Читать книгу Der Letzte macht das Licht aus? - Wunibald Müller - Страница 9
Оглавление2. Kapitel
Dazu stehen: Wir befinden uns in einer Krise
Die Krise annehmen
Wagen wir den Blick auf unsere kirchliche Wirklichkeit, dürfen wir uns nichts vormachen und müssen dazu stehen, dass wir uns in einer Krise befinden. Für eine Krise aber ist es typisch, dass wir verunsichert sind. Krisen können uns an den Rand unserer Möglichkeiten bringen. Sie können uns in Depression und Resignation treiben, aus der wir nicht mehr herauskommen. Das ist eine Seite von Krisen, die man nicht schönreden sollte. Krisen können sich aber auch als eine Chance erweisen. Wir merken, dass sich etwas zugespitzt hat, es so nicht weitergehen kann.
Das aber trifft auch auf die Situation zu, in der sich die katholische Kirche augenblicklich befindet. Hier hat sich mit der Zeit so manches zugespitzt, das schon länger nicht mehr gestimmt hat und wo es jetzt höchste Zeit ist, endlich Konsequenzen daraus zu ziehen. Die Kirche befindet sich in einer handfesten Krise. Wie gehen wir in der Kirche damit um? Machen wir einfach so weiter wie bisher, quälen wir uns durch die Krise? Verfallen wir in Aktionismus angesichts der Krise? Resignieren wir? Oder betrachten wir die Situation als eine Chance, die wir nutzen wollen, auch, um endlich Neues, wirklich Neues, zu probieren? Wir können einfach weitermachen wie bisher, den Kopf in den Sand stecken. Wir können einfach aufgeben, resignieren oder aber uns herausfordern lassen durch die Situation.
Will die Kirche die Chance, die sich aus ihrer Krise ergibt, für sich nutzen, muss sie zunächst dazu stehen, dass sie sich in einer Krise befindet. „Was nicht angenommen ist, kann nicht geheilt werden“, wusste schon Irenäus von Lyon.
So beginnt der Heilungsprozess zunächst einmal damit, sich zuzugestehen, dass wir uns in einer Krise befinden. Wir an einem Punkt angekommen sind, an dem es nicht weitergeht. Verena Kast beschreibt das sehr treffend in dem Bild von einem dunklen Schlauch, in dem wir uns befinden und nirgends einen Ausweg sehen. Das ist eine Situation, die wir verständlicherweise oft nur sehr schwer aushalten können und der wir möglichst schnell entrinnen möchten. Doch es bleibt uns nichts anderes übrig, als sie auszuhalten.
Denn wenn wir uns in einer Krise befinden und so tun, als sei das nicht der Fall, schleppen wir uns durch die Krise, versuchen uns durch Appelle, Durchhalteparolen, Aufputschmittel jeglicher Art aktiv zu halten. Dementsprechend ist auch unsere Ausstrahlung. Wir kommen lustlos, jammernd, resigniert daher. Wir machen „unser Ding“, ziehen es durch. Von Freude, gar Begeisterung ist da nichts zu spüren.
Innehalten und sich eine Brachzeit gönnen
Oder wir suchen nach Fluchtwegen. Statt die schwierige Situation, auch die Unschlüssigkeit, die damit einhergeht, auszuhalten, ziehen wir es vor, in einen Aktionismus zu verfallen. Wir gönnen uns nicht die Zeit des Innehaltens und die Brachzeit, die wir brauchen, um wieder fruchtbar zu werden. Wir wollen uns nicht der ganzen Palette von Gefühlen aussetzen, die sich einstellen, wenn uns bewusst wird, von was wir uns verabschieden müssen, welche Verluste wir zu beklagen haben, was uns zugemutet wird. Diese Gefühle reichen von Fassungslosigkeit, Ärger und Wut bis hin zu Angst, Verzweiflung und Trauer.
Wenn wir uns in einer Krise befinden und an den toten Punkt gekommen sind, sollten wir das daher zunächst einmal als Einladung betrachten, für eine Weile innezuhalten. Wir gönnen uns eine Brachzeit, die oft die Voraussetzung dafür ist, dass wir wieder fruchtbar werden, dass der Boden für neue Ideen, die Energie für neue Unternehmungen sich regenerieren und bilden kann. Wir ruhen uns in dieser Zeit aus, schenken den Dingen, denen wir in der vergangenen Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, unser Interesse. Wir nehmen uns vor, tiefer zu graben, um neue Quellen zu erschließen. Sind offen dafür, uns überraschen zu lassen.
