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Kapitalismus, Recht und Sozialkritik*
ОглавлениеHabermas’ knappe Erörterung der ›Verrechtlichung‹ auf den letzten Seiten der Theorie des kommunikativen Handelns1 spielt für seine Arbeit eine wichtige Rolle. Nach der Vorstellung einer ambitionierten sozialtheoretischen Ergänzung zu seiner Theorie des Primats kommunikativen Handelns schließt Habermas mit der Feststellung: »Aber eine solche, stets der Gefahr der Überverallgemeinerung ausgesetzte Theorie muß angeben können, welche Art von Empirie zu ihr paßt« (II, 523)2 – also eine Empirie, der wir uns zuwenden und deren Nutzen wir einschätzen können. Durch die Zusammenführung von Erkenntnissen aus der breitgefächerten Untersuchung der Pathologien sozialstaatlicher Rechtsvorschriften hofft Habermas, seine ansonsten abstrakt-theoretischen Überlegungen mit vergleichsweise bodenständiger Sozialforschung zusammenführen zu können. Dies soll ihn darüber hinaus in die Lage versetzen zu erklären, wie sein Theoriesystem zur kritischen Sozialdiagnose beitragen kann: Belegbare, empirische Erkenntnisse zu juristischen Dilemmata könnten durch sein philosophisches und sozialtheoretisches Werk am besten erfasst werden. Da diese Erkenntnisse dahingehend interpretiert werden können, dass sie ein zwar diffuses, aber allgegenwärtiges Unbehagen mit existierenden Institutionen ansprechen, könnte sich die Theorie kommunikativen Handelns gleichzeitig als die geeignetste der vorliegenden Neuformulierungen kritischer Sozialtheorie etablieren.
Vertrautheit mit Habermas’ späterer Konzentration auf Fragen der Jurisprudenz könnte dazu verleiten, zu übersehen, wie überraschend diese Umorientierung tatsächlich ist: Der führende Theoretiker des Frankfurter Neomarxismus verlangt von kritischer Theorie die Hinwendung zur trockenen Materie des Sozialrechts als Methode, um die elementaren Spannungen der heutigen Gesellschaft verständlich zu machen. Traditionelle linke Kapitalismuskritik, so scheint es, könnte in überraschendem Ausmaße als Kritik der Verrechtlichung umgestaltet werden (letzteres eine eher hässliche Wortschöpfung, die progressive Sozialwissenschaftler und Rechtstheoretiker zur Beschreibung ebenso unschöner Facetten der zeitgenössischen Rechtsentwicklung nutzten).
Im Folgenden kehre ich zu den theoretischen Grundlagen zurück, die Habermas zur partiellen Neuformulierung der Kapitalismuskritik als Kritik der Verrechtlichung dienen. Dies geschieht aus zwei Gründen. Erstens bin ich trotz wichtiger Bemühungen auf diesem Gebiet nicht der Meinung, dass die bisherigen, kritischen Darstellungen die immanenten Schwächen hinter diesem Wandel ausreichend aufgezeigt haben.3 Habermas behauptet in der Theorie kommunikativen Handelns, dass die Kritik der Verrechtlichung direkt auf zentralen Komponenten seines breiteren Theoriesystems aufbaut (Teil I). Folgerichtig könnten uns die diagnostischen Schwachstellen jener Kritik unter Umständen ermöglichen, tiefergehende Ambiguitäten seines Denkens zu identifizieren (Teile II, III). Zweitens sind diese Schwächen auch für eine Evaluierung seines späteren Werkes Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats und dessen Beitrags zur kritischen Sozialtheorie entscheidend. In meinen Augen bietet dieses Buch eine in vielerlei Hinsicht überlegene Beschreibung der Pathologien heutiger Verrechtlichung. Dennoch finden sich auch hier die Schwächen der früheren Erörterung wieder. Insbesondere die Überzeugung, dass sich traditionell linke Kapitalismuskritik am besten als Rechtskritik artikulieren lasse (Teile IV, V).
I.
Habermas’ Hinwendung zu juristischen Themen in der Theorie des kommunikativen Handelns ist durchaus nachvollziehbar. Verrechtlichung stelle den »Modellfall für eine Kolonialisierung der Lebenswelt« (II, 476) dar. Die finde statt, wenn systemische Imperative von Wirtschaft und Verwaltung die kommunikativ und symbolisch strukturierte Lebenswelt unterdrücken. Letztere steht für jenen »Horizont, in dem sich die kommunikativ Handelnden ›immer schon‹ bewegen«, an dem wir »einen kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrat an Deutungsmustern« erkennen können, durch den die grundlegenden Verfahren symbolischer Reproduktion (d. h. kulturelle Reproduktion, soziale Integration und Sozialisierung) erfolgreich sichergestellt werden (vgl. II, 182, 189). Im Gegensatz dazu »verdichten und versachlichen sich« die Systeme der Wirtschaft und Staatsverwaltung, geordnet durch die abstrakten Steuerungsmedien Geld und Macht, unter heutigen Bedingungen »zu normfreien Strukturen«, in welchen sich »die Angehörigen wie zu einem Stück naturwüchsiger Realität [verhalten] – in den Subsystemen zweckrationalen Handelns gerinnt die Gesellschaft zur zweiten Natur« (II, 231). Durch Kolonialisierung zerfalle und verarme alltägliches Bewusstsein (vgl. II, 517-522). Dies trage wiederum zur Kolonialisierung bei, die einsetze, wenn die Angehörigen einer Gesellschaft nicht mehr in der Lage sind, die Grenzen der Wirtschafts- und Verwaltungssysteme zu erkennen.
Erst die Rationalisierung der Lebenswelt hat die moderne soziale Komplexität ermöglicht. Gegen Systemtheoretiker wie Luhmann argumentiert Habermas, dass die unabhängigen Subsysteme Wirtschaft und Verwaltung nach wie vor eine Verankerung innerhalb der Lebenswelt aufrechterhalten müssten. Dennoch stehe ihre strukturelle Dynamik im Gegensatz zum Streben nach gegenseitiger Verständigung durch Sprache. Im Gegensatz zu den Marxisten hätten Luhmann und andere zu Recht auf die fortschrittlichen Errungenschaften moderner Systemdifferenzierung hingewiesen: Indem die moderne Gesellschaft von der mühsamen Aufgabe der unmittelbar sprachlichen Koordination entscheidender Prozesse befreit wurde, eröffnete sich ein nie dagewesenes Potential für soziale Komplexität. Der Fehler des Marxismus sei die Gleichsetzung der Entstehung moderner Subsysteme mit unerfreulichen – und potentiell austauschbaren – Formen der Klassenherrschaft. Die marxistische Kapitalismuskritik sei eine Sozialtheorie, die das Kind mit dem Bade ausgeschüttet habe (vgl. II, 500 f.).
Dennoch, so Habermas, könne die marxistische Kritik erfolgreich umformuliert werden. Unter heutigen Bedingungen wendeten sich die Subsysteme der Wirtschaft und Verwaltung gegen die Lebenswelt. Da materielle Reproduktion nur auf Kosten unersetzlicher konsensabhängiger Handlungsformen stabilisiert werden könne und kommunikatives Handeln zugunsten der entsprachlichten Medien Macht und Geld über Bord geworfen werde, um die Lebenswelt wirkungslos zu machen, trügen die Subsysteme der Wirtschaft und Verwaltung nicht mehr zu sozialer Komplexität bei, sondern unterhöhlten die Grundlagen der modernen Gesellschaft (vgl. II, 292 f.). Wo sich Krisen auf der Ebene von Wirtschaft und Verwaltung nur durch Beeinträchtigung der Lebenswelt vermeiden ließen, würde diese Gegenstand der Kolonialisierung (vgl. II, 452). In Habermas’ durch Weber beeinflusster Neuformulierung des Marxismus lassen sich Krisentendenzen in Wirtschaft und Staatsverwaltung nunmehr lediglich durch die Dezimierung kommunikativen Handelns im Zaum halten. Entgegen Marx’ Hoffnung, dass sich Bürokratie und Markt letztlich transzendieren ließen, seien beide tatsächlich unersetzliche Rationalitätsformen, trotz der von ihnen gleichzeitig generierten, potenziell destruktiven gesellschaftlichen Konsequenzen.
