Читать книгу Verbrechen und kein Ende? - Wunibald Müller - Страница 7
ОглавлениеTEIL I
Rückblick undBestandsaufnahme – was istbisher geschehen?
Es ist wie ein Déjà-vu
Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär,
und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer.
Diese Worte von Else Lasker-Schüler (2004,104) aus ihrem Gedicht „Weltende“ fallen mir ein, wenn ich an die augenblickliche Situation – wir befinden uns im Jahr 2019 – der katholischen Kirche angesichts der Missbrauchskrise denke. Was mich dabei besonders bestürzt, ist, dass es mir nicht das erste Mal so ergeht, sondern wieder einmal. Es ist wie ein Déjà-vu, dem man anscheinend nicht entweichen kann. Ich habe das in den Jahren 1995, 2002, 2010 in den USA und hier in Deutschland erlebt. Es werden Fälle sexualisierter Gewalt bekannt. Ein Aufschrei erfolgt. Es werden Konsequenzen angekündigt, manche auch vorsichtig umgesetzt. Mit der Zeit legt sich die Empörung. Die anfängliche Bereitschaft, etwas grundsätzlich zu ändern, weicht mit der Zeit der Macht des Alten, Gewohnten, des „so wie bisher“.
Wer sich ernsthaft mit der Thematik befasst hatte, konnte nicht wirklich überrascht sein von den Ergebnissen der MHG-Studie, dem im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführten Forschungsprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (Dreßing et al., 2018). Es wurde bestätigt, was längst bekannt war. Auch den Bischöfen, wenn sie es nicht vorgezogen hatten, der Wirklichkeit lieber nicht ins Gesicht zu schauen.
Immerhin haben, so mein Eindruck, inzwischen viele unter den Bischöfen, zumindest im deutschsprachigen Raum, erkannt, dass die katholische Kirche sich in einer existentiellen Krise befindet. Auch hat vor allem unter den Gläubigen eine Erschütterung stattgefunden und ist noch voll im Gange, die die Kirche in ihren Grundfesten ins Wanken gebracht hat. Die katholische Kirche befindet sich in einer Situation, die an die Zeit vor der Reformation erinnert, ja, so der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, mitunter sogar noch dramatischer ist. Die Glaubwürdigkeit der Kirche, einst ihr höchstes Kapital, ist nahezu aufgebraucht. Geschieht nicht eine radikale Umkehr, befindet sich die Kirche auf dem besten Weg, mit Karacho an die Wand zu fahren.
Wer angesichts dieser Situation über Konsequenzen nachdenkt, darf nicht bei den unmittelbaren Konsequenzen, die sich aus der Missbrauchskrise ergeben, stehen bleiben. Man denke etwa an die Leitlinien, die Präventionsordnung, die zunehmende Praxis, der Opferperspektive vor jeder Rücksichtnahme auf die Institution oder die Täter absoluten Vorrang einzuräumen. Hier hat die Kirche dazugelernt. Die Kirche bzw. die Verantwortlichen der Kirche gehen – zumindest in der Regel – auf die betroffenen Opfer zu. Es gibt klare Regelungen, wie gegenüber den Tätern vorzugehen ist, wobei hier auch noch manche Fragestellungen auftauchen, wenn es z. B. darum geht, wie im Einzelfall mit den Tätern umgegangen werden soll. Hier ist seitens der Diözesen das Bemühen festzustellen, noch mehr Verantwortung als bisher für sie wahrzunehmen. Ich denke z. B. an das Dekret des Münchner Erzbischofs zur „Führungsaufsicht für Kleriker, denen wegen schwerwiegender Delikte die Ausübung der mit der Weihe verbundenen Befugnisse untersagt ist“.
Das Bemühen, alles Menschenmögliche zu tun, um Missbrauch im Kontext von Kirche zu verhindern, ist deutlich erkennbar. Auch wenn noch viele weitere Fragestellungen, Klärungen, Verbesserungen, die u. a. die angemessene finanzielle Anerkennung für das den betroffenen Opfern zugefügte Leid oder die Zusammenarbeit der Kirche mit staatlichen Stellen bei der Strafverfolgung der Täter betreffen, anstehen. Doch insgesamt befindet man sich in diesem Bereich auf einem guten Weg. Das alles muss weiter gefestigt, ständig weiterentwickelt und nicht nur in unseren Breiten, sondern weltweit immer mehr umgesetzt werden.