Auch ist das eine Zeit, in der wir Trauerarbeit leisten müssen. Es tut weh, sich von Vertrautem verabschieden zu müssen, so überfällig es vielleicht auch ist. Es tut weh, miterleben zu müssen, wie die Kirche immer mehr an Bedeutung verliert. Es stimmt einen traurig, keine Jugendlichen mehr in den Gottesdiensten anzutreffen, es ist frustrierend, feststellen zu müssen, dass trotz großer Anstrengungen und guter Ideen die Menschen, die man gerne ansprechen wollte, offensichtlich nicht erreicht werden. Darüber sollte man nicht einfach hinweggehen. Auch hat es nichts mit Wehleidigkeit zu tun, das zu bedauern und zu beklagen. Man sollte nur nicht darin hängenbleiben, aber genau deswegen ist es wichtig, die Trauer, das Bedauern, den Frust zunächst zuzulassen.
Dann betrachten wir die Krise als eine Chance, sehen in ihr vielleicht sogar einen Fingerzeig Gottes, dass sich etwas ändern muss. Aus der Krise kann uns dann ein Segen erwachsen. Gehen wir dagegen über die Krise einfach hinweg, machen wir uns etwas vor. Vor allem aber nutzen wir nicht die Chance, die in ihr liegt. Wir investieren Kräfte in Aktionen, die am Ende verpuffen, weil wir nur die Dekoration verändern, uns dabei manchmal recht viel einfallen lassen, doch am Schluss feststellen müssen: Was darunter ist, ist geblieben und wird es so lange bleiben, bis wir den Mut aufbringen, den Schnitt zu machen, die mitunter auch radikalen Konsequenzen zu ziehen, die wir ziehen müssen, so weh es tun mag, soll wirklich Neues entstehen können. Wir beherzigen, was Martin Luther sagt: „Ist’s Gottes Werk, bleibt es besteh’n, ist’s Menschen Werk, wird es vergeh’n“.
Geht es uns um Gott oder um unsere Aufführung?
Stellen wir uns der Krise, kann uns das auch dazu führen, wenn wir bereit sind, uns ihr radikal zu stellen, dass sie uns zwingt, an die Wurzel zu gehen, was ja in dem Wort radikal, das von dem lateinischen Wort für Wurzel radix abgeleitet wird, anklingt. Wir müssen uns mit dem auseinandersetzen, worum es wirklich und eigentlich in der Kirche geht, und uns dabei auf eine schmerzhafte Wurzelbehandlung einlassen.
In seinem Bestseller „Ich bin dann mal weg“ stellt Hape Kerkeling einen Vergleich zwischen Kirche und Kinosaal her. Er schreibt: „Gott ist der Film, und die Kirche ist das Kino, in dem der Film läuft.“ Wer behaupte, ein Film sei schlecht, beklagt laut Kerkeling oft nur die miese Qualität der Vorführung. „Die Leinwand hängt leider schief, ist verknittert, vergilbt und hat Löcher. Die Lautsprecher knistern, manchmal fallen sie ganz aus.“
„Gott ist der Film und die Kirche ist das Kino.“ Geht es uns um Gott, kann die zum Teil triste Situation, die wir in der Kirche und in der Seelsorge vorfinden, dazu führen, dass wir zunächst traurig, manchmal auch verzweifelt sind, zwischendurch tatsächlich auch mal am liebsten die Flinte ins Korn werfen würden. Doch der Film läuft weiter. Mit und ohne uns. Gott lässt sich nicht ausknipsen. Oder? Wir machen doch die Existenz Gottes in unserer Welt nicht von Zahlen abhängig, von unserer Aufführung? Oder doch?
Ich glaube, das Grundproblem, das wir als Kirche haben, ist, dass wir selbst Gott erstickt haben. Das erinnert mich an Friedrich Nietzsche, der von einem Verrückten berichtet, der durch die Straßen rennt und schreit: „Ich suche Gott!“ Die Menschen lachen über ihn und fragen: „Ist er denn verloren gegangen? Fürchtet er sich vor uns? Ist er ausgewandert?“ Da richtet der Verrückte sich auf und ruft: „Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Gott ist tot und wir haben ihn getötet – ihr und ich!“ Dann schweigt er und zertrümmert die Straßenbeleuchtung.
