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1. Geburt

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Anders als in westlichen Familien hatte meine Geburt als zweites Kind meinen Eltern kein Glücksgefühl beschert. Warum? Ich war ein Mädchen.

Ich wurde in den 1980er Jahren auf dem Land in Zentralchina in dem großen Dorf Shunhe geboren. Meine Eltern waren traditionelle chinesische Bauern: fleißig, konservativ, weibliche Nachkommen unerwünscht.

Meine Mutter war das älteste von sechs Geschwistern. Die Gesundheit meiner Oma war schon angeschlagen, als meine Mutter 12 Jahre alt war. Sie war als älteste Schwester auch Ersatzmutter für ihre jungen Geschwister. Mein Opa konnte zwar durch seinen Beruf als Schmied ein bisschen Geld verdienen, welches aber meistens für die Behandlung meiner Oma im Krankenhaus verwendet werden musste. Meine Mutter hatte weder Zeit noch Geld um in die Schule zu gehen. Natürlich war es auch meines Opas Meinung, dass es für Mädchen umso besser ist, je weniger sie wissen. Deshalb war meine Mutter nicht einen einzigen Tag lang in der Schule und konnte dadurch nicht lesen und schreiben. Meine Mutter hat das später schwer bereut, da sie bis heute noch eine völlige Analphabetin ist. Das war auch ein wichtiger Grund, weshalb meine Mutter darauf beharrte uns auf die Schule zu schicken.

Mein Vater hatte zwei ältere Schwestern und als er 17 Jahre alt war ist sein Vater gestorben. Er hatte zwar erfolgreich ein Gymnasium am Land abgeschlossen, aber wegen der Kulturrevolution und weil mein Opa weder Geld noch genügend Einfluss hatte, konnte mein Vater leider kein Studium beginnen. Wohl oder übel begann er eine Lackiererlehre, da ein Verwandter meiner Oma ein guter Lackierermeister war. Natürlich hatte mein Vater das Talent für diesen Beruf: Geduld und Genauigkeit. Während der Erntezeit arbeitete er auf den Feldern seiner Eltern und ansonsten ist er zusammen mit seinem Meister in der Stadt oder anderen Dörfern. Meine Oma hatte sich nie um die Felder gekümmert. Warum? Sie war ein Fräulein mit Lotosfüßen und stammte aus einer traditionellen chinesischen Arztfamilie. Im alten China wurden die Mädchen ab dem siebenten oder achten Lebensjahr gezwungen ihre Füße in besonderer Weise zu formen um damit später eine gute, sympathische, reiche Schwiegerfamilie finden zu können. Mit zwei langen Stoffbändern wurden die vier kleinen Zehen unter die Fußsohle gebunden. Die weichen Knochen der Mädchen verformten sich über die Jahre so weit, dass die Vorfüße schließlich kegelförmig nach vorne zusammenliefen. Je kleiner der Fuß wurde, desto mehr entsprach es dem Schönheitsideal. Wegen der japanischen Invasion im zweiten Weltkrieg, kam sie auf das Land und heiratete ihren zweiten Mann, meinen Opa.

Meine Eltern lernten sich durch einen Kuppler kennen. Nur zweimal vor der Hochzeit hatten sie sich getroffen. Die ersten fünf Jahre nach der Heirat, wohnten sie mit meiner Oma gemeinsam in unserem kleinen Bauernhof. Es gab zwei Häuser, ein altes und ein modernes Haus. Der obere Teil der Wände des alten Hauses, auch Nord-Haus genannt, wurde aus einer Mischung Lehm und Stroh gebaut. Der untere Teil bestand aus blauen Ziegeln und war ca. einen Meter hoch. In dem einzigen großen Raumwohnte meine Oma. Nur sehr wenige Häuser wurden damals komplett aus blauen Ziegeln gebaut, weil das viel mehr Geld kostete als Häuser aus Lehm und Stroh. Das neue Haus wurde extra für die Hochzeit meiner Eltern gebaut und bestand aus roten Ziegeln, nur war es viel kleiner als das alte Haus. Es wurde auch West-Haus genannt. Meine Eltern hatten hier bis ich vier Jahre alt war gewohnt.

Die Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter in China stellte fast immer eine heikle Angelegenheit dar. Bei meiner Mutter und Oma war das nicht anders. Nach meiner Geburt verschärfte sich die Problematik noch zusätzlich. Meine Oma bekrittelte, dass meine Mutter keinen Jungen auf der Welt bringen konnte. Sie suchte frei nach einem chinesischen Sprichwort „Knochen in den Eiern“ (mit Nachdruck ein Problem suchen). Meine Mutter konnte diese Sticheleien nicht immer stumm ertragen, weshalb es öfter Streitereien mit meiner Oma gab. Es wurde einmal so schlimm, dass die Familien meiner Mutter und meines Vater zum Streitschlichten geholt wurden. Seitdem haben sich meine beiden Großmütter nie mehr getroffen und kein Wort mehr miteinander gewechselt.