Das gilt vor allem auch für die osteuropäischen Länder, wie z. B. Polen, vor allem aber auch Afrika und Asien, wobei, so Myriam Wijlens, es nicht ganz richtig ist, dass Letztere in Sachen Missbrauch weiße Flecken sind. Sie verweist auf sehr fortschrittliche Projekte in Afrika und Asien, die bei der Aufarbeitung teilweise deutlich weitergehen als das, was wir aus Amerika und Europa kennen. So gibt es z. B. ein Pilotprojekt, bei dem Missbrauchsopfer sich als Gruppe zusammenschließen, die von der Sambischen Bischofskonferenz unterstützt und bei der Aufarbeitung direkt beteiligt werden. Etwas Vergleichbares gibt es in Deutschland noch nicht. Hier kann man in Deutschland also auch von anderen Ländern noch dazulernen.
Ein Segen, dass der Skandal ans Licht gebracht worden ist
Bei alledem darf man nicht vergessen, dass der Missbrauchsskandal nicht erst begonnen hat, seitdem wir von den Verbrechen, die im Kontext von Kirche geschehen sind, wissen. Wir leben seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten mit diesem Skandal. Dabei können wir das ganze Ausmaß des Leids und des Schadens, die davon ausgegangen sind und ausgehen, noch gar nicht ermessen. Es geht auch um die subtilen Auswirkungen, die ein solches Verhalten auf die Kirche, die Seelsorge, die einzelnen Pfarreien, die Theologie, betroffene Familien usw. hatte und hat.
So gesehen, ist es ein Segen, dass der über viele Jahrzehnte lange Skandal endlich – zumindest zum Teil – aufgedeckt worden ist. Aus dem Dunkel ins Licht gebracht worden ist. Denn dadurch wurden die Voraussetzungen geschaffen, die notwendig waren und sind, um die Konsequenzen zu ziehen, die sich daraus ergeben. Einige sind zumindest zum Teil bereits gezogen worden und die gilt es jetzt auch konsequent umzusetzen. Dazu zählen:
– endlich die Opfer ernst nehmen. Sie stehen an erster Stelle;
– nicht mehr wegschauen. Es muss in der Kirche eine Kultur geschaffen werden, in der weder Platz ist für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen noch für einen Machtmissbrauch, der Vertuschen ermöglicht;
– nicht mehr bagatellisieren. Sich nicht mehr blenden lassen vom Amt. Klar aussprechen, dass sexualisierte Gewalt durch Kleriker ausgeübt wurde und wird, Bischöfe sich schuldig gemacht haben, indem sie sexuellen Missbrauch im Kontext der Kirche vertuscht haben;
– noch genauer hinschauen. Wer ist für einen kirchlichen Beruf geeignet? Sich durch das Nachlassen von Berufungen nicht verleiten lassen, weniger sorgfältig bei der Auswahl zu sein.
Andere Konsequenzen müssen noch gezogen werden, meint man es wirklich ernst mit der Prophylaxe sexualisierter Gewalt in der Kirche; dazu zählt:
– die tieferen Ursachen für sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext ernst nehmen und die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. Dabei geht es vor allem um die Abschaffung des Pflichtzölibats, ein Ende der negativen Einstellung gegenüber Homosexualität und homosexuellen Menschen, ein Ende der Diskriminierung von Frauen durch Verweigerung von Führungspositionen in der Kirche. Ein Ende der unseligen Trennung zwischen Kleriker und Laien, ein Umbau des klerikalen Systems in ein Netzwerk kollegialer Zusammenarbeit.
Das aber steht unbedingt an, will man einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, Verbrechen in der Kirche, die in einem Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt stehen, zu vermeiden.
Sexueller Missbrauch im kirchlichen Kontext findet weiterhin statt
Denn, so Harald Dreßing (2019, 261), der Leiter der MHG-Studie, sexueller Missbrauch findet in der Kirche weiterhin statt. Es gibt keinen Hinweis darauf, „dass sich seit 2009 die Quote beschuldigter Priester signifikant verringert hat“. In einer persönlichen Mitteilung an mich schreibt er: „[…] es gibt ja leider nach wie vor auch neue Fälle, die sich jetzt ereignen, und die Reaktion der Kirche darauf ist m. E. fatal; man preist die Prävention und behauptet, es sei alles ein Problem vergangener Zeiten, was leider nicht stimmt.“ Das lässt mich nicht nur aufhorchen, sondern alarmiert mich auch. Zeigt es doch, dass längst nicht alles getan ist. Die eingeleiteten Maßnahmen nicht dort greifen, wo sie greifen müssten, sollen sie bewirken, dass sexualisierte Gewalt in der Kirche verhindert wird.