Warum also die Wendung zu zeitgenössischer Jurisprudenz, um diesen besorgniserregenden Trend zu erklären? In Anlehnung an Weber argumentiert Habermas, dass sowohl moderner Kapitalismus als auch Bürokratie nur auf der Grundlage modernen, gesetzten Rechts abgesichert seien. In gewisser Hinsicht Weber widersprechend, sieht Habermas in modernem Recht Elemente moralisch-praktischer Rationalität, basierend auf Lebenswelt und symbolischer Reproduktion. Modernes, ›postkonventionelles‹ Recht verbinde die Lebenswelt mit Wirtschaft und Staatsverwaltung; es biete einen unentbehrlichen Treff- oder Transformationspunkt für die rivalisierenden und potentiell widersprüchlichen Dynamiken. Recht ermögliche es, dass Staatsverwaltung und Geld als Ersatz für kommunikative Interaktion wirken. Mit einem Bein in der Lebenswelt und mit dem anderen sicher in den formal organisierten Systemen der Wirtschaft und Verwaltung stehend, könne das Recht einen hervorragenden »Indikator für die Grenzen zwischen System und Lebenswelt« abgeben (II, 458). Daraus folge, dass sich Störungen in der Beziehung zwischen Lebenswelt und sozialen Systemen als ›Pathologien des Rechts‹, d. h. als Formen der ›Verrechtlichung‹, äußern. Fundamentale Krisentendenzen der heutigen Gesellschaft könnten also die Form einer ›Rechtskrise‹ annehmen.
Es ist leicht nachzuvollziehen, warum Habermas deshalb der Meinung war, dass kritische Theorie sich den scheinbar obskuren Debatten um aktuelle Rechtsentwicklungen zuwenden sollte. Vermutlich hat er die Vielzahl von Forschungsergebnissen mit Befriedigung registriert, die die theoretischen und diagnostischen Meriten seiner Theorie insgesamt zu bestätigen scheinen. Nicht nur in der BRD argumentierten Juristen und Sozialwissenschaftler energisch, dass das Recht in der Gegenwart Pathologien und Krisentendenzen aufweise.4
Habermas weist im letzten Kapitel der Theorie des kommunikativen Handelns darauf hin, dass scharfsinnige Rechtspublizisten ambivalente Formen des heutigen Aufsichtsrechts ausfindig gemacht haben, welche die Freiheit mindestens im gleichen Maße bedrohen, indem sie sie zu garantieren helfen (vgl. II, 531). Verrechtlichung – grob definiert als die Ausweitung des Formalrechts auf weitere Sozialsphären und dessen zunehmende Verdichtung – habe immer schon eine fundamentale Voraussetzung der Moderne dargestellt. Im Gegensatz zu großen Teilen der modernen Rechtsentwicklung zeigten diese Ausweitung und Verdichtung jedoch im Bereich des Sozialstaates alarmierende Tendenzen: »Schließlich ist die Allgemeinheit des Tatbestandes auf den bürokratischen Leistungsvollzug […] zugeschnitten« (II, 532), was gesellschaftliche Solidarität untergrabe und Paternalismus generiere. Gesetzliche Regelungen könnten als Vehikel dienen, mittels dessen »die mediengesteuerten Subsysteme Wirtschaft und Staat mit monetären und bürokratischen Mitteln« (II, 522) unangemessen eingreifen. Das Formalrecht geselle sich zu bürokratisch verwalteten finanziellen Entschädigungen, um komplexe Formen sozialen Handelns dem Einfluss »gewalttätiger Abstraktion« auszusetzen, was mitunter mehr schädliche als positive Folgen zeitige. Habermas geht davon aus, dass modernes Formalrecht immer schon mit einem »Handlungssystem, in dem unterstellt wird, dass sich alle Personen strategisch verhalten«, verbunden war, wodurch es in die Lage versetzt wurde, ebenso »die funktionalen Imperative eines über Märkte regulierten Wirtschaftsverkehrs [zu] erfüllen« wie die »Imperative« der Staatsverwaltung (I, 352). Die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Subsysteme jedoch führe dazu, dass diese Beziehung von Seiten des Rechts zunehmend auf eine Weise gestaltet werde, die inkongruent ist mit kultureller Reproduktion, sozialer Integration und Sozialisierung. Die moralisch-praktischen Wurzeln modernen Rechts drohten aus der Lebenswelt herausgerissen zu werden. Die normative und diskursive Untermauerung werde zugunsten der Hegemonie der systemischen Medien Geld und Macht, welche mit der Lebenswelt in eine einseitig autistische Beziehung treten, aus dem Weg geräumt: Facetten der Lebenswelt, die mit den abstrakten Medien Geld und Macht nicht in Einklang zu bringen sind, würden verdrängt.
Im Gegensatz zu neoliberalen Kritikern der Verrechtlichung lehnt Habermas das Wachstum des modernen Staats per se offensichtlich nicht ab. Im Gegenteil: Er behauptet an einer Stelle der Theorie des kommunikativen Handelns, dass Recht grundsätzlich neben Macht und Geld als abstraktes Steuerungsmedium dienen könne, und zwar in solchen Bereichen des Wirtschafts-, Handels-, und Sozialrechts, »die sich ja ohnehin gegenüber den normativen Kontexten des verständigungsorientierten Handelns verselbständigt haben.«5 In gesellschaftlichen Bereichen, in denen das Handeln bereits hauptsächlich formal organisiert und daher unmittelbar durch systemische Imperative geformt sei (z. B. im Arbeitsrecht), stelle die staatliche Regulierung üblicherweise kein Problem dar (vgl. II, 538). In anderen gesellschaftlichen Bereichen jedoch, die eng mit der Lebenswelt verbunden sind (z. B. Familie und Bildungssystem), erweise sich Verrechtlichung als schwieriger einzuordnen. Würde die Validität derartiger Normen in Frage gestellt, drängten Themen von moralischpraktischer Bedeutung umgehend in den Vordergrund: »Sie bedürfen einer materiellen Rechtfertigung, weil sie zu den legitimen Ordnungen der Lebenswelt selbst gehören« (II, 536). Im Gegensatz zu Gebieten, in denen das Recht ohne größere Probleme als Steuerungsmedium dienen könne, nähme es anderswo die Form dessen ein, was Habermas als Rechtsinstitutionen beschreibt: Diese »stehen in einem Kontinuum mit sittlichen Normen und überformen kommunikativ strukturierte Handlungsbereiche« (II, 537). Diese Gefahr sei besonders dort ausgeprägt, wo vergleichsweise wenig formale Organisation existiere. Selbst dort könne staatliche Intervention prinzipiell soziale Integration ergänzen, anstatt wesentliche Aufgaben der Lebenswelt imperialistisch durch die Fremdmedien Geld und Macht zu überformen (vgl. II, 541). Die empirische Beweislage allerdings weise darauf hin, dass eher Letzteres der Fall sei. Finanzielle Entschädigung und juristische Intervention in Schul- und Familienrecht überforderten nicht nur die staatliche Bürokratie; sie schleusten auch die Logiken der Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die davon möglichst befreit bleiben sollten. Mit Blick vor allem auf Beispiele aus der zeitgenössischen BRD argumentiert Habermas, dass die wachsende Regulierung von Schulen komplexe Sozialisationsmechanismen künstlich in ein »Mosaik von anfechtbaren Verwaltungsakten« zerlegten (II, 545). Die Gefährdung elementaren pädagogischen Handelns sei ein Ergebnis dieser Entwicklung. Bemühungen, Rechte von Kindern auf juristischem Wege zu schützen, verletzten in ähnlicher Weise »die kommunikativen Strukturen des verrechtlichten Handlungsbereichs« (II, 543).
Habermas geht so weit zu behaupten, dass Verrechtlichung auch empirische Argumente für den ambitionierten Versuch der Theorie des kommunikativen Handelns bereitstelle, marxistische Ideen der Verdinglichung neu zu formulieren.6 Wo Marx und Lukács erklärt hatten, dass gesellschaftliche Institutionen häufig deshalb als quasi-natürliche Realitäten erlebt wurden, weil Arbeitskraft im Kapitalismus als Warenform subsumiert werde, revidiert Habermas diese Sichtweise durch Bezüge auf Systemtheorie und Weber. Sowohl Geld als auch Macht seien verantwortlich für einen »Abstraktionsvorgang« (II, 476), analog der marxistischen Theorie der Reduktion konkreter Arbeit auf abstrakte Arbeit und Warenform, welche die Lebenswelt entstelle. In Familien- und Schulrecht würden die Handelnden einander in beschränkter, »objektivierender, erfolgsorientierter Einstellung« (II, 542) gegenübertreten. Das hypertrophische Wachstum abstrakter, mediengesteuerter Subsysteme bedeute, dass Familie und Schule als verdinglichte, quasi-natürliche Gebilde erlebt würden, die durch undurchdringliche, objektive Imperative geregelt sind. Die »objektivistische Verformung von Subjektivität überhaupt« (II, 489), die Lukács befürchtet hatte, offenbare sich nun direkt, in Form von Aufsichtsrecht, dessen systembasierte Verformungen kommunikativen Handelns rücksichtsloses Ausufern erlaubten. Wie Weber bereits zu Recht gegenüber dem orthodoxem Marxismus und seiner einseitigen Zurechnung der Verdinglichung zum modernen Kapitalismus angemerkt hatte, könne sich »Verdinglichung […] ebenso gut in öffentlichen wie in privaten Lebensbereichen manifestieren« (II, 503).
