Читать книгу allein bleibende Kinder - Yanzi LI - Страница 4

2. Ein Kind Politik

Оглавление

Im Oktober, genau während der Zeit einer guten Ernte, bekamen meine Eltern wie gewünscht einen Jungen. Die Geburt meines Bruders, an die ich mich gut erinnern kann, war ganz und gar aufregend und freudenvoll gewesen.

An diesem Abend kam eine Dorfärztin, die bei der Geburt des Kindes in den Umgebungsdörfern immer dabei war. Alle meine Geschwister wurden von ihr auf die Welt gebracht. Sie war sehr schlank mit kurzen Haaren und war immer in einer altmodischen grauen Bluse aus Baumwolle gekleidet und trug eine Brille mit silbernen Rahmen. Ein Schneidezahn wurde zu dreiviertel von einem silbernen Metallband eingewickelt. Wenn sie lächelte, glänzte dieses Metallband. Ich habe gerne diesen Zahn angeschaut und wünschte mir auch einen solchen, mit leuchtendem Silber umkleidet, zu haben.

Während der Geburt meines Bruders wurden wir zu andern Kinder des Nachbarn geschickt.

Als wir von unserem Vater nach Hause geholt wurden, sah ich ein kleines hässliches Baby im Elternbett liegen. Es sollte meinen Bruder sein.

Es hatte eine Haube mit roten und blauen Streifen aus feinster Wolle auf seinem kleinen Kopf. Wie ein kleiner alter Mann war sein Gesicht voll mit Falten bedeckt. Es konnte noch nicht seine Augen öffnen. Meine Mutter sagte uns mit glücklicher Stimme, dass wir unseren einzigen Bruder lieb haben sollten. Ich bekam Erlaubnis von meiner Mutter, dass ich meinen Bruder streicheln durfte. Ich berührte zärtlich seine Haube und ein wundervolles Gefühl brach aus meinem Herz hervor. Ich bedankte mich über seine Verspätung, sonst hätten wir vielen Mädchen überhaupt keine Chance gehabt auf diese Welt zu kommen.

Meinem Vater war die Glückseligkeit und Zufriedenheit ins Gesicht geschrieben, als er meinen Bruder sah. Der Bub entsprang einer glücklichen Energie. Ich sehnte mich nach dem lachenden Gesicht meines Vaters, versuchte brav und fröhlich zu sein, mich sorgfältig um meinen Bruder zu kümmern und zu lächeln, wenn die Eltern mit mir schimpften. Meine Eltern würden nur noch mehr erbosen, wenn sie in mein trauriges Gesicht – das Gesicht eines Mädchens blicken müssten. Ich bemühte mich meinen Eltern zu beweisen, dass ich kein Nichtsnutz war, sondern sie wie der Junge auch beglücken konnte. Doch das Bemühen war zwecklos, weil ich ein Mädchen war.

Anfang Dezember, im Geburtsjahr meines Bruders, gab immer noch keinen Schnee, aber es war schon sehr kalt. Der Wind schnitt wie ein scharfes Messer in meine Wangen. Die Winterluft war kalt und trocken. Dicke Wolken bedeckten wie ein graues Tuch das stille Dorf.

Während des langen Schulweges wurden meine Finger steif vor Kälte und ich versucht mit der linken Hand die Rechte zu wärmen, damit ich schreiben konnte. Aber meine Schriftzeichen krochen trotzdem dahin wie Regenwürmer. In meiner Klasse waren nur wenige Schüler, da die anderen, aus mir unbekannten Gründen, nicht in den Unterricht kamen. Der Klassenraum schien von vorne bis hinten leer, groß und kalt. Wie ein wilder grimmiger Stier brüllte der eisige Wind und pfauchte durch kaputte Fensterscheiben in den Klassenraum hinein. Ich wünschte nach Hause zu gehen um mich sofort in meine dicke Winterdecke einzuhüllen zu können.

Da bekamen wir unverhofft eine Benachrichtigung von einem anderen Lehrer: unser Mathematiklehrer war krank und wir konnten jetzt nach Hause gehen. Wie eine Rakete lief ich mit zitterigem Körper nach Hause. Die Haustür war ungewöhnlicher Weise halboffen, innen war es hell und warm. Ich ging wachsam hinein und sah unseren Dorfhauptmann drinnen. Er war sonst nie bei uns zu Hause - weshalb kam er plötzlich zu uns? Ein schlechtes Gefühl überfiel mich. Er beendete schnell das Gespräch mit meiner Mutter und sagte zu mir: „Ah, bist du schon da“, dann drehte er sich wieder flüsternd zu meiner Mutter:“ Es würde wahrscheinlich nächstes Jahr nach der Maiserntezeit durchgeführt. Ihr solltet etwas vorbereiten. Bitte erzählt niemandem, dass ich heute hier war“.