Das wahre Licht vom falschen Licht unterscheiden
In der spirituellen Begleitung hilft mir manchmal die Vorstellung von dem, was man ignis fatuus nennt, was man mit falschem Feuer übersetzen könnte. Es ist der Stern, dem die Karawane in der Wüste folgt, um irgendwann festzustellen, dass sie einem falschen Stern aufgesessen ist, sich etwas vorgemacht hat. Dabei ist es zunächst gar nicht so einfach, zu erkennen, dass es sich um ein falsches Feuer handelt, weil es leuchtet, lodert und zumindest am Anfang wärmt.
Es gibt also auch ein Feuer, es gibt ein Licht, das falsch ist. Das sich als Schein, als eine Täuschung erweist. Es wird etwas vorgegeben, was gar nicht da ist. Man sitzt dann einer Scheinwelt auf. Könnte es sein, dass uns in der Kirche oft ein Licht vorgegaukelt wurde oder auch noch vorgegaukelt wird, das in Wirklichkeit gar nicht leuchtet? Von dem wir uns haben blenden lassen und es höchste Zeit war oder höchste Zeit wird, dass dieses Licht ausgeht?
Gott verdunstet nicht
Der Letzte aber, der das Licht, das wahre Licht, das wirklich leuchtet, ausmacht, ausmachen würde, ist der, der das Licht selbst ist, in dessen Licht wir das Licht (erst) sehen. Vielleicht musste und muss in der Kirche das Licht ausgehen, weil es das eigentliche Licht verfinsterte und verfinstert. Das Licht ist weder in der Kirche noch in der Seelsorge ausgegangen und wird dort auch nicht ausgehen. Das Licht, das ausgegangen ist und ausgehen musste, kann uns jetzt nicht länger blenden, so dass wir das eigentliche Licht sehen: Gott.
Von Pierre Teilhard de Chardin wird erzählt, dass seine Mutter, als er fünf Jahre alt war, seine Locken abschnitt und sie verbrannte. Zunächst schaute der kleine Pierre voller Faszination auf jede Locke, wie sie innerhalb weniger Sekunden zu Asche verbrannte. Dann fing er plötzlich an zu weinen und lief aus dem Zimmer. Einige Tage später begann er Eisenstücke zu sammeln, da sie nicht verbrennen konnten und dem Feuer widerstehen konnten. Später, als er feststellte, dass Eisen rosten kann, verzichtete er auf seine Eisensammlung und begann stattdessen Steine zu sammeln. Für ihn waren sie unzerstörbar. Als Erwachsener versuchte Pierre Teilhard de Chardin ewige Wahrheiten zu finden, die unzerstörbar waren.
Auch wenn wir unseren Glauben in irdenen Gefäßen tragen und er zerbrechlich ist – der, an den wir glauben, ist es nicht. Ich halte von daher auch die Rede von der Gottesverdunstung für problematisch. Sie erweckt den Eindruck, Gott könnte verdunsten, wo es doch eigentlich darum geht, dass unsere Vorstellung von Gott, unsere Weise, über ihn zu denken, von ihm zu reden, ihn irgendwie einzufangen, zu fassen, sich auflöst. Vielleicht ist es genau das, was die Voraussetzung dafür ist, ihn wieder zu entdecken unter all dem, womit wir ihn entstellt und den Zugang zu ihm erschwert haben.
Gott können wir entdecken, wenn wir uns von manchen Bildern und Vorstellungen, wie Gott und wo er zu sein hat, freimachen. Dabei kann uns auch ein Verständnis von Atheismus helfen, das Atheismus nicht gleichsetzt mit Gottlosigkeit im Sinne einer Ablehnung Gottes. Er kann auch als Ablehnung einer bestimmten Art des Theismus, also einer bestimmten Vorstellung von Gott, verstanden werden. Tatsächlich gibt es ja auch Formen von Theismus, die den Menschen „auf dem Weg zu jenem Geheimnis, das wir Gott nennen, eher im Wege stehen als helfen“ (Grün, Hajik, Nonhoff 2016,18). Die Krise in der Kirche kann uns helfen, uns von solchen Bildern und Vorstellungen zu verabschieden und Gott für uns neu zu entdecken.