In Anbetracht des Versuchs, eine Kritik der Verrechtlichung als Modernisierung konventioneller Kapitalismuskritik zu etablieren, erstaunt es nicht, dass sich die relativ bescheidenen Reformvorschläge in der Theorie des kommunikativen Handelns auf Rechtsfragen konzentrieren. Habermas beschreibt mit unübersehbarem Wohlwollen seine Ideen für mögliche Rechtsreformen, deren Aufgabe sich auf die »rechtliche Institutionalisierung der äußeren Verfassung, sei es der Familie oder der Schule« (II, 544), beschränken würde. Im Gegensatz zum unnachgiebigen Formalrecht, untrennbar mit der aufdringlichen Intervention der Steuerungsmedien Macht und Geld verknüpft, ließe sich so ein Alternativmodell für lokalisierte Selbstregulierung testen. Dies könne eine dezentralisierte Entscheidungsfindung ermöglichen: »Verfahren der Konfliktregelung […], die den Strukturen verständigungsorientierten Handelns angemessen sind – diskursive Willensbildungsprozesse und konsensorientierte Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren« (II, 544). Die rechtliche Regulierung von Schulen könne sich beispielsweise als notwendig herausstellen, sollte sich aber auf die Kodifizierung von Abläufen beschränken, mit deren Hilfe z. B. Eltern, Lehrer und Schulfunktionäre ihre Angelegenheiten selbst und auf kontextuell angemessene Weise regeln können.
II.
Leser des 1992 erschienenen Buches Faktizität und Geltung wissen bereits, dass Habermas bald schon Teile der ursprünglichen Ideen der Theorie des kommunikativen Handelns zum Problem der Verrechtlichung aufgeben – und andere modifizieren – sollte. Er lag damit richtig: Seine früheren Erörterungen hatten an manchen Stellen unter einem gewissen Provinzialismus gelitten. Denn wie hilfreich waren seine ein wenig idiosynkratischen Beispiele aus der jüngeren deutschen Gesetzgebung für das Verständnis allgemeinerer juristischer Entwicklungen? Aus Sicht progressiver Kräfte in den USA, die im Kampf gegen Rassismus aggressive staatliche Intervention an Provinzschulen verteidigten, muss seine Betonung der Gefahren der Verrechtlichung merkwürdig deplatziert gewirkt haben. Es ist daher vielleicht nicht überraschend, dass seine Darstellung schnell zur Zielscheibe heftiger Kritik wurde. Selbst wohlwollende Feministen und Feministinnen ließen kein gutes Haar an Habermas’ Diagnose und den dort implizierten, patriarchalen Annahmen bezüglich der Geschlechter- und Familienverhältnisse.7
Ingeborg Maus, die Politologin und Rechtstheoretikerin der Frankfurter Schule, zeigte bereits 1986 in einer bedeutenden Abhandlung die offensichtlichsten juristischen Schwächen in Habermas’ ursprünglicher Theorie auf.8 Rechtsentwicklungen gerade auf den Gebieten, die Habermas als besonders problematisch eingeschätzt hatte, zeigten sich im Gegenteil als am wenigsten vom abstrakten Formalrecht geprägt. Demnach seien Familien- und Schulrecht »am stärksten von ›freirechtlichen‹ Normen beherrscht [und] durch staatliche Rechtsetzung relativ unbeeindruckt«.9 Laut Habermas’ Schilderung war das Eindringen von abstraktem allgemeinem Recht verantwortlich für die Pathologien des Rechts, die der Kolonialisierung der Lebenswelt folgten: Die abstrakten Medien Macht und Geld schlössen sich mit Formalrecht zusammen, resultierend in besorgniserregenden ›gewalttätigen Abstraktionen‹. Diese Diagnose verschleiert jedoch die Tatsache, dass modernes Aufsichts- und Sozialrecht hochgradig ›materialisiert‹ sind: Sie stützen sich auf Einzelmaßnahmen, unklare Normen, pauschale und scheinbar moralistische Klauseln (z. B. ›auf Treu und Glauben‹) sowie auf Ermessens- und teilweise irreguläre Handlungen auf Seiten von Verwaltung und Justiz.10 Wie Weber nahezu ein Jahrhundert zuvor festgestellt hatte, werden die klassischen Typen des Formalrechts zunehmend seltener, besonders dort, wo Fragen der sozialen Wohlfahrt überragende Bedeutung gewinnen.11 Es ist ›materialisiertes‹ Sozialrecht und nicht in erster Linie ›abstraktes‹ allgemeines Recht, das die Grenzen zwischen Richtern und Bürokraten (mit Ermessensspielraum) verwischt, während traditionelle Formen der normbasierten juristischen Entscheidungsfindung zunehmend unüblich werden. Trotz des entscheidenden Bruchs mit Weber in dem Beharren, dass staatliche Bürokratien nicht ohne Grundierung (via Gesetz) in der Lebenswelt auskommen könnten, akzeptiert Habermas dennoch einen zu großen Teil von Webers Darstellung staatlicher Bürokratien als regelorientierte, hierarchisch strukturierte Institutionen. Dadurch verschleiert er die ungleich chaotischere Realität des modernen Verwaltungsstaates ebenso wie die Tatsache, dass die Pathologien, die er im Formalrecht verortet, ebenso anderen juristischen und institutionellen Entwicklungen zugeschrieben werden können. Kurz: Habermas stellt zu wesentlichen juristischen Facetten moderner Verrechtlichung eine Fehldiagnose und lastet ihre Pathologien dem falschen Übeltäter an. Seine systemtheoretisch inspirierte Beschreibung der abstrakten Medien Macht und Geld, welche ›gewalttätige Abstraktionen‹ generieren sollen, reproduziert implizit Elemente jener misslichen These des orthodoxen Marxismus’, derzufolge das allgemeine Recht nahtlos mit der Warenform verbunden sei. In der aktualisierten Version dieses Arguments ist ein enigmatischer ›monetär-administrativer Komplex‹ verknüpft mit problematischen Formen abstrakten Rechts.12
Maus weist zudem auf die Möglichkeit hin, dass beunruhigende Entwicklungen, die Habermas in den Bereichen der Familie und des Intimen identifiziert (z. B. die Erosion gesellschaftlicher Solidarität), besser aus der Position einer konventionelleren Kapitalismuskritik erklärt werden könnten. So sei zügellose kapitalistische ›Modernisierung‹ nach wie vor die direkte Ursache mancher Missstände, die Habermas der Verrechtlichung des Sozialstaates zurechnet.13
Maus stößt damit auf eine vielsagende Argumentationslücke. Wesentliche Punkte herkömmlich-linker Kapitalismuskritik wurden in der Theorie des kommunikativen Handelns vorschnell über Bord geworfen. So war etwa die direkte Unterordnung des Bildungssystems unter kapitalistische Imperative sicher weitaus schädlicher für Eltern, Schüler und Lehrer als die neuen Formen des juristischen Eindringens durch das Aufsichts- und Sozialrecht. Die kapitalistische ›Kolonialisierung‹ öffentlicher Schulen in den USA beispielsweise vollzieht sich am Ungeheuerlichsten dort, wo materielle Ungleichheit massive Nachteile für Kinder aus unterprivilegierten und Arbeiterschichten verursacht – noch bevor sozialstaatsartige Interventionen diese gelegentlich zu kompensieren versuchen. Noch schlimmere Beispiele lassen sich leicht finden: Unterfinanzierte amerikanische Schulen nutzen inzwischen ›lehrreiches‹ Unterrichtsmaterial der Kohleindustrie, von Wal-Mart und anderen bedeutenden kapitalistischen Akteuren, um veraltete Lehrmittel zu ergänzen. Genau genommen kommen diese Akteure sogar nur aufgrund des Mangels an ausreichender ›Verrechtlichung‹ mit ihrem Vorgehen davon. Die vielleicht größte Herausforderung öffentlicher Schulen in Amerika ist die materielle Ungleichheit zwischen den und innerhalb von Schulbezirken: Das ist zu weiten Teilen das Resultat eines anachronistischen Systems dezentralisierter Schulfinanzierung auf lokaler Ebene, in dem viele mittellose Bezirke (z. B. in verfallenden Industriegebieten) ihre Schüler nicht einmal mit dem Nötigsten versorgen können. In solchen Fällen liegt das Hauptproblem nicht in schlecht konzipiertem, ›abstrakten‹ Schul- oder Sozialrecht, welches sich unangemessen in das Lehrer-Schüler-Verhältnis einmischt. Tatsächlich liegt es an der Unterlassung, altmodisch-kapitalistische Ungleichheit durch kompromisslose juristische Maßnahmen anzugehen.14 Es ist eben grade mehr ›verallgemeinerte‹ oder ›abstrakte‹ Rechtsprechung (beispielsweise mit dem Ziel ausgeglichener Förderung quer über lokale Bezirksgrenzen hinweg), die von amerikanischen Progressiven gefordert wird.