Harald Dreßing und seine Mitarbeiter plädieren dafür, dass Priester verstärkt in die kirchlichen Präventionsprogramme einbezogen werden. Das ist sicher eine Möglichkeit, die Wirksamkeit der in den Leitlinien und im Präventionsprogramm vorgestellten Maßnahmen zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt zu verstärken. Tatsächlich gibt es ja auch immer wieder Berichte, wonach Priester sich besonders schwertun, an solchen Programmen teilzunehmen; das als überflüssig oder auch als eine Zumutung erachten. Auf der anderen Seite höre ich aber auch von Präventionsverantwortlichen, dass sie keinen Unterschied feststellen können zwischen Klerikern und anderen hauptamtlichen oder ehrenamtlichen kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, was die Bereitschaft betrifft, an solchen Programmen teilzunehmen.
Es mutet mich angesichts dieser Daten eigenartig an, wenn ich inzwischen immer öfters höre, dass es nur noch wenige Fälle sexuellen Missbrauchs gebe, und der Eindruck erweckt wird, man habe inzwischen viel, vielleicht sogar genug getan; vor allem aber dass die Kirche im Vergleich zu anderen Einrichtungen wie Schulen oder sportlichen Organisationen hinsichtlich der bisher beschlossenen und durchgeführten Präventionsmaßnahmen recht gut dastehe. Ganz abgesehen davon, dass ich solche Vergleiche für recht problematisch halte, scheint hier etwas nicht richtig zu laufen, nicht angemessen bedacht und berücksichtigt zu werden. Oder einfach – ich werde nicht müde, das immer und immer wieder aufs Tapet zu bringen – nicht ernst genommen zu werden.
Kann es also nicht auch sein, dass deswegen die Zahl der Täter nicht signifikant zurückgegangen ist, weil die tieferliegenden Gründe für den sexuellen Missbrauch noch nicht behoben worden sind? Leitlinien und Präventionsordnung sind wichtige Instrumente bei dem Versuch, sexualisierter Gewalt in der Kirche zu begegnen. Allein, sie tangieren nur die Oberfläche. So ist es wichtig, in der Kirche eine Atmosphäre und eine Situation zu schaffen, die die Sensibilität für potentielle sexualisierte Gewalt fördern. Bei der Schulung, die dazu beitragen soll, müssen alle kirchlichen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit einbezogen werden, also neben den Priestern auch die Personen, die nicht zumindest in erster Linie zur Risikogruppe der Täter gehören, wie etwa die Kindergärtnerinnen oder die Eltern bei Firmvorbereitungsgruppen. Darüber hinaus müssen aber die die eigentliche Risikogruppe – also die Priester – betreffenden Maßnahmen, die dazu beitragen können, sexualisierte Gewalt zu reduzieren oder gar zu verhindern, umgesetzt werden. Geschieht das nicht, bleibt das alles nur eine halbe Sache oder sogar weniger als eine halbe Sache.
Die Kirche hat längst noch nicht genug getan
Um welche Maßnahmen und Konsequenzen es sich dabei handelt, ist nicht erst seit der MHG-Studie, sondern seit Jahrzehnten bekannt. Neben anderen habe ich in den zurückliegenden Jahren, ja man kann sagen Jahrzehnten, gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, zum ersten Mal bereits 1996 in der Herder-Korrespondenz. Danach gibt es u. a. einen Zusammenhang zwischen dem hohen Vorkommen sexualisierter Gewalt im Kontext der Kirche und dem Zölibat, der Einstellung der Kirche zur Homosexualität, homosexuellem Verhalten und homosexuellen Priestern, der Morallehre der katholischen Kirche im Bereich menschlicher Sexualität und schließlich dem Fehlen von weiblichem Führungspersonal in der Kirche und vor allem dem Klerikalismus. Sie sind nicht die Ursache dafür, können aber die Ausübung sexualisierter Gewalt mit verursachen, sie begünstigen und stellen somit einen Risikofaktor dar.
