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Kapitel 1

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Der Buddha in Deinem Spiegel

Solange jemand in Illusionen lebt,

nennt man ihn ein gewöhnliches Wesen,

doch ist er erleuchtet,

nennt man ihn einen Buddha.

Dies lässt sich mit einem

blinden Spiegel vergleichen,

der wie ein Juwel glänzt,

sobald er poliert wird.

– Nichiren

Wenn es eine Religion gibt,

die sich mit wissenschaftlichen

Bedürfnissen vertragen kann,

so wäre das der Buddhismus.

– Albert Einstein

Vögel singen. Der Wind weht. Die Erde dreht sich. Sterne funkeln und sterben. Galaxien kreisen anmutig durch den Weltraum. Der Mensch wird geboren, lebt, wird alt und stirbt. Die Muster des Daseins sind voller Geheimnisse und unermesslich. Wer kann sie auch nur ansatzweise verstehen?

Unser Alltagsleben ist – wenn man nur genau hinsieht – ähnlich komplex: Wer kann zum Beispiel stets die Bedürfnisse eines dreijährigen Kindes ermessen, ganz zu schweigen von denen unserer Schwiegereltern oder unseres Chefs? Innerhalb eines einzigen Tages sind wir mal entzückt, mal verzweifelt. Triviale Dinge mögen uns vorübergehend glücklich machen, zeitweilige Rückschläge unsagbar traurig.

Sorgen nehmen sehr leicht den Platz ein, auf dem das Glück eben noch saß. Das Leben lässt sich als ständiger Kampf gegen Probleme interpretieren. Große Probleme, kleine Probleme.

Nie zuvor in der Geschichte des Westens haben sich so viele Menschen der zeitlosen Weisheit des Buddhismus zugewandt, um Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu finden und mit den Problemen des täglichen Lebens fertig zu werden. Das ist kein Zufall, leben wir doch in einem Zeitalter des Experimentierens und des wissenschaftlichen Forschens und der Buddhismus hat kein Problem mit der Welt der Wissenschaft. Der Buddhismus wird sogar als »Wissenschaft vom Leben« bezeichnet.

Die Bilderwelt und die Sprache des Buddhismus haben zweifellos zunehmend Eingang gefunden in die zeitgenössische Kultur, in Filme, Popsongs, Zeitschriften und TVSerien.

Da gibt es den Buddha aus dem Roman Der Buddha aus der Vorstadt oder das Dharma aus der TV-Komödie Dharma und Greg.

Der Begriff Karma gehört mittlerweile zur Umgangssprache des Westens: Munter wird mit ihm alles Mögliche etikettiert, von Bio-Fruchtdrinks bis zu quälenden Beziehungsproblemen.

Jeder, den wir dieser Tage nicht leiden oder verstehen können, scheint mit »miesem Karma« behaftet zu sein. Und irgendwie ist auch alles Zen – vom Golfspielen über das Niederzwingen Deiner Gegner im Büro bis hin zum Falten Deiner Wäsche. Obi Wan Kenobi kann man per se nicht unbedingt als Buddhisten bezeichnen, doch seine hervorstechende Fähigkeit im Umgang mit der metaphysischen Macht in den Episoden von Star Wars, dieser mystischen Kraft, die das Universum durchdringt und denjenigen erhöht, der sie meistert – diese Macht ähnelt sowohl der buddhistischen Vorstellung von »Lebenskraft« als auch den legendären Fähigkeiten, die den Buddhas in den alten Schriften zugeschrieben wurden.

Die eigentliche Bedeutung all dieser Begriffe ist jedoch – vom Standpunkt der buddhistischen Überlieferung gesehen – irgendwie umwölkt geblieben. Im Westen galt der Buddhismus lange Zeit als elitäre Religion oder als Religion für Hippies – als etwas, über das sich bei einem Latte vorzüglich diskutieren lässt, so wie über radikale Politik oder schwierige Konzeptkunst. Dieses bleibende Bild stammt wohl von der Beat-Epoche, aus Jack Kerouacs Buch Gammler, Zen und hohe Berge, aus den Sachbüchern von Alan Watts und den zahllosen literarischen Beschreibungen von Bongos und Satori, dem japanischen Begriff für Erleuchtung, wie er vor allem im Zen verwendet wird. Leicht drängt sich der Eindruck auf, der Buddhismus sei hauptsächlich ein System intellektueller Abstraktionen oder gar ein Fluchtweg aus der materiellen Wirklichkeit. Das Standardbild, das viele vom Buddhismus im Kopf tragen, ist das einer abstrusen, undurchdringlich mystischen Lehre, die man in mönchischer Abgeschiedenheit studiert, wobei das Erreichen von innerem Frieden Ziel und Selbstzweck zugleich ist. Doch es gibt eine berühmte Geschichte über den historischen Buddha, die diese Ansicht widerlegt.

Eines Tages wandelte der Buddha im Rehpark in Benares. Da sah er ein Reh, das auf dem Boden lag. Der Pfeil eines Jägers hatte seine Flanke durchbohrt. Das Reh lag bereits im Sterben, als zwei Brahmanen, heilige Männer also, sich über den Körper des Tieres beugten und über den genauen Zeitpunkt zu diskutieren begannen, an dem das Leben den Körper verlässt. Als sie den Buddha erblickten, baten sie ihn um seine Meinung im Wunsch, diese knifflige Frage zu lösen.

Der Buddha ignorierte sie jedoch, ging sofort zum Reh und zog den Pfeil heraus. So rettete er das Leben des Tieres.

Es stimmt, der Buddhismus ist eine schöne Philosophie. Mehr noch aber geht es ihm um das Handeln. Auch wenn die Bilder und Adaptionen aus der Pop-Kultur den Buddhismus ungenau und verzerrt porträtieren, verweisen sie dennoch auf eine überraschende Wahrheit: Die Sprache und die Weisheit des Buddhismus werden immer öfter auf die Komplexitäten des modernen Lebens angewandt, weil sie tatsächlich zu passen scheinen.