Natürlich beruht auch die jüngere neoliberale Bildungspolitik letztlich auf Gesetzen. Dennoch scheint das juristische Phänomen, das Habermas in erster Linie beunruhigt (die problematischen Ableger eines ›abstrakten‹ Sozialrechts), nicht immer die Haupt- oder auch nur die wichtigste Ursache der anhaltenden ›Kolonialisierung‹ der Bildung zu sein. So sind beispielsweise jüngste Bestrebungen, öffentliche Bildung nicht mehr zu fördern oder sogar zu privatisieren, und die Arten rechtlicher Intervention des Sozialstaats, die in der Theorie des kommunikativen Handelns krititisiert werden, einander kaum ähnlich, geschweige denn eng verbunden.15
Wenn ich mich nicht täusche, liegt es an mehr als bloßer Flüchtigkeit des Autors, dass die Theorie des kommunikativen Handelns so erstaunlich wenig zu solch relativ konventionellen Formen kapitalistischer Pathologie zu sagen hat. Die Ursprünge dieser aufschlussreichen Leerstelle sind das Thema des nächsten Abschnitts.
III.
Die Neigung der Theorie des kommunikativen Handelns, Kapitalismuskritik als Kritik der Verrechtlichung neu zu formulieren, basierte auf einer Reihe von Grundlagen. Diese jedoch sind kritikanfälliger als es auf den ersten Blick scheint.
Habermas’ kritische Haltung zum Verwaltungs- und Sozialrecht beruht zu wesentlichen Teilen auf der zugrundeliegenden sozialtheoretischen These zum Verhältnis zwischen Verwaltungs- und kapitalistisch-wirtschaftlichem ›System‹. Im Gegensatz zum Marxismus, dessen Ökonomismus Habermas kritisiert, scheint die Theorie des kommunikativen Handelns beide Systeme als gleichursprünglich zu betrachten, was – vereinfacht ausgedrückt – besagt, dass jede brauchbare kritische Analyse unserer heutigen Gesellschaft den relativ autonomen Imperativen sowohl des Wirtschafts- als auch des Verwaltungssystems (ebenso wie Querverbindungen zwischen diesen beiden) gerecht werden müsse. Diese konstituierten, wie erwähnt, den »monetär-administrativen Komplex«, der sich zunehmend »gegenüber der kommunikativ strukturierten Lebenswelt […] verselbstständigt.«16 Entgegen den Versuchen der orthodoxen Linken, Kolonialisierung und Verdinglichung ausschließlich den ökonomischen Dynamiken des Kapitalismus anzurechnen, macht sich Habermas eine erkennbar Weber’sche Überarbeitung des Marxismus zu eigen. Dieser zufolge seien, wie angesprochen, Kolonialisierung und Verdinglichung in öffentlichen Institutionen ebenso wahrscheinlich wie in privaten, und selbst der Niedergang des Kapitalismus – wie durch den Staatssozialismus bezeugt – würde nicht ihr Ende bedeuten (II, 503). Tatsächlich scheint die abschließende Erörterung in der Theorie des kommunikativen Handelns zu suggerieren, dass ihre primäre Manifestation unter heutigen Bedingungen öffentlich sein würde: Verrechtlichung beträfe »die Beziehung von Klienten zu den Verwaltungen des Sozialstaates« (II, 476).
Habermas beharrt, wie Weber, sicher zu Recht darauf, dass jede plausible Interpretation moderner Gesellschaften die relativ unabhängige Dynamik der Staatsverwaltung gebührend berücksichtigen muss. Auch seine Kritik an der einseitigen und unvollständigen Darstellung moderner Gesellschaften im traditionellen Marxismus ist gerechtfertigt. Habermas’ Neigung, seine eigene Interpretation hier und da als die einzig vernünftige theoretische Alternative zum orthodoxen Marxismus darzustellen, verdeckt jedoch leider Teile der hier auftretenden analytischen Komplexität. Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass seine vertretbare sozialtheoretische Korrektur des Marxismus die womöglich unzulängliche Sozialdiagnose (d. h. die mängelbehaftete Kritik der Verrechtlichung) der Theorie des kommunikativen Handelns nicht ausreichend begründen kann. So ist es beispielsweise durchaus möglich, die Errungenschaften der weberschen Marxismusüberarbeitung zu akzeptieren, ohne deshalb auch die These übernehmen zu müssen, dass die Sozialpathologien der Gegenwart sich hauptsächlich auf der Ebene des Verwaltungs- und Sozialrechts, d. h. als Pathologien der Verrechtlichung, manifestieren. Sicher würde jeder ›gute‹ Weber-Marxist seine Augen für derartige Pathologien offenhalten. Abhängig von der empirischen Beweislage könnte er oder sie jedoch festhalten, dass eine der bedeutendsten Formen, in denen sich Kolonialisierung heutzutage manifestiert, mehr oder weniger unmittelbar ökonomisch ist und bleibt. Unser Weber-Marxist könnte zu dem Schluss kommen, dass unmittelbare Vermarktlichung und/oder Kommodifizierung der Lebenswelt auf Wegen, die nur indirekt mit dem Aufsichts- und Sozialrecht verbunden sind, den geeigneteren Ausgangspunkt für ein besseres Verständnis der Missstände unserer heutigen Gesellschaft bieten.
Meinem Verständnis nach bemüht sich Habermas, eben diesen Weg zu vermeiden; zumindest zeigt er sich in der Theorie des kommunikativen Handelns überraschend zurückhaltend beim Thema der unmittelbaren Vermarktlichung und Kommodifizierung der Lebenswelt, trotz der enorm wichtigen Rolle, die jene im modernen Kapitalismus einnehmen.17 Ebenso wenig äußert er sich hier zu den unzähligen weiteren, durch den Kapitalismus hervorgerufenen Pathologien (z. B. seine Tendenz, gewaltige materielle Ungleichheit zu provozieren und zeitliche ›Effizienz‹ systematisch zu privilegieren). Die Theorie des kommunikativen Handelns könnte, rein logisch, die zunehmende Kommodifizierung der privaten Sphäre des gesellschaftlichen Lebens als Beleg für Habermas’ Theorie anführen.18 Doch bleibt dies größtenteils aus. Sicher, die ›Monetarisierung‹ stellt einen wichtigen Teil der Verrechtlichungskritik dar; hauptsächlich jedoch betrachtet die Theorie des kommunikativen Handelns Monetarisierung und Kommodifizierung als Facetten des Verwaltungs- oder Sozialrechts (z. B. die monetären Entschädigungen für Arbeitslose und Rentner), und nicht als direkte oder unmittelbare Ausläufer des kapitalistischen Wirtschaftssystems (z. B. die Privatisierung staatlicher Daseinsvorsorge oder die Unterordnung der Familie unter den Rhythmus und die Anforderungen von Arbeitswelt und Konsumismus). Auch wenn die Monetarisierung in letzter Instanz mit den kolonialisierenden Imperativen des Subsystems Wirtschaft verbunden bleibt, so erfolgt sie in dieser Interpretation doch hauptsächlich auf der Ebene des Verwaltungs- und Sozialstaats. Kurz: Die Bedeutung des Kapitalismus für die Missstände der heutigen Gesellschaft erscheint indirekt, oder zumindest hochgradig vermittelt. Aus eben diesem Grund soll Verrechtlichung (d. h. die juristischen Pathologien des administrativ-monetären Komplexes) den angeblichen »Modellfall für eine Kolonialisierung der Lebenswelt« (II, 476) darstellen.19 Tatsächlich scheint Habermas an gewissen Stellen anzudeuten, dass eben diese Umorientierung das Erklärungspotential seiner Theorie von der konventiellen – und unbefriedigenden – Sozialdiagnose unterscheidet, die dem orthodoxen Marxismus entwuchs.