Als ich ein Baby war, hatte niemand Zeit und Lust auf mich aufzupassen. Obwohl eine Oma im Nord-Haus wohnte, hat sie nie einen Blick auf mich geworfen. Ich musste den ganzen Tag nur in meinem Elternbett bleiben. Damit ich nicht auf den Boden fallen konnte, fabrizierte meine Mutter mittels zweier Stühle ein einfaches Gitter neben dem Bett. Bis meine Mutter zurück von der Feldarbeit kam, hatte ich schon den ganzen Körper mit eigenem Kot vollgeschmiert.

Bis ich 3 Jahre alt war, konnte ich nicht wie andere Kinder normal gehen. Meine Mutter hatte fürchterliche Angst, dass ich behindert war. Über meine Laufunfähigkeit hätte man sich aber nicht wundern brauchen, da ich nie die Gelegenheit hatte das Gehen zu üben.

Trotz meiner einsamen Kindheit hatte ich großes Glück, weil ich nicht von zu Hause weg geschickt wurde. Die anderen drei Mädchen, die nach mir geboren wurden, konnten nicht wie ich bei eigenen Eltern bleiben.

Meine zweite Schwester Min (bedeutet: scharfe Augen haben, flink, behände) musste zwar nicht unsere Familie verlassen, aber sie wurde entweder bei meiner anderen Oma oder meiner Tante, der jüngeren Schwester meiner Mutter, gelassen. Ich konnte mich an meine zweite Schwester überhaupt nicht erinnern, da wir überhaupt nie Zeit in der Kindheit miteinander verbracht haben. Als ich viel älter war, kam sie ab und zu nach Hause. Am Anfang habe ich nicht gewusst, dass sie meine jüngere Schwester war. Die Nachbarn haben ihr einen Spitznamen gegeben: Jiuni. Das bedeutet so viel wie neuntes Mädchen. Die Aussprache von „9“ ist die gleiche wie die von „Ewigkeit“. Eine andere und tiefere Bedeutung von „9“ war, dass es nur Mädchen gab. Ich verstehe bis jetzt immer noch nicht, weshalb sie Min diesen Name gegeben haben. Unsere Familie war nicht gewöhnt sie so zu nennen. Aber ich vermute es war der Ausdruck des Wunsches, dass das nächste Kind kein Mädchen mehr sein sollte. Im alten China wurden auf dem Land viele Kinder mit solchen Spitznamen wie z.B. „Gou“ (Hund), „Niu“ (Kuh), „Tiedan“ (Eisenball) usw. bezeichnet. Damit wollte man die Kinder aber nicht herabmindern sondern im Gegenteil ihnen eine starke Seele einprägen. Früher waren die Lebensbedingen häufig ungünstig und zahlreiche Kinder sind früh durch Krankheit oder sogar Verhungern gestorben.

Wenn meine jüngere Schwester Min nach Hause kam, sah ich sie als einen Feind an. Das heißte, ich musste mit mehreren Kindern (ältere Schwester Lili und Min) die Sachen teilen: so wurde ein Apfel in drei Stücke geteilt. Deshalb habe ich sie öfter rücksichtlos behandelt. Ich freute mich herzlich, als sie später in ein Internat einer Gong Fu, sprich Kampfkunstschule, geschickt wurde.

Als wir Geschwister einige Jahre später die Möglichkeit hatten, meine Heimatstadt zu verlassen, war sie das einzige Kind, das den Wunsch meiner Eltern beachtete und in unserer Heimat blieb. Zufällig hatte ich von ihrer besten Freundin gehört, weshalb sie nicht in eine andere Stadt studieren gehen wollte wie ihre zwei älteren Schwestern. Sie sagte zur ihrer Freundin: „Meine beiden älteren Schwestern sind schon weggegangen, also muss ich zu Hause bleiben um meine Eltern zu kümmern“. Als ich das mitbekommen habe, begann ich Min aus tiefstem Herzen zu respektieren. Trotz der elterlichen Vernachlässigung in der Kindheit verspürte sie immer noch eine tiefe Verpflichtung zu ihrer leiblichen Familie. Ohne einen Vorwurf erledigt sie neben ihrem Studium einen Teil der Arbeit im Geschäft meiner Mutter und trägt die Verantwortung der zukünftigen Altersversorgung. Ich war so eine Egoistin im Vergleich zu ihr, weil ich die ganze Zeit von zu Hause flüchten wollte – flüchten vor dem Weg, den meine Eltern für mich geplant hatten. Ich war übersatt von den eintönigen Arbeiten im Geschäft und vom statischen, ruhigen Lebenskreis meiner Heimat: Wohnung kaufen, Schulden haben, heiraten, Kinderhaben, arbeiten, Schulden abbezahlen, alt werden und sterben. Stattdessen sehnte ich mich nach Abenteuern und wollte meine Träume leben statt dem Ziel meiner Eltern zu dienen. Ich musste mich schämen für das was ich Min früher angetan habe. In meinen Augen, war sie immer das überschüssige Kind. Ich war immer eiskalt und unfreundlich zu ihr. Sie wurde manchmal nicht nur von mir sondern zusätzlich auch von der anderen älteren Schwester Lili geschlagen. Leider erkannte ich dieses Unrecht erst als ich nicht mehr zu Hause war. Sie ist eine großartige Schwester und ich bin sehr stolz auf sie.