Buddhistische Konzepte und Strategien – angewendet auf Themen wie Glücksstreben, Gesundheit, Beziehungen, Berufsleben oder gar auf Prozesse wie Altern und Sterben – gehören zur Wahrheit der modernen Existenz, zur tatsächlichen pulsierenden Realität des Lebens. Buddhistische Ideen werden Teil des Mainstreams, weil sie das ständig wechselnde Treiben der modernen Welt beschreiben können – und dies ohne die Last einer dogmatischen Moral.

Der Buddhismus erklärt die tiefgründigen Wahrheiten des Lebens. Er schenkt uns auch eine ungeheuer praktische Methode zum Überwinden von Hindernissen und zur Veränderung unseres Selbst. Was Du in diesen Seiten erfährst, lässt sich auf jeden Lebensbereich anwenden: Familie, Arbeit, Beziehungen, Gesundheit. Und es ist anwendbar für jede und jeden.

Dieses Buch hat die Kraft, Dein Leben zu verändern. Obwohl es streng genommen kein Selbsthilfe-Buch ist, enthält es die bewährtesten und effektivsten Geheimnisse zur Selbsthilfe, die jemals formuliert wurden: das allumfassende Gedankengebäude namens Buddhismus. Den Titel Der Buddha – das bist Du trägt es wegen seiner grundlegenden Erkenntnis: Jeder einzelne Mensch hat die Kapazität, ein Buddha zu sein. »Buddha« ist ein altindischer Begriff und heißt so viel wie »Erleuchtete/r«. Jemand also, der erwacht ist zur ewigen und unveränderlichen Wahrheit des Lebens.

Indem wir Zugang finden zu diesem riesigen inneren Potenzial, zu unserer Buddhanatur, finden wir unbegrenzte Ressourcen an Weisheit, Mut und Mitgefühl. Statt unseren Problemen aus dem Weg zu gehen oder Angst vor ihnen zu haben, lernen wir, sie fröhlich anzupacken – völlig überzeugt von unserer Fähigkeit, alles zu überwinden, was das Leben uns in den Weg stellt. Dieses schlummernde Potenzial könnte man mit einem Rosenbusch im Winter vergleichen: Seine Blüten schlummern ebenfalls, doch wir wissen, dass der Busch das Potenzial zum Blühen hat.

Auf der Alltagsebene jedoch gerät dieses höhere Selbst, dieser erleuchtete Zustand, allzu leicht aus unserem Blickfeld. Es ist der sprichwörtliche Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht. Dieser grundsätzliche Missstand des menschlichen Daseins wird in dem buddhistischen Gleichnis »Das Juwel im Gewandsaum« deutlich, zu finden im Lotos-Sutra. Es ist die Geschichte eines armen Mannes, der einen wohlhabenden Freund besucht:

Dessen Haus wäre sehr wohlhabend, er richtete ihm viele Leckereien her und nähte einen unbezahlbaren Edelstein in sein Gewand ein, gäbe ihm diesen schweigend und ginge fort.

Da dieser Mann schlief, wüsste er davon nichts, und nachdem er aufgestanden wäre, reiste er in ein anderes Land, um sich Kleidung und Nahrung für seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, und fristete ein Leben in großer Not.

Er gäbe sich mit dem Wenigen, was er bekäme, zufrieden und erhoffte sich auch gar nichts Besseres.

Er wäre sich dessen nicht bewusst, dass sich in seinem Gewand ein unbezahlbarer Edelstein befände.

Der Freund, der ihm den Edelstein gegeben hätte, träfe später wieder mit dem armen Mann zusammen, und nachdem er ihm schwere Vorwürfe gemacht hätte, zeigte er ihm den eingenähten Edelstein.

Wenn der arme Mann den Edelstein sähe, wäre sein Herz hocherfreut:

Er wäre wohlhabend und besäße Reichtümer genug, um die fünf Wünsche zu befriedigen.

Mit uns ist es auch so.1

Dieses Gleichnis beschreibt die Blindheit der Menschen für die Kostbarkeit ihres eigenen Lebens und für diesen Grund-Lebenszustand der Buddhaschaft.

Dieses Buch will Dir helfen, dieses wunderbare Juwel in Dir selbst zu entdecken, es zu polieren, damit es so hell erstrahlt, dass nicht nur Dein eigenes Leben, sondern auch das Leben der Menschen um Dich herum erleuchtet wird. Der Buddhismus lehrt nämlich, dass das eigene Erwachen, die Selbstveränderung also, sich auch unmittelbar und weitreichend auf die anderen auswirkt – auf die eigene Familie, auf die Freunde und auf die Gesellschaft. Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn wir an die Lektionen des blutigen, leidvollen 20. Jahrhunderts denken, gelangen wir zu der Einsicht, dass alle Reformen und Umstrukturierungen von Institutionen nicht gereicht haben, um das Glück der Menschen zu mehren. Der Buddhismus setzt auf die Transformation des eigenen Inneren als Weg, der zu dauerhaften, nachhaltigen Lösungen globaler Probleme führt.

Was bedeutet es also, ein Buddha zu sein? Der Begriff Buddha war zu Lebzeiten von Shakyamuni, dem historischen Buddha, recht gebräuchlich im damaligen Indien. Das ist insofern wichtig, weil man damals Erleuchtung nicht für das exklusive Privileg eines einzigen Individuums hielt. Die buddhistischen Sutras erwähnen die Existenz vieler anderer Buddhas neben Shakyamuni. So besteht der Buddhismus nicht allein aus der Lehre des Buddha, sondern gewissermaßen auch aus der Lehre, die es allen Menschen ermöglicht, ein Buddha zu werden.