Ungeachtet der Vorteile dieser Herangehensweise gibt diese Neuorientierung Grund zur Sorge. Auch wenn Verwaltungs- und Aufsichtsrecht heutzutage in vielerlei Weise mit ökonomischem Handeln verwoben sind und es dadurch zunehmend schwieriger wird, Pathologien des Kapitalismus deutlich von solchen in Verwaltung und Recht abzugrenzen, so lässt sich dennoch eine Vielzahl empirischer und analytischer Gründe finden, diese Überlappung nicht übermäßig aufzubauschen. Am offensichtlichsten ist dieser: Kritische Theorie wäre gut beraten, die weiter aktuell bleibende Bedeutung kapitalistischer Pathologien, die nur indirekt mit der im letzten Teil der Theorie des kommunikativen Handelns thematisierten Verrechtlichung verwandt sind, nicht zu unterschätzen. Spätestens seit Ende des keynesianischen Klassenkompromisses der Nachkriegszeit und dem Wiederaufleben der politischen Rechten in den späten 1970ern sind die Einwohner selbst der privilegiertesten kapitalistischen Gesellschaften einer nahezu demiurgischen Kapazität des modernen Kapitalismus ausgesetzt, die gesellschaftliches Leben in massiver Weise formt (und deformiert). Natürlich wurden wesentliche Teile dieser Entwicklung auf juristischem Wege umgesetzt. Manche jedoch scheinen nur entfernt mit den Pathologien der Rechtsentwicklung verwandt, wie sie auf den letzten Seiten der Theorie des kommunikativen Handelns beschrieben sind. Und selbst diese basieren im Wesentlichen auf wirtschaftlichen oder materiellen Veränderungen: die Weltwirtschaft wurde in den 1970ern von einer ›Akkumulationskrise‹ getroffen, die eine massive Reorganisation der Nachkriegswirtschaft zur Folge hatte.20 Obgleich es sich um neue Entwicklungen handelt, erinnern doch viele von ihnen an althergebrachte Formen kapitalistischer Ungerechtigkeit: Schule, Familie und unzählige weitere gesellschaftliche Bereiche werden im Eiltempo mit den Systemdynamiken des aufkommenden – und nach wie vor stark umstrittenen –›post-fordistischen‹ Kapitalismus in Einklang gebracht. Selbst das sogenannte ›Verwaltungs‹-System wird outsourced oder zumindest umgebaut – im Einklang mit den Organisationsmodellen des modernen Kapitalismus, deren angebliche Flexibilität und Effizienz inzwischen weithin gerühmt werden.21 Entgegen Habermas’ Erwartungen in der Theorie des kommunikativen Handelns haben auch jüngere soziale Protestbewegungen einen unmittelbar klassenbasierten Charakter angenommen: Denken wir z. B. an die sogenannte Antiglobalisierungsbewegung, an aktuelle Proteste gegen Neoliberalismus und Austeritätsmaßnahmen in Europa und anderswo, oder an den ökonomischen Populismus unzähliger Bewegungen und Parteien im linken wie im rechten Spektrum. Hierbei sind große Teile der Bevölkerung involviert, und nicht, wie die Theorie des kommunikativen Handelns vermuten ließe, lediglich vom keynesianischen Kompromiss ausgeschlossene Randgruppen (vgl. II, 512). Die postmaterialistische politische Haltung, die wir auf den letzten Seiten der Theorie des kommunikativen Handelns finden, spielt im Vergleich mit altmodischem ›meat and potatoes‹-Materialismus nur eine Nebenrolle (vgl. II, 576 f.).
Es sollte uns Sorgen bereiten, dass die analytische Struktur der Theorie des kommunikativen Handelns ihrem Autor – und denjenigen (inklusive des Verfassers dieser Zeilen), die sein Vorhaben mit Wohlwollen begleiten – Anlass gibt, die Bedeutung manch wesentlicher Pathologien unserer heutigen Gesellschaft herunterzuspielen. Auch wenn wir den orthodoxen Marxismus zu Recht aussortiert haben mögen, müssen wir dennoch mehr traditionell-linken Facetten der Kapitalismuskritik einen höheren Status in unseren theoretischen und praktischen Bemühungen einräumen.
Eine nähere Betrachtung zentraler Stellen der Theorie des kommunikativen Handelns verweist auf zusätzliche, theorieinterne Gründe für Habermas’ Vernachlässigung – oder vielleicht mangelnde Antizipation ihrer anhaltenden Bedeutung – von vergleichsweise konventionellen Arten sozialer Pathologien des Kapitalismus. Seine Beschäftigung mit der Verrechtlichung basiert zumindest teilweise auf der Idee, dass Staatsverwaltung als ›System‹ begriffen werden könne, in perfekter Analogie zum Wirtschaftssystem des modernen Kapitalismus, und folgerichtig, dass Verwaltungshandlungen durch ein abstraktes Medium (hier: ›Macht‹) koordiniert werden könnten, in gleicher Weise wie der Steuerungsmechanismus (›Geld‹) der Wirtschaft. In detaillierter und kritischer Aufarbeitung von Parsons, von dem er die Idee von Macht und Geld als den zwei Hauptsteuerungsmedien der heutigen Gesellschaft übernimmt, beschreibt Habermas, wie moderne Subsysteme ihre Autonomie gegenüber der Lebenswelt nur dann erringen können, wenn sich das Vorhandensein koordinierender Medien zeigen lässt, welche »Verständigungsbedarf, Interpretationsaufwand und Dissensrisiko« effektiv verringern (II, 393). Von diesem Standpunkt aus können »Medien wie Geld oder Macht […] die Kosten von Dissens weitgehend einsparen, weil sie die Handlungskoordinierung von sprachlicher Konsensbildung abkoppeln« (II, 393). Unzählige kritische Kommentatoren haben sich den Kopf zerbrochen über Parsons’ idiosynkratische Auffassung von Macht, gemäß derer sich ihre Dynamiken als Parallele zur Funktionsweise des Geldes in einer Marktwirtschaft denken ließe, doch Habermas scheint davon überzeugt, dass grade dieses Merkmal der Systemtheorie wesentlich für seinen Versuch ist, sie mit den Errungenschaften der kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu verbinden.22
Seine Rechtfertigung dafür, Macht in Analogie zu Geld – und damit grundlegend für das Verständnis von Staatsverwaltung als ›System‹– zu betrachten, entpuppt sich leider als eine der unbefriedigendsten Passagen der Theorie des kommunikativen Handelns (II, 391-419).23 Tatsächlich sind es wiederholt Habermas’ eigene Aussagen, die das Vorhandensein essentieller Unterschiede zwischen Geld und Macht untermauern. Trotz Parsons’ Bemühungen, die Idee der Systemmedien auf Bereiche jenseits der Ökonomie auszuweiten, gibt Habermas sofort zu, »dass die strukturellen Analogien […] undeutlicher, die begrifflichen Bestimmungen nicht nur abstrakter, sondern auch unpräziser und am Ende metaphorisch werden« (II, 386). Vielleicht sei das Konzept eines Steuerungsmediums nur in direkter Verbindung mit materieller Reproduktion sinnvoll (vgl. II, 391). Geld funktioniere nur deshalb als Steuerungsmedium, weil der so geartete Informationsfluss »nach einer von Konsensbildungsprozessen unabhängigen Automatik verlaufen soll« (II, 395), leicht messbar sei und auf unkompliziert quantifizierbare Art übertragen und gelagert werden könne, was den Bedarf an kommunikativem Austausch massiv reduziere. Wie Habermas jedoch zugesteht, zirkuliert Macht weitaus weniger mühelos als Geld; sie ist auch nicht leicht zu lagern, zu hinterlegen oder zu berechnen. Tatsächlich ist ihr abstrakter oder generalisierbarer Charakter von Natur aus anfälliger als der des Geldes: »Gleichwohl wohnt ihr stets die Tendenz inne, sich mit der Person des Mächtigen und dem Kontext der Machtausübung stärker symbiotisch zu verbinden« (II, 402). Sie unterscheide sich auch in ihren Folgen; Parsons’ These, dass sich direkte Parallelen ziehen ließen zwischen den üblichen Eigenschaften einer Marktwirtschaft (z. B. Inflation und Deflation) und denen des politischen Systems, hätte sich ebenso als problematisch erwiesen (vgl. II, 403). Der wichtigste Punkt dürfte sein, dass trotz der Abhängigkeit einer erfolgreichen Marktwirtschaft vom Vertrauen (beispielsweise in die zukünftige Übertragbarkeit von Zahlungsmitteln in Waren und Dienstleistungen) Macht in unmittelbarer Weise der Legitimation bedarf (vgl. II, 402-405). Geldbasierte Tauschbeziehungen seien nicht notwendigerweise für einen der Beteiligten zum Nachteil, während Verwaltungsmacht verlange, dass einer der Teilnehmer Befehle entgegennimmt und daher strukturell benachteiligt wird (II, 406). Es sei daher nicht überraschend, dass das Medium Macht enger mit der Lebenswelt und den Prozessen gesellschaftlicher Reproduktion verbunden ist als Geld. Letzteres werde »zwar mit der kommunikativ strukturierten Lebenswelt rückgekoppelt, aber nicht, wie das legitimationsbedürftige Machtmedium, von sprachlichen Konsensbildungsprozessen wiederum abhängig gemacht« (II, 407).