Er schritt schnell wieder aus dem Haus.

Ich wusste nicht, was der Dorfhauptmann meiner Mutter vorher erzählt hatte. Sie starrte mit ernstem Gesicht längere Zeit auf unseren kleinen Kohlenbrenner in der Mitte des Wohnzimmers. Erste einige Minuten später merkte sie, dass ich früher als üblich nach Hause gekommen war.

Ich saß ruhig auf dem Stuhl, der neben meinem Elternbett stand, um meinen kleinen Bruder zu beobachten. Er schlief viel, Falten hatte er nicht mehr im Gesicht, aber er geiferte wie üblich. Sein großer Kopf machte ihn wirklich sehr süß.

Mein Vater kam wieder mit seinem Fahrrad von der Stadt zurück und brachte ein Säckchen Bananen mit. Darauf habe ich ewig lang gewartet. Auf dem Land gab es nur Lebensmittel zu kaufen, die auf den Feldern der Gegend angebaut wurden. Andere Konsumgüter konnte man nur in der Stadt kaufen, die man aber nur ein oder zwei Mal im Jahr besuchte.

Seit ich einen Bruder hatte, musste ich mit ihm alle meine Sachen teilen. Er war ja etwas Besonderes - er war die Lebensenergie meiner Eltern. Meine Mutter sagte öfter zu uns, dass alles was sie bisher verdient hatte meinem Bruder gehöre. Sie arbeite nur für meinen Bruder so hart. Sie lebe nur für ihn. Der Bub war wie ein starker Magnet, der alle Sachen zu sich hinzog - das Lächeln meines Vaters, die Liebe meiner Eltern und jetzt sogar mein Lieblingsobst, Bananen. Das bodenlose Gefühl der Ungerechtigkeit machte sich in meinem Herz breit. Das Alles nur, weil ich ein Mädchen war? Ich hoffte, dass ich schnell erwachsen werden würde, um nicht mehr zu Hause bleiben zu müssen.

Anfang des kommenden Jahres im März widmeten sich meine Eltern einem großen Projekt. Sie gruben im Kinderzimmer eine geräumige Grube, so groß wie das Elternbett. Der Boden wurde mit roten Ziegeln zugepflastert und mit einem großen Stück dicker Plastikfolie gegen aufsteigende Feuchtigkeit, abgedeckt. Als Abdeckung der Grube gab es Holzbretter, die wiederum mit roten Ziegeln überpflastert wurde. Damit sah dieser Teil wie der andere Boden aus. Zum Schluss stellten meine Eltern unsere zwei Kinderbetten wieder zurück.

Ich hatte meine Mutter gefragt, wozu sie ein Loch im Hausgruben. Meine Mutter schimpfte mit mir und sagte, dass Kinder nicht so viele Fragen stellen sollten.

Wir Kinder durften den anderen Leuten nichts von dem bizarren Bau erzählen. Es gab also ein großes Geheimnis. Erst nach der Maiserntezeit dieses Jahres bekam das Mysterium für mich einen Sinn.

Meine Eltern hatten nur 0,2 Hektar Land für sieben Personen. Das war viel weniger als im Vergleich mit anderen Bauern. Wenn es eine gute Ernte gab, reichte das Getreide knapp bis zur nächsten Erntezeit. Trotzdem mussten wir jedes Jahr einen bestimmten Teil, als Gebühren für die Nutzung des Feldes an den Staat abgeben. Wenn es kein überschüssiges Getreide gab, war es notwendig den Gegenwert in Geld zu bezahlen.

Mein Vater war deshalb öfter gezwungen zusätzliches Geld als Maler und Lackierer in der Stadt oder in umliegenden Dörfern zu verdienen. Meine Mutter arbeitete in der Freizeit als Schneiderin. Sie hatte zwar nie eine Ausbildung als Schneiderin gemacht, aber wenn sie ein neues modisches Kleid sah, konnte sie das ganz genau nachmachen. Wegen dieses Talents trugen wir nur die Sachen aus den Händen meiner Mutter. Wie in anderen Bauernfamilien üblich, übernahm das jüngere Kind die alten Sachen von den älteren Geschwistern. Aber durch die Schneiderkunst meiner Mutter wurde das alte Zeug in neue Kleidungstücke verzaubert.

Sie war immer großzügig zu den Nachbarn und half auch sehr gerne anderen Leuten. Zum Beispiel schneiderte sie freiwillig neue Gewänder für die Verwandten, Nachbarn und Bekannten. Es lagen auf unserem großen Wohnzimmertisch ständig neue Stapel Stoff, aus denen für andere Leute Gewänder geschneidert wurden. Diese Leute lobten meine Mutter bis heute. Sie erhielt deswegen auch den Beinamen „neng“, was so viel bedeutet wie „talentvoller Mensch“.

