaben, 2. Agitation und Propaganda, 3. die Befeuerung kollektiver Erregungszustände und 4. advokatorische Statements zugunsten von Benachteiligten oder zugunsten des Gemeinwohls.65 Die Sympathien sind klar verteilt: Autoritäre Verlautbarungen und agitatorische Hetze in den Medien gefährden die Demokratie; zivilgesellschaftliches Engagement für soziale Gerechtigkeit fördert sie, sofern es nicht parteiisch auf die Ziele einzelner sozialer Bewegungen fixiert ist. Und wenn öffentliche Erregungszustände aufgegriffen oder angeheizt werden, bis hin zur Formierung als Gegenmacht, könne das sowohl negative Wirkung haben als auch positive (wie im Vorfeld des Untergangs der DDR). Idealerweise zeichne sich der öffentliche Diskurs durch eine Auseinandersetzung aus, die nicht strategisch ist, sondern verständigungsorientiert und argumentativ. Im Diskursmodell der Öffentlichkeit sei Wahrheit der Maßstab für deskriptive Sachaussagen, und normative Richtigkeit, das heißt Gerechtigkeit, Maßstab für praktische Aussagen. »Es kommt zur Revision der eigenen Beiträge, zum Fallenlassen falscher Behauptungen und zum Ausscheiden unhaltbarer Argumente.«66
Gleichberechtigter, sach- und inhaltsorientierter Diskurs, Mündigkeit und Freiheit: das sind die Werte, die sich in dem medienethischen Postulat manifestieren, nach dem sich Individuen und Instanzen im Prozess der Produktion und Rezeption von Massenmedien einer »korporative[n] Selbstverpflichtung« unterwerfen sollen – in der sie der puren Marktlogik politische Normativität entgegensetzen sollen, um ihrer demokratischen Verantwortung gerecht zu werden.
Die Argumentationsstruktur der Medienethik ist also insofern zirkulär, als die Kategorie der Verantwortung auf den Wert der demokratischen Freiheit zurückgeführt wird und demokratische Freiheit nicht nur als Idealgrund, sondern auch als Realgrund der Verantwortung beschrieben wird.
Heikler als die logische Unstimmigkeit ist die moralische: Mit dem Rekurs auf Verantwortung lässt sich so gut wie jedes Handeln irgendwie rechtfertigen, wenn man nicht präzise auf die Handlungszwecke eingeht und die Mittel bewertet, die dazu eingesetzt werden. »Verantwortung übernehmen« kann in der Politik heißen, dass jemand Wirtschafts- oder Außenminister wird und den Waffenexport fördert; es kann aber auch heißen, dass ein Minister zurücktritt, weil unter seiner Ägide Waffenhandel gefördert wurde.67 Im oben angeführten Beispiel wurde manipulativer Journalismus mit der sozialen Verantwortung der Besitzer der Produktionsmittel für Arbeitsplätze gerechtfertigt, die man ohne hinreichend hohe Zuschauerzahlen und entsprechende Aufträge der Werbewirtschaft gefährden würde. »Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid«68, behauptet der Ethikkodex des Presserats. Doch was hat man sich unter einer »angemessen sensationellen Darstellung« vorzustellen?
Im Übrigen enthält nicht nur der Begriff der Öffentlichkeit eine innere Ambivalenz, sondern auch der ihm zugehörige Begriff der Mündigkeit. Darauf hat Adorno hingewiesen: Einerseits sei Mündigkeit die Bedingung dafür, dass eine Gesellschaft sich in Freiheit selbst bestimmen könne, ohne dass das Resultat mehrheitsdemokratischer politischer Entscheidungen am Ende die »Unvernunft«69 sei. Andererseits sei es in den bestehenden, naturwüchsigen Gesellschaften dem blinden Zufall und der Ungerechtigkeit unterworfen, ob Menschen zur Mündigkeit fähig würden, das heißt, ob und wie sie sprechen, denken und urteilen lernten. Daher gelte es zu begreifen, »daß schon die Voraussetzung der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert ist«70.
Der medienethische Verantwortungsbegriff ist zu »weit und unbestimmt gefaßt«71. Ich denke, die ethische Reflexion der Medienpraxis würde Kontur gewinnen, wenn stattdessen das Verbot, Menschen zu instrumentalisieren, zum Begründungsargument würde72. Denn das ist letztlich der normative Kern des Diskursmodells, auf das sich die Medienethik in der hier diskutierten Gestalt bezieht.
Nach Kant sollte jeder, wenn es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass die Maxime, also der Handlungsgrundsatz, »jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte«73. Dann würde er »die Menschheit« in sich selbst und allen anderen »niemals bloß als Mittel«, sondern »jederzeit zugleich als Zweck«74 auffassen. Kant antizipiert ein vernunftbestimmtes Allgemeines; erst als Teil davon wären wir imstande, moralisch zu handeln. Kein vernünftiger Mensch kann leugnen, dass der Endzweck moralischen Handelns die allgemeine Humanität ist. Die Pointe von Kants Moralphilosophie liegt nun, Adorno zufolge, darin, dass sie »eine Gesellschaft« kritisiert, »in der alles zum Mittel wird und in der nichts mehr Zweck ist.«75 Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch in Wirklichkeit »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Interessen und das allgemeine Interesse nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht der Fall. Der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff76 bleibt auf das Eigeninteresse konkurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt.