Das Leben des Buddha

Im Unterschied zu den westlichen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam beansprucht der Buddhismus keine göttliche Offenbarung für sich. Vielmehr ist er die Lehre eines einzigen Menschen, der durch eigene Anstrengung zum Lebensgesetz erwacht ist, das in ihm selbst vorhanden war. Er war ein Mensch, der nichts niederschrieb und von dem wir sehr wenig wissen. Doch das, was wir wissen, wurde zum Katalysator für die Veränderung von vielen Millionen Menschenleben.

Der historische Buddha trug den Vornamen Siddhartha – »Der, der sein Ziel erreicht hat« – und sein Familienname lautete Gautama – »Beste Kuh«. Er wurde in Nordindien vor etwa 2500 bis 3000 Jahren geboren. Über den tatsächlichen Zeitpunkt gehen die Meinungen auseinander, doch die aktuelle Forschung tendiert dazu, Buddhas Geburt in das 5. oder 6. Jahrhundert v. Chr. zu legen. Obwohl nicht genau bestimmbar, bleibt der Zeitpunkt dennoch bedeutsam. Wie der deutsche Philosoph Karl Jaspers bemerkte, wurde Siddhartha ungefähr zur gleichen Zeit geboren wie Sokrates in Griechenland, Konfuzius in China und Jesaja in der jüdischen Welt. Das gleichzeitige Erscheinen dieser großen Männer markierte, so Jaspers, das Anbrechen einer spirituellen Zivilisation.

Siddharthas Vater war der Herrscher des Shakya-Klans, eines kleinen Stammes, der an der Grenze zu Nepal lebte. Daher wurde der Buddha bekannt als Shakyamuni – der »Weise der Shakyas«. Da es kaum schriftliche Aufzeichnungen gibt, bleiben die Details über sein frühes Leben lückenhaft. Wir wissen, dass Siddhartha als Prinz geboren wurde und im Reichtum lebte. Wir wissen auch, dass er mit einer scharfsinnigen Intelligenz und einem zur Innenschau fähigen Wesen ausgestattet war. Als junger Mann heiratete er Yashodhara, die ihm einen Sohn namens Rahula gebar.

Schließlich gab er sein wohlhabendes, privilegiertes Leben auf, um den Pfad der Weisheit und Selbsterkenntnis zu beschreiten. Was ihn dazu trieb, sein luxuriöses Heim und die Sicherheit der Familie zu verlassen, ist in der Legende von den vier Begegnungen beschrieben.

So soll der junge Prinz seinen Palast in Kapilavastu viermal verlassen haben. Als er ihn durch das Osttor verließ, sah er einen vom Alter gebeugten und geschrumpften Mann.

Als er den Palast durch das Südtor verließ, sah er einen kranken Menschen. Auf seinem dritten Ausflug, diesmal durch das Westtor, sah er einen Toten. Und zuletzt, auf dem Weg hinaus durch das Nordtor, traf er auf einen Asketen. Der Alte, der Kranke und der Tote stehen für die Probleme des Alterns, Krankseins und des Sterbens. Zusammen mit dem Problem der Geburt, wozu auch das Am-Leben-Sein gehört, werden diese vier Umstände auch »die vier Leiden« genannt – die Grundprobleme der menschlichen Existenz.

Shakyamunis Motiv, seinen Prinzenstatus für ein Asketenleben aufzugeben, war nichts Geringeres als herausfinden zu wollen, wie sich diese vier Leiden überwinden ließen.

In der Art der Arhats, der heiligen Männer, des alten Indien, die auf der Suche nach der letztendlichen Wahrheit das Land durchwanderten, begann Siddhartha seine Reise. Wir wissen, dass dieser Weg steinig war, voller körperlicher und mentaler Herausforderungen. Er ging zuerst nach Süden und gelangte nach Rajagriha, der Hauptstadt des Königreichs Magadha, wo er unter Anweisung des Lehrers Alara Kalama praktizierte. Dieser, so wurde berichtet, war durch Meditation vorgedrungen zu einem »Ort, wo nichts existiert«. Siddhartha erreichte schnell dieselbe Stufe, aber seine inneren Fragen blieben unbeantwortet. Er wandte sich an einen anderen Weisen, Uddaka Ramaputta, der vorgedrungen war zu einem »Ort, wo es weder Denken gibt noch Nicht-Denken«. Diese Meditation meisterte Siddhartha ebenfalls, doch die Antworten auf seine tiefsten Fragen hatte er noch immer nicht gefunden.

Daisaku Ikeda, einer der herausragenden modernen Interpreten des Buddhismus, schrieb dazu in seinem Buch Der Buddha lebt:

»Für Yoga-Meister wie Alara Kalama und Uddaka Ramaputta hatte die Yoga-Praxis offensichtlich aufgehört, ein Weg zu einem höheren Ziel – jenem der Erleuchtung – zu sein, und war zu einem Ziel für sich geworden. (…) Yoga- und Zen-Meditation sind hervorragende, von asiatischen Philosophien und Religionen entwickelte Praktiken – aber, das hat Shakyamuni klargemacht, sie sollten als Methoden zum Verständnis und zum Erreichen der letzten Wahrheit und nicht als Selbstzweck angesehen werden.«2

Siddhartha unterzog sich dann einer Reihe von asketischen Ausübungen, unter anderem dem zeitweisen Aussetzen der Atmung, Fasten und der Kontrolle des Geistes.

Nach mehreren Jahren, in denen er seinen Körper bis an die Grenze zum Tod quälte, gab er schließlich die strengen asketischen Praktiken auf, die ihn völlig entkräftet zurückließen, und begab sich in der Nähe von Gaya unter einen Pipalbaum, eine Feigenart, der später Bodhi-Baum heißen sollte. Dort meditierte er. Schließlich erlangte er im Alter von etwa dreißig Jahren die Erleuchtung und wurde ein Buddha.