Ende Mai nach der Weizenerntezeit bevor Mais gepflanzt wurde, sammelten wir auf den Feldern in der Früh den restlichen Weizen, der dort bei der Erntearbeit zu Boden gefallen war. Einige Tage später wurden die Felder mit einfachen Pflügen, gezogen von Kühen, umgebrochen und für das Anpflanzen des Maises vorbereitet. Ich hatte einen mit Weizenähren halbvollen Bambuskorb, der von verschiedenen Feldern aus dem ganzen Dorf stammte, in den Armen. An der Größe der Körner konnte man sehen, wer dieses Jahr eine gute Ernte hatte. Ein ganzer Korb Weizen hatte ungefähr den Gegenwert von ca. zwei Kilogramm Wassermelonen oder 0,5 Kilogramm frisch gebackenem speziellem Brot.

Am Nachmittag war ich wieder mit meiner Freundin und meinem Korb auf dem Feld um mit einer Sichel Gras für ihre Ziegen und Kühe zu schneiden. Meine Familie hatten damals keine Kühe mehr, sondern nur einige Hühner und Enten.

Wir suchten ein ungepflegtes Feld mit hohem Gras, denn hier konnten wir für die Tiere Gras sammeln, das nicht mit Insektenvertilgungsmittel gespritzt wurde. Da einige Gemüsegärten nicht so weit entfernt lagen, starrte ich längere Zeit auf diese Grünoasen und wünschte mir auch so ein kleines Paradies. Die Bauern arbeiteten noch auf den Feldern, sodass wir hier ganz allein waren. Ich flüsterte zu meiner Freundin ob wir uns nicht heimlich in einen dieser Gärten schleichen und etwas Gemüse stehlen sollten.

Sie nickte mit dem Kopf, näherte sich, nahm ihre Hand um ihren Mund zu verdecken und flüsterte mir ins Ohr: „Wir könnten die grünen Chili und die jungen Auberginen pflücken, die sehen so gut aus“. Wir duckten uns und mit achtsamem Blick auf Umgebung nahmen wir unsere Körbe in den Garten mit hinein.

Wir lagen auf dem Bauch zwischen den Reihen mit Auberginenpflanzen, damit uns niemand sehen konnte. Die jungen dunkel violetten Auberginen waren so groß wie eine Faust, und hangen überall auf den niedrigen Büschen. Wir waren die ganze Zeit hellhörig. Ich flüsterte zu meiner Freundin, dass wir die Früchte probieren sollten, ob sie auch gut schmeckten. Wir pflückten jede eine Aubergine und bissen mit Begierde in die Frucht. Sie schmeckten großartig.

Als meine Familie später vom Dorf in der Stadt umzog, hatte ich nie mehr eine so köstliche Aubergine gegessen.

Ein paar grüne Chili hatte ich auch gepflückt und unter dem Gras meines Korbs versteckt. Als ich zu Hause war, erzählte ich meiner Mutter nicht, dass ich den Gemüsegarten eines Bauers geplündert hatte, sondern dass mir ein Bauer das Gemüse als Geschenk gegeben hat. Ich habe die Chili in kleine Stücke geschnitten und in Sojasoße eingelegt. Sie waren feurig scharf. Mit hochrotem Kopf aß ich doppelt so viel Brot wie normal. Es war eine äußerst einprägsame und genüssliche Mahlzeit, obwohl es nur Brot und Chili gab.

In unserem Dorf gab jeden Monat am 15. Tag des Mondkalenders einen Dorfmarkt, auf dem wir Grundnahrungsmittel kaufen und auch selbst angebautes Obst oder Gemüse verkaufen konnten.

Schon um sechs Uhr in der Früh weckten mich scheppernde Traktoren, Fahrradklingeln und das Stimmengewirr der Fußgänger. Dazu mischten sich noch die Laute von Pferden, Kühen und Ziegen. Sie waren alle zum Verkauf auf dem Markt bestimmt. Die Bekannten grüßten sich gegenseitig. Die schweren Schultertragestangen, voll behangen mit frischem Gemüse und Obst von den Feldern ächzten unter der Last. All das war typisch für den Beginn des Markttages.