Verantwortungsethik soll den Interessenantagonismus in Schach halten, bleibt aber gleichsam zahnlos, weil Verantwortung funktional in eine Vielzahl geschäftlicher Rücksichten und Verbindlichkeiten aufgelöst wird. Als Unterscheidungscode sollte daher statt »verantwortlich oder verantwortungslos« ein anderer angesetzt werden, nämlich: »richtig oder falsch« bzw. »gerecht oder ungerecht«.
Ich sehe zunächst zwei Möglichkeiten: Statt »Verantwortung« könnte Medienethik entweder auf das Konzept »Verständigung« zurückgreifen oder auf das Konzept »Verweigerung«. Sie hätte also die Wahl zwischen Habermas und Adorno; und vermutlich werden sich auch Perspektiven ergeben, diese Modelle zu einem dritten zu verbinden.
Verständigung ist der Diskursethik zufolge das implizite Telos jeder Kommunikation. Diskursethik ist gewissermaßen eine »universalistische Minimalmoral aller Vernunftwesen«77. Sie leitet die Differenz zwischen Faktischem und Möglichem aus den Verständigungsmöglichkeiten in der verbalen Kommunikation ab. Weil in der Struktur des Sprechens die Idee konsensueller Verständigung als normative Zielvorstellung eingelassen sei, werde »in der realen Kommunikationsgemeinschaft zugleich deren ideale Gestalt angebahnt«, also eine gerechte Gesellschaft.78
Im Diskurs über Medien, so könnte man hier anschließen, dürfen nur solche Normen Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten rational zustimmen könnten. Sämtliche Folgen und Nebenfolgen geltender Mediennormen müssen von allen Betroffenen ohne Zwang akzeptiert werden können.79 Alle, die irgendwie beteiligt sind, müssen das Recht und die Möglichkeit haben, am Diskurs über das Mediengeschehen teilzunehmen. Nicht nur als Rezipienten, sondern auch als Produzenten. Wenn die Ballung kulturindustrieller Medienmacht dies verhindert, ist sie moralisch nicht zu rechtfertigen. Der Verweis auf die Verantwortung für Arbeitsplätze und die Fortsetzung der Geschäfte kann als unzureichend zurückgewiesen werden.
Wer mediale Botschaften in den öffentlichen Raum stellt, muss Vernunft und Menschenwürde der Adressaten achten und bereit sein, über die Grundlagen des gemeinsamen Handelns nachzudenken. In medialen Diskursvorgaben müssen die gerechtfertigten Bedürfnisse aller Teilnehmer angemessen berücksichtigt werden. Um Verständigung zu gewährleisten, darf nie nur strategisch gehandelt werden; alle anderen müssen immer auch als gleichberechtigte Kommunikationspartner anerkannt werden.
Mediale Kommunikation hat das Potential gleichberechtigter Verständigung. Aber ihre Rahmenbedingungen werden (um es mit Habermas zu sagen) aufgrund der »Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative eines ungesteuerten ökonomischen Wachstums«80 verzerrt. Funiok möchte »unternehmensstrategische« und »gemeinwohlorientierte Zielsetzungen« harmonisiert sehen, doch sie lassen sich kaum versöhnen. Das »Vertrauen« in die Medieninstitutionen ist als Fundament für »Wertprioritäten« auf Sand gebaut. Strategische Ziele blockieren kommunikative Ziele, partikulare Interessen blockieren das vernünftige Allgemeininteresse. Soziale Machtstrukturen und Profitorientierung behindern die Sprache und die intersubjektiven Beziehungen; sie hemmen Erziehung, demokratische Öffentlichkeit und mediale Kultur in ihrer Entfaltung. Dagegen ist Widerstand zu leisten, und damit kommen wir zum Konzept »Verweigerung«.
Adorno verstand unter Widerstand eine Haltung, die der Idee richtiger Praxis verpflichtet bleibt, solange diese blockiert ist, weil die Vergesellschaftung mit der Macht von Naturverhältnissen ausgestattet erscheint.81 Widerstand wäre heute die Stellvertretung für »ein richtiges Leben«82. Diese wäre nicht zuletzt auch »Widerstand gegen die konkrete Gestalt der Heteronomie«, »also gegen die ungezählten von außen auferlegten Formen der Moralität«, die nicht mehr in Beziehung zum humanen und freiheitlichen Gehalt der Moralphilosophie stehen, sondern als Repressionsinstrumente »den Charakter des Bösen«83 annehmen, wie Adorno es formulierte. Als bloße Beschwichtigungsformel kann auch das legitime Verantwortungsprinzip zur heteronomen Gestalt von Moralität werden – zum »guten Gewissen des Opportunismus«84, um es mit einer Formulierung von Christoph Türcke zu sagen.