Die Betonung liegt dabei auf Risikofaktor. Wenn ich aber weiß, dass etwas mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, muss ich besonders gut darauf achten, dass dieses Verhalten, diese Einstellung die Ausübung sexualisierter Gewalt, also die Ausübung eines Verbrechens, nicht begünstigt. Ich muss weiter alles tun, was dazu beiträgt, das zu verhindern, bis dahin, dass ein Verhalten, eine Praxis, eine bestimmte Einstellung geändert wird. Solange in diesem Bereich keine entscheidenden Veränderungen erfolgen, vor allem keine schonungslose Auseinandersetzung mit dem Klerikalismus, der sexualisierte Gewalt in der Kirche erleichterte und zu deren Verharmlosung beitrug, stattfindet, wird das Problem sexualisierter Gewalt in der Kirche nicht angemessen angegangen, geschweige denn gelöst werden.
Damit die Kirche aber so weit kommt, sie nicht Gefahr läuft, sich wieder schuldig zu machen, müssen aber auch endlich die notwendigen weitergehenden Konsequenzen gezogen werden, die sich aus der Krise ergeben. Sich bewusst zu machen, dass es sich bei dem missbräuchlichen Verhalten von Mitarbeitern der Kirche und dem Vertuschen eines solchen Verhaltens nicht um Bagatellfälle, sondern schwerwiegende Verbrechen und Verfehlungen handelt, kann helfen, endlich bereit zu sein, diese weitergehenden Konsequenzen anzugehen.
Doch auch und selbst das reicht inzwischen nicht aus, um die Schäden, die die Erschütterung, welche die Missbrauchskrise ausgelöst hat, in der Kirche angerichtet hat, zu beheben, den immensen Vertrauensverlust, den die Kirche erlitten hat, wiederherzustellen. Die Missbrauchskrise hat nämlich deutlich gemacht: An der Kirche selbst ist etwas faul. Der üble Geruch, der von sexualisierter Gewalt in der Kirche und dem lieblosen Umgang der Bischöfe mit den betroffenen Opfern ausging, kommt aus dem Innersten der Kirche. Er kommt von der Fäulnis, die die Kirche befallen hat, die in der Gestalt des klerikalen Systems ihre stärkste Ausprägung gefunden hat und bis heute darin ihren Ausdruck findet. Denn, so muss man sich fragen, was ist das für ein System, in dem Personen, die Verantwortung tragen, über Jahrzehnte den Schrei der Betroffenen nicht gehört haben, nicht hören wollten, unterdrückt haben? Deren Herz sich nicht vor Schmerz gekrümmt hat angesichts deren Schicksale?
So hat die Missbrauchskrise die Kirche, die mit dem Pontifikat von Papst Franziskus dabei war, sich etwas von der Schreckensherrschaft seiner Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die von einer innerkirchlichen Atmosphäre der Angst und der Sanktionen gegen missliebige Theologen geprägt war, zu erholen, wieder eingeholt und gezwungen, sich mit ihrer unerlösten Seite auseinanderzusetzen. Das heißt, die weitergehenden Konsequenzen, die u. a. den Pflichtzölibat, die Einstellung zur Homosexualität, die Morallehre der Kirche, die Rolle der Frauen und vor allem das klerikale System der Kirche betreffen, sind längst auch ohne die Missbrauchskrise fällig. Diese hat lediglich mit dazu beigetragen, dass ihre Notwendigkeit noch einmal deutlicher wird, und gezeigt, wie notwendig es ist, endlich die sanatio in radice, die gründliche, radikale Erneuerung der Kirche, in den Blick zu nehmen. Dem Reinigungsprozess nicht länger aus dem Weg zu gehen, der die Voraussetzung dafür ist, dass es mit der Kirche weitergeht. So weit ist aber die Kirche noch lange nicht, so sehr und so gerne man das alles am liebsten hinter sich lassen und nach vorne schauen will. Jetzt gilt es daher zunächst, so schwer das vielen in der Kirche fallen wird und fällt, den Blick in diesen Abgrund, der Unfassbares ans Tageslicht gebracht hat, zu wagen und auszuhalten. Denn was nicht angenommen ist, kann nicht geheilt werden.