Wie ein Wirbelwind sprang ich aus Bett und zog mich schnell an um mit meiner Muttergemeinsam auf den Markt gehen zu können. Je früher man den Markt besuchte, desto mehr frisches Gemüse konnte man kaufen. Von oben betrachtet musste der ganze Markt wie ein Kreuz, zwischen den Häusern liegend, ausgesehen haben. Beim Markteingang gab es ein kleines Lehm-Stroh-Haus mit Friseursalon. Auf der anderen Straßenseite lagen viele kitschige Bilder von Film- und Musikidolen, den früheren hochverehrten Staatsführers Mao, Zhou enlai und vielen anderen auf dem Boden vor einer Hauswand. Das Ganze wurde gesäumt von genauso kitschig aussehenden Blumen. Damit der Wind die Bilder nicht davontrug, beschwerten kleine Ziegelstücke die Memorabilien. In der Marktstraße gab es auf der linken Seite einige niedrige Reihenhäuser mit einem Schneider, einer Arztordination und ein paar Geschäften für Metallwaren und Kosmetik, die aber nur ein Paar der allerwichtigsten Waren im Angebot hatten. Auch einen Zahnarzt gab es hier. Auf der rechten Straßenseite gab es ein höheres Reihenhaus, in dem es ein richtig großes Geschäft für Stoffe und Kleidungstücke einquartiert war. Bis vor einigen Jahren gehörte das Geschäft der Gemeinde, wurde aber später durch politische Änderungen privatisiert. Daneben gab noch einige Geschäfte für Kunstdünger, landwirtschaftliche Geräte und einen Gemüseladen. Die meisten Geschäfte hatten nur zur Marktzeit geöffnet. Immer wieder stolperte man beim Marktgang über kleine Straßenküchen. Ein Verwandter von uns verkaufte in solch einem fahrbaren Laden frittiertes Fladenbrot. Jedes Mal, wenn ich an seinem Stand vorbei ging, gab er mir immer zwei Stück Fladenbrot. Für mich war das die größte Freude wenn ich auf dem Markt war. Weiter auf der anderen Seite des Marktes, glänzte einem das frische Obst und Gemüse der Bauern entgegen. Da fast jeder die gleichen Früchte verkaufte, gab es starke Konkurrenz und das drückte die Preise. Das freute die Käufer, aber nicht die Bauern.

Wenn man vom Marktzentrum nach rechts in das Straßenkreuz einbog, sah man zahlreiche Stände für Textilien und Schuhe, die sich über ca. 20 Meter hinzogen. Danach kamen noch einen Stand, bei dem ein alter Mann noch ältere Bücher zum Verkauf anbot. Die Bücher waren, auf einer auf dem Boden liegenden Plastikplane, gestapelt. Ein paar junge Leuten hockten und manche standen während sie in den Büchern schmökerten.

Von der Hauptstraße abzweigend hinter einer kleinen Gasse gab einen flachen Platz, von der Größe eines Fußballplatzes mit zahlreichen kleinen Bäumen. Hier befand man sich auf dem Tiermarkt, wo man Pferde, Kühe, Ziegen, Esel und noch viel Kleingetier kaufen oder verkaufen konnte. Hier mischten sich die Stimmen der Menschen mit denen der Tiere. Überall auf dem Boden lag der manchmal noch dampfende Kot der Tiere. Meine Familie hat hier zwar nie Tiere gekauft oder verkauft, aber ich bummelte auf dem Tiermarkt trotzdem öfter herum. Es faszinierte mich besonders die Menschen auf diesem Platz zu beobachten. Die Käufer kontrollierten sorgfältig das Tier das sie kaufen wollten und suchten mit Absicht Mängel, damit sie den Preis ein bisschen nach unter verhandeln konnten. Die Bauern stellten die Vorzüge ihres Viehs heraus und waren froh darüber, wenn der Händler den Kaufpreis nicht zu weit drückte und sie guten Mutes mit dem Verkaufserlös nach Hause gehen konnten. Die Fohlen und ihre Mutter wieherten traurig auf Grund der plötzlichen Trennung. Andere Bauern schlenderten mit den billigen Zigaretten im Mund zwischen den Tieren herum und stoppten manchmal kurz vor einer Kuh oder einem Pferd, musterten das Äußere und überlegten, ob sie kaufen sollen oder nicht. Ich stand auf einem niedrigen Hügel am Rand des Tiermarktes und suchte mit meinen Augen nach interessanten Gesichtern. Es war wie im Kino und ich schaute meinen „Film“ vom Anfang bis zum Ende.

Ich kann mich noch genau an eine berührende Scene von einem Mann mit seinem Pferd erinnern.