Die Erleuchtung des Buddha

Es ist unmöglich zu wissen, was der Buddha unter diesem Baum erkannt hatte. Seinen vielen Lehrreden zufolge, die wie Homers Odyssee zuerst mündlich von seinen Anhängern weitergegeben wurden, wissen wir Folgendes: Unter dem Pipalbaum sitzend versuchte er, über das normale Bewusstsein hinaus einen Ort zu erreichen, an dem er sich als eins mit dem Leben des Universums wahrnahm.

So ist aufgezeichnet, dass er in den frühen Stadien seiner Meditation immer noch an die Unterscheidung zwischen Subjekt (er selbst) und Objekt (Außenwelt) gebunden war. Er war sich sozusagen seines eigenen Bewusstseins bewusst, wie es von einer Mauer umgeben war – die Grenze war die seines Körpers und die Umgebung außerhalb von ihm selbst.

Schließlich aber geschah es – so Daisaku Ikeda in Der Buddha lebt:

Der Doktrin der Seelenwanderung zufolge, die schon seit den frühesten Zeiten des Brahmanismus gelehrt wurde, ist das menschliche Dasein in keiner Weise auf die Gegenwart beschränkt. Unter dem Bodhi- Baum meditierend gewann Shakyamuni alle seine vormaligen Existenzen Stück für Stück wieder und erkannte, dass seine gegenwärtige Existenz das Glied einer ungebrochenen Kette von Geburt, Tod und Wiedergeburt war, die vor unzählbaren Äonen in der Vergangenheit begann.

Das erkannte er nicht in einer Art von Eingebung, und auch nicht in Form eines Konzeptes oder einer Idee.

Es war klare und wahrhaftige Wiedergewinnung – nicht unähnlich, wenn auch auf völlig anderer Ebene, den Ereignissen, die tief im Innersten unseres Bewusstseins vergraben sind und an die wir uns plötzlich erinnern, wenn wir extrem angespannt oder konzentriert sind.3

»Unbeständigkeit«, so verstand er, sei die wahre Sichtweise auf die Wirklichkeit. Was aber bedeutet das?

Alles Vorhandene, alle Phänomene durchlaufen einen ständigen Wandel. Das Leben, die Natur und die Gesellschaft hören niemals auf, sich zu verändern, keinen Augenblick lang. Es mag so scheinen, dass der Schreibtisch, an dem Du sitzt, oder das Buch, das Du in den Händen hältst, oder das Gebäude, in dem Du lebst, recht solide konstruiert sind. Aber eines Tages werden sie zerfallen. Der Buddhismus erklärt einleuchtend: Leiden entsteht in unserem Herzen, weil wir das Prinzip der Unbeständigkeit vergessen und glauben, dass alles, was wir unser Eigen nennen, für immer Bestand hat.

Angenommen, Du hast eine gut aussehende Freundin oder einen gut aussehenden Freund. Denkst Du dabei lange darüber nach, wie sie bzw. er wohl in dreißig, vierzig Jahren aussehen wird? Natürlich nicht. Es liegt in der Natur des Menschen zu glauben, Gesundheit und Jugend würden ewig andauern.

Genauso wenig gibt es reiche Leute, die sich vorstellen können, eines Tages ohne Geld dazustehen. Es ist nicht falsch, so zu denken. Doch wir leiden, weil wir solchen Vorstellungen anhängen. Du magst Deinen Schatz für immer jung und schön haben wollen und alles daran setzen, dass die Liebe ewig währt. Doch wenn es an der Zeit ist, vom geliebten Menschen Abschied zu nehmen, wirst Du tiefsten Schmerz empfinden.

Weil Menschen Reichtum anhäufen wollen, gehen einige sogar so weit, andere zu bekämpfen. Und wenn sie ihren Reichtum verlieren, müssen sie von der bitteren Frucht des Leidens kosten. Sogar das Klammern ans nackte Leben bringt Leid mit sich, weil wir Angst vor dem Tod haben. Der Buddhismus lehrt uns, diese Zyklen der Unbeständigkeit zu erkennen und den Mut aufzubringen, diese zu akzeptieren.

Neben dieser Einsicht in die Unbeständigkeit gibt es noch etwas, das sich laut Überlieferung in Shakyamunis erleuchtetem Geist entfaltet hat: das Miteinander-Verbundensein von allen Dingen. Das Universum und alles in ihm ist im ständigen Fluss – entstehend und endend, erscheinend und verschwindend, in einem niemals endenden Zyklus der Veränderung begriffen, der dem Gesetz der Kausalität unterliegt. Alles Vorhandene folgt diesem Gesetz von Ursache und Wirkung und folglich kann nichts unabhängig von anderem Vorhandenen existieren.

Dieses buddhistische Konzept der Kausalität wird auch »abhängiges Entstehen« genannt. Shakyamuni erwachte zu diesem ewigen Gesetz des Lebens, das das gesamte Universum durchdringt, zu diesem mystischen Aspekt des Lebens, in dem alles im Universum miteinander verbunden ist und Einfluss aufeinander hat in einem nicht endenden Zyklus von Geburt und Tod.

Das Wesentliche von Shakyamunis Erleuchtung wird in den Vier Edlen Wahrheiten erklärt, die lauten: 1) Alles Dasein ist Leiden; 2) Leiden wird verursacht durch selbstsüchtiges Begehren; 3) das Auslöschen von selbstsüchtigem Begehren führt zum Ende des Leidens und zum Erreichen des Nirwana; und 4) es gibt einen Weg, der zu dieser Auslöschung führt, nämlich die Disziplin des achtfachen Pfades. In diesen frühesten Aussagen können wir bereits erkennen, dass der Prozess, der zum absoluten Glück führt und uns von den Leiden des Lebens befreit, als Weg oder Reise angelegt ist.