Dies gilt aber auch für das Prinzip der Diskursethik. Zumal, wenn man – wie Matthias Kettner – die Auffassung vertritt, dass Diskursethik »die individuelle wie kollektive Verantwortung […] von Argumentationsgemeinschaften für die vernünftige […] Ausübung diskursiver Macht«85 zur normativen Grundlage mache. Wer so argumentiert, setzt auf die moralisch integre Kraft der »guten Gründe«, an denen man sich im Handeln orientieren kann. Mit einem Wort: auf die Macht der Vernunft, die zeigt, dass es Gründe gibt, die von allen vernunftbegabten Wesen als »gute Gründe« akzeptiert werden.
Eine affirmative Diskursethik tritt das aporetische Erbe idealistischer Moralphilosophie an. Nur wenn man ihre Ambivalenz nicht übersieht, kommt ihre Bedeutung als Einspruchsinstanz kritischer Normativität zum Tragen. Es gilt, den Universalismus der Diskursethik durch die Kritische Theorie zu relativieren. Gunzelin Schmid Noerr hat deutlich gemacht, dass
»die diskursive Vernunft allein weder Quelle noch Motiv der Moralität [ist]. Der positive Universalismus eines kommunikativen Minimalkonsenses hat seine Basis im negativen Universalismus, auf den die Ethik der älteren Kritischen Theorie hingewiesen hat. Das die Menschen Verbindende ist demnach ihre Verletzbarkeit und Sterblichkeit, die Beeinträchtigung ihres Selbstwertgefühls. Adorno geht nicht, wie Habermas, von einer idealen Sprechsituation aus, sondern von den Menschen im Stand ihrer faktischen Unfreiheit, und in der wird die moralische Orientierung erfahrbar an ›Auschwitz‹ als einem Paradigma für die äußerste Verletzung der Menschen.«86
Adorno zufolge ist Moralphilosophie nur zu retten als Differenzbestimmung zu dem, was der Fall ist, und als kritischer Maßstab dessen, was sein könnte oder sollte.87 Sie muss die Frage nach der Rechtfertigung des Bestehenden aufwerfen. Ist die kritische Dimension erst einmal entbunden, dann ist sie der ursprünglichen »sozialen Funktion der Moral« entgegengesetzt, die darin besteht, »die gesellschaftlichen Normen zu verinnerlichen«88. Erst dann ist Raum für die Autonomie des Einzelnen.
Aus der Ambivalenz der Moral würde nach Adorno nur herrschaftsfreie Praxis herausführen. Ihre Stellvertretung mit Blick auf die Medien wäre eine Mischung aus Verweigerung und Umnutzung, also sowohl Boykott als auch Infiltrierung der Kanäle. Zu diesen überlieferten Optionen der klassischen und neueren Moderne könnte heute der Entwurf einer autonomen Politik der Medien hinzutreten. Dieser hätte Formen des medialen Handelns zu beschreiben und zu erproben, in denen Medienpolitik nicht als Herrschaftsmittel oder als staatliche Geschäftsführung der medialen Produktionsmittel im Privatbesitz, sondern als selbstorganisierte Praxis verstanden wird.
Der Verantwortungsbegriff der Medienethik ist als normatives Korrektiv des Medienbetriebs gedacht. Aber weil er so unbestimmt ist, eignet er sich vortrefflich, um dem Betrieb ein gutes Gewissen zu geben – besonders in Verbindung mit dem Öffentlichkeits-Optimismus und dem moralisch überhöhten Konzept der Demokratie. Demokratie ist eine Form politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verwaltung und Herrschaft; sie ist per se moralisch neutral, »gleichermaßen bereit, Gutes wie Böses in sich aufzunehmen«89. Solange die öffentliche Sphäre der Medien die ideologischen Geschäfte der ökonomischen Privatsphäre betreibt, heißt »demokratische Verantwortung wahrnehmen« nicht viel mehr als: demokratische Herrschaft legitimieren, indem man die Zustimmung seitens der Unterworfenen sicherstellt, die kein Konzept von Widerstand entwickeln können, weil Kritik auf »Meinung« reduziert bleibt.90 Medienerziehung in Familie und Schule, die Rüdiger Funiok fordert, um das Publikum durch »demokratische[…] Medienpolitik« an seine »Mitverantwortung für die Qualitätssicherung der Medienkommunikation« zu erinnern und »die Beteiligung des Publikums […] zu verbessern«91, dürfte da auch nicht viel weiterhelfen.92
Gleichwohl kann eine kritische Theorie der Medien natürlich auch von der Medienethik lernen: vor allem, dass sie nicht ohne Handlungstheorie auskommt. Denn eine kritische Medientheorie sollte auch eine Kritik der systemtheoretischen Beschreibung sein, derzufolge die Steuerungsmechanismen des Systems der Massenmedien allein für die Prozesse der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien zuständig sind und normativ-ethische Ansätze als überflüssig gelten. Kritische Medientheorie hat zu rekonstruieren, wie das selbst- oder fremdbestimmte Handeln der sozialen Akteure jene Prozesse formt.93 »Verantwortung« könnte insofern auch ein Schlüsselbegriff einer gesellschaftstheoretisch und historisch reflektierten Ethik sein.