Der Mann war ca. 40 Jahre alt, trug ein weißes Baumwoll-T-Shirt und eine dunkelblaue Terylene Hose und hatte schwarze selbst gemachte Stoffschuhe an. Er hockt mit traurigem Gesicht neben einem kleinen Baum, an das er sein rotes, gut gebautes Pferd gebunden hatte und rauchte seine Zigaretten. Man merkte an seiner Mimik, dass er nicht freiwillig da war, um sein Pferd zu verkaufen. Vielleicht benötigten seine Kinder Geld um die Schule zu gehen oder vielleicht gab es bei ihm zu Hause ein krankes Familienmitglied. Es sah so aus, als ob das Pferd die Traurigkeit seines Besitzer nachfühlen hätte können. Es stand ruhig mit gesenktem Kopf neben ihm. Er hatte das Pferd sichtlich gerne, weil er immer wieder mit einer Bürste sanft durch das Fell strich. Einige Zeit später kam ein jüngerer Mann und sah das Pferd mit funkelnden Augen an und dann fragte nach dem Preis. Der Pferdebesitzer zeigte wortlos nur mit seinen Finger, wie viel er verlangen wolle. Der junge Mann schüttelte seinen Kopf. Aber der Besitzer entgegnete nun mit ernster Miene, dass es keinen Raum für Verhandlungen gab und er sein Pferd nicht unter seinem Preis verkaufen werde. Der junge Mann steckte eine Hand in die Hosentasche, streichelte mit der anderen das Pferd und ging dann mit enttäuschtem Gesicht weg. Es kamen immer wieder Kaufinteressenten, aber alle sind wieder mit leeren Händen weggegangen. Als der Tiermarkt sich schon zu leeren begann, tauchte unverhofft der junge Mann von zu Beginn wieder auf, nur diesmal mit hochrotem Gesicht. Es schien, als habe er eine größere Strecke laufend zurückgelegt. Er diskutiert mit dem Besitzer mit unterwürfiger Stimme und holte aus seiner Hosentasche einen dicken Stapel 10-Yuan Scheine. Der Besitzerüberlegte eine Weile, dreht sich um, löste die Leine des Pferdes vom Baum und übergab das Pferd seinem neuen Besitzer. Mit der anderen Hand übernahm er das Geld und zählte es schwermütig mit dem angelecktem Daumen durch. Ich habe sogar gesehen, dass die Augen des Pferdes feucht waren. Es hat geweint. Der ehemalige Besitzer des Pferdes steckte das Geld in seine Tasche und umarmte mit beiden Armen den Kopf des Pferdes. Er flüsterte etwas in das Ohr des Pferds und machte dann kehrt und wischte mit einer Hand über seine feuchten Augen. Der jungen Man brachte das Pferd freudestrahlend so schnell wie möglich weg. Vielleicht hatte er Angst, der ehemalige Besitzer würde das Pferd wieder zurückfordern wollen. Ich vermute, der Käufer hat bestimmt nicht so viel Geld hergegeben wie der Verkäufer dies wünschte. Der Käufer schien aber ein gutes Verhältnis zu dem Pferd zu haben. Das schien der Hauptgrund gewesen zu sein warum er den Zuschlag bekommen hat. Dem Ex-Besitzer war das zukünftige Wohlergehen des Pferdes wichtiger als ein paar zusätzliche Yuan Scheine.

Der ganze Marktwirkt war wie ein Bienenstock mit lauten Marktschreiern, dem Lachen von Frauen, dem Schreien der Kinder und dem speziellen Geruch sonnengebackener Sommerschuhe aus Kunststoff. Auf den Straße lagen die Holzstiele meines Lieblingseises und die Verschlussdeckel von „Jian li bao“, einem berühmten chinesischen Energydrink. Wenn man sich an einem Markttag im Dorf irgendwo mit Freunden oder Bekannten traf, dann fragte man „ni qu gan ji le ma“ (warst du heute schon mal auf dem Markt) statt „ ni chi le ma“ (hast du schon gegessen). Wir Kinder durften uns den ganzen Tag lang auf dem Markt herumtreiben. In den Taschen hatten wir jeder ein fünf Fen Stück (fünf Centstück) für einen Stangeeis eingesteckt. So ein Tag brachte uns so viel Freude ein, dass wir davon bis zum nächsten Marktbesuch zehren konnten.

Nach dem Sommer gab es im Oktober noch eine Erntezeit für Mais und damit reichlich Arbeit für die Bauern.

Ich freute mich immer, wenn ich beim Getreideabliefern mitgehen durfte.

Ende Oktober waren die Morgen schon ziemlich kalt und man brauchte schon eine dicke Jacke. Die gelblich-weißen Maisblätter und die Haare ähnelnden trockenen, braunen Griffel lagen überall im Hof. In der Mitte breitete sich ein kleiner Maisberg, der von einer Plastikfolie bedeckt war, aus. Gestern Abend haben wir bis ca. 23 Uhr im schwachen Schein einer alten Glühbirne gearbeitet, um die Maisblätter von den Maiskolben zu schälen. Durch den nächtlichen Tau bildeten sich überall kleine Wassertropfen, die die Morgensonne zu funkelnden Kristallen machte. Mein Vater holte unseren zweirädrigen Holzwagen und befestigte sieben Leinensäcken voll Getreide mit Hanfstricken auf dem Wagen, wobei jeder Sack ca. 50 Kilogramm wog. Die Dorfstraße war unbefestigt und überall mit Matsch und Löchern übersät. Ich sollte oben auf dem Getreide sitzen um das Gewicht auf dem Holzwagen auszubalancieren. Mein Vater schulterte den Zugstrick und hielt die Lenkstange mit beiden Händen fest. Der 2.5 Meter lange Holzwagen voller Getreide wurde auf der matschigen Straße langsam ins Dorf gezogen und dort das Getreide ausgehändigt.