Unwissenheit vertreiben und zu einer richtigen Sichtweise gelangen – das ist das Kernstück der buddhistischen Ausübung. Es ist auch die Triebkraft hinter einer dreitausend Jahre andauernden Suche – beginnend mit Shakyamuni – nach einem Fahrzeug, nach einer klar erkennbaren Methode, die den buddhistischen Ausübenden diesen Weg zum Ende von Leid und zum Erreichen des absoluten Glücks beschreiten lässt. All die vielen buddhistischen Schulen und Ausübungen sind in dem Bemühen entstanden, ein solches Fahrzeug zu erschaffen.

Nach seinem Erwachen blieb Shakyamuni eine Zeit lang unter dem Bodhi-Baum sitzen, in einem Zustand voller Freude. Als er danach wieder in die Welt trat, plagte ihn jedoch bald der Gedanke, wie schwierig es sein würde, sein Erwachen zum Gesetz des Lebens den Mitmenschen zu vermitteln. Er war zu einem Verständnis vorgedrungen, das weit über dem lag, was selbst die fortgeschrittensten spirituellen Sucher seiner Zeit erlangt hatten.

Daher bereitete er seine Zuhörer zunächst einmal darauf vor, indem er sie in leicht verständlichen Gleichnissen und Sinnbildern unterwies. So erweckte Shakyamuni Schritt für Schritt diejenigen, die er lehrte. Gleichzeitig aber behielt er sein letztendliches Ziel im Sinn: allen Menschen zu zeigen, dass sie die Buddhaschaft besitzen.

So lautet beispielsweise eine markante Stelle aus dem Lotos-Sutra:

Ständig richte ich meinen Sinn darauf,

wie ich die Lebewesen

dazu bringen kann,

in die unübertroffene Weisheit einzutreten,

damit sie schnell den Körper eines Buddha

verwirklichen können.4

Keine leichte Aufgabe. Shakyamuni verbrachte die nächsten vierzig Jahre damit, seine leidenden Mitmenschen so zu lehren, wie es für deren Verständnisfähigkeit am passendsten war. So gesehen wird klar: Die Vorstellung, der Buddhismus sei eine spezielle Domäne heiliger Männer, die auf Berggipfeln meditieren, ist schlicht falsch.

Shakyamuni hatte seine Lehren niemals nur für eine isolierte Personengruppe hinter Klostermauern angelegt.

Alles an den historischen Belegen deutet darauf hin, dass er einen breiten Zugang zu seinen Lehren schaffen wollte, sodass sie von gewöhnlichen Männern – und Frauen – angewendet werden konnten. Seine einzelnen Lehrreden wurden zusammengetragen; daraus entstanden schließlich die sogenannten vierundachtzigtausend Lehren, die, wie die Lehren von Jesus, über Jahrhunderte hinweg interpretiert und reinterpretiert wurden. Das eigentliche Problem für Buddhisten bestand viele Jahrtausende lang nicht so sehr in dem, was der Buddha gesagt hatte, sondern in der Frage, wie man seine Lehren in die Praxis umsetzte. Wie man eigentlich die Erleuchtung des Buddha erlebt. Wie man teilhat an dessen transzendenter Weisheit. Wie man selbst ein Buddha wird.

Die Straße zur Erleuchtung

Heute gibt es zahlreiche Schulen des Buddhismus, vielleicht sogar Tausende. Der britische Gelehrte Christmas Humphreys schrieb einmal: »[Den Buddhismus] zu beschreiben ist so schwierig, wie London zu beschreiben. Ist es Mayfair, Bloomsbury oder die Old Kent Road? Oder ist es der kleinste gemeinsame Nenner all dieser Teile? Oder alles zusammen und noch etwas mehr?«

Als die buddhistische Philosophie ihre sanften Verbreitungswege nahm, hinaus aus Indien, nordwärts durch China und Tibet, südwärts nach Thailand und Südostasien, da saugte sie die dortigen religiösen Sitten und Glaubensvorstellungen auf und wurde ihrerseits wieder von ihnen beeinflusst.

Der Buddhismus, der sich Richtung Tibet, China und schließlich nach Korea und Japan verbreitete, wurde Mahayana genannt, was »großes Fahrzeug« bedeutet. Und jener Buddhismus auf der Südroute Richtung Südostasien und Sri Lanka wurde Hinayana genannt, das »geringere Fahrzeug«, ein abwertender Begriff, den die Mahayana-Anhänger im Munde führten.

Die Hinayana-Schulen gründeten sich auf die frühen Lehren von Shakyamuni und sie vertraten daher typischerweise einen strengen, äußerst fein geregelten Verhaltenskodex, der auf das Erlangen der eigenen persönlichen Erlösung angelegt war. Die einzige heutige Hinayana-Schule ist Theravada, die »Lehre der Älteren«.

Die Mahayana-Schulen betonten, der Buddhismus müsse ein Weg des Mitgefühls sein, der ganz gewöhnliche Menschen die Erleuchtung erlangen ließe – die Suche nach einer leicht anwendbaren Methode, die als Fahrzeug eine größere Anzahl von Menschen zur Buddhaschaft befördern könne (daher großes Fahrzeug).

Die überbordende Anzahl der verschiedenen Sutras und Theorien stiftete allerhand Verwirrung, besonders im China der ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Damals waren die chinesischen Gelehrten mit einer willkürlichen Abfolge unterschiedlicher Sutras konfrontiert, die den Weg in ihr Land fanden – Schriften von den Schulen des Hinayana wie auch denen des Mahayana. Verwirrt ob der Vielfalt dieser Lehren, starteten die chinesischen Buddhisten den Versuch, die verschiedenen Sutras zu bewerten und zu klassifizieren.