Was nicht angenommen ist, kann nicht geheilt werden
Diese Erkenntnis gilt es zu beherzigen, wenn man sich jetzt damit auseinandersetzt, wie es weitergeht. Beschönigungen helfen da nicht weiter. Auch wenn man will, dass die Kirche irgendwann von den Menschen nicht länger eine Täterorganisation oder gar Verbrecherorganisation genannt wird. Es fängt damit an, wie im Vorwort bereits erwähnt, zuerst den Täter, den Verbrecher, zu sehen, der Priester, Bischof ist, und nicht zuerst den Priester zu sehen, der Täter ist, ohne ihn dabei allerdings darauf zu reduzieren. Es schärft unseren Blick, lässt uns genauer hinschauen und stärkt unsere Bereitschaft, konsequenter vorzugehen. Einmal, wenn ein Priester sexuelle Gewalt ausübt. Dann aber auch, wenn es darum geht, zu entscheiden, wer zum Priesteramt zugelassen wird. Den Täter bzw. den potentiellen Täter erst gar nicht zum Priester zu weihen, zum Bischof zu ernennen, setzt freilich voraus, noch genauer hinzuschauen auf den, der diesen Weg gehen will. Noch klarer zu benennen, was die Voraussetzungen sind, die dafür gegeben sein müssen. Endlich die Lebensformen, die Umstände, die Gegebenheiten, die es potentiellen Tätern ermöglichen und erleichtern, zu Tätern zu werden, zu beseitigen.
Ein solches Vorgehen, bei dem ich genau hinschaue, nichts verharmlose, wird dann aber auch dazu beitragen, deutlich zu machen, dass die überwiegende Mehrheit der Priester und Bischöfe keine Verbrecher sind. Wenn die Kirche die notwendigen Konsequenzen zieht, die sich aus der Missbrauchskrise ergeben, wenn sie sich dem Reinigungsprozess aussetzt, der mit dieser Krise einhergeht, hat sie auch die Chance, in den Augen vieler – wieder – zu einem Ort zu werden, an dem Menschen ihre spirituelle Heimat finden.
Die Finger in die Wunde legen
Die Kirche ist verwundet. Dabei handelt es sich um eine Wunde, die sich die Kirche, ihre Elite sich zum Teil selbst zugefügt hat und zufügt. Diese Wunde haben die Opfer sexualisierter Gewalt, denen damit ein unsägliches Leid zugefügt wurde und wird. Diese Wunde sehen wir aber auch bei den Gläubigen, deren Gutgläubigkeit und deren Glaube durch das Verhalten der Missbrauchstäter und der vertuschenden Bischöfe erschüttert wurden. Sie betrifft schließlich auch die Täter, deren Integrität durch ihr Verhalten fundamental verletzt wurde.
Wie tief diese Wunde ist, wie viel Leid und Entsetzen sie auslöst, ist mir unter anderem bewusst geworden bei den Reaktionen, die der arte-Film „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ auslöste, der sich mit sexueller Gewalt gegen Nonnen durch Priester, unter ihnen auch Bischöfe, befasste. Übrigens ein Bereich, der beim Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche nicht hinreichend berücksichtigt wird und gerade an dieser Stelle, wo es um den Umgang der Kirche mit Sexualität an sich geht, besonderer Beachtung bedarf: die sexualisierte Gewalt gegen Erwachsene durch Priester.
Daher ist es notwendig, die Finger in die Wunde zu legen. Auch wenn es weh tut. Denn manchmal muss eine Wunde erst vertieft werden, muss der Schmerz in seiner ganzen Schärfe zugelassen und ausgehalten werden, damit die Wunde wieder heilen kann. Solange man versucht, den eigentlichen Schmerz zu vermeiden, macht man sich etwas vor. Es gelingt einem vielleicht, den Schmerz vorübergehend zu lindern. In Wirklichkeit quält man sich aber unentwegt damit ab und verhindert, die schmerzhafte Situation zu verändern. Das geschieht erst, wenn man, nachdem man den Schmerz durchgestanden hat, die notwendigen Konsequenzen zieht, die notwendigen Entscheidungen trifft, die sich aus der Krise ergeben, und sich auf Neues einlässt.
Wenn die Kirche nicht handelt, läuft sie Gefahr, sich wieder schuldig zu machen
So ist es zwar zu begrüßen, wenn die deutschen Bischöfe auf ihrer Herbstvollversammlung 2019 sich weder von Rom noch von einigen Bischöfen wie Bischof Voderholzer und Kardinal Woelki davon abhalten ließen, sich im Rahmen eines synodalen Weges auf einen Dialog zu Fragen von Macht in der Kirche, priesterlicher Lebensform, Sexualmoral und Stellung der Frau in der Kirche einzulassen. Das ist angesichts des Bruchs zwischen der Lehre der Kirche und dem Lebensstil der Menschen überfällig. Auch ist es zu begrüßen, dass die Entschädigungszahlungen an die Opfer sexueller Gewalt erhöht werden sollen.