Ohne dies ausreichend zu belegen, beendet Habermas seine Betrachtungen dennoch mit der (vielsagend halbherzigen) Bemerkung, dass sich die beiden Medien zwar unterschieden, jedoch »nicht so stark, dass dadurch das Medienkonzept der Macht völlig entwertet würde [!]« (II, 403). Ein wichtiges Argument, Macht als ausreichend analog zu Geld zu betrachten, scheint ihm zu sein, dass »in der Politikwissenschaft […] immerhin Versuche gemacht [wurden], das Medienkonzept der Macht für die Wahlforschung oder den internationalen Systemvergleich nutzbar zu machen« (II, 407). Doch Habermas liefert so gut wie keine Beweise für diese Behauptung, die viele Politikwissenschaftler zu jener Zeit – ebenso wie heute – als zumindest kontrovers betrachtet haben dürften. Ebenso frustrierend ist der Kern seiner Kritik an Parsons und dessen Versuch, das Konzept des Steuerungsmediums auf Einfluss und Prestige auszuweiten: »Sie können Interaktionen vom lebensweltlichen Kontext des geteilten kulturellen Wissens, geltender Normen und zurechenbarer Motivationen nicht abkoppeln« (II, 412). Trotz seines eigenen, vorangegangenen Arguments, dass Macht enger mit der Lebenswelt verbunden sei als Geld, postuliert Habermas, dass nur Geld und Macht »sprachliche Kommunikation nicht nur vereinfachen sondern durch eine symbolische Generalisierung von Schädigungen oder Entschädigungen ersetzen«, welche wiederum die Lebenswelt entwerteten: »die Lebenswelt wird für die Koordinierung von Handlungen nicht länger benötigt« (II, 418). Macht, so stellt sich heraus, sei letztlich von Geld nicht allzu sehr verschieden, trotz all der ausführlichen Bemerkungen, die an anderer Stelle das Gegenteil behaupten.
Weder die an sich vernünftige Weber’sche Marxismuskorrektur noch die eher verblüffende Umformulierung Parsons’ in der Theorie des kommunikativen Handelns können ausreichende Gründe für die Fokussierung des Autors auf die Missstände der Verrechtlichung liefern. In letzter Instanz basiert diese Fokussierung auf einem anderen Fundament, welches aber seitdem zunehmend zerbröckelt.
Ein weiterer Kritikpunkt am Mainstream-Marxismus ist in der Theorie des kommunikativen Handelns das Scheitern, die qualitativen Veränderungen des modernen Kapitalismus erklären zu können, die durch das massive Eingreifen des Staates, durch Massendemokratie und den modernen Sozialstaat zustande gekommen sind. Mit unmittelbarem Bezug auf Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (das Buch ist bezeichnenderweise 1973 erschienen, kurz bevor sich der keynesianische Sozialstaat der Nachkriegszeit einer Reihe von Krisen ausgesetzt sehen sollte) beschreibt Habermas das Verwaltungssystem als Entschärfung traditioneller ökonomischer und klassenbasierter gesellschaftlicher Konflikte durch eine Reihe bürokratisch umgesetzter, sozialer Entschädigungen. Obwohl Klassenungleichheit weiterhin grundlegend für den Kapitalismus bleibe, habe der Verwaltungsapparat der Nachkriegszeit den Klassenkonflikt wirksam pazifiziert, bis hin zu dem Punkt, da »[d]ie ungleiche Verteilung sozialer Entschädigungen […] sich nicht mehr umstandslos auf Klassenlagen zurückführen« (II, 512) ließen. Der Klassenkonflikt verliere damit seine »strukturbildende Kraft für die Lebenswelt sozialer Gruppen«, wogegen neue Arten der klassen-unspezifischen Verdinglichung (d. h. Verrechtlichung) an Bedeutung gewönnen: »Ökonomisch bedingte Krisentendenzen [werden] nicht nur administrativ bearbeitet, gestreckt und aufgefangen, sondern unbeabsichtigt ins administrative Handlungssystem verlagert« (II, 506). Um die wichtigsten Pathologien heutiger Gesellschaften verstehen zu lernen, sei daher der Verwaltungs- und Sozialstaat der angemessene Ort. Aus diesem Grund erhält die Kritik pathologischer Verrechtlichung (z. B. problematische Auswüchse in Aufsichtsrecht und Verwaltungshandlungen) ihre privilegierte Rolle in der Analyse, während konventionelle Facetten der Kapitalismuskritik in den Hintergrund entschwinden. Offenbar ist Habermas überzeugt, dass diese revidierte Analyse der modernen politischen Ökonomie unabdingbar ist für das Bestreben in der Theorie des kommunikativen Handelns, eine modernisierte – und dennoch erkennbar marxistische – Sozialtheorie zu formulieren, die den gesellschaftlichen Bedingungen der heutigen Zeit entspricht.
Schon als Habermas erstmals diese stark stilisierte Beschreibung der politischen Ökonomie des Nachkriegskapitalismus vorschlug, ließ sich diese nur auf einen kleinen Kreis einzelstaatlicher Situationen anwenden und vernachlässigte den Umfang gesellschaftlicher und klassenbasierter Spezifizität.24 Noch offensichtlicher wurde dies Mitte der 1980er, als sich der fordistische Kapitalismus sowie der Sozialstaat der Nachkriegszeit in Großbritannien, den USA und anderswo bereits in Auflösung befanden.25 Bis heute sieht sich der Sozialstaat in den meisten europäischen Staaten ebenso wie in den kapitalistischen Industriestaaten Asiens (z. B. Australien, Japan, und Neuseeland) und Nordamerikas massivem Druck ausgesetzt. Zudem erweist sich Habermas’ Interpretation als wenig hilfreich bei der Aufgabe, neu entstehende kapitalistisch-politische Ökonomien wie das demokratische Indien, das autoritäre China oder auch nur die postkommunistischen Marktwirtschaften Osteuropas zu erklären. Sicher bleibt Verwaltungsmacht eine Hauptquelle gesellschaftlicher Missstände. Dennoch erscheint die kontroverse Behauptung, dass konventionelle Formen wirtschaftlicher und Klassenungleichheit im Kapitalismus in den Verwaltungsapparat ›verschoben‹ seien, deutlich provinzieller als noch in den 1980ern. Zum Beispiel lohnt es sich in Anbetracht dessen, dass die »rechtliche Institutionalisierung des Tarifkonflikts« die unmittelbare Grundlage für die »sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts« (II, 510) darstellt, daran zu denken, dass selbst in hochkapitalistischen Staaten die Zahl der durch Gewerkschaftsverträge abgedeckten Werktätigen sinkt.26 Kein Wunder, dass wir selbst dort starke Belege für das alarmierende Ausmaß finden, in dem die ökonomischen Ungleichheiten des Kapitalismus unmittelbar das soziale Dasein bestimmen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Prozentsatz der Männer, deren potenzielles Einkommen durch den Verweis auf das ihrer Väter vorhergesagt werden konnte, ging zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1980er Jahren erheblich zurück. Im Jahre 2000 hatte sich dieser Anteil verglichen mit den 1950er Jahren verdoppelt und lag nun etwa auf dem Niveau der Ära vor dem New Deal. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Sohn eines Arbeiters ebenfalls nicht über ein Arbeitereinkommen hinauskommt, war in 1980er Jahren doppelt so groß geworden wie in den 1920ern. Die Situation hat sich gegenüber den 1950ern Jahren verschlechtert und gleicht der aus den 1910er und 1920er Jahren. 36 Prozent der amerikanischen Kinder, deren Eltern sich im untersten Fünftel der Vermögensverteilung wiederfinden, werden dort auch bleiben; und jene, die in höhere Einkommensschichten hineingeboren werden, werden ebenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit dort verbleiben als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Wie auch andere kapitalistische Industriestaaten bleiben die USA mit Sicherheit eine Gesellschaft, in der die Kategorie der sozialen Klasse nicht nur verstörend zentral bleibt, sondern wo Klassenungleichheit in dramatischem Ausmaße zunimmt.27
IV.