Bis zum fünften Jahrhundert war die Systematisierung des buddhistischen Kanons weit fortgeschritten. Insbesondere ein buddhistischer Mönch namens Zhiyi, später bekannt als der Große Lehrer Tiantai, entwickelte den klassifizierenden Standard der »fünf Perioden und acht Lehren«.

Auf der Grundlage seiner eigenen Erleuchtung, die der von Shakyamuni durchaus gleichgekommen sein mochte, lieferte Tiantais System eine Einteilung der Sutras – sowohl in ihrer Chronologie als auch in ihrer inhaltlichen Tiefe.

Er bestimmte, dass das Lotos-Sutra die letztendliche Wahrheit enthalte, jene vorletzte Lehre von Shakyamuni, die er gegen Ende seines Lebens dargelegt hatte. Tiantai bezeichnete diese Wahrheit als das Prinzip der »dreitausend Bereiche in einem einzigen Lebensmoment«. Mit seinem phänomenologischen Ansatz beschreibt es all die kaleidoskopartigen Emotionen und mentalen Zustände, die Menschen in einem bestimmten Moment durchleben können.

Die Theorie der dreitausend Bereiche in einem einzigen Lebensmoment besagt, dass all die unzähligen Phänomene des Universums in einem einzigen Lebensmoment eines gewöhnlichen Sterblichen enthalten sind. Folglich ist der gesamte Makrokosmos im Mikrokosmos enthalten.

Die unendlich weite Dimension des Lebens, zu der Shakyamuni unter dem Bodhi-Baum erwachte, war für das normale menschliche Bewusstsein jenseits des Erfassbaren.

Tiantai beschrieb diese letztendliche Wahrheit als dreitausend Bereiche in einem einzigen Lebensmoment und erkannte, dass das Lotos-Sutra als einziges Sutra klarstellte: Alle Menschen – Männer wie Frauen, Gute wie Schlechte, Junge wie Alte – tragen in sich das Potenzial, die Buddhaschaft in ihrem jetzigen Leben zu verwirklichen.

Eine entscheidende Frage blieb jedoch bestehen: Wie konnten gewöhnliche Menschen diese Erkenntnis auf ihr eigenes Leben anwenden? Zu diesem Zweck schuf Tiantai eine rigorose Ausübung. Sie bestand aus der Betrachtung des eigenen Geistes durch Meditation, tauchte tiefer und tiefer in die Innenwelt, bis die letztendliche Wahrheit der dreitausend Lebensbereiche in einem einzigen Lebensmoment erfasst werden konnte. Leider war diese Art von Ausübung nur für Mönche machbar, die grenzenlose Zeiträume in Kontemplation über die Botschaft verbringen konnten, die im Lotos-Sutra enthalten war. Kaum zu schaffen für Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten oder sich mit anderen Themen auseinander setzen mussten.

Das volle Erblühen des Buddhismus musste noch warten, bis er entlang der Handelswege Japan erreichte. Der Buddhismus wäre heute nicht so weit verbreitet und geschätzt ohne den unglaublichen Mut und Tiefblick eines japanischen Mönchs aus den dreizehnten Jahrhundert namens Nichiren.

Er rückte das Lotos-Sutra in einen so klaren Fokus, dass es für die Menschen und ihren Alltag direkt etwas bewirkte.

Buddhismus für moderne Zeiten

Nichiren, geboren 1222 in Japan, schuf eine konkrete und anwendbare Form für die buddhistische Philosophie, die Shakyamuni einst lehrte und Tiantai neu beleuchtete. Er fand das Herzstück des Lotos-Sutra, das die Erleuchtung des Buddha herbeiführte, und drückte es in einer Form aus, die alle Menschen anwenden konnten. Er bezeichnete es als die Anrufung von Nam-Myoho-Renge-Kyo, wie der Titel des Lotos-Sutra lautet.

Seine Leistung war vergleichbar mit dem Umsetzen einer komplexen wissenschaftlichen Theorie in etwas einfach Anwendbares. Genauso wie Benjamin Franklins Entdeckung der Elektrizität erst nutzbringend anwendbar wurde, als viele Jahre später Thomas Edison die Glühbirne erfand, war auch Shakyamunis Erleuchtung für die allermeisten Menschen unzugänglich, bis Nichiren die grundsätzliche Ausübung lehrte, durch die alle Menschen das Gesetz des Lebens in sich selbst hervorbringen konnten. Seine Umsetzung dieses Prinzips hatte die Kraft, alle Menschen, die damit in Berührung kamen, direkt zu bewegen. Damit brach in der Geschichte des Buddhismus eine neue Epoche an.

Er offenbarte damit die letztendliche Lehre des Mahayana – des großen Fahrzeugs – mit dem alle Menschen den Weg zur Buddhaschaft zurücklegen konnten. Nichiren sagte dazu:

»Wenn sich eine Schmeißfliege an den Schweif eines Vollblutpferdes hängt, kann sie zehntausend Meilen weit reisen, und der grüne Efeu kann tausend Fuß hoch wachsen, wenn er sich um eine große Kiefer windet.«5

Zum ersten Mal konnten gewöhnliche Menschen diese Reise, die vorher nur Heiligen und Weisen vorbehalten war, unternehmen.

Nichirens Buddhismus erwies sich für Millionen von Menschen als zutiefst wertvoll. Es war Nichiren, der das Wesentliche des Lotos-Sutra so ausdrückte, dass alle Menschen – unabhängig von ihrem aktuellen Wissensstand – die Schwelle zur Erleuchtung überschreiten konnten. Dies war eine revolutionäre Entwicklung in der Religionsgeschichte.

Der Buddhismus begann als Lehre eines einzelnen Menschen, der zum Gesetz des Lebens in seinem eigenen Inneren erwachte. Mittlerweile enthält er auch die Interpretationen dieser Lehre von den nachfolgenden Gelehrten und Propheten. Wie bereits erwähnt bedeutete das Wort Buddha ursprünglich »Erleuchteter«. Gemeint war damit jemand, der zur ewigen Wahrheit, zum Gesetz des Lebens – zum Dharma – erwacht war. Diese Wahrheit ist ewig und grenzenlos. Sie ist immer und überall gegenwärtig. So gesehen ist das Gesetz des Lebens nicht das Exklusiveigentum von Buddha Shakyamuni oder buddhistischen Mönchen.