Die 200 Meter lange Marktstraße war gesäumt mit Holzwagen. Ich saß auf den Getreidesäcken auf dem Wagen und schaute neugierig zu den fremden Leuten. Es kam ein Mann aus der Gemeinde mit einem spitzen Stahlrohr in der Hand. Das Rohr wurde in einen ausgewählten Sack jedes Wagens gesteckt um ein bisschen Getreide aus dem Sack zu entnehmen und die Qualität des Getreides zu testen.

Obwohl es schon Ende Oktober war, brannte die Sonne tagsüber noch sehr stark vom Himmel. Wir nannten ein solches Wetter „Herbst Tiger“, da die Herbstsonne manchmal noch sehr viel Kraft hat, sich aber auf die Ruhephase des Winters einstellt. Genauso ist der Tiger im Herbst noch sehr aktiv, da er sich auf den Winter vorbereiten muss. Im Winter verfällt er aber in Ruhe und Stille. Ich bekam langsam Hunger. Einen Sack Fertignudeln hätte ich sehr gern gegessen, aber ich konnte das nicht meinem Vater sagen, weil er mit mir sonst bestimmt geschimpft hätte. Er war immer sehr sparsam. So verging der ganze Vormittag. Ich freute mich auf zu Hause, denn meine Mutter kochte bestimmt schon das Mittagessen. Sicherlich gab es frisch gemachte Maismehlsuppe und Brot von unserer neuen Ernte. Mein Bauch rumorte, als ich an die goldenen, runden, gedämpften Maismehlbrote mit Knoblauchsoße dachte. Ich drückte meine Hände in den Bauch und zog ihn einatmend ins Innere des Körpers um ihn so zum Schweigen zu bringen. Schließlich nährten wir uns endlich dem Tor, das meiner Gemeinde zugewiesen war, um das Getreide abzuliefern. Mein Vater sagte mir, dass wir bald drankommen würden. Ich konnte aber nicht die näherkommende Getreidewaage sehen, da mir das frische Brot und die Suppe meiner Mutter vor meinem inneren Auge die Sicht verstellte.

Zu Hause am Abend nach der Mahlzeit, begannen meine Eltern frisch geerntetes Getreide in die Grube im Kinderzimmer des Hauses einzufüllen. Zum Schluss wurde das Loch wie vorher zugedeckt. Der Rest vom Getreide wurde im Ost-Haus gelagert.

Ich war neugierig weshalb meine Eltern das Getreide versteckten. Darüber Fragen zu stellen wurde natürlich nicht erlaubt.

10 Tage Erntezeiturlaub gingen schnell vorbei und ich musste wieder in die Schule gehen.

Die Schule besuchte ich nur mit, weil ich gar nicht gut auf Mathematik zu sprechen war. Ich verstand nicht, weshalb ich zu jeder Aufgabe eine Frage erfinden musste. Täglich bekamen wir 40 bis 50 Übungen, aber ich konnte zu maximal zwei Übungen die richtigen Fragen erstellen. Das machte mich unglücklich.

Als ich in der zweiten Klasse war, und eines Tage zu Hause Mathematikhausübungen machte, kam mir ein Gedankenblitz und ich verstand plötzlich die Übungen. Ich musste nicht selbst Fragen erfinden oder stellen, sondern nur beantworten! Die Übungsaufgaben waren schon die Fragen. Wie töricht war ich doch früher.

Am Weg in die Schule gab es einen langgezogenen Teich. Ob der Teich gefüllt war wurde vom Regen bestimmt. Auf den Nord- und Südseiten des Teichs waren die Häuser von Bauern. Die Nordseite war flach und breit. Zwischen den Bäumen kroch ein schmaler Weg mit leichten Kurven dahin, auf dem ich jeden Tag in die Schule ging. Die Hofmauernder Bauernhöfe waren ca. 10 Meter entfernt vom diesem Weg. An der Hofmauer eines Bauernhofes gab eine schmale rot lackierte Holztür, welche immer von innen zugesperrt war. Neben der roten Tür stand ein kleines niedriges Haus mit grauen Ziegeln. Die schmale und schmutzige Haustür wurde bei schönem Wetter geöffnet. Das Innere dieses Minihauses war aber trotzdem von Dunkelheit erfüllt. Man konnte also von draußen trotz geöffneter Tür nichts im Inneren erkennen.