Unsere Untersuchung der kritischen Beschreibung der Verrechtlichung in der Theorie des kommunikativen Handelns richtet unsere Aufmerksamkeit auf einen Grund für Habermas’ vollständige Hinwendung zu juristischen Themen in den späten 1980ern und frühen 1990ern, der leicht übersehen werden kann: Einer der entscheidenden Thesen der Theorie des kommunikativen Handelns zufolge nehmen zentrale Sozialpathologien in heutiger Zeit Formen der Gesetzgebung und der Verwaltung an, und Aufgabe kritischer Theorie müsse es daher sein, besonderes Augenmerk auf die Dilemmata heutigen Sozialrechts zu richten. Als Resultat dieser Bemühung erschien Faktizität und Geltung Anfang der 1990er Jahre als ein bedeutender – und tatsächlich äußerst beeindruckender – Beitrag zu Jurisprudenz und praktischer Philosophie. In Anbetracht der Imposanz dieses Werkes mag es pedantisch scheinen, auf bestimmte Spielarten hinzuweisen, in denen sich die von mir beschriebenen Schwächen auch in Faktizität und Geltung wiederfinden. Meinem Verständnis nach ist dieses Werk teilweise als Konsequenz eines wichtigen, aber verborgenen Stranges Habermas’schen Denkens zu verstehen, demzufolge sich traditionelllinke Kapitalismuskritik als Kritik moderner Gesetzgebung rekonfigurieren lasse. Selbst in der beeindruckenden Ausarbeitung in Faktizität und Geltung weist diese Umformulierung jedoch eine Reihe problematischer Schwachpunkte auf.
Doch bevor wir uns diesen Schwachpunkten zuwenden, sei hier auf ein weit verbreitetes exegetisches Missverständnis eingegangen: Habermas’ frühere Kritik der Verrechtlichung verschwindet keineswegs durch seine sogenannte ›juristische Wende‹ in Faktizität und Geltung.28 Auch wenn der Begriff ›Verrechtlichung‹ nur wenige Male in Faktizität und Geltung auftaucht, so geistert ihr Phantom doch durch jedes einzelne Kapitel (FG, 472)29. Wie schon die Theorie des kommunikativen Handelns, so interpretiert auch Faktizität und Geltung modernes Recht als Scharnier oder Transformator, angesiedelt in der heiklen Position zwischen Lebenswelt und den Subsystemen Wirtschaft und Verwaltung. Auch hier beschreibt Habermas wiederholt die besorgniserregende Aussicht auf ein Verwaltungssystem, das sich auf problematischen juristischen Wegen ›selbst programmiert‹– und dadurch von der Lebenswelt (oder dem, was er nun manchmal als kommunikative Macht beschreibt) abkapsele. Die Möglichkeit einer juristisch vermittelten Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Verwaltung bleibt weiterhin für seine Diagnose der Missstände unserer modernen Gesellschaft wesentlich. Trotz des Zugeständnisses (wie zuvor in der Theorie des kommunikativen Handelns), dass die Frage, ob die Lebenswelt vom Verwaltungssystem (und dem Medium Macht, nun teils als administrative Macht umschrieben) überwältigt wird, eine empirische bleibe, ist Habermas doch weiterhin um die Möglichkeit einer »tendenziell verselbständigte[n] administrative[n] Macht« besorgt (FG, 400; siehe auch 59 f., 105 f., 186 f., 398 u. 468-537). Ebenso wenig hat er seine Besorgnis bezüglich einer möglichen Verdinglichung in Folge der zunehmenden Hegemonie des Verwaltungssystems über die Lebenswelt vollständig aufgegeben (FG, 391).
Wie schon in der Theorie des kommunikativen Handelns widmet Habermas auch in Faktizität und Geltung das Schlusskapitel den aktuellen Debatten um mögliche Rechtsreformen: Er ist immer noch, zumindest implizit, der Auffassung, dass sich Kapitalismuskritik als Kritik gesetzlicher Regelung umformulieren ließe – und das in größerem Umfang, als er je begründen konnte. Daraus folgt, dass soziale Reform, in überraschend hohem Maße, Rechtsreform mit sich bringen müsse. Die konstruktiven Reformvorschläge in Faktizität und Geltung betreffen daher die Möglichkeiten neuer ›Paradigmen des Rechts‹.
Auf der einen Seite gelingt es Habermas, seine früheren Thesen zu aktualisieren; seine juristische Diagnose im letzten Kapitel von Faktizität und Geltung, »Paradigmen des Rechts«, übertrifft ihre Vorgängerversion. Der Kotau des Rechts vor dem Subsystem der Verwaltung bedrohe individuelle Autonomie und generiere gleichzeitig bürokratischen Paternalismus und Normierung. Problematischerweise »programmiert sich die Verwaltung selbst«, besonders dann, wenn ihre Handlungen nicht mehr eng an demokratisch hervorgebrachte Rechtsnormen gebunden sind (FG, 522). Besonders häufig sei diese Gefahr im modernen Sozialstaat anzutreffen, in dem kontraproduktive Formen administrativen und juristischen Handelns zu oft von kommunikationsbasierter Entscheidungsfindung abgekoppelt seien. Mit großer Sorgfalt identifiziert Habermas die Materialisierung des Rechts – und nicht in erster Linie die sogenannten ›gewalttätigen Abstraktionen‹ des klassischen Formalrechts – als einen entscheidenden Faktor in der Marginalisierung der Lebenswelt. So drohe beispielsweise die Ausuferung unklarer und ergebnisoffener Maßstäbe das Prinzip der Gewaltenteilung, deren Aufrechterhaltung für das Gipfeln freier Deliberation in rechtmäßigem staatlichem Handeln wesentlich sei, zu Kleinholz zu verarbeiten. Die administrative Kolonialisierung der Lebenswelt könne durch eine Vielzahl verschiedener Arten des Rechts erfolgen.
Auf der anderen Seite wiederholen und verschärfen sich in Faktizität und Geltung die teilweise rätselhaften diagnostischen Wendungen, die mit der wachsenden Fokussierung des Autors auf juristische Fragen einhergingen. Obwohl Faktizität und Geltung auf der Theorie des kommunikativen Handelns aufbaut und sich offensichtlich der dort formulierten Umarbeitung der Systemtheorie bedient, erscheint das spätere Buch vom Frankfurter Marxismus noch weiter entfernt. Zwar hebt Habermas die zentrale Rolle weitgehender sozialer und ökonomischer Gleichheit für die Demokratie hervor und spricht von einer Öffentlichkeit, »die aus Klassenschranken hervorgetreten ist und die jahrtausendealten Fesseln gesellschaftlicher Stratifikation und Ausbeutung abgeworfen hat« (FG, 374), doch seine Kommentare bezüglich der kapitalismusbasierten sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten bleiben unsystematisch.30 Trotz seiner offensichtlichen Besorgnis ob der Möglichkeit, dass dem Wirtschaftssystem die Tendenz zur Kolonialisierung der Lebenswelt innewohnen könnte, widmet Habermas seine intellektuelle Schlagkraft erneut hauptsächlich der Übersetzung dieser Sorge in juristische Form: Klassisch-liberales ebenso wie materialisiertes Sozialrecht werden wegen ihrer Fundierung auf ökonomistischen oder »produktivistische[n]« Bildern einer Gesellschaft kritisiert, die den demokratischen Kern des Rechts verzerrten und die private Autonomie gegenüber der öffentlichen privilegierten (FG, 491). Erneut tendiert Habermas dazu, eine ökonomisch begründete Kritik von Monetarisierung und Kommodifizierung in die vergleichsweise engen Grenzen seiner Rechtskritik zu lenken.