Die Wahrheit steht jedem und jeder gleichermaßen offen.

In dem Buddhismus, der auf diesen Seiten beschrieben wird, gibt es keine Priester oder Gurus, keine letzte Autorität, die entscheidet, was korrekt oder inkorrekt ist, richtig oder falsch. In diesem Buddhismus wurde die Mauer zwischen Priesterschaft und Laientum niedergerissen, was zu einer vollständigen Demokratisierung der spirituellen Ausübung führte. Weil er seinem Wesen nach undogmatisch ist, passt er auch für die Skeptiker unter uns. Dieses höchste und allumfassende Gesetz, das der Buddha wahrnahm, könnte auch ein anderer Name für das Konzept sein, das einige von Gott haben. Andererseits kann ein Mensch, der nicht an einen menschenähnlichen Gott glauben kann, darin die Energie sehen, die im Universum wirkt. Der breite Zugang des Buddhismus integriert beide Ansichten und konzentriert sich dabei auf den einzelnen Menschen.

Hier gibt es nichts Äußeres, auf das man die Schuld schieben, und niemanden, den man um Erlösung anflehen könnte. Im Buddhismus gibt es weder einen Gott noch ein sonstiges übernatürliches Wesen, das unser Schicksal bestimmt.

In der westlichen Religion kannst Du durch Deinen Glauben Gott näherkommen, aber Du kannst niemals Gott werden. Im Buddhismus kann man niemals getrennt sein von der Weisheit Gottes, weil die letztendliche Weisheit bereits im Herzen eines jeden Menschen existiert. Durch die buddhistische Ausübung wollen wir diese universale Lebenskraft hervorrufen, die ursprünglich und ewig in uns vorhanden ist, also das, was wir Buddhaschaft nennen. Und wir wollen sie manifest und wirksam machen, indem wir ein Buddha werden.

Buddhisten werden sich der Existenz dieses ewigen Gesetzes bewusst, das sowohl das Universum als auch das eigene Selbst durchdringt; sie erfassen dieses Gesetz in ihrem tiefsten Innern. Das Ziel dabei ist, jeden Tag in Übereinstimmung mit diesem Gesetz zu leben. Indem sie dies tun, entdecken sie eine Lebensweise, die alles, was geschieht, wieder auf Hoffnung, Wert und Harmonie ausrichtet. Die Entdeckung dieses objektiven Gesetzes an sich, so wie es sich im einzelnen Menschen manifestiert, bringt alle spirituellen Werte hervor und nicht eine äußere Kraft, ein äußeres Wesen.

So erklärt es Nichiren in seinem berühmten Brief »Über die Verwirklichung der Buddhaschaft in diesem Leben«:

Ihre Ausübung der buddhistischen Lehren wird Sie nicht im Geringsten von den Leiden aus Geburt und Tod befreien, solange Sie nicht die wahre Natur Ihres Lebens erkennen. Wenn Sie die Erleuchtung außerhalb Ihrer selbst suchen, dann werden selbst zehntausend Ihrer Ausübungen und zehntausend gute Taten vergeblich sein. Es verhält sich damit wie bei einem armen Mann, der Tag und Nacht damit verbringt, den Reichtum seines Nachbarn zu zählen, doch dabei selbst auch nicht ein halbes Geldstück hinzugewinnt.6

Der Gedanke, dass die Kraft für das eigene Glück gänzlich in den eigenen Händen liegt, kann verstörend sein. Er bringt ein radikales Verantwortungsgefühl mit sich. Daisaku Ikeda schrieb dazu: »Die Gesellschaft ist komplex und harsch, und Du musst zuweilen schwer kämpfen, um in ihr zu überleben.

Niemand kann dich glücklich machen. Alles hängt davon ab, ob Du für Dich selbst Glück verwirklichen kannst oder nicht … Ein Mensch wird einem leidvollen Leben ausgesetzt sein, wenn er in Bezug auf seine äußere Umgebung schwach und verwundbar ist.«

Doch weit davon entfernt, ein düsteres, nihilistisches Lebensbild zu zeichnen, bieten die buddhistische Philosophie und Ausübung jede Menge Hoffnung und praktische Lösungen für die Probleme des täglichen Lebens. Die Philosophie, die wir in diesem Buch beschreiben, ist so praxisnah, dass wir sie meistens gar nicht als »Religion« bezeichnen, auch wenn es eine ist. Wir reden meistens von »Praxis« oder »Ausübung«, weil diejenigen, die sie anwenden, sie äußerst nützlich finden. Daher berührt dieses Buch zwar viele Fragen zur Theorie und Philosophie des modernen Buddhismus, doch der Schwerpunkt wird darauf liegen, wie Du, als einzelner Mensch, den Buddhismus als machtvolles Werkzeug nutzen kannst, um Deine Probleme zu lösen.

»Keine weltliche Angelegenheit steht jemals im Widerspruch zur wahren Wirklichkeit«, zitierte Nichiren aus dem Lotos-Sutra. Und weiter: »Alle Phänomene im Universum sind Manifestationen des buddhistischen Gesetzes.« Mit anderen Worten: Unser Alltag ist die Bühne, auf ihr wird der Kampf um Erleuchtung gewonnen oder verloren. Nichiren lehrte, dass Normalsterbliche die Buddhaschaft genau hier auf dieser Welt verwirklichen können, und zwar ohne ihre Begierden auszulöschen oder ihre Identität zu verändern. In einem Zeitalter, in dem Skeptizismus und weitverbreitetes Misstrauen gegenüber traditionellen Glaubenssystemen und Institutionen vorherrschen, gewinnt eine solche dynamische, in Eigenregie betriebene religiöse Ausübung umso mehr an Wert.