Auf der anderen Seite offenbaren sich wieder einmal die Ohnmacht der deutschen Bischöfe und die Ohnmacht der
Laien, wenn es darum geht, Grundsätzliches in der Kirche zu verändern. Diskutieren, Vorschläge machen: „ja“, aber mitbestimmen und mitentscheiden: „nein“. Das so ersehnte kraftvolle Zeichen der Kirche an die Öffentlichkeit findet damit nicht statt. Vielmehr bleibt der Eindruck bestehen und wird sogar bestätigt, dass das klerikale System der Kirche, bei dem die eigentliche Macht in den Händen der Kleriker liegt, unangetastet bleibt, die so notwendige Aufteilung der Macht unter den Getauften – Männern und Frauen – in weite Entfernung gerückt ist. Ich befürchte daher, dass zum einen die Gläubigen weiter in Massen die Kirche verlassen werden, weil sie mit einer Organisation, die die Mehrheit ihrer Mitglieder, darunter vor allem die Frauen, bei der Mitbestimmung und in der Führung ausschließt, nichts mehr zu tun haben will. Zum anderen bleibt ungelöst, was ja die ganze Debatte angestoßen hat: Wie kann die sexualisierte Gewalt in der Kirche eingedämmt und verhindert werden? Denn sexualisierte Gewalt und geistlicher Missbrauch finden weiterhin statt.
Kann man es vor diesem Hintergrund tatsächlich verantworten, darauf zu warten, bis sich gesamtkirchlich etwas verändert? Das kann man nicht. Man läuft vielmehr Gefahr, sich wieder einmal, weil man etwas versäumt hat, weil man nicht gut genug hingesehen, weil schon wieder das klerikale System Vorrang hat, schuldig zu machen.
Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten
Die Kirche hat viel an Glaubwürdigkeit verloren. Zu Recht. Auf der anderen Seite ist die Kirche mehr als das Bild, das von ihr im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt gegenwärtig vermittelt wird. Das darf man nicht übersehen. Jeder und jede werden auch unzählige Personen, die in der Kirche Verantwortung haben, kennen, die glaubwürdig leben und glaubwürdig sind. Auch verbinden viele sehr schöne und bereichernde Erfahrungen mit Kirche.
Man sollte nie vergessen, dass dort, wo viel Licht ist, auch viel Schatten ist. Ja, je mehr Licht, desto größer der Schatten. Ich erinnere mich an ein Interview, das ich als Abiturient mit Karl Rahner führte. In diesem Interview sagte er unter anderem, dass die Kirche immer auch eine sündige Kirche ist. Das ist keine Entschuldigung. Aber manche, die die Kirche idealisieren, müssen das, so schmerzhaft es für sie ist, zur Kenntnis nehmen.
Wir sollten demütiger werden. Das extra eclessiam nulla salus est – außerhalb der Kirche kein Heil – hat längst ausgedient. Auf der anderen Seite müssen wir uns auch nicht verstecken. Weil es auch viel Gutes gibt in der Kirche. Weil viele Männer und Frauen, die in der Kirche arbeiten, gerne ihrem Beruf nachgehen, viele ihr Herzblut geben. Weil was sie tun, in vielerlei Hinsicht darauf aus ist, Menschen dabei zu unterstützen, das Menschenherz auf Gott und die Menschen auszurichten. Weil es unzählige Menschen gibt, denen ihre Kirche viel bedeutet hat und in dem, was sie wesentlich ausmacht, weiterhin viel bedeutet. Weil sie sie nicht als ihre spirituelle Heimat verlieren wollen. Hier gilt, was Joseph Ratzinger (1968) in seiner „Einführung in das Christentum“ geschrieben hat: „Nur wer erfahren hat, wie über den Wechsel ihrer Diener und ihrer Formen hinweg Kirche die Menschen aufrichtet, ihnen Heimat und Hoffnung gibt, eine Heimat, die Hoffnung ist: Weg zum ewigen Leben – nur wer dies erfahren hat, weiß, was Kirche ist, damals und heute.“
Die Menschen, auf die das zutrifft, gibt es und ich begegne ihnen immer wieder. Sie haben bei allem, was sie auch an der Kirche stören mag und sie im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt in ihren Reihen mit Recht kritisieren, in ihr Heimat gefunden, die Hoffnung ist, Weg zum ewigen Leben. Das kann nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden: Die Kirche als eine Heimat, die Hoffnung ist: Weg zum ewigen Leben.