Die meiste Zeit war dieses Gebiet mäuschenstill. Als ich und meine ältere Schwester Lili, von der Schule kommend, vorbei gingen, sahen wir irgendwann einmal eine alte Frau vor besagtem Häuschen stehen. Die rote Tür war offen und man konnte einen Granatapfelbaum und ein Seil mit nasser Wäsche im Hof durch die Tür erkennen. Sie hielt eine weiße Schüssel mit Nudeln in der einen und ein Paar Essstäbchen in der anderen Hand. Sie öffnete die schmale Tür des Minihauses mit der Hand, die die Stäbchen hielt, und ging hinein. Zwei Minuten später kam sie mit leeren Händen heraus und ging wieder in den Hof. Die rote Tür wurde wieder von innen zugesperrt.

Eines Tages zur Mittagszeit gingen wir von der Schule nach Hause zum Mittagessen. Ich hatte schon einen Bärenhunger und fühlte mich sehr schwach. Eine ganze Kuh könnte ich fressen, so dachte ich.

Der Himmel war klar und blau. Die Sonne schien sehr stark und der Boden des Teichs war trocken wie die Wüste Gobi oder so trocken wie ein Rückenpanzer, wie wir in China sagen. Wir suchten den Schattenweg am Rand des Teichs. Als wir einen Mann sahen, der vor dem Haus saß, versteckten wir uns schnell hinter einem dicken Baum. Der Hunger war schlagartig vergessen.

Wir reckten unsere Köpfe und schauten, was er machte. An der dunkelgrauen Hose und Jacke mit Baumwollfütterung konnten wir sehen, dass er noch Winterkleidung an hatte. Die Haare waren ungleichmäßig geschnitten. An manchen Stellen sah man die Kopfhaut, an anderen Stellen gab es noch lange schwarze Haare. Es konnte sein, dass jemand seine Haare nur grob mit der Schere geschnitten hatte. Seine Haut war ungewöhnlich weiß wie es bei normalen Menschen nicht der Fall ist. Wir waren durch seine anormale Haut schockiert. Sehr tiefe Augenhöhlen hatte er, so tief wie zwei schwarze Gruben. Wenn er nach oben, durch die kleinen Spalte seiner Augen, in den Himmel schaute, konnten wir nur sein Augenweiß sehen. Seine Hände waren schmal und zart mit langen Fingernägeln, die überhaupt nicht zu einem Bauer passten.

Mit dem nackten Hintern saß er auf einem roten Stuhl, die Hose war nur bis zu den Knien gezogen. Er beugte sich sehr nah zu seiner Hose und suchte sorgfältig Läuse. Wenn er eine Laus fand, nahm er sie in die Hand und zerdrückte sie zwischen den zwei Daumennägeln. Ich konnte mir gut das dazu passende knackende Geräusch vorstellen und auch die Blutflecken auf den Nägeln. Ich hatte nämlich als Kind selber auch Läuse und kannte die Prozedur des Läuseknackens. Natürlich hatte ich sehr gute Augen. Dann beugte sich der Mann sich wieder zu seiner Hose hinunter um die nächste Laus zu finden.

Das heftige Bauchgrummeln kehrte wieder zurück. Wir wollten nach Hause gehen, aber hatten auch Angst, dass der Mann uns sieht. Ich sagte zu meiner älteren Schwester, wir sollten so schnell wie möglich und ohne zurück zu blicken, nach Hause laufen. Sie nickte mit dem Kopf, dann atmeten wir tief ein und liefen eiligst nach Hause.

Später erfuhren wir, dass der Man schon 28 Jahre alt war und eine angeborene geistige Behinderung hatte. Seine Mutter, die alte Frau mit der Schüssel voller Nudeln, brachte ihm jeden Tag dreimal Essen. Sonst besuchte ihn niemand. Er lebte schon seit 20 Jahre alleine in dem kleinen Haus.

Immer nach der Schule versteckte ich mich hinter einem Baum, um diesen behinderten Mann zu beobachten. An einem Tag, während ich hochkonzentriert diesen Mann beobachtete, lief plötzlich ein Nachbarsmädchen, von der Schule kommend, zu mir und sagte mit kurzatmiger Stimme:

„Yanzi, (Rufname meiner Eltern, bedeutet Schwalbe) ich habe dich in der Schule gesucht, warum bleibst du immer noch hier. Einige Männer sind bei euch zu Hause, du sollst schleunigst nach Hause gehen“.

Wie eine Bombe explodierte diese Nachricht in meinem Kopf und ich lief so schnell wie möglich nach Hause ohne zu dem behinderten Mann zurück zu blicken. Eine schlechte Vorahnung machte sich in meinem Herzen breit. Das Nachbarsmädchen nahm meine zurückgelassene Schultasche mit und folgte mir.