Der Buddhismus ist seinem Wesen nach unautoritär, demokratisch, wissenschaftlich und auf Einsichten basierend, die durch individuelle Anstrengungen zur Selbstvervollkommnung gewonnen wurden. Doch der Buddhismus hat auch unmittelbare und weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft, unser Umfeld. Er ist eine Lebensweise, die zwischen dem einzelnen Menschen und der Umgebung, in der er lebt, keine Trennung macht. Mit seinem Verständnis vom Miteinander-Verwobensein aller Lebensformen in einem komplexen Netz, das über den Menschenverstand hinausreicht, liefert der Buddhismus einen spirituellen und intellektuellen Rahmen für ein neues Umweltbewusstsein.

Die westliche Weltsicht, so wie sie vom Christen- und Judentum ausgeht, tendiert zum Anthropozentrismus, stellt also die Menschheit an die Spitze der natürlichen Ordnung.

Der Buddhismus hingegen sieht die Menschheit als Teil der Natur, er stützt und formt somit die Ideen der Bio-Ethik. Da jedes Individuum mit allem auf der Erde verbunden ist, liegt das Schicksal unseres Planeten in den Händen des Individuums, in dem, was es tut. Der moderne Buddhismus ist zudem nicht moralistisch.

In einer Welt, die gekennzeichnet ist durch eine solch große Vielfalt von Völkern, Kulturen und Lebensweisen, schreibt der Buddhismus keine einzig richtige Lebensart vor. Es gibt keine »Gebote«. Der Buddhismus nimmt Dich so, wie Du bist, mit all Deinen Macken und Fehltritten, den momentanen wie den vergangenen. Das ist natürlich kein Freibrief fürs Lügen, Stehlen und Morden. Der Buddhismus gewinnt seine moralische Stärke nicht aus einer Liste von Verhaltensregeln, sondern aus einer unwiderstehlichen inneren Transformation.

Ausübende des Buddhismus stellen fest, dass sie freundlicher, mitfühlender und mit hoher Rücksicht auf deren Kostbarkeit mit dem Leben anderer Menschen umgehen. Dieser Prozess vollzieht sich fast automatisch.

Der Buddhismus und der Kosmos

Nichts von dem, was der historische Buddha lehrte, widerspricht ernstlich den Entdeckungen von Galileo, Einstein, Darwin oder Freud, entstanden seine Ideen dennoch Jahrtausende vorher, ohne die Hilfe von Teleskopen, Hochtechnologie, sogar ohne das geschriebene Wort.

Das buddhistische Modell des Universums ähnelt stark der heute akzeptierten Kosmologie. Der Buddha sprach zwar nie im Sinne eines großen Urknalls, nichtsdestotrotz beschrieb er einen Kosmos, der theoretisch mit dem übereinstimmt, was viele Wissenschaftler heute annehmen.

Auf recht grundlegende Weise akzeptiert die buddhistische Theorie die riesigen Dimensionen und Konzepte von Raum und Zeit, wie sie die moderne Physik entwickelt, und ist selbst deckungsgleich mit den verwirrenderen Bereichen der Quantentheorie.

Wissenschaftliche Artikel über die neuesten Durchbrüche in der Teilchenphysik weisen zum Beispiel bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der Lehre der Unbeständigkeit auf, die der Buddha darlegte. Im Lotos-Sutra, dem zentralen Text des Mahayana-Buddhismus, zeigt sich eine Sicht aufs Universum von prometheischen Ausmaßen. Dort ist von »Großweltsystemen« die Rede, ein weitgefasstes Konzept, das sowohl die Existenz von unzähligen Galaxien bejaht wie auch die Möglichkeit von fühlendem Leben auf anderen Planeten. Gleichzeitig liefert er eine detaillierte Analyse des Lebens, die die Tiefen der menschlichen Psyche auslotet. So setzt der Mahayana-Buddhismus grundsätzlich voraus, dass es im Universum zahlreiche belebte Welten gibt.

Gleichzeitig versteht er sich als Triebkraft für jeden einzelnen Menschen, seine eigene spirituelle Reformation herbeizuführen, womit er einen dauerhaften Frieden und ein langfristiges Gedeihen von Zivilisationen sichert.

In seiner zweieinhalbtausendjährigen Geschichte zeichnete sich die Verbreitung des Buddhismus durch Toleranz, Freundlichkeit und Liebe zur Natur aus. »Der Buddhismus«, so der französische Orientalist Sylvain Lévi, »kann die Ehre für sich beanspruchen, einen Teil dieser Welt erobert zu haben, ohne jemals Gewalt, ohne jemals Waffen eingesetzt zu haben.« Tatsächlich ist das Ziel von Buddhisten – und auch dieses Buches – der Weltfrieden. Im Buddhismus sprechen wir von »Weltfrieden durch persönliche Erleuchtung «. Eine friedliche und sichere Gesellschaft ergibt sich aus einem Prozess des persönlichen Dialogs – von Mensch zu Mensch zu Mensch –, bis der Krieg und alle unterschwelligen Ursachen dafür von dieser Welt verschwinden. Aus all diesen Gründen wird der Buddhismus in der aufkeimenden wissenschaftlichen Kultur des 21. Jahrhunderts eine dynamische Rolle spielen.

Mit dieser funkelnden Idee im Hintergrund wenden wir uns nun der individuellen Ausübung zu, einschließlich des verborgenen Gesetzes, das Nichiren in den Tiefen des Lotos-Sutra zutage förderte. Schließlich gilt: Bevor wir das Schicksal der Welt verändern, müssen wir uns erst einmal selbst verändern.

Der Buddha - das bist DU

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