Noch weitere zwei Schwestern wurden nach Jiuni geboren. Zwei verschiedene Familien adoptierten diese vierte und fünfte Mädchen, die „Xiang“ und „Juan“ genannt wurden als sie noch Babys waren. Wegen der Ein-Kind-Politik durften meine Eltern nicht so viele Kinder haben, außerdem wollten sie nur Buben. Xiang lebte bei einer Bauernfamilie, die nur zwei Jungen hatte. Der adoptierende Vater war nicht nur Bauer sondern auch Zahnarzt, wobei er auf Märkten mit einfachem Zahnarztwerkzeug Patienten behandelte. Während der Erntezeit arbeitet er wie jeder normale Bauer auf den Feldern. Juan wurde von einer Stadtfamilie aufgenommen. Vor ein paar Jahren haben wir uns Geschwister alle getroffen. Xiang und Juan haben wir von der Adoption in ihrer frühen Kindheit nichts erzählt. Sie wissen also nicht, dass ich ihre Schwester bin. Meine Mutter wollte nicht, dass wir ihnen von unserer Blutsverwandtschaft erzählen, aber sie unterstützte öfter heimlich die beiden Mädchen. Ich war beglückt und erleichtert über die Erzählungen aus ihrer glücklichen Kindheit.

Meine Oma war ausgezogen als ich gerade vier Jahre alt war und wohnte nun allein ca. 200 Meter südlich von unserem Bauernhof im einen kleinen Haus mit roten Ziegelmauern. Daneben gab eine Miniküche aus Mauern aus einer Lehm-Stroh-Mischung. Hinter dem Haus war eine ca. sechs Mal sieben Meter große Grube, deren Boden von Plastikmüll und grünem Regenwasser bedeckt war. Die rechte Seite vom Haus bestand aus einer ziemlich niedrigen und kaputten Lehmmauer an der Grenze zu einem unbebauten Grundstücks des Nachbarn. Es gab viele Stellen für Kinder um darauf herum klettern zu können. Ein Hoftor hatte das Haus nicht. Im Sommer rankte Knöterich voller kleiner Blüten auf der Hofmauer und schmückte den leeren Platz.

Meine Eltern und die Kinder zogen ins Nord-Haus und wohnten in dessen östlichem Teil. Meine Mutter hängte eine zwei Meter breite, hellblaue Gardine mit Pfingstblumenmuster vor ihr Bett. Der große Raum des Haus wurde durch das Tuch in zwei Teil geteilt, ein „Wohnzimmer“ und ein „Elternzimmer“. Wir Kinder wohnten im Westteil des Hauses oder besser gesagt des Raumes. Als zusätzliche Raumteilung gab es einen großen hölzernen Kleiderschrank. Der Tür des Schrankes aus Spiegelglas fehlte ein Viertel.

In der Mittel der Wohnzimmerwand thronten riesige Bilder von Mao und anderen berühmten chinesischen Anführer. Es war damals sehr modern und typisch gewesen in jedem Haus solche Bilder aufzuhängen. Mao und andere wichtige Anführer Chinas wurden wie Helden von den Generationen meiner Großeltern und Eltern verehrt, da es damals nur eine einseitige positive Berichterstattung über diese Machthaber gab. Leute mit Meinungen, die vom Regime abwichen, gab es natürlich auch. Die Kulturrevolution bügelte diese Falten im Weltbild aber wieder gnadenlos aus. Die Bauern freuten sich nach der Kulturrevolution wieder ihre Felder bepflanzen zu können. Dafür bedankten sie sich wie selbstverständlich bei den Anführern. Beiderseits der Bildnisse der Machthaber hingen Werke traditioneller chinesischer Malerei mit hohen formvollendeten Bergen. Man konnte ein Strohhaus neben einem Weidenbaum sehen und davor eine kleine Brücke über einem Bach, dessen Wasser sich den Berg hinuntergoss. Nicht so weit vom Haus entfernt gab es einen Mann mit langen Bart und traditioneller chinesischer Bekleidung aus der Han oder Tang Dynastie. Hinter ihm wand sich eine lange schmale Treppe aus Stein und verschwand in den hohen Bergen. Auf der Anhöhe eines der Bergestand ein achteckiger Pavillon. Einen ähnlichen Stil hatten auch die anderen Bilder.


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