Eigentlich müssten wir merken, dass es um die Kirche besser bestellt ist, seitdem vieles von dem, was im Dunkeln war, ans Licht gekommen ist. Und tatsächlich hat sich einiges in der Kirche verändert, und das nicht nur durch Papst Franziskus. Dem Klerikalismus ist eindeutig der Kampf angesagt worden. Er bricht zusammen, fällt ab wie eine Kruste, die sich nicht länger halten kann, weil sie morsch geworden ist. Auch glaube ich, dass wir durch die ganze schwierige Situation der letzten Jahre Gott als Kirche nähergekommen sind. In unserer Schwäche, in unserer Betroffenheit, aber auch in unserer Schuld. Wir sind Gott nähergekommen, weil wir endlich – endlich – den Schrei der Opfer gehört haben. Uns nicht länger durch unseren Klerikalismus haben davon abbringen lassen, jene, die Opfer, zu sehen, die im Dunkeln sind. Die wir, geblendet vom Licht, in das wir die Vertreter der Kirche stellten, ausblendeten. Jetzt wurde wahr, was wir im Benedictus beten: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes.“
„Die Wahrheit wird euch frei machen“
Wenn wir immer wieder an sexualisierte Gewalt im Kontext von Kirche erinnert werden, dann sollten wir das zum Anlass nehmen, zuallererst an die Opfer sexualisierter Gewalt zu denken, für sie zu beten. Des Weiteren sollten wir uns dadurch anstacheln lassen, nicht nachzulassen, alles zu tun, was in unserer Macht steht, dass so etwas nicht mehr in unseren Reihen geschieht. Wir sollten, wenn wir durch öffentliche Berichte an den mitunter größten Skandal, den unsere Kirche zu verantworten hat, erinnert werden, nicht vergessen, dass vieles in den vergangenen Jahren getan worden ist, aber bei weitem noch nicht alles – es immer noch Opfer gibt, die sich nicht getrauen, sich zu äußern; es immer noch Versuche gibt, Dinge zu verschleiern; es immer wieder der Anstrengung bedarf, zur Wahrheit vorzudringen. Zu stark sind die alten Mechanismen, die über Jahrzehnte bestimmten, wie in Fällen von sexualisierter Gewalt im Kontext von Kirche vorgegangen wurde. Sehr stark sind auch die Abwehrmechanismen jener, die sexualisierte Gewalt praktizieren und es verstanden haben und verstehen, ihre Taten zu verheimlichen, zu vertuschen, abzustreiten.
„Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Ja, die Wahrheit wird uns frei machen. Die Kirche hat sich, zumindest in unseren Breitengraden, soweit es den Westen betrifft, auf den Weg gemacht, der in die Freiheit führt. Wir stehen heute nicht mehr da, wo wir in den letzten Jahrzehnten gestanden sind. Die Wunden, die Menschen zugefügt wurden, werden wohl nie ganz verheilen. Aber der Heilungsprozess hat begonnen. Seit Licht in den Skandal gebracht worden ist, die Opfer endlich gehört werden, wir – hoffentlich – aufgewacht sind, wichtige Maßnahmen auf den Weg gebracht worden sind. Wir, die Kirche, die Bischöfe – hoffentlich – sensibler, verwundbarer, menschlicher, demütiger dadurch geworden sind. Doch auch glaubwürdiger? Die Glaubwürdigkeit der Kirche, die im Augenblick gegen null geht, die die Kirche verspielt hat, die wird sie, die werden wir erst wieder – vielleicht, hoffentlich – zurückgewinnen, wenn die Kirche, alle, die Kirche sind, insbesondere aber ihre Verantwortlichen, die Bischöfe einschließlich des gegenwärtigen Papstes und seines Vorgängers, bereit sind, zu unserer, zu ihrer Schuld zu stehen, wo wir weggeschaut, vertuscht, den Schrei der gedemütigten betroffenen Opfer nicht gehört haben, nicht hören wollten oder einfach überhört haben. Denn nur die Wahrheit macht uns frei.