Habermas’ Überlegungen zur Macht in Faktizität und Geltung sind sowohl detaillierter als auch nuancierter als noch in der Theorie des kommunikativen Handelns. Dennoch hält er störrisch an der fragwürdigen These fest, dass die Systeme von Verwaltung und Wirtschaft gleichursprünglichen Status besitzen, und dass sich für beide abstrakte, koordinierende Medien (d. h. Macht und Geld) leicht identifizieren lassen.31 Im vorangegangen Abschnitt habe ich argumentiert, dass dieser Schritt teilweise durch eine hochgradig kontingente und tatsächlich auch kontroverse empirische These zum Kapitalismus der Gegenwart motiviert ist, derzufolge ökonomische und Klassenspannungen in das Verwaltungssystem und die Lebenswelt verlagert würden. Die Tatsache, dass Faktizität und Geltung weiterhin die Hauptpathologien heutiger Gesellschaften auf der Ebene gesetzlicher Regelungen ansiedelt, mag darauf hindeuten, dass Habermas an dieser Darstellung nach wie vor festhält. Zumindest wird sie an keiner Stelle des Buches revidiert.32
Auf der einen Seite bietet uns Faktizität und Geltung eine kraftvolle und in vielerlei Hinsicht prägnante Neuformulierung der Kritik der Verrechtlichung. Auf der anderen degradiert dieses Werk auf problematische und unvertretbare Weise den Status konventionell-linker Anliegen innerhalb kritischer Theorie – z. B. Klassenpolarisierung, wachsende soziale Ungleichheit und eine Unmenge damit verbundener ökonomischer und sozialer Missstände. Es überrascht daher nicht, dass Habermas’ Demokratie- und Rechtslehre zu diesen bedeutenden Themen, trotz ihrer Wichtigkeit für jüngste politische und gesellschaftliche Entwicklungen, letztlich wenig beitragen kann.
V.
Zweifellos bedeuten die von Habermas in Faktizität und Geltung vorgeschlagenen Rechtsreformen (d. h. sein prozessuales Alternativparadigma) einen großen Schritt nach vorne, verglichen mit den unterentwickelten Vorschlägen, die er im letzten Abschnitt der Theorie des kommunikativen Handelns andeutet.33 Es existieren stichhaltige Gründe für Rechtstheoretiker und andere, dieses Paradigma als Leitlinie anzunehmen. Sein größtes Verdienst liegt in dem Bestreben, der Abwertung öffentlicher Autonomie entgegenzuwirken, welche aus Habermas’ Sicht die Achillesferse des ›produktivistischen‹ Formal- und materialisierten Sozialrechts darstellt. Prozessuales Recht hat zum Ziel, »die private und öffentliche Autonomie der Bürger dadurch uno actu zu sichern, daß jeder Rechtsakt zugleich als Beitrag zur politisch-autonomen Ausgestaltung der Grundrechte […] verstanden werden kann« (FG, 494). Weder Formalrecht noch materialisiertes Recht müssten der Kolonialisierung durch Subsysteme unterworfen werden, und pathologische Formen der Verrechtlichung könnten erfolgreich umgangen werden. Prozessuales Recht könnte administrative Macht besser mit kommunikativer Macht verbinden, unter anderem durch eine umfangreicher als zuvor betriebene »Artikulation der Vergleichsgesichtspunkte und einer Begründung der relevanten Hinsichten, die von den Betroffenen selbst in öffentlichen Diskursen vorgenommen werden müssen« (FG, 513). Um es ganz einfach auszudrücken: Der Gesetzgeber würde zwischen konkurrierenden Formen gesetzlicher Regelung (inklusive denen des Formalrechts und des materialisierten Rechts) wählen, und dies »je nach regelungsbedürftiger Materie […]. Denn der reflexive Umgang mit alternativen Rechtsformen verbietet die Auszeichnung des abstrakten und allgemeinen Gesetzes […]« (FG, 528):
»Der reflexive Umgang mit Recht verlangt vom parlamentarischen Gesetzgeber zunächst Entscheidungen auf einer Metaebene – Entscheidungen darüber, ob er überhaupt entscheiden soll, wer an seiner Stelle entscheiden könnte und, falls er entscheiden will, welche Folgen sich für die legitime Verarbeitung seiner Gesetzesprogramme ergeben« (FG, 529).
Anders als in den Paradigmen des Formalrechts oder des Sozialrechts wird hier kein spezifisches Rechtsmodell begünstigt: Bürger und Gesetzgeber sind zur Deliberation über spezielle Regulierungsmaßnahmen ebenso verpflichtet wie zu Entscheidungen auf der Meta-Ebene über die optimale Methode, jene durchzuführen, ohne dabei Bürger auf passive Kunden zu reduzieren. Dies kann durch die Entscheidung für gewohnte Wege des Rechts (d. h. gesetzt und materialisiert) geschehen. Möglich ist aber auch – wie Habermas vorsichtig suggeriert – das Experimentieren mit anderen Mitteln.
Damit ist selbstverständlich noch lange nicht alles zum Thema des prozessualen Rechts gesagt. Trotz seines tatsächlich vorhandenen Potentials haben auch wohlwollende Leser kritische Fragen gestellt.34 In dem begrenzten Rahmen dieser Arbeit wende ich mich dabei nur einer der programmatischen Lücken zu.
Habermas vereinigt direkt die Möglichkeit der erfolgreichen Institutionalisierung des prozessualen Paradigmas mit der Aussicht auf eine Fortführung des Sozialstaates ›auf höherer Reflexionsstufe‹. Im Gegensatz sowohl zu Neoliberalen, die ihn ›abbrechen‹, als auch zu denjenigen Linken, die ihn auf herkömmlich staatszentrierten Wegen ausbauen wollen (und dadurch eine Verschärfung der privilegierten Stellung des Verwaltungssystems riskieren), glaubt Habermas, dass wir einen weiter entwickelten, ›reflexiven‹ Sozialstaat benötigen, in welchen das Verwaltungssystem durch »schonende Formen indirekter Steuerung« den Kapitalismus auf sozial und ökologisch feinfühligen Wegen umstrukturiert (FG, 410). Wie bereits in der Theorie des kommunikativen Handelns wird das Schicksal des Sozialstaates, wenig überraschend, unmittelbar mit der Möglichkeit einer alternativen Form gesetzlicher Regelung verknüpft. Ob wir den Kapitalismus humanisieren und eine ökologische Krise vermeiden können, hänge ebenfalls von der Erfüllung beider Aufgaben ab – vom Umbau des Sozialstaats wie von der Einführung des prozessualen Paradigmas.
Aus einer bestimmten Perspektive ist dies eine überaus vernünftige Haltung, welche diejenigen von uns, die Habermas’ intellektuelle Entwicklung seit Jahren und mit Bewunderung verfolgen, einnehmen können und sollten. Aus einer anderen Perspektive aber scheint etwas zu fehlen: Nicht nur offeriert uns Habermas kaum konstruktive Ideen, wie ein besserer Sozialstaat konkret aussehen könnte, geschweige denn, wie er auf die Beine gestellt werden könnte. Darüber hinaus können uns auch viele Schlüsselkonzepte seiner eigenen Theorie leicht dazu bewegen, konventionelle Inhalte der politischen Ökonomie zu ignorieren, die wesentlich sind für jeden ernsthaften Versuch, den Kapitalismus zu zähmen und den Sozialstaat zu bewahren. Nachdem er Kapitalismuskritik in neuartigem Ausmaß als Kritik der Verrechtlichung neu formuliert, und in der Folge die erstere zu Gunsten der letzteren regelmäßig vernachlässigt hat, gibt Habermas letztendlich implizit zu, dass kritische Theorie beide benötigt: Ohne eine aktualisierte kritische Theorie der politischen Ökonomie des Kapitalismus, mit der wir den zahlreichen Wegen, auf denen er Sozialpathologien generiert, gerecht werden, werden wir weder den Sozialstaat voranbringen, noch eine neue und potenziell überlegene Gesetzgebungs- und Rechtsreform institutionalisieren können.
Natürlich muss dies ohne einen Rückfall in grobschlächtigen Marxismus geschehen. Auch müssen wir vermeiden, die vielen fruchtbaren Einblicke in modernes Recht zu vernachlässigen, um die Habermas die kritische Theorie bereichert hat. Und dennoch: Eine substanzielle und facettenreiche Kapitalismuskritik – in Teilen inspiriert von traditionell-linker Theorie – darf uns bei unseren Bemühungen nicht abhandenkommen.35