Bevor ich noch unser Haus sah, fiel mir schon ein Traktor mit einem großen Holzwagen auf, der viel grösser war als unserer. Auf dem Wagen waren bereits ein paar Sachen von uns zusammengepackt. Daneben standen lauter bekannte Gesichter aus meinem Dorf und auch viele unbekannte Gesichter aus anderen Dörfern, Schaulustige. Ich drängte mich durch die Menschenansammlung und ging in den Hof. Im Hof gab es viele Männer, die ich nicht kannte. Doch der Brigadeleiter war auch da. Eine Brigade war die kleineste Grundeinheit in China auf dem Land von 1958 bis 1984 und umfasste durchschnittlich ca. 20 Bauernfamilien, also 100 Leute. Der Anführer einer solchen Brigade war der Brigadeleiter und dieses Mal wies er die Männer an, was sie alles mitnehmen sollten. Mein Vater lächelte höflich und bescheiden, in seiner linken Hand hielt er eine Packung gute Zigaretten und verschenkte sie an die Männer. Das Getreide aus dem Ost-Haus wurde alles auf den Holzwagen geladen. Unser Schwarz-Weiß-Fernseher war auch nicht mehr da. Der Schrank und die Brautausstattung von meiner Mutter waren verschwunden. Im Haus herrschte überall Chaos und die Männer suchten wertvolle Sachen in jeder Ecke. Meine ältere Schwester stand mit Tränen im Gesicht vor einem Tisch, um die zwei Männer am Mitnehmen des Möbelstücks zu hindern. Mein Vater schimpfte mit ihr und brachte sie aus dem Haus.

Ich war so wütend, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wie eine Trommel pochte das Geräusch meines wild schlagenden Herz in meinem Kopf. Schreien und Weinen halfen nicht. Ich wollte von dem Aufruhr nichts mehr sehen. Mit meiner Schultasche war ich wieder draußen auf der Straße. Das Nachbarsmädchen „Xiu Shi“ kam wieder zu mir und flüsterte, dass ein Mann gerade ein Buch von uns unter dem Sattel des Traktors versteckte. Ich war wutentbrannt, es durfte nicht sein, dass er das Buch stahl. Ich ging schnell zu dem Sattel, holte das Buch heraus und packte es in meine Tasche. Das Buch gehörte meinem Vater. Niemand durfte ihm das wegnehmen.

Von einer Nachbarin erfuhr ich, dass meine Eltern, insbesondere wegen der Geburt meines Bruders, bestraft wurden, weil sie gegen die Ein-Kind-Politik in China verstoßen haben. Umgerechnet ca. 1.000 Euro forderte die Gemeinde von meinen Eltern. Meine Mutter sagte, dass es unmöglich sei diese ungeheure Geldbuße abzuleisten. Mit unserem Haus könne die Gemeinde machen was sie wollen, der Bub bleibe aber bei ihr.

Wir hatten Glück, da unser Haus nicht beschädigt wurde. Das Getreide im Grubenversteck war nun unser Sparbuch. Einen Fernseher, unser einziges wertvolles elektronisches Gerät, hatten meine Eltern bereits vorher bei einem Nachbar versteckt. Ich bewunderte die weise Voraussicht meiner Eltern.

Schon zwei Monate vor diesem Raubzug gab es ein ähnliches Geschehen bei anderen Nachbarn. Wie bei uns gab es vier Kinder in dieser Familie. Sie haben gegen die Ein-Kind-Politik verstoßen. Der Bauer arbeitete in der Freizeit als Handarbeiter, er machte Böllerketten. Man verdiente damit nicht schlecht, aber er musste für ein zweites und ein drittes Mädchen viel Geld an die Gemeinde bezahlen. Als er endlich einen Jungen bekam, hatte er weder genug Getreide noch Geld um seine Zahlungen zu leisten. Die Geldeintreiber von der Gemeinde würden nie mit leerenden Händen wieder abziehen. Die einzige wertvolle Sache war das Haus. Sie kletterten auf das Dach und schleppte alle Dachziegel weg. Vom Haus blieben nur vier unvollständige Wände und der Dachstuhl übrig. Erst ein Jahr später hatten sie das Geld, um das Haus zu renovieren. Vorher hatten sie ein Zelt neben dem Haus errichtet, in dem die ganze Familie wohnte.

Es gab noch viele andere Familien, die mehr als ein Kind hatten. Sie flüchteten teilweise in die Stadt oder zu Verwandten bis die Strafzeit vorbei war. So fanden die Gemeinden den Betreffenden nicht, und mit den leeren Häusern konnten die Gesetzesvertreter auch nichts machen.

Als wir uns später in der Stadt niederließen hatten wir einige Nachbarsfrauen während ihrer Strafzeit empfangen.


allein bleibende Kinder

Подняться наверх